Amnesty-Journal November/Dezember-2022

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Right to Love

Liebe und Menschenrechte

Massaker in Mali Kriegsverbrechen mit russischer Beteiligung gibt es auch in Afrika

Nebel am Ende der Lieferkette In Argentinien werden Pestizide eingesetzt, die in der EU verboten sind

TITEL: RIGHT TO LOVE

Deutschland, Schweiz, Österreich: LGBTI+, binationale Paare, Orte der Nähe für Obdachlose 12 Ungewöhnliche Ehe in Indien: Sie ist Muslimin, er Hindu 14

Gleichgeschlechtliche Liebe: Endlich Hochzeit 18

LGBTI+ in Russland: Gefühle unter Propagandaverdacht 19

Liebe im Lager: Schlechte Bedingungen für Nähe 20

Tochterliebe: Nicht ohne meine Mutter 24

Inklusive Liebe: Sie haben die Klischees satt 26

POLITIK & GESELLSCHAFT

Mali: Massaker zwingen Bevölkerung zur Flucht 30

LGBTI+ in Uganda: Gottesdienst unter dem Regenbogen 34 Frauen in Afghanistan: Zarifa Ghafari setzt sich für gleiche Rechte ein 36

Graphic Report Afghanistan: Tod in Zeitlupe 38

Abschiebungen in der Türkei: »Ich dachte, das war es« 40 Pestizide: In der EU verboten, in Argentinien im Einsatz 42 Abtreibung in den USA: Zeitenwechsel 48

Amnesty-Briefmarathon: Schreib für Freiheit 52

KULTUR

Desinformation im Netz: Graphic Novel über Fake News 56 Künstlerin aus Afghanistan: Nabila Horakhsh im Exil 60 Filme aus Hongkong: Nur noch Standbilder 62

Feministischer US-Punk: The Linda Lindas 64

Biografie aus Eritrea: Elektroschocker auf der Brust 66 Buch von Arnd Pollmann: Philosophische Notwendigkeit 68

Israelisch-iranische Sängerin Liraz: Klangbrücken zwischen den Kulturen

RUBRIKEN

Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 08 Spotlight: Klimakonferenz 46 Was tun 50 Porträt: Ivan Kolpakov 54 Dranbleiben 55 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 71 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 74 Kolumne: Eine Sache noch 75 Impressum 75

Nur wenige Quadrat meter Privatsphäre.

Der Alltag im Flücht lingslager macht Liebe so gut wie unmöglich. Die Familie Nikpa aus Afghanistan musste das auf Lesbos schmerzhaft erleben. Und auch in Deutschland machen Flüchtende schlechte Erfahrungen.

Eine für alle. »Es ist kein Verbrechen, eine Frau zu sein.« Mit diesen Worten wurde Zarifa Ghafari eine der ersten Bürgermeisterinnen in Afghanistan. Sie machte Politik auch für Frauen und musste daher nach der erneuten Machtübernahme der Taliban fliehen. Im deutschen Exil setzt sie sich weiter für Frauenrechte ein.

Verloren im Kaninchenbau.

In ihrer Graphic Novel erkundet die Journalistin Doan Bui die Welt der Verschwörungsmythen. Sie erklärt, warum Menschen der Wissenschaft und den Medien nicht mehr trauen –und wie das Internet uns süchtig nach Fake News macht.

Mit Wut und Leichtigkeit.

Ihre energiegeladene PunkHymne »Racist, Sexist Boy« machte The Linda Lindas schlagartig bekannt.

Mittlerweile haben die Nachwuchsmusikerinnen ihr Debütalbum veröffentlicht und geben Konzerte in aller Welt.

2 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 INHALT
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Liebe ist ein Menschenrecht … Doch die Liebe leben zu können, ist immer noch keine Selbstverständlichkeit: Das zeigen gesellschaftliche Missstände in Westeuropa im Jahr 2022.
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Religiöse Schranken überwunden. Die Liebe zwischen Tehmeena Rizvi und Yash Verma stand unter einem schlechten Stern: Sie ist eine Muslimin aus Kaschmir, er ein Hindu aus Delhi.

Trotz vieler Schwierig keiten haben die beiden geheiratet.

Noch mehr Massaker mit russischer Beteiligung. Nach dem Abzug der französischen Armee bleibt die Sicherheitslage in Mali instabil. Die Bevölkerung wird zwischen den Fronten zerrieben. An Exekutionen sind viele Russen beteiligt –sind es reguläre Soldaten oder Söldner der WagnerGruppe?

EDITORIAL DIE LIEBE FINDET IHREN WEG

Endlich war es so weit. Einmal im Jahr erstellen die JournalRedaktionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz einen gemeinsamen Schwerpunkt. Einige Monate vorher trifft man sich zur Planung, mal in Berlin, mal in Wien und mal in Bern. Nachdem diese Treffen in den Jahren 2020 und 2021 coronabedingt ausfallen mussten, reisten wir in die sem Jahr tatsächlich nach Bern.

Das war im Juni, und es war sehr warm. So warm, dass eini ge Kolleg*innen sich in der Mittagspause in der Aare ab kühlten, einem Fluss, der in einem beeindruckenden und sprudelnden Hellblau mitten durch die Stadt fließt. Es hat uns gut gefallen in Bern, und nun hoffen wir, dass Ihnen gut gefällt, was wir dort gemeinsam erarbeitet haben.

Der Nebel am Ende der Lieferkette. Im Norden Argentiniens wird Soja für den Weltmarkt angebaut. Die Pflanze wird mit Pestiziden europäischer Konzerne besprüht, deren Einsatz in der EU verboten ist. Die Bewohner*innen von Napenay spüren am eigenen Leib, warum.

Auf 18 Seiten zeigen wir die Macht der Liebe und leider auch die Probleme, die Liebende erleben müssen, wenn eine staatliche oder religiöse Macht die Liebe nicht ertragen kann. Unser Autor Christian Jakob hat Flüchtlingslager in Griechenland und Deutschland besucht. Es sind Orte, an de nen es Liebe, Nähe und Intimität schwer haben. Und doch findet die Liebe oft ihren Weg, sie überwindet Grenzen, Na tionen, Gefängnisse, repressive Gesetze und andere Be schränkungen. Sie bleibt frei. Und sie ist ein Menschenrecht.

»Sie haben mich umgebracht.«

Als Kind musste Nabila Horakhsh vor den Taliban fliehen. Zurück in Afghanistan wurde sie eine erfolgreiche Künstlerin und Kuratorin, vertrat ihr Land auch auf internationaler Bühne.

Dann kehrten die Taliban zurück.

»An Putins 70. Geburtstag wird der Friedensnobelpreis an eine russische Menschenrechtsgruppe verliehen, die er ver boten hat, an eine ukrainische Menschenrechtsgruppe, die seine Kriegsverbrechen dokumentiert, und an einen weiß russischen Menschenrechtsaktivisten, den sein Verbündeter Lukaschenko inhaftiert hat.« Der Menschenrechtsanwalt Kenneth Roth brachte es im Online-Netzwerk Twitter auf den Punkt. Und auch wir gratulieren Memorial, dem Center for Civil Liberties in Kiew (das auch den Right Livelihood Award erhielt) und Ales Bialiatski. Wer mehr über Bialiatski erfahren möchte, wird in der Ausgabe 01/2021 des Amnesty Journals fündig, mehr zu Memorial gab es in der Ausgabe 02/2022. Amnesty setzt sich schon lange für die Preisträ ger*innen ein oder arbeitet mit ihnen zusammen.

Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.

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Fotos oben: Lea Berndorfer | Florian E. J. Lang | Dimitris Michalakis | Andy Spyra Insa Hagemann / laif | Felie Zernack | Leslie Plée | Nabila Horakhsh Krista Schlueter / The New York Times / Redux / laif Unser Titelbild wurde gezeichnet von Lea Berndorfer.
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AUFSTAND IM IRAN

Der Tod von Jina Mahsa Amini hat im Iran eine landesweite Pro testwelle ausgelöst. Die 22-Jähri ge war am 13. September in Te heran von der »Sittenpolizei« festgenommen worden, weil sie angeblich gegen die islamische Kleiderordnung verstoßen hatte.

Laut Augenzeugenberichten wurde sie bei der Festnahme und während der Fahrt in die Haftanstalt geschlagen. Sie fiel einige Stunden später ins Koma und starb am 16. September in einem Krankenhaus. Die derzei tigen Proteste, an denen sich Zig tausende Iraner*innen beteili gen, richten sich nicht nur gegen die Kleiderordnung, sondern auch gegen Menschenrechtsver letzungen, Repression und Straf losigkeit. Iranische Behörden sind für willkürliche Festnahmen, Folter, außergerichtliche Hinrich tungen und andere Tötungen verantwortlich, ohne dass dies geahndet wird. Um die Proteste niederzuschlagen, gehen die Si cherheitskräfte mit Gewalt vor. Amnesty International hat den Einsatz von scharfer Munition, Schrotkugeln und anderen Metallgeschossen, Schlägen und geschlechtsspezifischer Gewalt, einschließlich sexualisierter Ge walt gegen Frauen dokumen tiert. Die Organisation fordert die internationale Gemeinschaft auf, unverzüglich und entschlos sen zu handeln, um zu verhin dern, dass noch mehr Menschen getötet und verletzt werden.

Foto: Anadolu Agency / pa

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PANORAMA
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NEUE VERFASSUNG IN CHILE ABGELEHNT

15 Millionen Menschen waren Anfang September zur Abstimmung über eine neue chilenische Verfassung aufgerufen worden. Sie hätte das südamerikanische Land mit seinen 19 Millionen Einwohner*innen verändern können. Doch der Entwurf wurde abgelehnt. Die neue Verfassung hätte die Rechte auf Wohnraum, Gesundheit und Bildung garantiert. Alle Staatsorgane sollten zur Hälfte mit Frauen besetzt werden. Und erstmals wäre das Selbstbestimmungsrecht indigener Gemeinschaften gesetzlich verankert worden. Mehr als 150 gewählte Repräsentant*innen hatten mehr als ein Jahr lang an dem Verfassungsentwurf gearbeitet. Viele Menschen demonstrierten nach der Ablehnung (im Bild: Protest in Santiago de Chile am 6. September 2022). Sie führen gesellschaftliche Probleme auf die alte Verfassung zurück, die noch aus der Zeit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973 1990) stammt. Seit 1990 wurde diese zwar mehrmals reformiert, sie lässt jedoch Unternehmen in vielen Bereichen freie Hand. Eine weitere Verfassungsreform ist möglich, muss nun aber auf dem parlamentarischen Weg entstehen.

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Foto: Claudio Abarca Sandoval / NurPhoto / pa

RUSSLAND ANNEKTIERT GEBIETE IN DER UKRAINE

Ende September annektierte der russische Präsident Wladimir Putin die ukrainischen Regionen Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja. Vorausgegangen waren Scheinreferenden in den von Russland militärisch besetzten Gebieten, bei denen die dort lebenden Menschen weder frei noch geheim, sondern teilweise unter Androhung von Waffengewalt ihre Stimme abgeben mussten (im Bild: Stimmabgabe in Luhansk am 27. September). »Das ganze Verfahren, das nach internationalem Recht illegal ist, ist ein weiterer Akt in Russlands Aggressionsstrategie gegen die Ukraine«, sagte Denis Krivosheev, stellvertretender Direktor von Amnesty International für Osteuropa und Zentralasien. Amnesty liegen Berichte über Repressalien der Besatzungsbehörden gegen Einheimische vor, darunter Entführungen, Freiheitsberaubung, Folter sowie rechtswidrige Tötungen. »Russland muss seinen Angriffskrieg und alle rechtswidrigen Handlungen einstellen«, forderte Krivosheev. »Außerdem müssen alle, die für Kriegsverbrechen und andere völkerrechtliche Verbrechen verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden.«

AP / pa

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Foto:

EINSATZ MIT ERFOLG

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

KUBA

Nach einem Referendum über ein neues Famili engesetz wurde Ende September in Kuba die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt. Mit rund zwei Dritteln der gültigen Stimmen votierten die Kubaner*innen für das neue Familien gesetz. Es sieht auch die Möglichkeit der Leih mutterschaft und der Erziehungsberechtigung für nicht-biologische Eltern sowie Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Kindern und Se nior*innen vor. An der Stimmabgabe beteilig ten sich 74 Prozent der rund 8,4 Millionen Wahlberechtigten. In Kuba werden nur selten Referenden abgehalten. LGBTI+-Aktivist*innen hatten sich seit Jahren für die Ehe für alle und für die Adoption von Kindern eingesetzt.

MAROKKO

Der saharauischen Aktivistin Sultana Khaya ge lang es am 30. Mai, ihr Haus in Boujdour in der Westsahara zu verlassen und zur medizinischen Versorgung nach Spanien zu reisen. Sie stand seit November 2020 unter willkürlichem Haus arrest. Die gegen sie verhängten Beschränkun gen wurden offiziell nicht aufgehoben, und es ist nach wie vor unklar, ob sie wieder nach Ma rokko einreisen kann. Bis heute sind Folter und Misshandlungen nicht untersucht worden, de nen sie und Familienangehörige bei Polizeiüber griffen ausgesetzt waren. Sultana Khaya und ihre Familie dankten allen, die sich beim marok kanischen Regierungschef für sie eingesetzt ha ben. Amnesty beobachtet die Situation weiter hin und wird je nach Entwicklung wieder aktiv werden.

ÄGYPTEN

Seit Februar 2021 war Ahmed Samir Santawy zu Unrecht inhaftiert – nun ist er endlich wieder frei. Am 30. Juli 2022 wurde er per Präsidenten dekret aus der Haft entlassen. Santawy, der in Wien studiert, wurde während eines Besuchs bei seiner Familie in Ägypten festgenommen, geschlagen und verhört. Am 22. Juni 2021 verur teilte ihn ein Gericht zu Unrecht wegen »Ver breitung von Falschmeldungen in den sozialen Medien« zu vier Jahren Haft. Dieses Urteil wur de zwar später aufgehoben, am 4. Juli 2022 er hielt er jedoch erneut eine dreijährige Haftstra fe. Santawys Freilassung ist auf anhaltenden weltweiten Druck und Proteste zurückzuführen. Gemeinsam mit seiner Familie, seinen Freund*innen und Studienkolleg*innen setzte sich Amnesty International mit Eilaktionen für die Freilassung Santawys ein.

SAMBIA

Ende Mai kündigte der Präsident von Sambia an, die Todesstrafe im Land abschaffen zu wol len. Hakainde Hichilema erklärte in einer An sprache, seine Regierung habe dies entschieden und das Parlament aufgefordert, sich mit der Streichung der Todesstrafe aus dem Gesetz zu befassen. »Wir glauben an die Rechte aller Bür ger, darunter auch an das Recht auf Leben«, sagte Hichilema, der seit August 2021 Präsident des afrikanischen Landes ist. Im Jahr 2021 saßen in Sambia nach Recherchen von Amnesty Inter national 257 Menschen in der Todeszelle, Todes urteile wurden aber nicht vollstreckt.

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BANGLADESCH

Wieder in Freiheit ist Dipti Rani Das, die als 17-Jährige wegen eines Facebook-Posts fest genommen worden war. Die Angehörige der hinduistischen Minderheit in Bangladesch war am 28. Oktober 2020 in Haft genommen und 16 Monate lang festgehalten worden. Ihr wurde auf Grundlage des Gesetzes zur digitalen Sicher heit vorgeworfen, »religiöse Gefühle verletzt« und »Recht und Ordnung gestört« zu haben. Bei einem Schuldspruch hätten ihr sieben Jahre Gefängnis gedroht. Dipti Rani Das wurde am 17. Februar 2022 die Freilassung gegen Kaution gewährt, am 15. März 2022 wurde sie schließlich entlassen. Nach ihrer Freilassung schickte Dipti Rani Das eine Nachricht an ihre Unterstüt zer*innen: »Ich danke allen, die an meiner Seite gestanden haben.«

MALEDIVEN

Mohamed Rusthum Mujuthaba muss keine weitere Gefängnisstrafe verbüßen. Ein Gericht akzeptierte im August, dass er bereits sechs Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte. Dies gehe über das Strafmaß hinaus, das bei ei nem Schuldspruch hätte verhängt werden kön nen. Mohamed Rusthum Mujuthaba setzt sich auf den Malediven für Religionsfreiheit und die Menschenrechte ein. Die Behörden warfen ihm vor, in Online-Netzwerken blasphemische Inhal te verbreitet und »obszönes Material« beses sen zu haben. Er war vom 10. September 2019 bis zum 12. März 2020 in Untersuchungshaft. Bei einer Verurteilung drohten ihm fünf Monate Haft, Mohamed Rusthum Mujuthaba sagte nach dem Urteil: »Amnesty kontaktierte die Ge fängnisbehörden, um meine Angaben zu unter mauern. Ich möchte mich bei den Mitgliedern und Unterstützer*innen von Amnesty bedan ken.«

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN UPDATES

Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 72) können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzu setzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier.

BELARUS

Ein Gericht in Belarus hat am 6. Sep tember die beiden Menschenrechts verteidiger*innen Marfa Rabkova (Foto) und Andrei Chapyuk sowie acht Mitangeklagte zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Marfa Rabkova ist Koordinatorin des ehrenamtlichen Netzwerks der Menschenrechtsorganisation Viasna, die von den belarussischen Behörden verboten wurde. Rabkova und ihr Kollege Chapyuk wurden wegen »Mit gliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« für schul dig befunden. Das Gericht vertrat zudem die Ansicht, sie hätten »Massenunruhen« organisiert beziehungs weise sich an ihnen beteiligt. Die beiden Aktivist*innen hatten Menschenrechtsverletzungen im Zusammen hang mit den massenhaften Protesten gegen die ge fälschte Präsidentschaftswahl im August 2020 doku mentiert. Sie waren wenige Wochen nach der Wahl festgenommen worden. Marfa Rabkova wurde wegen ihres Engagements zu 15 Jahren Haft, Andrei Chapyuk zu sechs Jahren Haft verurteilt. (September 2022)

MEXIKO

Die Aufklärung des Verschwindens von 43 Studenten im mexikanischen Iguala droht ins Stocken zu geraten. Omar Gómez Trejo, Leiter der Sonder ermittlungs- und Prozesseinheit für den Fall (UEILCA), ist am 27. Septem ber zurückgetreten. Grund dafür war die rechtswidrige Einflussnahme der Generalstaats anwaltschaft auf die Ermittlungen. Die Generalstaats anwaltschaft hatte 21 beantragte Haftbefehle zurück gezogen, von denen sich 16 gegen Militärangehörige richteten, die an den Ereignissen vor acht Jahren betei ligt gewesen sein sollen. Am 26. September 2014 hatten Sicherheitskräfte 43 angehende Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa willkürlich festgenommen und sie in Polizei fahrzeugen verschleppt. Seither fehlt jede Spur von ihnen. Amnesty fordert, dass der mexikanische Staat Wahrheit, Gerechtigkeit und Gedenken für die Familien der verschwundenen Studenten garantiert. (November 2019)

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Foto: I. P. López / Amnesty Foto: Spring96.org
TITEL 10 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022
Liebe gehört zu den Menschenrechten wie das eine Herz zum anderen. Aber nicht überall kann sie frei gelebt werden. Religiöse Vorschriften können im Weg sein. Manche Staaten mischen sich ein und wollen festlegen, wer wen lieben darf. Auch macht die Architektur eines Flüchtlingslagers Nähe meist unmöglich. Doch die Liebe kann so manche Grenze überwinden. Right to Love Zeichnung: Lea Berndorfer AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 11

Liebe ist ein Menschenrecht

Doch die Liebe leben zu können, ist immer noch keine Selbstverständlichkeit: Das zeigen gesellschaftliche Missstände in Westeuropa im Jahr 2022. Von den Journal-Redaktionen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich

sich die lesbische, schwule, bise xuelle, trans-, intergeschlechtli che und queere (LGBTI+) Community in Deutsch land bewegt: auf der ei nen Seite große öffentli che Akzeptanz, auf der anderen Seite unverhohle ner Hass auf queere Men schen. »Gewalt und Intole ranz gegenüber LGBTI+ wa ren immer da, haben aber in jüngster Zeit in großem Ausmaß zugenommen«, sagt Rupert Haag, Sprecher von QueerAmnesty.

…queeren Menschen im Grundgesetz und eine queersensible Ausbildung von Päda gog*innen vor. Zudem sollen Gewalt schutzprojekte sowie Opferbetreuungen gefördert und Hassverbrechen separat er fasst werden. Das Bundesinnenministe rium hat ein Expertengremium mit der »Bekämpfung homophober und trans feindlicher Gewalt« beauftragt.

Begehren dürfen, wen man will – das ist in Deutschland für LGBTI+ nicht selbstverständlich. Trotz gesetzlicher Gleichstellung und gesellschaftlicher Akzeptanz nehmen Hassverbrechen gegen queere Menschen zu.

3. Juli: Mehr als eine Million Menschen haben in Köln Europas größten Christop her Street Day (CSD) gefeiert und für Tole ranz und Vielfalt demonstriert – so viele wie noch nie. 27. August: Der Transmann Malte C. ist auf dem CSD in Münster niedergeschlagen worden – er hatte sich zuvor lesbenfeindliche Beleidigungen mehrerer Frauen durch den Täter verbe ten. Wenige Tage später erlag Malte C. sei nen schweren Verletzungen.

Diese beiden Ereignisse des Sommers 2022 markieren die Pole, zwischen denen

Im Jahr 2021 erfasste das Bundeskriminalamt 870 Strafta ten wegen »sexueller Orientie rung« und 340 Delikte im Bereich »Geschlecht/sexuelle Identität«. Das ent spricht einem Anstieg um 50 bzw. 66 Pro zent im Vergleich zum Vorjahr. Die tat sächliche Lage ist dramatischer, das Bundesinnenministerium geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Das korrespon diert mit einer Umfrage der European Union Agency for Fundamental Rights aus dem Jahr 2020. Damals gab knapp die Hälfte der befragten LGBTI+ an, diskrimi niert zu werden. Zehn Prozent hatten kör perliche Angriffe erlitten, bei den Trans personen waren es gar 20 Prozent. Doch nur 14 Prozent der Befragten hatten sich an die Polizei gewandt.

Der Queerbeauftragte der Bundesre gierung – den Posten gibt es erst seit 2022 – hat Ende August den Entwurf eines »Na tionalen Aktionsplans für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt« vorgelegt. Dieser sieht unter an derem ein Diskriminierungsverbot von

QueerAmnesty begrüßt die Vorhaben. »Wenn sie umgesetzt würden, wäre das ein großer Schritt für die Rechte von queeren Menschen in Deutschland. Bleibt nur zu hoffen, dass die Durchführung zü gig und unbürokratisch erfolgt.« Queere Menschen hätten in der Vergangenheit oft genug unter der Verzögerung von Pro jekten gelitten, etwa bei der Entschädi gung von nach Paragraf 175 verurteilten Schwulen in Nachkriegsdeutschland.

Heiraten dürfen, wen man will –das ist in der Schweiz nicht für alle binationalen Paare möglich. Kann die oder der ausländische Partner*in nicht den legalen Aufenthaltsstatus nachweisen, droht statt der Hochzeit gar die Abschiebung.

Liebe über die Grenzen hinweg – in der Schweiz ist das nicht immer einfach. Tat sächlich gibt es für eine Heirat von bina tionalen Paaren auch heute noch einiges an Hindernissen. Zwar sind es nicht mehr so viele wie früher – vorausgesetzt es ge lingt den Heiratswilligen, die vom Stan desamt verlangten Dokumente im Her kunftsland zu beschaffen und die Ehe absicht glaubhaft darzulegen.

Es ist noch nicht lange her, dass die Heirat mit einem Ausländer für Schweize

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RIGHT TO LOVE LGBTI+, BINATIONALE PAARE, OBDACHLOSE 12 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022

rinnen den Verlust ihrer Schweizer Staats bürgerschaft bedeutete. »Erst 1953 hat das Land hier die Stellung der Frau als Staats bürgerin verbessert«, sagt Heidi Kolly, The rapeutin der Schweizer Organisation Fra bina, die Beratungen für binationale Paa re anbietet. Ab 1953 durfte eine Schweize rin, die einen Ausländer heiratete, den Schweizer Pass behalten – sofern sie dies beantragte. Erst seit 1992 behalten Schweizerinnen ihre Staatsbürgerschaft »trotz« Heirat mit einem Ausländer an tragslos. Damals wurde auch die automa tische Einbürgerung von ausländischen Frauen, die mit einem Schweizer verhei ratet waren, abgeschafft. Seitdem müssen ausländische Frauen ebenso wie Ehemän ner von Schweizerinnen drei Jahren ver heiratet sein und fünf Jahre im Land ge lebt haben, bevor sie erleichtert eingebür gert werden können. Die Kinder von Schweizerinnen, die mit einem Ausländer verheiratet sind, erhalten die Staatsbür gerschaft erst seit 1978 automatisch.

Während der Schweizer Staat bei den Einbürgerungen Erleichterungen ge schaffen hat, hat er andererseits das Ehe recht mit Einwanderungsbestimmungen verknüpft und stellt binationale Paare –insbesondere, wenn es sich um nicht-eu ropäische Partner*innen handelt – nicht selten unter einen Generalverdacht. Das Zivilgesetzbuch sieht ausdrücklich vor, dass Standesbeamt*innen einem Ehe schließungsgesuch nicht stattgeben, wenn der Verdacht besteht, das Paar kön ne sich durch die Heirat eine Niederlas sung erschleichen wollen. Das Paar muss dann irgendwie das Gegenteil beweisen.

Ein weiteres Hindernis stellen die von der ausländischen Person vorzulegenden

Dokumente dar, die oft schwer zu be schaffen und zu übersetzen sind – für Ge flüchtete oft ein unmögliches und sogar gefährliches Unterfangen. Der Versuch, »missbräuchliche Ehen« zu verhindern, geht so weit, dass die Standesämter seit 2011 auf die Daten der Migrationsbehör den zugreifen dürfen – um so »illegal An wesenden« die Heirat zu verwehren. Die Zivilstandsämter sind sogar verpflichtet, Paare, die ihren legalen Aufenthaltsstatus nicht nachweisen können, den zuständi gen Behörden zu melden. ◆

Das Bedürfnis nach emotionaler Nähe wird wohnungs- und obdach losen Menschen oft abgesprochen. In Österreich braucht es dafür ein vielfältigeres Angebot an Begeg nungsorten.

Alle Menschen brauchen Bezugsperso nen, eine sichere Umgebung, einen Rück zugsort. Menschen, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit erfahren, werden diese und andere grundlegende Bedürfnisse je doch häufig abgesprochen. Dabei gewin nen zwischenmenschliche Beziehungen gerade in schwierigen Lebensphasen für uns alle an Bedeutung. »Wir leben über sozialen Austausch, nicht über Ratschlä ge, sondern darüber, einander wohlge sonnen zu sein«, sagt Elvira Loibl, Leiterin des FrauenWohnZentrums der Caritas.

Für Menschen, die wohnungs- oder obdachlos sind, stellen Tageszentren und andere Einrichtungen der Wohnungslo senhilfe »Orte der Begegnung« dar, wo Beziehungen entstehen und Kontakte geknüpft werden. »Dort können sich Frauen austauschen und einander Tipps geben. Bei manchen Frauen entstehen sogar langjährige Freundschaften«, erklärt El vira Loibl und betont, dass

sich Frauen oft erst durch diesen Aus tausch trauen, weitere Angebote der Woh nungslosenhilfe anzunehmen.

Wie wichtig Zusammenhalt und Ver ständnis untereinander sein können, be stätigt auch Anita, die selbst Erfahrung in einer Wohnungslosenhilfeeinrichtung hat: »Dort hatte man immer jemanden zum Reden.« Trotz der schwierigen Zeit hat es »auch das Miteinander und Fürein ander gegeben«.

Neben dem Austausch untereinander kommt den Beziehungen zu Sozialarbei ter*innen in der Wohnungslosenhilfe be sondere Bedeutung zu. »Es gibt Frauen, die wir seit 15 Jahren kennen. In diesen Fällen sind Bezugspersonen besonders wichtig, weil sie die Verläufe kennen.« Dabei ist laut Elvira Loibl »der Aufbau von Vertrauen zueinander« ein zentraler As pekt. Dieser sei »kein Prozess«, der inner halb eines Monats entstehe, sondern es gehe darum, »Krisen zu durchlaufen«.

Welche Form eine zwischenmenschli che Beziehung auch annehmen mag, Ver trauen und ein gegenseitiges Wohlwollen sowie Respekt sind zentrale Bausteine. El vira Loibl betont: »Es ist wichtig, dass wir uns Zeit miteinander geben, im Zuhören, im Hinschauen und Wertschätzen« Orte, die solches erlauben, sind dabei be sonders wichtig. Das FrauenWohnZen trum, eine Wohnungslosenhilfeeinrich tung für Frauen, zeigt die Notwendigkeit gruppenspezifischer Einrichtungen. Doch diese sind in Österreich nicht ausrei chend vorhanden. Daher fordert Amnesty International u. a. vielfältige und grup penspezifische Angebote in der Woh nungslosenhilfe.

Unterschreibe die Petition: amnesty.at/petition-wohnen

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RIGHT TO LOVE RELIGIÖSE SCHRANKEN 14 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022

Nur die Liebe zählt

Die Zuneigung zwischen Tehmeena Rizvi und Yash Verma stand unter einem schlechten Stern: Sie ist eine Muslimin aus Kaschmir, er ein Hindu aus Delhi. Die beiden heirateten –trotz aller Schwierigkeiten. Protokoll: Oliver Schulz, Fotos: Florian E. J. Lang

Tehmeena Rizvi: Yash und ich haben uns 2018 zum ersten Mal getroffen. Ich war im selben Jahr von Budgam in Kaschmir nach Delhi gezogen, um meine Prüfung für den öffentlichen Dienst zu machen.

Yash Verma: Zur gleichen Zeit kam ich aus den USA zurück nach Indien. Ich hatte in Kalifornien Informatik studiert. Nach meinem Abschluss wollte ich in Indien die Prüfung für Staatsangestellte machen und danach als Beamter oder Diplomat arbeiten.

Tehmeena: Wir landeten im selben Kurs. Am Anfang waren wir nicht be freundet, wir sprachen kaum miteinan der. Ich war damals sehr schüchtern. Für mich war es ein kleiner Kulturschock, als ich von Kaschmir nach Delhi zog, daher verhielt ich mich zunächst sehr zurück haltend. Yash und ich hatten völlig unter schiedliche Freundeskreise.

Als unsere Freunde dem Unterricht einmal fernblieben, begannen wir mit einander zu reden. Ich bemerkte, dass er mich anders ansah als die anderen. Wir stellten fest, dass wir in vielerlei Hinsicht den gleichen Lebenslauf hatten. Es fing mit dem Alter an, wir sind beide 27. Wir waren zur gleichen Zeit zur Schule gegan gen, wir hatten ähnliche Reiserfahrungen gemacht. Und wir hatten die gleichen Überzeugungen, wenn es um Spiritualität ging: Wir glaubten beide an etwas Größe res und dass es wichtig ist, anderen Men schen zu helfen, statt nur an uns selbst zu

Schauen gemeinsam nach vorne. Tehmeena Rizvi und Yash Verma in Delhi, September 2022.

denken. In vielerlei Hinsicht sind wir aber völlig verschieden: So haben wir unterschiedliche Vorlieben, wenn es um die Wahl der Kleidung, der Farben, der Fernsehsendungen und vor allem der Musik geht. Yash mag amerikanischen Pop und Rap, ich dagegen Urdu-Klassiker und Bollywood.

Yash: Tehmeenas Selbstvertrauen war das erste, was mir auffiel, als ich sie in ei nem unserer Kurse sah. Es beeindruckte mich von Anfang an, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Ihre Schönheit zog mich an, dies aber erst nach einigen Be gegnungen. Ich war anfänglich vor allem fasziniert, wie klug und weise sie war.

Tehmeena: Am Anfang dachten wir nicht, dass aus unserer Freundschaft eine Beziehung werden würde. Aber dann be gann eine Liebe zu wachsen. Und meine Zweifel wuchsen auch! Wie sollte ich mit der Situation umgehen? Es gibt sehr we nige Fälle solcher Beziehungen oder gar Eheschließungen, die meisten bleiben im Verborgenen. Nur etwa drei oder vier Pro zent der Frauen in Kaschmir heiraten ei nen Hindu. Selbst als wir bereits unge fähr drei Jahre in einer festen Beziehung waren, hatte ich mich noch nicht getraut, es meiner Familie zu sagen. Ich hatte Angst vor ihrem Urteil.

Dazu muss ich sagen, dass ich aus ei ner sehr religiösen schiitischen Familie im indischen Teil Kaschmirs komme. Ich hatte eine privilegierte Erziehung in ei nem überwiegend schiitischen Viertel genossen. Mein Vater war zweimal zur Hadsch in Mekka. Meine Familie betet fünfmal am Tag. Meine Mutter und mei

ne Schwestern bedecken bis heute ihren Kopf, und ich habe das auch lange getan. Außerdem muss wohl erklärt werden, dass es in den muslimischen indischen Familien ebenfalls Kasten gibt. Wir gehö ren zur Kaste der Syeds, Nachkommen des letzten Propheten Mohammed, die ursprünglich aus dem Iran eingewandert sind. Wir heiraten normalerweise inner halb der Kaste, Schiiten heiraten norma lerweise keine sunnitischen Muslime und umgekehrt.

Yash: Tehmeenas Vater ist ein ein flussreicher Mann. Weil die Familie ge schäftlich sehr erfolgreich ist, ist sie ge sellschaftlich exponiert. Und in Indien gibt es Anführer – Menschen denen ande re in der jeweiligen Gemeinschaft folgen. Wenn seine Tochter ihm nicht gehorcht, ist das ein Problem für den Vater, er ver liert seine Autorität.

Tehmeena: Die meisten Mädchen bleiben für immer in Kaschmir. Nur wenige verlassen die Region. Auch in mei ner Familie war es nicht anders. Ich bin die jüngste Tochter, keine meiner Schwes tern hat das Elternhaus vor der Ehe ver lassen. Ich hatte aber härter als sie in der Schule gelernt, war fleißiger. Deshalb schickten mich meine Eltern zum Studie ren nach Delhi. Ich war also das einzige Mädchen aus der Familie, das Kaschmir verließ, und zog in die Hauptstadt, wo ich zum ersten Mal allein lebte.

Freunde der Familie hörten von mei ner Beziehung zu Yash und informierten

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meine Eltern. Meine Mutter rief an und sagte, ich würde Schande über die Familie bringen. Ich habe versucht, meine Familie zu überzeugen – sechs Monate lang. Ich sagte, es ist eine gute Beziehung. Ich habe geredet und gestritten, bin aber nur auf Widerstand gestoßen. Dann habe ich ei nen Maulana konsultiert, einen islami schen Gelehrten. Dieser sagte, es sei mir nach islamischem Recht erlaubt, Yash zu heiraten – wenn wir nach den islami schen Normen der Nikah-Zeremonie hei rateten. Und weil ein Maulana nach isla mischem Recht Konflikte in der Gemein schaft schlichten soll, fragte er mich nach der Telefonnummer meines Vaters. Er sprach mit ihm, aber mein Vater beharrte auf seinem Nein.

An diesem Punkt war für mich eine Grenze erreicht. Mir wurde klar, dass ich meine Eltern nie würde überzeugen kön nen – egal, was ich sagen würde, sie wür den nicht zustimmen. Die gesamte Situa tion wirkte sich zunehmend negativ auf meine geistige Gesundheit aus. Alle halbe Stunde rief jemand aus meiner Familie an, um mich aus meiner Beziehung »her auszuholen«. Ich gab es auf, sie überzeu gen zu wollen.

Yash: Bei mir war es ganz anders. Es

gab so gut wie keine Probleme. Ich kom me aus einer liberalen Familie, bin in Del hi aufgewachsen und war schon in der Grundschule mit Kindern aus allen Reli gionen und Kasten zusammen. Meine Mutter und mein Vater sind Ärzte, beide arbeiten. Bildung war in unserer Familie immer ein großes Thema, mein Großva ter war Erziehungswissenschaftler. Wir sind religiös, vor allem auf eine spirituel le Art. Wir alle meditieren. Für uns sind die unterschiedlichen Konzepte, die es von Gott gibt, von großer Bedeutung. Wir gehören zur Kaste der Kayastha, traditio nell waren wir also Schriftgelehrte und Beamte. Aber in meiner Familie schaut man nicht auf Kaste oder Religion. Für uns sind alle Menschen gleich. Mein Va ter liebt alle Menschen, er interessiert sich für Muslime und ihre Kultur.

In meiner persönlichen Umgebung gab es deshalb in Bezug auf die Liebe zwi schen Tehmeena und mir kaum Schwie rigkeiten. Einige aus dem familiären Um feld mussten sich erst daran gewöhnen, mehr war da aber nicht. Meine Eltern ha ben Tehmeena von Anfang an so geliebt, wie sie ist.

Tehmeena: Wir haben uns entschie den, während des Lockdowns zu heiraten.

Das war der richtige Zeitpunkt, weil da so wieso alles im Privaten blieb. Aber auch, weil ich psychisch angegriffen war. So gab es nur eine kleine Hochzeit in Yashs Haus. Und dann, ungefähr ein halbes Jahr spä ter, folgte eine richtig große indische Hochzeit.

Yash: Sie dauerte sechs, sieben Tage. Jeden Tag gab es viele kleine Veranstal tungen, es wurde getanzt und gesungen. Wir wurden für verschiedene Anlässe im mer wieder unterschiedlich eingekleidet. Und vor allem gab es viel gutes indisches Essen. In kaum einem Land werden Hoch zeiten so gefeiert wie in Indien! Alle mei ne Freunde und Verwandten waren dabei, 200 bis 300 Gäste kamen. Und das ist noch wenig für Indien. Vielleicht hatten einige Gäste ein paar Anpassungsschwie rigkeiten, weil ich als Hindu eine Musli min heiratete, aber das war uns egal.

Tehmeena: Wer nicht dabei war, war meine Familie. Überhaupt niemand von meiner Seite. Für mich war das Fest daher ganz anders als für Yash. Man sagt ja, dass Hochzeiten für die Frauen besonders wichtig sind. Auf meiner Hochzeit fehlte jedoch vieles, was eigentlich für die Braut dazugehört. Obwohl Yashs Eltern wirklich alles getan haben, damit es schön für mich war. Sie behandelten uns, als wür den sie zwei ihrer Kinder verheiraten. Aber das Vakuum blieb, das durch die Ab wesenheit meiner Eltern entstand. Nie mand konnte diese Leere füllen.

Yash: Aber das Leben geht weiter. Wir beide haben unsere Arbeit. Tehmeena ar beitet als Public-Policy-Expertin, unter anderem im Bereich Frauen- und Kinder rechte und Entwicklung. Ich bin Ge schäftsmann und Inhaber einer Marke, die natürliches Mineralwasser aus dem Himalaja und andere Produkte verkauft.

Tehmeena: Wir stellen uns die Zu kunft ähnlich vor, wie unser Leben jetzt bereits ist: Wir feiern weiterhin die Feste zusammen, sowohl das hinduistische Diwali als auch das muslimische Eid. Wir haben auch keine Probleme mit den Essensregeln, denn wir sind beide NichtVegetarier und mögen ähnliche Gerichte, Wir lieben es, zusammen zu essen!

Daran, eine Familie zu gründen, den ken wir noch nicht, aber wenn wir es tun, werden unsere Kinder frei sein, den Weg einzuschlagen, den sie einschlagen wol

»Meine Eltern haben Tehmeena von Anfang an geliebt.«
Yash Verma
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len. Das Einzige, was wir ihnen beibrin gen möchten, ist, an Gott zu glauben. Ich habe keine Angst, dass meine Kinder marginalisiert werden könnten.

Yash: Im Alltag fallen wir ja auch kaum auf. Wir kleiden uns beide eher westlich. Man merkt nicht, dass wir ein interreligiöses Paar sind. Wir geraten auch nicht in entsprechende Situationen, schon gar nicht in solche, in denen wir vielleicht sogar gefährdet wären. Zumin dest hier in Süd-Delhi, wo wir leben, ist das soziale Klima offener.

Tehmeena: Ich hatte schon aufgehört, meinen Kopf zu bedecken, als ich nach Delhi kam. Auch weil es hier im Vergleich zu Kaschmir so schwül ist. Vielleicht reden manchmal einige Leute hinter unserem Rücken, wenn wir außerhalb der Stadt sind, aber dann hören wir es ja nicht.

Meine Religion habe ich nicht aufge geben, ich praktiziere meine Rituale, so wie mein Mann seine praktiziert. Zu mei ner Familie habe ich weiterhin keinen Kontakt. Am Ende hat jedes Telefonge spräch die Situation noch schlimmer ge macht. Jetzt herrscht Schweigen. ◆

SCHWIERIGE BEZIEHUNGEN

Wenn es um Beziehungen und Ehen geht, ist In dien ein besonders restriktives Land. Grund ist vor allem das Kastensystem, festgeschrieben in den jahrtausendealten vedischen Texten, das bis heute besteht – obwohl laut der Verfassung von 1947 jede Benachteiligung aufgrund der Kastenzugehörigkeit verboten ist. Dieses religi ös fundierte Gesellschaftssystem betrifft aber nicht nur die Hindus. Es hat auf andere Gemein schaften ausgestrahlt, deshalb gibt es in Indien auch etwa unter Muslim*innen und Sikhs Kas tenrestriktionen – Liebesbeziehungen sollten nur innerhalb derselben Kaste stattfinden. Waren interreligiöse und kastenübergreifende Beziehungen bis in die 1980er Jahre noch üb licher, so ist es besonders seit dem Erstarken des Hindu-Nationalismus in den vergangenen Jahrzehnten zu massiven Anfeindungen und Übergriffen gegen Paare gekommen, deren Be ziehungen die Kastengrenzen, besonders aber die Grenzen der Religionen überschritten. Mit einer breit angelegten Kampagne gegen einen angeblichen »Love Jihad«, bei dem hinduisti sche Frauen in muslimische Beziehungen ge lockt und gezwungen würden, haben die Hin

du-Nationalisten das Klima der Angst weiter ge schürt. Dennoch gibt es auch heute noch viele interreligiöse Beziehungen in Indien. Für privile gierte Menschen sind sie weniger problema tisch – wohl aber für Menschen aus einfache ren Verhältnissen, besonders wenn sie auf dem Land leben.

Das India Love Project porträtiert seit Jahren interreligiöse, kastenübergreifende, aber auch homosexuelle Paare, um zu zeigen, dass es auch ein anderes Indien gibt. Vor allem privile gierte, teils auch prominente Menschen be schreiben dort ihre Beziehung.

Die Organisation Dhanak of Humanity in New Delhi hat sich seit 2004 die Unterstützung jener auf die Fahnen geschrieben, die wegen ihrer interreligiösen Beziehungen Anfeindungen oder gar Angriffen ausgesetzt sind, und bietet ihnen direkt Hilfe an. Die Non-Profit-Organisa tion setzt sich auch gegen Ehrenmorde und er zwungene Hochzeiten ein. ◆

India Love Project: www.instagram.com/indialoveproject Dhanak: www.dhanak.org.in

UMKÄMPFTE REGION

Der Status der Region Kaschmir im Himalaya ist seit Jahrzehnten umstritten. Nach dem indischpakistanischen Krieg wurde die Region geteilt, in Indien entstand der Bundesstaat Jammu und Kaschmir, im Norden kamen Asad Kaschmir und Gilgit-Baltistan unter pakistanische Verwaltung. Die Mehrheit der Bevölkerung sind sunnitische Muslim*innen, die muslimische Konfessions gruppe der Schiit*innen hat einen weitaus ge ringeren Anteil an der Bevölkerung. Sowohl die indische als auch die pakistanische Regierung nehmen für sich in Anspruch, die rechtmäßigen Vertreter der kaschmirischen Interessen zu sein, was immer wieder zu Kon flikten zwischen den beiden Nationen führt. 2019 wurde der Autonomiestatus von Jammu und Kaschmir aufgehoben und das Gebiet in zwei Unionsterritorien (Jammu und Kaschmir sowie Ladakh) aufgespalten. Die Lage in Kasch mir ist bis heute sehr angespannt, der indische Teil wird seit Jahren militärisch und sonderpoli zeilich regiert.

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»Egal, was ich sage, ich werde meine Eltern nie überzeugen können.«
Tehmeena Rizvi

Endlich Hochzeit

Jasmin und Lorena gehören zu den ersten LGBTI+-Paaren in der Schweiz, die offiziell geheiratet haben. Seit Juli 2022 ist das möglich. Von Natalie Wenger

Mit dem Tanzen fing es an. Jasmin (l.) und Lorena, Zürich, 2022. Foto: Sandra Ardizzone Photography

Zürich, wo beide eine Aus bildung zur Lehrerin absol vierten. Anfangs hatten sie nur wenig miteinander zu tun, doch dann kam das Schicksal ins Spiel: In ei nem Modul, das sie ge meinsam besuchten, muss ten sie einen Tanz einstu dieren. Jasmin war begei stert von Lorenas tänzeri schem Talent und bat sie um Nachhilfe. »Ich konnte überhaupt nicht tanzen.«

sich offiziell das Ja-Wort. Für die beiden war dies ein Triumph: Sie haben sich ak tiv für die Kampagne »Ehe für alle« und für queere Gleichberechtigung einge setzt, sind auf die Straße gegangen und haben mit ihrer Umgebung und mit ih ren Schüler*innen über Formen der Liebe diskutiert. »Vor dem Volksentscheid fühl te ich mich wie eine Bürgerin zweiter Klasse«, sagt Jasmin. »Der Entscheid zeig te uns, dass wir so akzeptiert werden, wie wir sind.«

Die Hochzeit war nur noch eine Formsache. Ihre Liebe haben Jasmin und Lorena bereits 2020 mit einer großen Party gefeiert – noch bevor das Schweizer Stimmvolk eine Änderung des Zivilgesetz buchs annahm, das die gleichgeschlecht liche Ehe landesweit legalisierte. Die Ein tragung als Paar feierten sie damals mit einer traditionellen Zeremonie: Weiße Kleider, üppige Dekoration, emotionale Reden und viel Tanz. »Wir wollten zeigen: Wir können das mit dem Heiraten genau so gut wie Hetero-Paare«, sagt Lorena. Kennengelernt haben sich Jasmin und Lorena an der Pädagogischen Hochschule

Die Proben wurden bald ausgeweitet, sie tanzten ge meinsam in Clubs. Erste fei ne Funken flogen. Lorena fühlte sich zu Jasmin hinge zogen. »Sie ist schön, sport lich, intelligent. Dabei interessierte ich mich da mals noch gar nicht für Frauen«, sagt sie. Jasmin er widerte ihre Gefühle jedoch – noch – nicht. Trotzdem blieben sie befreundet. Jas min half Lorena bei den ersten Schritten in die Re genbogenwelt, beantworte te all ihre Fragen.

Als Lorena ein Jahr später für einen Sprachaufenthalt in Bologna weilte und Jasmin den Sommer auf einer Ranch in den USA verbrachte, blieben sie über On line-Netzwerke in Kontakt. Immer öfter fühlte sich Jasmin zu Lorena hingezogen. Sie realisierte, dass sie gern die Frau an Lorenas Seite wäre. Am 22. Dezember 2012 wurden Jasmin und Lorena ein Paar. Lorena merkte, wie heteronormative Vorstellungen in ihre Beziehung zu Jas min einflossen. Doch sie wehrte sich ge gen Stereotypisierungen – auch gegen die in ihrem eigenen Kopf. »Ich war angetrie ben von der Neugier, die Liebe zu einer Frau in all ihren Facetten zu erkunden.«

Zehn Jahre später ist ihre Beziehung stärker denn je. Am 4. August gaben sie

Seit vergangenem Jahr sind Jasmin und Lorena auch stolze Eltern – dies war mit ein Grund für die Heirat: »Unser Sohn kann nun sagen, seine Eltern seien verheiratet, ohne dass er dazu mehr er klären muss«, sagt Jasmin. Der Kinder wunsch war erst mit der Zeit gekommen. »Ich dachte immer, ich werde keine Kin der haben«, sagt Jasmin. Lorena dagegen wünschte sich stets eine Familie. »Aller dings kam in meiner Vorstellung nie eine Frau als Partnerin vor.« Ihr Sohn wurde mithilfe eines Samenspenders gezeugt.

Jasmin blieb nach der Geburt sieben Monate zu Hause. Das Kind stellte das Le ben des Paars auf den Kopf. Geholfen hat ihnen in dieser Zeit eine stete offene Kommunikation. Jasmin ist sich sicher, dass ihnen oft sogar entgegenkommt, dass ihr Sohn zwei Mütter hat. »Denn wir denken beide mit«, sagt sie. Sie entschie den, offen mit ihrem Sohn über alles zu sprechen. Sie wünschen sich, dass es irgendwann kein Thema mehr sein wird, dass er zwei Mütter hat. Dass sie nicht ständig gemustert oder gar beschimpft werden. »Er soll einfach ein glücklicher Junge sein dürfen, mit zwei Eltern, die ihn lieben«, sagt Jasmin. ◆

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RIGHT TO LOVE GLEICHGESCHLECHTLICHE LIEBE
»Wir können das mit dem Heiraten genauso gut wie Hetero-Paare.« Lorena

Gefühle unter Propagandaverdacht

Die Sowjetunion wollte von Homosexualität nichts hören. Und in Russland sind LGBTI+-Organisationen zahlreichen Repressionen ausgesetzt. Das war nicht immer so. Von Tigran Petrosyan

In der sowjetischen Gesellschaft war Sex ein Tabu, Homosexualität sogar ein Verbrechen. Ab 1934 wurden gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern mit bis zu acht Jahren Haft bestraft. Homosexuelle Frauen lan deten oft in der Psychiatrie. Man verab reichte ihnen dort einige Monate lang Psychopharmaka, stufte sie nach der Entlassung als psychisch krank ein und zwang sie zu weiteren Untersuchungen und Therapien.

Doch trotz dieser Repressionen gab es in der UdSSR homosexuelle Vereinigun gen. So schlossen sich 1984 in Leningrad 30 junge Leute zu einer schwul-lesbischen Gemeinschaft zusammen, dem Gay La bor. Es gelang ihnen sogar, Kontakte nach Finnland zu knüpfen und mit dieser Unterstützung ein Präventionsprogramm gegen Aids zu starten. Unter dem Druck des Geheimdienstes KGB musste sich die Gruppe jedoch bald auflösen.

Im Jahr 1993, zwei Jahre nach dem Zer fall der Sowjetunion, hob das Parlament die Strafbarkeit von Homosexualität auf.

Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre wurden in den großen Städten Russlands schwul-lesbische Gemeinschaf ten sichtbar: Sie gingen für ihre Rechte auf die Straße, gründeten Vereine und Verbände, Zeitschriften und Filmfestivals.

Doch auf die Freiheit folgte Repres sion. Seit gut zwölf Jahren muss die LGBTI+-Bewegung harte Schläge einste cken. Präsident Wladimir Putin lehnt gleichgeschlechtliche Liebe und Sexua lität rigoros ab. In den vergangenen Jah ren griffen Neonazis immer wieder quee re Menschen an, Polizist*innen nahmen sie ohne Angabe von Gründen fest, miss handelten und folterten sie, Gerichte ver urteilten Künstler*innen und Aktivist*in nen zu Haftstrafen. Im Jahr 2017 kam es in der zu Russland gehörenden autono men Republik Tschetschenien zu »Säube rungen«: Mehr als hundert Männer, die als schwul galten, wurden in einer koordi nierten Kampagne verschleppt, inhaftiert und gefoltert, einige wurden getötet.

Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine gehen neue Repressalien gegen die

LGBTI+-Community einher. Im April 2022 löste ein Gericht die Organisation Sphere wegen »Untergrabung der moralischen Grundlagen der russischen Gesellschaft« auf, nachdem die Behörden Sphere be reits 2016 als »ausländischen Agenten« eingestuft hatten. Die gemeinnützige Stif tung finanzierte seit 2011 mehrere Orga nisationen, darunter auch die Dachorga nisation LGBT-Network. Dieses Netzwerk ist die bedeutendste queere Organisation Russlands und gilt seit 2021 ebenfalls als »ausländischer Agent«.

Derzeit stehen zahlreiche Mitglieder von LGBTI+-Organisationen vor Gericht, andere haben das Land verlassen. Die Or ganisation Wychod musste im April 2022 ihr Büro in St. Petersburg schließen. Sämtliche Mitarbeiter*innen gingen ins Ausland. Wychod arbeitet jedoch im Exil online weiter und bietet queeren Men schen in Russland, auf der Flucht oder im Ausland psychologische und juristische Unterstützung an.

Im Juni 2022 wurde ein Gesetzentwurf in die Duma eingebracht, der »Propagan da für nicht-traditionelle sexuelle Bezie hungen« unter Erwachsenen und Min derjährigen verbietet und damit ein Ge setz aus dem Jahr 2013 verschärft. Die Verbreitung von Informationen über die LGBTI+-Community wäre damit künftig strafbar und könnte für Privatpersonen Geldstrafen in fünfstelliger Höhe nach sich ziehen. Organisationen und andere juristische Personen müssten mit Strafen von bis zu zehn Millionen Rubel (knapp 162.000 Euro, Umrechnungskurs Mitte September) oder einem Betätigungsver bot für 90 Tage rechnen. Weil die Defi nition von »Propaganda« in dem Gesetz entwurf bewusst vage gehalten ist, könn ten die Behörden jede von LGBTI+-Grup pen verbreitete Information als Propa ganda einstufen und entsprechend bestrafen.

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◆Der Regenbogen weist den Weg. LGBTI+-Demonstration 2017 in St. Petersburg. Foto: Olga Maltseva / AFP / Getty Images

Nur wenige Quadratmeter Privatsphäre

Der Alltag im Flüchtlingslager macht Liebe so gut wie unmöglich. Die Familie Nikpa aus Afghanistan musste das auf Lesbos schmerzhaft erleben. Und auch in Deutschland machen Flüchtende schlechte Erfahrungen.

Von Christian Jakob (Text) und Dimitris Michalakis (Fotos)

20 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 RIGHT TO LOVE LIEBE IM LAGER

Ein für menschliche Nähe kaum geeigneter Ort. Lager auf Lesbos, September 2022.

Als Isobox werden sie verkauft, auch die Flüchtlinge im Lager nennen die Metallcontainer so. Aber sie isolieren nicht.

Im Sommer staut sich in ih nen die Hitze, im Winter die Kälte. Und niemals isolieren sie den Lärm, den Streit und die Spannung, die in der Luft liegen. Die vierköpfige Familie Nikpa aus Afgha nistan lebte auf sechs Quadratmetern in einer Isobox in Moria, dem einst größten Flüchtlingslager Europas. In dem Lager auf der Insel Lesbos, das für 2.800 Men schen gebaut wurde, kamen zeitweise 20.000 Menschen unter.

Der 38-jährige Mir Ahmad Nikpa war früher Soldat, Latifah ist 29 und arbeitete in Kabul als Hebamme. Sie gehören der Minderheit der Hazara an und verließen Afghanistan mit ihren beiden Töchtern im Jahr 2017. Viermal wurde ihr Asyl antrag in Griechenland abgelehnt, vier Jahre lang lebten sie in Flüchtlingslagern auf Lesbos, die Hälfte der Zeit in Moria.

Dort wohnten sie mit sieben Familien in einem der grauen Container – nur durch eine dünne Wand getrennt von den anderen. Weil es keine Tür gab, hängten sie einen alten Teppich vor ihren Teil der Isobox. »Jeder konnte einfach rein und uns bei allem zusehen«, sagt Latifah.

40 Menschen mussten sich eine Toi lette und ein Waschbecken teilen. Vor der Tür schliefen Hunderte weitere Men schen in Zelten, ohne eigene Waschgele genheit und Toilette. Dreimal täglich standen alle stundenlang für Essen und Wasser an. In Moria gab es Schlägereien,

Brände, Messerstechereien. Frauen fürch teten Vergewaltigungen und Kinder Rat tenbisse. »Wir waren mit den Kindern fast immer drin, weil wir Angst hatten, dass ihnen draußen etwas zustoßen könnte«, sagen die Nikpas.

Die Nachbarn schrien sich bis spät nachts an, erzählt Latifah. Es gab Streit wegen der Toiletten, wegen des Putzens, wegen allem. »Wir hatten keinen Ort, um Emotionen zu zeigen, um den Stress los zuwerden. Wenn wir uns gestritten ha ben, saßen wir danach einfach weiter da, weil es keinen Platz gab, irgendwohin auszuweichen«, sagt Latifah. Man blieb also sitzen, bis man müde wurde und ent kräftet einschlief, in der Hoffnung, dass es am nächsten Tag wieder gehen würde. »Aber oft konnten wir nicht schlafen, es gab immer wieder Brände, wir hatten Angst.«

Ehe und Familie rechtlich geschützt

Die Allgemeine Erklärung der Menschen rechte und europäische Rechtsordnungen schützen die Ehe, die Familie, das Privat leben. Aber was nützt dies Menschen wie den Nikpas, die unter Bedingungen leben müssen, die darauf ausgerichtet sind, zu zermürben und abzuschrecken? Was bleibt dann von der Liebe? Von jener Lie be, die viele auch unter einfacheren Um ständen nicht erhalten können?

Sie sei froh, dass es zwischen ihnen nie zu Gewalt gekommen sei, sagt Latifah. Sie sei stolz, dass sie ihren Mann und die Kinder nie angeschrien habe. Wen man liebt, den will man auch beschützen, sagt

Mir Ahmad. Doch das kann er nicht im mer. Als die Familie in Moria ankam, hat te sie anfangs noch keine Isobox, sondern nur einen Verschlag aus Planen. Eines Nachts gab es eine Massenschlägerei, Menschen trampelten über sie hinweg, je mand trat Latifah ins Gesicht. Mir Ahmad zeigt auf seinem Handy Fotos, auf denen Latifah mit einem so geschwollenen Ge sicht zu sehen ist, dass man sie kaum wiedererkennt.

Zunächst erhielten die Nikpas 240 Euro im Monat. Bald wurde ihr erster Asylantrag abgewiesen. Danach gab es kein Geld mehr. Mir Ahmad konnte sei nen Kindern keine Wünsche erfüllen. An der Hafenpromenade der Inselhauptstadt Mytilini verkauften Händler*innen bunte Ballons, Bäcker*innen boten Baklava an, und in den Cafés gab es Eis. »Dein Kind sieht andere Kinder, die das alles bekom men. Aber Du hast kein Geld. Was sagt man dann? ›Sei still?‹ Es fühlt sich so schlecht an.«

Auch ihr zweiter, dritter und vierter Asylantrag wurden abgelehnt. Mir Ah mad sagt, er habe deshalb psychische Pro bleme bekommen. Nach der zweiten Ab lehnung verschrieben Ärzte ihm Medika mente. Doch eine Packung kostete 40 Euro, und die hatte er nicht. Sieben Mona te ist es her, dass er das Medikament zum letzten Mal von einer Hilfsorganisation bekam. Wenn Latifahs Kopfschmerzen nicht aufhörten, ging sie manchmal zur

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 21

Nach fünf Jahren als Flüchtlinge anerkannt. Familie Nikpa, Lesbos, September 2022.

Isobox im »Reception and Identification Centre«, Lesbos, September 2022.

Krankenstation von Moria. Doch meist war die Schlange so lang, dass sie wieder umdrehte. Wenn sie drankam, sagten die Ärzte: »Trink Wasser!« Ihre Kopfschmer zen bleiben.

Mir Ahmad ist der Cousin von Latifahs Mutter, so lernten sie sich kennen und heirateten 2010. Latifah war damals 17, in Afghanistan gilt das für eine Braut schon als alt, Mir Ahmad war 26. Sie zogen nach Kabul, er ging zur Armee, sie machte eine Ausbildung als Hebamme. »Wir wollten nicht weg«, sagt Latifah. Doch die Taliban verschleppten erst Mir Ahmads Bruder, dann seinen Vater. Danach wollten sie »nur noch weg«.

Im September 2020 brannte das Lager in Moria ab. Die Bewohner*innen wurden daraufhin in ein neues Lager auf Lesbos gebracht, das »Reception and Identifica tion Centre«. Dort hatten die Nikpas eine Isobox ganz für sich. Sie glaubten an eine bessere Zukunft. Im April 2021 wurde ihre dritte Tochter geboren. Im Mai 2022 hatte ihr fünfter Asylantrag Erfolg. Wohl wegen der Machtübernahme der Taliban änderte Griechenland die Anerkennungspraxis. Doch Mir Ahmad ging es immer schlech ter. Eine NGO besorgte ihnen eine kleine Wohnung in Mytilini. Im September 2022 verließ die Familie das Lager. Weil sie kein Geld für den Bus hatten, liefen sie bei 30 Grad kilometerweit die Küstenstraße ent lang.

Ihre neue Wohnung liegt an einem Hang oberhalb von Mytilini. Im ersten

Stock eines alten Natursteinhauses haben sie zwei Zimmer und eine Küche. Die Nik pas sitzen auf einer Matratze auf dem Bo den. Nach fünf Jahren haben sie eine ei gene Wohnung. Und nun? »Putzen«, sagt Latifah. »Ich weiß es nicht«, sagt Mir Ah mad. »Wir brauchen Essen.«

Geld bekommen sie nicht. Zunächst können sie noch Essenspakete im Lager abholen. Mir Ahmad läuft dafür eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Sie sind zwar als Flüchtlinge anerkannt, doch um die Insel verlassen zu können, müs sen sie Papiere haben und dafür bezah len. Das können sie nicht.

Demütigung in Manching

Europas Flüchtlingslager sind dazu da, Menschen fernzuhalten, die man nicht haben will. Das ist nicht nur in Griechen land so. In Deutschland erfand der dama lige Innenminister Horst Seehofer im Jahr 2018 sogar einen neuen Lagertyp, um Flüchtende abzuschrecken: Die Ankerzen tren, eine Mischung aus Asylheim und Abschiebelager. Eines der ersten entstand in der Max-Immelmann-Kaserne in Man ching bei Ingolstadt, Seehofers Heimat stadt. »Der besondere Schutz von Ehe und Familie ist nicht umsonst ins Grundge setz geschrieben«, sagte Seehofer gern.

Die Familie Skyrta aus der Ukraine be kam davon nicht viel mit. Die Wachleute des Lagers, das im August 2018 von einer Ankunfts- und Rückführungseinrichtung (ARE) in ein Ankerzentrum umgewandelt wurde, hätten ihr Zimmer morgens um sieben Uhr nach Lebensmitteln, Alkohol und Kochplatten durchsucht, weil all das

im ARE und im Ankerzentrum verboten gewesen sei, sagt Dmytro Skyrta. Die Wa chen seien einfach hereingekommen, denn Flüchtlinge dürfen keine Schlüssel für ihre Zimmer haben. »Ich lag mit mei ner Frau im Bett und fragte, ob sie nicht wenigstens warten könnten, bis wir ange zogen sind«, berichtet Skyrta. Doch die Wachen warteten nie. Er tippt ein Wort in sein Handy und zeigt die Übersetzung: »Demütigung« steht da. Die Regierung des Bezirks Oberbayern bestreitet dies: »Anlasslose Zimmerkontrollen fanden nicht statt«, sagt ein Sprecher.

Der 36-Jährige Dmytro Skyrta stammt aus Kiew und arbeitete im ukrainischen Parlament als Jurist für Julia Timoschen ko, deren Partei damals in der Opposition war. Weil er und andere Korruption in der Regierung aufgedeckt hätten, sei Klage gegen ihn erhoben worden – zu Unrecht, sagt er. Der Geheimdienst habe ihn ins Gefängnis bringen wollen. Im März 2017 floh das Paar mit der zwei Monate alten Tochter nach München. Die Behörden schicken sie ins ARE nach Manching. Ein Zimmer, wenige Quadratmeter, ein El ternbett, ein Kinderbett, ein Stahl schrank, ein Tisch.

Die Durchsuchungen habe er als be sonders schlimm empfunden, weil er nichts habe dagegen machen können, sagt Dmytro. 2017 wurde der Antrag der Skyrtas auf Asyl abgelehnt. Sie klagten da gegen und warten seither auf einen Ver handlungstermin. Auch Dmytro und Ole na glaubten an eine Zukunft als Familie. 2018 wurde ihre zweite Tochter geboren, 2019 durften sie das Ankerzentrum ver

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lassen und leben nun in einem Zimmer im Flüchtlingsheim in Bischofswiesen, nicht weit vom Königssee.

In der Ukraine lebten die beiden un verheiratet zusammen. Irgendwann hat ten sie das Gefühl, dass sie ihr ganzes Le ben lang zusammenbleiben wollten. Im März 2020 gingen sie in Bischofswiesen zum Standesamt und fragten, was sie tun müssten, um zu heiraten. Neun Monate brauchen sie, um alle Papiere zu beschaf fen. Ein Standesbeamter erklärte sie am 27. Januar 2021 zu Mann und Frau. Doch wegen der Corona-Pandemie durften ihre Eltern nicht anreisen. Der Hochzeitstag sei leise gewesen, sagt Dmytro. »Nicht so schön, wie er hätte sein können.«

Obwohl beide einen akademischen Abschluss haben, entschieden sie sich für eine weitere Ausbildung, um besser Deutsch zu lernen und Abschlüsse vor weisen zu können, die in Deutschland an erkannt werden. Auf den Unterricht in der Berufsoberschule Traunstein soll ein duales Studium in Salzburg folgen – Ole na interessiert sich für Genetik, Dmytro für Mathematik. Aus Bischofswiesen wol len sie nicht mehr weg. »Unsere Kinder sollen hier zur Schule gehen«, sagt Dmytro.

Nach Sierra Leone abgeschoben

Die Zukunft der Familie Skyrta hat an Konturen gewonnen. Die Jahre im Lager haben sie trotz aller Probleme zu sammengeschweißt. Bei Adama und Ed win K. aus Sierra Leone war es anders. Ihr Fall zeigt, wie das Lager Familien ausein anderreißen und Leben zerstören kann.

Adama ist Anfang 30 und sitzt in ihrer

Wohnung in der Nürnberger Innenstadt. Die Schrankwand im Wohnzimmer ist ge füllt mit Fotos von ihren vier Kindern und ihrem Mann. Adama war 2012 als Zwangsprostituierte in die Niederlande gekommen. Sie wurde schwanger, konnte sich befreien, ging zur Polizei und floh weiter nach Deutschland. Die junge Frau kam in ein Lager in Deggendorf, die baye rischen Behörden wollten sie zunächst je doch wieder in die Niederlande abschie ben. Im Lager brachte sie ihr erstes Kind Joseph zur Welt und lernte Edwin kennen. »Er lebte auf derselben Etage«, erzählt Adama. Die beiden bekamen drei weitere Kinder, darunter eine Tochter. Diese er hielt Asyl, weil ihr in Sierra Leone als Mädchen oder junge Frau eine Genital verstümmelung droht. Die Behörden stellten deshalb auch Adama und den Ge schwistern Aufenthaltsbescheide aus.

Edwin erhielt diesen Bescheid jedoch nicht, weil sein Asylantrag abgelehnt wor den war. Nach Ansicht der Behörden soll te er nach Ghana ausreisen und bei der dortigen deutschen Botschaft, die auch für Sierra Leone zuständig ist, ein Visum für eine Familienzusammenführung be antragen. Edwin fürchtete jedoch, nicht wiederkommen zu dürfen, und wollte bei seiner Familie bleiben.

Im März 2022 bestellte die Ausländer behörde in Landshut die Familie ein. Ed win wurde von der Polizei festgenom men. Adama zeigt ein Handyvideo von der Festnahme: Man sieht, wie Edwin in einem Beet vor dem Gebäude der Auslän derbehörde liegt. Zwei Polizisten knien auf ihm, während seine Tochter an ihm

zieht. Adama sah ihn in den folgenden Monaten ein paar Mal im Gefängnis und bei der Gerichtsverhandlung in Landshut. »Er war an den Füßen gefesselt und konn te nur so laufen«, sagt sie und macht Trip pelschritte in ihrem Wohnzimmer.

Edwin blieb fünf Monate in Abschie behaft. Er entwickelte Wahnvorstellungen und musste ärztlich behandelt werden. »Am Ende hat er uns nicht mehr er kannt«, sagt Adama. Anfang September bekam Adama einen Anruf von der Grenzpolizei am Flughafen in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone. Edwin sei in Begleitung von vier Polizisten und einem Arzt gerade gelandet, sagte der Be amte. Adama bat, mit Edwin sprechen zu dürfen. »Er kann mit niemand sprechen«, sagte der Polizist. Bald darauf meldete sich ein Priester aus Sierra Leone am Tele fon. Man habe Edwin zu ihm gebracht, be richtete der Mann. Er sei »nicht normal«.

Als Adama Edwins Anwalt kontaktier te, erfuhr sie, dass Edwin eine Einreise sperre erhalten habe und fünf Jahre lang nicht mehr in die EU kommen dürfe. »Wann werde ich ihn wiedersehen?«, fragt Adama. ◆

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»Nicht so schön, wie er hätte sein können.«
Dmytro Skyrta über seinen Hochzeitstag
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Privatsphäre ist anderswo. Schlafraum im Lager, Manching, 2018. Foto: Stefan Puchner / dpa / pa

Nicht ohne meine Mutter

RIGHT TO LOVE TOCHTERLIEBE
Im Iran wurde Nahid Taghavi wegen ihres Engagements für Frauenrechte inhaftiert. In Deutschland kämpft ihre Tochter Mariam Claren seit fast zwei Jahren für ihre Freilassung. Von Hannah El-Hitami
An
der Seite von Nahid
Taghavi.
Amnesty-Aktivistinnen demonstrieren in Berlin für die Freilassung der Inhaftierten. Foto:
Jarek Godlewski / Amnesty
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Es fühlte sich an wie Liebeskum mer, nur schlimmer, gepaart mit Panik und lähmender Angst.« So erinnert sich Mari am Claren an die ersten Tage nach der Festnahme ihrer Mutter Nahid Taghavi im Iran. Tagelang konnte sie nicht essen oder schlafen, hatte starke Kopfschmerzen, rauchte Kette. »Ich war fest davon überzeugt, dass meiner Mutter die Hinrichtung drohte«, erzählt sie.

Doch dann sei sie aktiv geworden und habe sich Ziele gesetzt. Zunächst musste die Öffentlichkeit von der Festnahme ih rer Mutter erfahren. Sie kontaktierte das Auswärtige Amt, Amnesty International, die Medien. Sie gab ein Interview nach dem anderen. Plötzlich war die 42-Jährige nicht mehr nur Veranstaltungsmanage rin bei einem Weinhändler, sondern poli tische Aktivistin. Ihre Marketingerfah rung erwies sich als nützlich: »Ich dachte mir, ich muss jetzt das wichtigste Produkt vermarkten: meine Mutter.«

Nahid Taghavi ist eine iranisch-deut sche Frauenrechtlerin und eine von meh reren Doppelstaatler*innen, die im Iran im Gefängnis sitzen. Seit ihrer Festnahme im Oktober 2020 wurde sie monatelang in Isolationshaft gehalten, gefoltert und in einem unfairen Gerichtsverfahren zu zehn Jahren Haft verurteilt, wegen ange blicher Beteiligung an einer »illegalen Gruppe«. Der gesundheitliche Zustand der 68-Jährigen hat sich während der zwei Jahre im Evin-Gefängnis in Teheran rapide verschlechtert. Unterdessen hat sich Taghavis Tochter Mariam Claren von Deutschland aus unermüdlich für die Freilassung ihrer Mutter eingesetzt – mit Erfolg: Nach massivem internationalem Druck und diplomatischen Bemühungen aus Deutschland erhielt Taghavi im Juli medizinischen Hafturlaub. Der Kampf um ihre Freiheit hat Mutter und Tochter enger denn je zusammengeschweißt –doch die Sorge, wie es nach dem Haftur laub weitergeht, lässt ihnen keine Ruhe.

Wenn Mariam Claren an ihre Mutter denkt, hat sie immer dasselbe Bild vor Augen: Wie diese am Computer sitzt, liest, schreibt. Auch jetzt, bei ihrer Familie in Shiraz, verbringt Nahid Taghavi vermut lich einen Großteil ihrer Zeit auf diese Weise. Nach zwei Jahren Haft ist jede Menge aufzuholen. »Für jemanden wie

sie, die politisch so interessiert ist, ist das wie wenn eine Verhungerte Essen be kommt«, sagt Claren. »Sie kam raus und fragte: ‚Was ist denn im Kapitol in den USA passiert?‘ Und ich dachte nur: Krass, so lange warst du weg.«

Das politische Engagement der Mutter prägte auch das Leben der Tochter. Bei ih nen zu Hause sei ständig das Wort »Siya set« gefallen, Farsi für »Politik«. »Ich konnte das nicht einordnen«, erinnert sich Claren. »Als Kind habe ich immer ge sagt, dass meine Mutter Politikerin ist.« Taghavi wuchs in einer weltoffenen Fami lie in Shiraz auf. Anfang der 1970er Jahre schickten ihre Eltern sie nach Florenz, wo sie Architektur studierte. »Dort hat sie sich politisiert«, erzählt Claren. Ihre Mut ter schloss sich einer exiliranischen Stu dierendenvereinigung an, kämpfte gegen die Monarchie im Iran. »Sie war zustän dig für die politischen Gefangenen im Iran und hat eng mit Amnesty in Italien zusammengearbeitet.« Bei dem Gedan ken, dass ihre Mutter 40 Jahre später selbst zum Amnesty-Fall geworden ist, be kommt Claren Gänsehaut.

Die ersten Tage waren der Horror Claren wurde in Teheran geboren, hat den Iran aber nur als Baby erlebt. Anfang der 1980er Jahre verließ ihre Mutter mit ihr das Land in Richtung Deutschland. Der Schah war zwar 1979 gestürzt worden, wie Taghavi es sich gewünscht hatte. Doch was danach kam, war für sie und viele andere noch schlimmer: ein repres sives Regime mit strengen religiösen Re geln – »von der Schlangengrube in die Drachengrube«, sagt Claren. »Die Genera tion meiner Eltern hat so sehr für eine Re volution gekämpft. Und dann war es eine verlorene Revolution.« So lebten Mutter und Tochter viele Jahre zu zweit in Köln. Clarens Vater war kurz nach ihrer Geburt bei einem Autounfall gestorben. Taghavi setzte ihr Engagement im Exil fort, und auch ihre Tochter bekam die Prinzipien der Mutter schon früh zu spüren. »Als Kind war ich oft genervt davon«, erzählt sie. »Meine Mutter ist Frauenrechtlerin und kämpft gegen das Patriarchat. Wenn man 16 ist und seinen ersten Freund mit nach Hause bringen will, kann das sehr anstrengend sein.«

Im Urlaub gab es Kulturprogramm statt Strand, und schon früh bestand Tag havi darauf, ihrer Tochter das Unrecht auf der Welt zu zeigen. Das habe ihr nicht ge schadet, sagt Claren heute. Sie habe ein starkes Selbstbewusstsein entwickelt, sich nie etwas gefallen lassen. »Als meine Mutter festgenommen wurde, ist etwas in mir erwacht. Ich wurde zur Aktivistin –

als hätte all das, was sie mir beigebracht hat, in mir geschlummert.«

Mitte der 2000er Jahre reiste Taghavi wieder regelmäßig in den Iran: erst ein, zwei Monate im Jahr, dann lebte sie halb hier, halb dort. War sie in Deutschland, wohnte sie bei ihrer Tochter in Köln. Auch im November 2020 wollte Taghavi wieder zu ihrer Tochter nach Deutschland reisen. Fast ein Jahr hatten die beiden sich nicht gesehen, der Ausbruch der Pandemie hatte die Reisepläne verzögert. »Mitte Oktober wollten wir gemeinsam nach Flugtickets gucken«, erzählt Claren. Kurz darauf verschwand ihre Mutter. Zwei Tage war sie unauffindbar, dann erfuhr Claren von ihrem Onkel, dass Taghavi festge nommen worden war.

»Die ersten Tage waren der Horror«, erinnert sie sich. Denn neben der rationa len, toughen Aktivistin war da immer noch Mariam Claren, die Tochter, die sich wahnsinnige Sorgen um ihre Mutter machte und immer noch macht: »Sie tut mir so leid, ich frage mich immer, ob ich genug getan habe. Ich bin so wütend über das, was ihr angetan wird. Und ich ver misse sie auch einfach ohne Ende.« Schon seit fast zwei Jahren kämpft Claren für die Freiheit ihrer Mutter. Die ersten fünf Mo nate durfte sie nicht mit ihr sprechen, später dann immerhin fast täglich für zehn Minuten telefonieren.

Im Juli kam dann ganz unerwartet die Mitteilung der Staatsanwaltschaft: Tagha vi erhalte Hafturlaub, dürfe das Land aber nicht verlassen. Als Mutter und Tochter sich das erste Mal wieder im Videochat sahen, weinten beide lange. Taghavi hat in der Haft stark abgenommen, mehrfach Bandscheibenvorfälle erlitten und Schlaf störungen entwickelt. »Meine Mutter sagt immer: Körperlich hat man mich zerstört, aber nicht geistig«, berichtet Claren.

»Jetzt müssen wir nur aufpassen, dass der Fall nicht in Vergessenheit gerät«, sagt sie. Denn Taghavis Freiheit ist nur temporär, weitere acht Jahre Haft schwe ben wie ein Damoklesschwert über der Familie. Doch selbst wenn ihre Mutter ei nes Tages wirklich frei sei und in ein nor males Leben zurückkehren könne – so wie früher werde es nie mehr werden. »Wir haben immer noch ein Mutter-Toch ter-Verhältnis, aber es ist sehr viel Freundschaft dazugekommen«, erzählt Claren. »Sie sagt zwar immer, ihr sei klar gewesen, dass ich mit meinem Gerechtig keitssinn nicht einfach untätig bleiben würde, aber diese Dimension hat sie wohl nicht kommen sehen.«

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»Sie tut mir so leid, ich frage mich immer, ob ich genug getan habe.«
Mariam Claren

Sie haben die

Klischees satt

Die Liebe zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen stößt oft auf Unverständnis und muss einige Vorurteile überwinden. Begegnungen mit drei Paaren. Von Olalla Piñeiro Trigo

Victor* ist mein Geliebter. Und er ist mein Pfleger«, sagt Ramy*. Ramy und Victor, beide Mitte 20, sind seit drei Jahren zusammen. Ramy sitzt wegen fortgeschrittenem Muskel schwund im Rollstuhl, Victor ist »ge sund«, also ohne körperliche Behinde rung. Die beiden haben sich über die Dating-App Tinder kennengelernt. Zu nächst waren sie einfach befreundet, bis Ramy vorschlug, einen Schritt weiter zugehen.

»Ich hatte anfangs Zweifel«, sagt Vic tor. »Ich hatte Angst, dass es mit Ramys Behinderung kompliziert werden würde. Und ich hatte Angst, dass ich mich lang weilen würde, wenn ich seinetwegen nicht mehr so aktiv sein könnte wie bis her«, gibt er zu. »Doch diese Zweifel ver flogen zunehmend. Heute gibt es viele Angebote für Menschen mit Behinderun gen: Fahrradfahren, Skifahren, Wasserski, Thermalbäder, Paragliding …«

Die 25-jährige Daya* kennt ihren jetzi gen Freund seit der Kindheit, lange waren sie nur befreundet. Es dauerte eine Zeit, bevor sie miteinander intim wurden. »Er konnte gut mit meiner Behinderung um gehen, weil er weiß, wie selbstständig ich bin«, sagt Daya. Obwohl sie nicht gehen kann, kommt sie im Alltag allein zurecht,

benötigt lediglich eine Haushaltshilfe. Sie arbeitet, hat ein eigenes Auto und lebt allein.

Bei der täglichen Körperpflege erhält Line*, 42, Unterstützung von professionel len Helfer*innen, aber auch von ihrem Partner. »Es ist ein Austausch von Dienst leistungen. Ich kümmere mich um seinen Papierkram, und er legt mir eine Sonde«, sagt Line, die wegen eines medizinischen Fehlers bei der Geburt im Rollstuhl sitzt. Ihre Behinderung sei nie ein Problem ge wesen, sie habe mit ihrem Partner bereits beim ersten Online-Austausch vor zehn Jahren darüber gesprochen. »Unsere Streitigkeiten drehen sich wie bei jedem anderen Paar um den Haushalt, aber nie um die Behinderung.«

In einer Partnerschaft, in der die eine Person Hilfe beim Gehen, Duschen oder Essen benötigt, kann die Grenze zwischen »Pfleger*in« und »Geliebte*r« jedoch ver wischen – und die Beziehung belasten. »Manche Dinge wie die Körperpflege sind ein bisschen ein Liebestöter«, sagt Ramy. »Victor macht das nur, wenn es nicht an ders geht. Es ist entscheidend, gemein sam Grenzen zu definieren«.

Ramy gibt zu, dass er anfangs befürch tete, sein Partner könnte ihn eines Tages für eine »unkompliziertere« Beziehung verlassen. Sein Recht auf Liebe hat er aber nie hinterfragt: »In meinen Vorstellun gen dominierte lange das Bild einer tradi tionellen, heterosexuellen Partnerschaft.

Meine Eltern haben mich aber immer bestärkt, und ich fühlte mich nie einge schränkt.«

Daya steht von A bis Z zu ihrer Behin derung: Sie zeigt ihren Körper im Som mer ohne Hemmungen und sie weigerte sich lange, ihren Rollstuhl gegen Prothe sen einzutauschen. Sie hat auch keine Probleme damit, über Intimes zu spre chen, weil sie aufzeigen möchte, »dass eine Behinderung nichts ändert«.

Auch wenn alle drei die Liebe gefun den haben, standen die Verehrer*innen nicht gerade Schlange. »Auf Dating-Apps spreche ich meine Behinderung nicht an, weil ich möchte, dass meine Persönlich keit entscheidend ist, nicht die Tatsache, dass ich keine Beine habe. Sobald ich es thematisiere, leert sich die Chatbox«, sagt Daya. Das erlebt auch Line: »Die Gesprä che enden, sobald meine Behinderung zutage kommt. Eine Behinderung ruft noch immer Mitleid hervor. Ich habe die se Klischees satt.« Line hat zwar einige schöne Liebesgeschichten erlebt, aber

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»Manche Dinge wie die Körperpflege sind ein bisschen ein Liebestöter.«
Ramy RIGHT TO LOVE INKLUSIVE LIEBE

auch viel Diskriminierung. Einer ihrer Ex-Freunde verließ sie wegen des familiä ren Drucks, ein anderer trennte sich mit der Begründung, er könne nicht mit ihr reisen. Dabei ist sie mit ihrem Van durch ganz Europa getuckert.

Line, Daya und Ramy waren nie in ei ner Beziehung mit einer Person, die eben falls eine Behinderung hat; entweder weil es keine Gelegenheit dazu gab oder weil es logistisch zu kompliziert wurde. Ein »gemischtes« Paar weckt immer noch neugierige Blicke. »Ich glaube, viele den ken, ich nutze Ramy aus«, sagt Victor. Daya sagt: »Eine Frau hat einmal meinem damaligen Freund gutmeinend ihre An erkennung dafür ausgesprochen, dass er mit mir zusammen ist. Als ob ich eine Last wäre.«

Tabuisierte Sexualität

Die Beziehungen von Menschen mit Be hinderungen stoßen in der Familie oder in sozialen Einrichtungen teils auf Wider stand. Die auf diese Fragen spezialisierte Sexualtherapeutin Catherine Agthe hält fest: »Sexualität ist ein Grundrecht, aber der Zugang dazu ist nicht einfach, wenn man mit einer Behinderung lebt. Ich empfange Patienten, die leiden, weil sie sich einsam fühlen. Paare müssen in Ein richtungen manchmal regelrecht darauf pochen, sich ein Zimmer teilen zu kön nen.« Auch manche Eltern sind manch mal überfürsorglich und wollen ihr ver

letzliches Kind vor eingebildeten Gefah ren beschützen. Line zufolge wird diese Infantilisierung durch die Tatsache ge nährt, dass »der behinderte Körper häufig als asexuell gesehen wird«.

Die Tabuisierung von Sexualität ist bei kognitiven Behinderungen umso größer. »In einer Einrichtung, in der die Zimmer oft einfach betreten werden, ist es schwierig, in seiner Intimsphäre res pektiert zu werden. So kann es beispiels weise vorkommen, dass man einen Pfle gebedürftigen bei der Selbstbefriedigung antrifft. Einige Pflegende reagieren scho ckiert und meinen, dass sie nicht mit der Sexualität anderer konfrontiert werden sollten«, erzählt Catherine Agthe. Eine weitere Barriere bestehe darin, dass die eigene Vorstellung von Intimität auf die Betroffenen projiziert würde. »Sobald eine Person mit kognitiver Behinderung äußert, dass sie mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin schlafen möchte, stellt man sich Sex vor. Häufig wird die Person aber einfach nur Körperkontakt wün schen.«

Während sich Fragen rund um das Thema Behinderung lange auf medizini sche Aspekte beschränkten, blieb das The ma Sexualität außen vor. Seit 2006 legt die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fest, dass Staaten »alle Maßnahmen ergreifen müs sen, um (…) den Zugang zu geschlechts spezifischen Gesundheitsdiensten zu ge

währleisten«. Das schließt auch Sexua lität ein.

Inzwischen hat sich viel geändert: Das Thema der sexuellen Gesundheit wurde in die Lehrpläne im Gesundheitswesen aufgenommen. Heute gibt es inklusive Dating-Apps, und Salons für erotische Massagen haben sich an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ange passt. Außerdem wird unter anderem in der Schweiz, Deutschland und Österreich eine »Sexualassistenz« angeboten. Die Tätigkeit der sogenannten »Berührer*in nen« ist in einigen Ländern heute gesetz lich geregelt – wobei die Gesetze sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. In Dänemark oder den Niederlanden über nehmen die Krankenversicherungen teil weise die Kosten. Anderswo wird sie mit Prostitution gleichgesetzt, und die Perso nen, die sie in Anspruch nehmen, müssen die Kosten selbst tragen.

»Es reicht nicht, Gleichheit zu fordern, Gleichheit ist heute eine Selbstverständ lichkeit«, sagt Catherine Agthe. »Es müs sen Anstrengungen gemacht werden, um die Instrumente bereitzustellen, damit der konkrete Zugang zu diesen Grund rechten ermöglicht wird.«

*Alle Namen wurden geändert, um die Privatsphäre der Befragten zu wahren.

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Sexualität ist ein Grundrecht. Ramy und Victor in ihrer Wohnung. Foto: Amnesty Schweiz
BRIEFMARATHON 15. 11.– 22. 12. 2022 SEI DABEI! VAHID AFKARIIRAN NASSER ZEFZAFI MAROKKO/WESTSAHARA © Peter Parks/AFP/Getty Images © Natasha Pizzey © Juan Florenciañez © Mohamed El-Asrihi/AFP/Getty Images © privat © privat FOLTER UND 54 JAHRE HAFT FÜR DEMO-TEILNAHME CHOW HANG-TUNG HONGKONG 10 JAHRE GEFÄNGNIS FÜR KERZENANDACHT KUBA LUIS MANUEL OTERO ALCÁNTARA WEIL ER SICH FÜR MEINUNGSFREIHEIT EINSETZT 5 JAHRE HAFT, DORGELESSE NGUESSANKAMERUN ZUM ERSTEN MAL DEMONSTRIERT: FÜNF JAHRE HAFT YREN ROTELA UND MARIANA SEPÚLVEDA PARAGUAY DISKRIMINIERT, WEIL SIE ZU IHRER IDENTITÄT STEHEN 20 JAHRE HAFT, WEIL ER SOZIALE GERECHTIGKEIT FORDERT

Jedes Jahr fordern Hunderttausende Menschen weltweit anlässlich des Internationalen Tages der Menschen rechte am 10. Dezember Regierungen auf, gewaltlose politische Gefangene freizulassen und Unrecht zu beenden. Außerdem schicken sie Solidaritätsnachrichten an Menschen, deren Rechte verletzt werden.

Die unzähligen Briefe zeigen den Betroffenen und ihren Familien, dass sie nicht allein sind. Und sie machen

Regierungen Druck: Einen einzelnen Brief können die Behörden ungelesen wegwerfen, aber Tausende von Schreiben, die auf die Einhaltung der Menschenrechte pochen, lassen sich nicht ignorieren!

Zu Unrecht inhaftierte Menschen werden freigelassen, diskriminierende Gesetzestexte geändert und politische Aktivist*innen in ihrer Arbeit unterstützt und gestärkt.

DEIN BRIEF KANN LEBEN RETTEN Schreib für Freiheit – jeder Brief zählt! www.briefmarathon.de
ALEKSANDRA SKOCHILENKORUSSLAND CECILLIA CHIMBIRI, JOANNA MAMOMBE, NETSAI MAROVA SIMBABWE
SHAHNEWAZ CHOWDHURY BANGLADESCH © privat © Amnesty International © Tsvangirayi Mukwazhi/Amnesty International © privat KÜNSTLERIN WEGEN ANTI-KRIEGSAKTION IN HAFT KLIMA-AKTIVIST DROHEN 10 JAHRE HAFT ZINEB
REDOUANE
FRANKREICH POLIZEI TÖTET UNBETEILIGTE AM RANDE EINER DEMONSTRATION OPPOSITIONELLE ENTFÜHRT, VERPRÜGELT UND SEXUELL MISSBRAUCHT
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Noch mehr Massaker mit russischer Beteiligung

Nach dem Abzug der französischen Armee bleibt die Sicherheitslage in Mali instabil. Die Bevölkerung wird zwischen den Fronten zerrieben. An Exekutionen sind viele Russen beteiligt – sind es reguläre Soldaten oder Söldner der Wagner-Gruppe?

Von Bettina Rühl, Bamako

Der junge Mann hat Zuflucht gesucht auf einem der Vieh märkte von Bamako, der malischen Hauptstadt. Er möchte aus Sicherheits gründen anonym bleiben und heißt hier Adama Cissé. Er hat nach eigenen Anga ben eins der bisher schwersten Massaker malischer Soldaten und ihrer russischen Verbündeten an malischen Zivilpersonen überlebt. Zwischen dem 27. und 31. März sollen beim Einsatz der malischen Streit kräfte gegen bewaffnete Islamisten in dem Ort Moura in der Region Mopti zahl reiche Zivilpersonen getötet worden sein. Die malische Armee erklärte dagegen am 1. April, Spezialkräfte hätten 203 Mitglie der »bewaffneter terroristischer Grup pen« getötet und 51 weitere festgenom men.

In Cissés Augenzeugenbericht klingt das ganz anders. Am 27. März sei er auf den Markt von Moura gegangen, sein Hei matdorf Ngossiri sei nur zwei Kilometer entfernt. Er habe fünf Militärhubschrau ber gesehen, von denen vier landeten, ei ner habe weiter über Moura gekreist. Aus den Hubschraubern seien Bewaffnete ge stiegen, »sie waren alle weiß«. Die Besat

Tausende Menschen leben dort: Flüchtlingslager in Bamako, Mai 2022.

Foto: Andy Spyra

zung des Hubschraubers, der in der Luft stehen blieb, habe »auf alle geschossen, die zu fliehen versuchten«.

Ein weiterer Überlebender, der hier Boubacar Diallo heißt, erzählt ebenfalls, er sei im Anschluss an das Massaker nach Bamako geflohen. Als die Hubschrauber gegen 17 Uhr abflogen seien, hätten Be waffnete den Ort Moura umstellt: sowohl malische als auch weiße Soldaten, die nicht Französisch sprachen, die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht. »Die Wei ßen sind von Haus zu Haus gegangen und haben jedes Haus nach Männern durch sucht«, erinnert sich Diallo. »Es waren viel mehr weiße als malische Soldaten.«

Cissé und Diallo berichten, dass alle Männer zusammengetrieben wurden. Cissé schätzt die Zahl der Gefangenen auf 4.000, nach und nach seien einige wieder freigekommen. Die Männer seien in Gruppen aufgeteilt und festgehalten wor den. »Ich habe gesehen, wie die weißen Bewaffneten einzelne Männer absonder ten und sie dann exekutierten«, erzählt Cissé. Die malischen Soldaten hätten die Gefangenen bewacht, die Weißen hätten die Opfer ausgewählt und exekutiert.

Bei den »weißen« Bewaffneten dürfte es sich um Russen handeln. Womöglich waren es Angehörige der in Russland ge

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gründeten Söldnergruppe Wagner, die für schwere Menschenrechtsverletzungen be rüchtigt ist, beispielsweise in der Zentral afrikanischen Republik, in Syrien und in Libyen. Die malische militärische Über gangsregierung erklärt dagegen immer wieder, bei den Bewaffneten handele es sich um reguläre russische Soldaten, sie seien im Dezember auf Grundlage einer »Sicherheitspartnerschaft auf Regie rungsebene« nach Mali gekommen.

Neue Probleme für die UN-Mission Minusma

Dagegen hat das US-Militär nach eigenen Angaben Hinweise darauf, dass in Mali Hunderte Söldner des privaten Militär unternehmens im Einsatz waren oder noch immer sind. Expert*innen gehen inzwischen von rund 1.000 russischen Söldnern in Mali aus. Wie die Krisenbeob achter*innen der regierungsunabhängi gen Organisation ACLED (Armed Conflict Location and Event Data Project) feststel len, gehen die Wagner-Söldner noch bru taler vor als die malischen Soldaten. Da bei werfen Menschenrechtsgruppen und Überlebende auch Malis Armee regelmä ßig schwere Menschenrechtsverletzun gen vor. Laut ACLED ist außerdem immer öfter zu beobachten, dass die Söldner auch ohne Regierungstruppen unterwegs sind und dabei schwere Menschenrechts verbrechen begehen. Anfang September berichteten Überlebende eines Massakers in Nia Ouro in der Region Mopti erneut von einem Überfall mit Tötungen, Plün derungen und Vergewaltigungen.

Mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die noch im Jahr 2021 Malis wichtigster Partner in Sicherheitsfragen war, hat sich die militärische Übergangs regierung unter Oberst Assimi Goïta in zwischen überworfen. Mali wirft Frank reich nun sogar vor, islamistische Grup

pen mit Waffen und nachrichtlichen In formationen zu unterstützen – ein Vor wurf, der wenig plausibel erscheint.

Mitte August 2022 verließen die letz ten französischen Soldat*innen den west afrikanischen Krisenstaat. Bis dahin hatte die französische Armee in ihrer ehemali gen Kolonie mit teilweise bis zu 4.500 Sol dat*innen gegen islamistische Terrorgrup pen gekämpft. Parallel zur UN-Mission Minusma, deren rund 12.000 Soldat*in nen nie das Mandat hatten, aktiv gegen Terrorgruppen vorzugehen. Deutschland beteiligt sich mit rund 1.000 Soldat*in nen an der Mission. Aufgabe der Minus ma sind die Stabilisierung Malis, die Um setzung eines Friedensvertrags von 2015 und der Schutz der Zivilbevölkerung.

Doch trotz Tausender internationaler Soldat*innen im Land hat sich die Sicher heitslage in Mali in den vergangenen Jah ren verschlechtert: Tausende Zivilist*in nen wurden Opfer von Gewalt, bewaffne te islamistische Gruppen bringen immer mehr Gebiete unter Kontrolle, blutige Konflikte zwischen unterschiedlichen Be völkerungsgruppen kommen hinzu.

Seit die russischen Truppen im Land sind, hakt es in der Zusammenarbeit zwischen der militärischen Übergangs regierung und der UN-Mission. Die Über gangsregierung führte für die Minusma neue Regeln ein und achtet auf deren Ein haltung. Dagegen hatte die frühere zivile Regierung – Oberst Goïta steht erst seit einem Militärputsch im Mai 2021 an der Spitze des Staates – den internationalen Militärs mehr Freiheiten gelassen. Die jetzige Übergangsregierung möchte nun Souveränität zurückgewinnen.

Aber das sei nicht der einzige Grund für die neuen Regeln, meint Ulf Laessing von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ba mako. Die Übergangsregierung habe seit Januar auch deshalb Beschränkungen ge

gen die Bundeswehr und andere Armeen der UN-Mission erlassen, »weil die Rus sen sich nicht in die Karten schauen las sen wollen«. Sie könnten beispielsweise vermeiden wollen, dass deutsche Auf klärungsdrohnen Belege für Menschen rechtsverbrechen unter russischer Beteili gung sammeln. Weil die malische Über gangsregierung neue Vorschriften für An träge erließ, hat jeder von der Minusma gemeldete Flug nun einen größeren Vor lauf. Das wiederum erleichtert es Trup pen am Boden, bei militärischen Aktio nen länger unbeobachtet zu bleiben.

1,8 Millionen Menschen von Hunger bedroht

Trotz aller Berichte über Menschenrechts verbrechen und eine zunehmende Be schränkung bürgerlicher Freiheiten scheint die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hinter der Armee und der militärischen Übergangsregierung zu ste hen. Das gilt auch für Mamadou Traoré. Der 27-jährige Bauer sitzt im Hof eines Hauses in Bamako. Traoré hält die Vor würfe gegen die malische Armee und ihre russischen Partner für Lügen der franzö sischen Regierung. Der 27-Jährige lebt in einem Dorf in der Nähe von Ségou, fast 400 Kilometer entfernt. Die Region ist seit Monaten das Epizentrum der Gewalt. Traoré möchte erzählen, was der Krieg für die Bevölkerung bedeutet. Dafür ist er extra nach Bamako gekommen, denn die Konfliktregion in der Landesmitte ist für unabhängige Beobachter*innen inzwi schen so gut wie unzugänglich.

So angespannt die Lage auch ist, Trao ré sieht einen Fortschritt. »Seit einigen Monaten sehen wir bei uns sehr viel mehr Soldaten«, sagt er. »Unsere Armee ist hier jetzt überall, sie gibt uns Sicher heit.« Traoré ist zuversichtlich, dass er bald auf seinem Reisfeld arbeiten kann –die nächste Aussaat steht kurz bevor.

Könnte er tatsächlich sein Feld bestellen, ohne damit sein Leben zu riskieren, wäre das für ihn ein Durchbruch.

Um das zu erklären, holt er sein Han dy aus der Hosentasche, er will ein paar selbst gefilmte Videos zeigen, die er im Januar 2022 gemacht hat. Zu sehen sind verbrannte Reisfelder, es müssen riesige Flächen sein. Die Aufnahmen sind verwa ckelt. Traoré hat vom fahrenden Motor

32 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 Russische verdrängen französische Flaggen, Bamako, November 2021. Foto: Nicolas Remene / Le Pictorium / Imago
»Wir überleben nur mit größter Mühe.« Mamadou Traoré, Reisbauer

Schwierige Mission: Soldat*innen der Bundeswehr in Gao, April 2022.

Foto: Florian Gärtner / photothek / pa

rad aus gefilmt – anzuhalten wäre viel zu gefährlich gewesen, sagt der Bauer. »Wir hatten den ganzen Reis auf unseren Fel dern geerntet und wollten am nächsten Tag mit dem Dreschen anfangen«, erzählt er. »Diesen Moment haben die Islamisten abgepasst. Sie sind gekommen, haben un sere Ernte mit Benzin übergossen und al les verbrannt.« Die Islamisten hätten nicht nur seine komplette Ernte zerstört, sondern die Lebensmittelreserven in drei Kommunen im Zentrum des Landes.

Die Gegend im Binnendelta des NigerFlusses ist fruchtbar, wird vor allem für den Reisanbau genutzt und ist die Korn kammer Malis – oder besser gesagt: Sie könnte es sein, wenn Frieden wäre. Wegen der anhaltenden Konflikte fallen viele Ernten aus, hinzu kommen die Folgen der Klimakrise. Mali und andere Länder der Region leiden derzeit unter einer schwe ren Dürre. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind in Mali 1,8 Millionen Men schen von Hunger bedroht und brauchen dringend Lebensmittelhilfe. Seit ihre Ern ten verbrannt wurden, »überleben wir nur mit größter Mühe«, sagt Traoré.

Die Bevölkerung hungert, ergänzt sein Freund Mamadou Coulibaly, der Traoré nach Bamako begleitet hat. Coulibaly ist mehr als doppelt so alt wie Traoré und wohnt in dessen Nähe. Auch seine kom plette Ernte haben die Islamisten Anfang des Jahres verbrannt. »Ich weiß nicht, was sie damit erreichen wollen, dass sie unse re Felder abbrennen und unsere Ernten vernichten«, wundert sich Coulibaly. »Vielleicht wollen sie uns aushungern, damit wir uns ihnen unterwerfen.«

Seine Erklärung ist plausibel. Zumin dest rund um Coulibalys Dorf haben die Islamisten aber neuerdings nicht mehr die Macht, die Bevölkerung mit derart brutalen Methoden unter ihre Kontrolle zu zwingen. Die Armee konnte dort Ge biete zurückerobern. Dass die malische Armee ihre Kräfte in einigen Regionen im Zentrum des Landes verstärkt und sich

die Sicherheitslage dort verbessert habe, bestätigt der unabhängige UN-Beobach ter Alioune Tine. Ob das auch am brutale ren Vorgehen der russischen Bewaffneten liegt, ist unklar.

Ganze Dörfer entvölkert

Tine reiste im August im Auftrag der Mi nusma für zwei Wochen durch Mali, um sich einen Eindruck von der Lage zu ver schaffen. Insgesamt sind die Ergebnisse in seinem Bericht alarmierend, trotz der leichten Stabilisierung in einigen Zonen im Zentrum des Landes. Die Sicherheits lage habe sich in rasantem Tempo weiter verschlechtert. Und: Mit Beginn der russi schen Präsenz habe die Zahl der schweren Menschenrechtsverletzungen um fast 50 Prozent zugenommen.

Die Russen scheinen nach einer be stimmten Methode vorzugehen: Wenn sie ganze Dörfer entvölkern, dann sind unter Hunderten Toten vermutlich auch die ge suchten Islamisten. Im Norden dagegen, wo vor allem Frankreich militärisch aktiv war, sei nun ein Machtvakuum zu spüren, sagt Ulf Laessing von der Konrad-Adenau er-Stiftung in Bamako: »Die Franzosen waren die einzigen, die im Norden Malis gekämpft haben und aktiv Dschihadisten und deren Anführer bekämpft haben.« Nun könnten die Islamisten dort freier operieren, der Islamische Staat habe im Norden Malis an der Grenze zu Niger Ter ritorium erobert.

Im Zentrum hätten die Islamisten zwar einige Gebiete verloren, viele davon aber nur vorübergehend. Nach dem Ende

der Angriffe kehren sie häufig zurück und rächen sich an der Bevölkerung, die sie der Kooperation mit der Armee beschul digen. Im Hin und Her der Offensiven be zahlen die Zivilpersonen einen blutigen Preis. Beide Seiten verdächtigen sie, mit der jeweils anderen zusammenzuarbei ten. Ohne lange nach Belegen für diese Beschuldigung zu fragen, werden Ver dächtige kurzerhand getötet: von Islamis ten, von malischen Sicherheitskräften und deren russischen Verbündeten. Der Zorn der Bevölkerung richtet sich gegen die UN-Mission, die das nicht verhindert.

Tatsächlich ist das die Schwäche der Mission. Anfangs hatte die Minusma nicht einmal den Auftrag, die Bevölke rung zu schützen. In den vergangenen Jahren wurde ihr Mandat erweitert. 2019 wurde der Schutz von Zivilpersonen als strategische Priorität mit aufgenommen. An der Umsetzung fehlt es bis heute, kri tisiert Anna Schmauder vom niederländi schen Thinktank Clingendael. Sie fordert eine Debatte darüber, wie der Schutz von Zivilpersonen gestärkt werden könnte.

Das Problem daran: Die UNO muss das im Falle Malis mit einer Armee und einer Regierung diskutieren, die ihrer seits Angriffe auf Zivilpersonen durch führen. In jedem Fall, sagt Schmauder, müssten Deutschland und die Vereinten Nationen die eigene Rolle und die eige nen Fehler in den vergangenen Jahren gründlich hinterfragen.

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MALI
Bamako Moura Gao MAURETANIEN ALGERIEN NIGER BURKINA FASO

Gottesdienst unter dem Regenbogen

In Uganda ist Homosexualität strafbar. In dem zutiefst christlichen Land tragen auch die Kirchen zur Diskriminierung von LGBTI+ bei – mit Ausnahme der Adonai Inclusive Christian Ministries, die Verfolgten eine Heimat bietet. Aus Kampala Felix Lill

A ppo Jonathan hat sich von seinem Schock immer noch nicht erholt. »Letztes Jahr habe ich eigentlich geheira tet«, sagt der 20-Jährige. Sei ne Dreadlocks fallen ihm ins Gesicht, er blickt zu Boden, rutscht auf seinem Plas tikstuhl herum. »Als die Polizei davon er fuhr, sprengte sie unsere Feier.« An sei nem großen Tag, für den er sich mit ei nem Brautschleier geschmückt hatte, wurde Appo Jonathan festgenommen. Seinem Partner und den gut 40 Gästen erging es ebenso. »Wir kamen ins Gefäng nis!«

Gegen eine Strafzahlung wurde die Hochzeitsgesellschaft zwar wieder freige lassen. Aber an eine Rückkehr in sein al tes Leben war nicht zu denken. »Bei mei nen Eltern konnte ich mich nicht mehr blicken lassen. Ich landete erstmal auf der Straße.« Seit einigen Monaten teilt sich Appo Jonathan nun ein Zimmer mit an deren in einem kargen Haus hinter einer hohen Mauer – einer geheimen Unter kunft für vertriebene LGBTI+ am Rande von Kampala. »Schwul sein darf man hier ja nicht«, sagt er.

Homosexualität ist in Uganda eine Straftat. Im Jahr 2013 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das sogar die To desstrafe vorsah. Doch wurde dieses Ge setz dann aus technischen Gründen vom Obersten Gerichtshof des Landes für un gültig erklärt. 2021 beschlossen die Abge ordneten ein neues Gesetz, das Vergewal tigung und Pädophilie unter Strafe stellt und gleichgeschlechtliche sexuelle Hand lungen mit bis zu fünf Jahren Gefängnis belegt.

Wer in Uganda offen homosexuell lebt, geht ein hohes Risiko ein. Die Be wohner*innen der versteckten Unter kunft wissen das genau. Neben Appo Jo nathan ist da Marc Gabriel, den die Kirche rausschmiss, in der er als Ministrant aktiv war. Oder Mosha, dessen Vater während des Corona-Lockdowns sein Handy durch suchte und auf verdächtig liebevolle Chats mit seinem Freund stieß. Auch die muslimische Biba wurde unfreiwillig geoutet, als ein Familienmitglied auf ih rem Handy lesbische Pornos entdeckte.

Die Handvoll junger Menschen hat ihre Unterkunft einer Kirchengemeinde zu verdanken. »Mir hat ein Freund davon erzählt. Er nahm mich mit zum Gottes dienst«, erinnert sich Appo Jonathan. Als er dort erklärte, dass er kein Zuhause mehr habe, wurde ihm sofort ein Schlaf platz angeboten. »Ich fühle mich sicher hier. Und akzeptiert«, sagt er und lächelt.

Dass Menschen wie Appo Jonathan ausgerechnet bei einer Kirche Unter schlupf finden, überrascht. In Uganda sind 80 Prozent der Bevölkerung christ lichen Glaubens, und die Mehrzahl der mächtigen Kirchen ist für die Ausgren zung nicht-heterosexueller Menschen mitverantwortlich. Homosexualität ist demnach eine westliche Ideologie, die »afrikanische Werte« verletzt. Dass das evangelikale Christentum ein Wertege rüst ist, das aus den USA nach Afrika kam, wird dabei großzügig übersehen.

Der seit mehr als 35 Jahren regierende Präsident Yoweri Museveni hat nicht das Christentum, wohl aber die LGBTI+-Bür gerrechtsbewegung als »sozialen Imperi alismus« bezeichnet. In einem Interview mit dem US-Sender CNN im Jahr 2016 antwortete er auf die Frage, ob er etwas gegen Homosexuelle habe: »Natürlich!

Sie sind ekelhaft. Was für Leute sind das? Ich weiß nicht, ich wusste nie, was sie tun. Aber mir wurde es vor Kurzem berichtet. Und das ist schrecklich! Ekelhaft!«

Radikale Inklusion

Nicht jeder im Land teilt diese Meinung, nicht einmal jede Kirche. Zehn Minuten mit dem Auto entfernt, hinter einer noch holprigeren und sandigeren Straße als die, die zur Unterkunft führt, sitzt hinter einer noch höheren Mauer Ramathan Kaggwa in seinem Büro. »Die Kirche hat doch dieses Bild von sich, dass alle will kommen sind, sogar Diebe und Mörder«, sagt der erst 25-jährige Pastor. »Ich weiß aber von keiner anderen Kirche, die LGBTI+ mit offenen Armen empfängt und sagt: Ja, kommt zu uns!« Kaggwa, ein schmächtiger Typ mit dunklem Sakko und einem Armband in Regenbogenfar ben, tut dies seit vier Jahren. Damals gründete er die Kirche Adonai Inclusive Christian Ministries.

Kaggwa erzählt, er habe sich zuvor dem Pastor seiner Gemeinde offenbart: »Der zitierte daraufhin die Passagen zu Sodom und Gomorrha aus der Bibel und sagte, Homosexualität sei eine Sünde. Dann gab er mir Aufgaben.« Der damals 17-jährige Kaggwa sollte 40 Tage lang fas ten, eine Nacht in der Woche draußen schlafen und viel beten. »In der Kirche sagten sie, Schwulsein sei ein Geist, ein Dämon, den man austreiben könne.« Die

Pastor Kaggwa

34 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 LGBTI+ IN UGANDA
»Polizisten haben schon Pistolen auf uns gerichtet.«

Aussagen, die der Pastor auch vor der gesamten Gemeinde über Homosexuelle machte, verletzten Kaggwa, doch versuch te er weiter, ein guter Christ zu sein. »Aber je mehr ich betete, desto schwuler wurde ich. Irgendwann dachte ich über Suizid nach.«

Kaggwa war noch minderjährig, als er von seiner Gemeinde verstoßen wurde. Er studierte Labortechnik, wurde an seinem ersten Arbeitsplatz geoutet, gab den Job auf und leitet seitdem einen Frisör- und Kosmetiksalon für Frauen und Männer. Mit diesen Einnahmen und zusätzlichen Spenden finanziert er die Adonai Church. Die Finanzierung ist jedoch nicht die ein zige Herausforderung: »Wir stehen stän dig vor der Frage, wie wir das Überleben der Kirche und der Unterkunft für die Ausgegrenzten sichern können.« Sieben mal musste Kaggwa bereits neue Räume für seine Kirche suchen, nachdem die Po lizei sie gefunden hatte. »Wir werden ein fach vertrieben. Die gezahlte Miete ist dann auch weg. In dieses Haus hier sind wir gerade erst vor Kurzem gezogen.«

Dass Kaggwa bereits mehr als 35 obdach losen Personen ein Dach überm Kopf ge boten hat, wird ihm nicht etwa hoch an gerechnet. »Polizisten haben schon Pisto

len auf uns gerichtet. Wir sind Kriminel le!«

Auch ohne gesetzliche Grundlage habe die Polizei Angehörige der LGBTI+Community festgenommen, berichtet Kaggwa: 120 Personen in einer queer freundlichen Bar im November 2019 wegen angeblichen Konsums illegaler Drogen, 20 Personen in einer Unterkunft für ausgegrenzte homosexuelle Men schen im April 2020 wegen angeblichen Verstoßes gegen die Abstands- und Hygie neregeln und einige Zeit später die Fest gesellschaft der privaten Trauung von Appo Jonathan.

Mehrere Gäste der aufgelösten Feier leben heute in einer Obdachlosenunter kunft der Adonai Church, die auch Nicht Christen aufnimmt: »Die anderen Kir chen glauben nicht, dass Christus auch für homosexuelle Menschen gestorben ist«, sagt Ramathan Kaggwa und lächelt. »Aber meine Botschaft lautet: Wir sind eins, wir gehören zusammen. Hier leben wir radikale Inklusion.«

Durch das Fenster dringen Gospel ins Büro des Kirchengründers. In der Adonai Church beginnt der Sonntagsgottes dienst. In einem Zelt hinter der schützen den Mauer ist ein Altar aufgebaut, auf ei

nem Keyboard wird mit Verstärkern so laut gespielt, dass die ganze Nachbar schaft es hören kann. Die Gemeinde kommt zusammen: Biba, die Muslima, die ihren Glauben auch behalten will, und Appo Jonathan, der feierlich einen grauen Anzug trägt.

Eine Pastorin, die Ramathan Kaggwa in den vergangenen Monaten ausgebildet hat, beginnt ihre Predigt. Begriffe wie LGBTI+ oder andere verräterische Voka beln tauchen in der Predigt nicht auf. Ihre Worte werden live in alle Welt gestreamt. »Wir fühlen uns gesegnet«, sagt sie und blickt in die Handykamera, die auf einem Stativ vor ihr aufgebaut ist: »Danke, dass ihr von zu Hause die Adonai Church be sucht. Jesus Christus ist am Kreuz für uns gestorben und wiederauferstanden. Er hat uns gerettet. Halleluja!«

Nach dem Gottesdienst läuft die Party weiter. Junge Menschen, die nicht mehr Teil der Gesellschaft sein dürfen, bilden hinter einer Mauer am Rande von Kam pala ihre eigene. Sie können so sein, wie sie sein wollen. Jedenfalls solange die Po lizei nicht weiß, wo sie sind. ◆

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 35 Nur hinter Mauern sicher: Biba, Appo Jonathan, Simon, Marc Gabriel und Mosha (von links) Foto: Felix Lill

Eine für alle

»Es ist kein Verbrechen, eine Frau zu sein.« Mit diesen Worten wurde Zarifa Ghafari eine der ersten Bürgermeisterinnen in der Geschichte Afghanistans. Sie machte Politik auch für Frauen und musste daher nach der erneuten Machtübernahme der Taliban fliehen. Im deutschen Exil setzt sie sich weiter für Frauenrechte ein. Von Till Schmidt

I m August 2021 gingen dramatische Bilder um die Welt: Sie zeigten, wie Tausende Menschen in Kabul ver suchten, sich in die Evakuierungs flugzeuge zu retten. Weltweit wurde darüber diskutiert, wer und wie viele Menschen unter welchen Bedingungen mitgenommen werden können. Zarifa Ghafari war eine derjenigen, die es an Bord eines Flugzeugs schafften.

Um ihre Fluchtroute zu verschleiern, hatte sie einschlägige Online-Posts ge löscht. In letzter Minute war es ihr gelun gen, sich einen Teil ihres Gehalts auszah len zu lassen. Am Kabuler Flughafen herrschten chaotische Zustände. Dank guter Kontakte stand Ghafari mit ihrer Familie auf mehreren Evakuierungslisten. Doch auch die Taliban hatten Listen ange legt: Mit gerissenen Tricks versuchten die Islamisten, bekannter Flüchtender hab haft zu werden.

Auf zahlreichen Gebäuden wehte be reits die weiße Taliban-Flagge, die Stra ßen waren von Checkpoints unterbro chen. »Glückwunsch zum Sieg!«, johlten die Islamisten süffisant, als sie einen Kon voi US-amerikanischer und afghanischer Militärfahrzeuge durchließen. Es entging ihnen, dass Ghafari dies alles aus dem Fußraum eines Autos beobachtete. Der Flughafen war ihre letzte Möglichkeit, zu entkommen. Auch sie stand im Faden kreuz der alten wie neuen Machthaber.

Wie viele andere kritisierte auch Gha fari den Abzug der US-Truppen offen. So etwa, als US-Außenminister Antony Blin ken die US-Botschaft in Kabul im April 2021 besuchte. Blinken tat damals ihre

stichhaltigen Einwände ab und antworte te: »Wir haben alles unter Kontrolle.« Auch im US-Außenministerium äußerte sich Ghafari kritisch, als sie im Jahr 2020 den »International Women of Courage Award« des Ministeriums erhielt – kurz nach dem Rückzugsabkommen mit den Taliban. Damals sagte sie: »Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung, damit der Frie densprozess in Afghanistan nicht die Er rungenschaften zunichtemacht, die seit den dunklen Tagen des Taliban-Regimes erlangt wurden.«

Sie hatte auf konkrete Probleme hin gewiesen wie das Recht von Frauen auf Bildung und Beschäftigung, die Gesund heit von Müttern oder die Einflussnahme Pakistans. Ghafaris USA-Reise erregte in afghanischen Medien Aufmerksamkeit. Dadurch geriet sie allerdings noch stärker in den Fokus der Taliban und ihrer Hel fershelfer*innen: »Ich konnte ihre Blicke in meinem Rücken förmlich spüren«, schreibt Ghafari in ihrer Autobiografie, die nun auf Deutsch erschienen ist.

Von Mai 2018 bis Juni 2021 war Zarifa Ghafari Bürgermeisterin von Maidan Shar, der Hauptstadt der Provinz Wardak westlich von Kabul, die zum Stammland der Taliban zählt. Ins Amt gelangte sie über Eignungstests, die die Zentralregie rung eingeführt hatte, um Geld zu sparen, gegen Vetternwirtschaft vorzugehen und Anschläge auf unliebsame Kandidat*innen zu verhindern. Von Anfang an kämpfte die damals 26-Jährige mit massiven Widerständen. So gab es Versuche, ihren rechtmäßigen Amtsantritt zu verhindern, Schmutzkampagnen, Intrigen und Ge waltdrohungen. Ghafari ließ sich jedoch nicht einschüchtern und nutzte auch die internationale Öffentlichkeit, um ihr Amt

zu verteidigen, für das sie sich als dritte Frau in der Geschichte ihres Landes quali fiziert hatte. In einem offenen Brief an den afghanischen Präsidenten drohte sie, sich selbst zu verbrennen: »Es ist mein Recht, das Amt anzutreten, doch mein Geschlecht hindert mich daran. Es ist kein Verbrechen, eine Frau zu sein.«

Gegen viele Widerstände

Geboren 1992 in Kabul, wuchs Ghafari als Tochter eines hochrangigen Militärs und einer Physikerin auf. Ihre politische Kar riere war ihr allerdings nicht in die Wiege gelegt. Vielmehr widersetzte sie sich mit Ausdauer und Zielstrebigkeit auch ihrer eigenen Familie. Bei einer Zufallsbegeg nung mit einem afghanischen Parla mentsabgeordneten erfuhr sie von einem indischen Stipendienprogramm für jun ge Afghaninnen. Erst nach langer Diskus sion erlaubte ihr Vater ein Studium an der Panjab University Chandigarh.

»Im glücklichen, wohlhabenden Chandigarh, unter meinen liberalen Freundinnen und Freunden an der Uni versität, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben sicher und als Frau wertgeschätzt«, schreibt Ghafari in ihrem Buch. Während ihres fünfjährigen Studi ums gelang ihr auch die Emanzipation von ihrer Familie: »Die räumliche Entfer nung (…) bewirkte nicht, dass ich sie weni ger liebte, aber ich machte mir weniger

36 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 FRAUEN IN AFGHANISTAN
»Ich bin stolz darauf, was wir Frauen schaffen können.«
Zarifa Ghafari

Gedanken über ihre Reaktionen.« Ein Schlüsselerlebnis für Ghafaris Politisie rung war 2015 die Ermordung von Fark hunda Malikzada in Kabul. Die 27-Jährige war auf einer Straße gelyncht worden, nachdem ein Mullah die Lüge verbreitet hatte, sie habe Seiten aus dem Koran ver brannt. Zusammen mit anderen Studie renden organisierte Ghafari auf dem in dischen Campus Proteste und startete eine Petition an das afghanische Justizmi nisterium. Rückblickend schreibt sie: »Af ghanistan steckte noch tief im Zeitalter der Hexenverbrennungen. In meiner Wohnung in Indien, in einer moderneren Welt, sah ich diese Videos und weinte.«

Mit 22 Jahren schloss Ghafari ihr Stu dium mit einem Master in Wirtschafts wissenschaften ab und trat einen Verwal tungsjob bei der afghanischen Regierung an. Kurz darauf eröffnete sich ihr die Möglichkeit, in Maidan Schar einen selbstfinanzierten Radiosender zu grün den. »Hallo zusammen. Hier ist Peghla Radio. Wir befassen uns mit den Rechten von Frauen, und wir sind hier, um Sie über die Fakten zu informieren«, sagte sie

selbstbewusst in der ersten Sendung. »Peghla« bedeutet auf Paschtu »junges Mädchen«. Das Programm richtete sich an Frauen, die damals in Afghanistan zu etwa 90 Prozent Analphabetinnen waren.

Anfängliche Probleme wie eine gerin ge technische Reichweite des Senders oder Finanzierungfragen meisterten Gha fari und ihr Mitstreiter, ihr späterer Ehe mann Bashir, kreativ und schnell. Bei Peghla Radio berichteten Frauen aus der Region anonym von ihren alltäglichen Nöten. Ghafari scheute sich auch nicht, auf die Straße zu gehen, um mehr über die Situation und Probleme vor Ort zu er fahren. Irgendwann hefteten die Taliban einen Zettel an ihre Bürotür: »Wenn du diese Aktivitäten nicht einstellst, liegt alles, was dir oder dem Sender zustößt, in deiner Verantwortung.«

Auch als Bürgermeisterin erhielt Zari fa Ghafari Morddrohungen und überleb te mehrere Attentate. Dennoch verbot sie das Waffentragen im Gebäude der Kom munalverwaltung – als Maßnahme für eine demokratische Konfliktlösungskul tur. Sie ging gegen die enorm verbreitete

Korruption vor, startete eine Müllvermei dungskampagne und eröffnete einen Markt nur für Frauen, der nicht nur Ar beitsplätze schuf, sondern für viele auch der einzige Zugang zu Hygieneprodukten war. »Ich bin stolz darauf, gezeigt zu ha ben, was wir Frauen schaffen können«, sagt Ghafari rückblickend.

Seit September 2021 lebt die Feminis tin nun in Deutschland und hat den von ihr gegründeten Verein »Assistance and Promotion of Afghan Women« wiederbe lebt. »Ich bin auf einer Mission«, sagt sie. »Irgendwann werde ich hoffentlich dauer haft nach Afghanistan zurückkehren.«

zarifaghafari.com

Zarifa Ghafari mit Hannah Lucinda Smith: Zarifa – Afghanistan. Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane, Sylvia Bieker und Christiane Bernhardt. dtv Verlag, München 2022, 328 Seiten, 22 Euro

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 37 Von den Taliban verfolgt. Die afghanische Frauenrechtlerin Zarifa Ghafari lebt derzeit in Deutschland. Foto: Insa Hagemann / laif

Tod in Zeitlupe

GRAPHIC REPORT AFGHANISTAN 38 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022
AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 39

»Ich dachte, das war es«

Die Türkei verwehrt aus Afghanistan geflüchteten Journalist*innen internationalen Schutz – teils unter Einsatz von Gewalt. Der afghanische Reporter Bashir Atayee und sein Anwalt Adnan Onur Acar berichten, wie die illegale Abschiebepraxis funktioniert.

Sie sind im Juli festgenommen wor den? Wie kam es dazu?

Bashir Atayee: Zivilpolizisten machten eine Ausweiskontrolle in dem Bus, in den ich gerade eingestiegen war, und stellten fest, dass ich keine gültige Aufenthalts erlaubnis mehr hatte. Ich habe den Poli zisten erklärt, dass ich in Afghanistan ge fährdet bin, weil ich es abgelehnt habe, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. Bereits vor der Machtübernahme hatten sie einzelne Journalisten angesprochen. Ich war einer davon. Deshalb bin ich nach dem Regimewechsel im August 2021 von einem Verwandtenbesuch in Istanbul nicht zurückgekehrt. Die Polizisten ver sprachen daraufhin hoch und heilig, dass sie auf der Polizeistation nur meine Per sonalien kontrollieren und mich dann in mein Viertel zurückbringen würden. Ich sollte nur ein Formular ausfüllen.

Hatten Sie die Möglichkeit, jemanden zu verständigen?

Atayee: Ja, ich stand mit einer Hilfsorgani sation in Kontakt. Deren Anwalt, Adnan Onur Acar, kam zu der Polizeistation, auf die ich gebracht worden war. Die Polizis

ten übten da jedoch bereits Druck auf mich aus, eine Erklärung zu unterzeich nen, dass ich mit meiner Rückführung einverstanden sei. Das bedeute erst ein mal gar nichts, sagten sie, sondern signali siere nur meinen guten Willen, mich den Entscheidungen der Migrationsbehörden unterzuordnen. Ich könne danach nach Hause gehen. Ansonsten müsse ich mona telang in einem Lager für illegale Flücht linge bleiben. Adnan sagte mir dann, dass dieses Papier ernste Konsequenzen habe und meine sofortige Abschiebung bedeu ten würde. Zwar hatte ich nicht unter schrieben, trotzdem ging es direkt in das Abschiebelager nach Tuzla. Ich war total überrumpelt. In der ersten Nacht musste ich auf einem Fußballfeld im Freien über nachten. Die ersten drei Tage bekam ich nichts zu essen. Dann wurde mir eine Unterkunft in einem stickigen, stinken den Raum zugewiesen. Dort teilten sich 13 Leute sechs Betten.

Ist das gängige Praxis?

Adnan Onur Acar: Leider ja. Und es funk tioniert. Derzeit werden täglich Hunderte Afghan*innen abgeschoben – viel zu viele »freiwillig« mit quittierter Ausreiseein willigung der Geflüchteten, weil die Be amt*innen die Betroffenen falsch infor mieren oder massiv unter Druck setzen. International gelten afghanische Geflüch

tete als gefährdet, Journalist*innen insbe sondere, und es besteht die Möglichkeit, die Schutzwürdigkeit aufgrund besonde rer Gefährdung vor türkischen Gerichten einzuklagen. Aber das wissen die meisten Betroffenen nicht. Ich hatte nach der Fest nahme Bashir Atayees seine sofortige Freilassung beantragt. Das Verwaltungs gericht teilte mir mit, dass die Abschie bung rechtsgültig sei. Atayee sei illegal eingereist und missbrauche den türki schen Duldungsstatus. Das war falsch: Er ist legal mit einem Touristenvisum einge reist und hatte bei der Einwanderungsbe hörde auf seine Gefährdung hingewiesen. Fälschlicherweise wurde ihm eine Aufent haltsgenehmigung für sechs Monate be willigt, eine neue dann abgelehnt, wie wir jetzt mit einer Verwaltungsklage zu be weisen versuchen. Während des laufen den Verfahrens kann er erst einmal nicht abgeschoben werden.

Wussten Sie das in der Abschiebehaft? Atayee: Zunächst nicht. Im Auffanglager

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»Die Polizisten haben mich in die Mangel genommen.« Reporter Bashir Atayee
ABSCHIEBUNGEN IN DER TÜRKEI

RECHTSWIDRIGE ABSCHIEBUNG AFGHANISCHER GEFLÜCHTETER

Geflüchtete Afghan*innen werden im Iran und in der Türkei willkürlich inhaftiert, gefoltert und anderweitig misshandelt, bevor sie rechtswidrig abgeschoben werden – das dokumentiert ein Amnesty-Bericht. Iranische und türkische Sicher heitskräfte haben zudem an ihren Grenzen wiederholt Afghan*innen rechtswidrig und ge waltsam zurückgeschoben. Amnesty beschreibt zahlreiche Fälle, in denen Sicherheitskräfte di rekt auf Menschen geschossen und mehrere dadurch getötet haben.

Allein von Januar bis September 2022 wurden dem türkischen Präsidialamt für Migrationsma nagement (PMM) zufolge 194.716 Geflüchtete festgenommen, 84.556 von ihnen waren afgha nischer Herkunft. Das PMM ist seit 2019 für die Registrierung von Asylsuchenden und die Fest stellung des Flüchtlingsstatus in der Türkei ver antwortlich und ersetzt seither das UNHCR. Diese Änderung hat zu einer erheblichen Ein schränkung des Zugangs zu internationalem Schutz geführt. 2018 gewährte das UNHCR 72.961 Personen internationalen Schutz. Im Jahr 2019 waren es nur noch 5.449.

Tuzla haben mich Polizisten am dritten Tag nach der biometrischen Erfassung ge zwungen, eine Ausreiseeinwilligung zu unterschreiben.

Womit haben die Sicherheitskräfte Druck auf Sie ausgeübt?

Atayee: Sie haben mich in die Mangel ge nommen und mir noch schwerere Prügel angedroht. Nach sechs Tagen in Tuzla wurde ich in ein Lager in İğdir nahe der iranischen Grenze gebracht. Ich dachte, das war es, jetzt schieben sie mich ab. Dort blieb ich 50 Tage lang.

Wie sind die Bedingungen dort?

Atayee: Grauenhaft, wie in Tuzla: über füllte Unterkünfte, 20 Personen in einem Raum, zu wenig Betten, kaum zu essen, unhygienische sanitäre Anlagen und vie le verzweifelte Geflüchtete. Die Leute wer den auch dort misshandelt, damit sie ihre Einverständniserklärungen unterschrei ben und dann abgeschoben werden kön nen. Irgendwann bekam ich ein Formu lar. Ich wurde aufgefordert, mich damit innerhalb von zehn Tagen in Trabzon zu melden. Dann wurde ich entlassen. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was ge schieht. Der Anwalt hat mir dann erklärt, dass dies eine Aufforderung sei, mich re gistrieren zu lassen, um einen Status als international anerkannter Flüchtling zu bekommen.

Ist das nicht ein Grund zum Feiern?

Acar: Die Nichtabschiebung durchaus. Aber diese Registrierungsformalitäten sind meist der Beginn einer Odyssee durch die Türkei auf der Suche nach einer Immigrationsbehörde, die den Antrag annimmt. Bashir wurde zunächst nach Trabzon an der Schwarzmeerküste ge schickt – von dort aus nach Nevşehir in Zentralanatolien – dann hundert Kilome ter weiter nach Niğde. Auf jeder amt lichen Stelle wird die Nichtzuständigkeit festgestellt und der Geflüchtete zur nächsten geschickt, jeweils mit einer Frist von zehn Tagen. So kommen die Betroffe nen nicht zur Ruhe, ihnen geht das Geld aus, und die Behörden hoffen, dass sie irgendwann aufgeben und das Land frei willig verlassen.

Wie gehen Sie damit um?

Atayee: Ich werde den Aufforderungen nachkommen und fahre jetzt erst einmal weiter nach Kocaeli, das ist die nächste mir zugewiesene Behörde. Zugleich for dere ich die internationale Gemeinschaft auf, einzugreifen. Mein Kollege Farhad Farokhzad ist seit Ende August in Kasta monu interniert. Er war in Afghanistan bei einem Radiosender, der sich für Frauenrechte einsetzte. Was mit uns geschieht, verstößt klar gegen inter nationales Recht. ◆

Bashir Atayee war Reporter des Online-Fernsehsenders Ariana, den die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 nun weiterfüh ren. Atayee reiste mit einem Touristenvisum in die Türkei ein und wurde bei einer Per sonenkontrolle am 23. Juli in Istanbul festgenommen. Erst am 7. September wurde er in der türkischen Provinz İğdir wieder auf freien Fuß gesetzt.

Adnan Onur Acar ist Anwalt des Istanbuler Hilfspro gramms »Kite Runner« zur Unterstützung afghanischer Journalist*innen im Exil. Acar konnte die Abschie bung Atayees mit einer Kla ge vorerst verhindern.

Fotos: Thomas Büsch

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 41
Auf der Flucht. Zwei afghanische Familien passieren das iranische Grenzgebiet in Richtung Türkei.
Foto: Moe Zoyari / Redux / laif

Der Nebel am Ende der Lieferkette

Im Norden Argentiniens wird Soja für den Weltmarkt angebaut. Die Pflanze wird mit Pestiziden europäischer Konzerne besprüht, deren Einsatz in der EU verboten ist. Die Bewohner*innen von Napenay spüren am eigenen Leib, warum. Von Ann Esswein (Text) und Felie Zernack (Fotos)

ch kann das Gift nur riechen«, sagt Catalina Cendra. Sehen kann die Kleinbäuerin hingegen die Pusteln auf ihrem Arm, wenn sie abends von ihrem Feld zurück nach Nape nay fährt, ein Dorf im Norden Argenti niens. Und wenn sie beim Aufwachen Schmerzen im Kopf und in den Armen spürt, ahnt sie, dass auf den Plantagen wieder einmal Pestizide versprüht wur den. Ist der Grünstreifen neben der Stra ße verwelkt, weiß die 47-Jährige, dass die Pflanzenschutzmittel sich bereits nieder geschlagen haben.

Aus dem kleinen Dorf führt ein hol priger Weg durch scheinbar endlose Soja felder. Geschrotet wird die Bohne um die

ganze Welt verschifft, um sie an Kühe, Hühner und Schweine zu verfüttern. Soja ist mittlerweile eines der wichtigsten Ex portgüter Argentiniens. Damit es in der kargen und trockenen Provinz Chaco gut wächst, braucht es Dünger und Pflanzen schutzmittel. In kaum einem anderen Land auf der Welt werden so viele Pestizi de eingesetzt wie in Argentinien.

»Hier ist die Landebahn«, sagt Cendra beim Vorbeifahren und kneift die Augen zusammen. Von der staubigen Piste star ten die Sprühflugzeuge frühmorgens, um Pflanzenschutzmittel auf die Felder rie seln zu lassen. Wenn sie die Maschinen über den Häusern höre, wisse sie, dass es ihr schlecht gehen werde, sagt die Bäue rin. Auf einem kleinen Stück Land baut sie Maniok, Zwiebeln und Kürbisse an. »Alles natürlich«, sagt sie. Eigentlich.

Denn sie baut ihr Gemüse zwar ohne syn thetische Dünge- und Pflanzenschutzmit tel an, doch weht der Wind die Pestizide auf ihren Acker. Und anders als das gen manipulierte Soja, das gleich nebenan wächst, sind ihre Pflanzen nicht gegen die Chemikalien gewappnet. »Sie haben mei ne Gesundheit, alle meine Felder und alle meine Obstpflanzen zerstört«, sagt Cen dra, deren Familie seit drei Generationen in Napenay lebt: »Es ist beeindruckend, wie sie uns vergiften.« Aber wer genau »sie« sind, das kann die Bäuerin nicht sagen.

Geschichte einer Ohnmacht

Cendras Geschichte ist die einer Ohn macht gegenüber Agrarunternehmen, die sich im Norden von Argentinien angesie delt haben, um Rohstoffe wie Soja für den

I
42 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 PESTIZIDE IN ARGENTINIEN

Export anzubauen – und dabei gesund heitsschädliche Pestizide einsetzen. »Ein genebelte Dörfer« werden die Orte ge nannt, deren Bewohner*innen immer wieder von Allergien, Erbrechen, Koliken, Fehlgeburten, Missbildungen, Krebser krankungen und verdorrten Pflanzen be richten. Seit Jahren dokumentieren Hilfs organisationen die Beschwerden. Doch haben internationale Agrarkonzerne bis her selten ihre Verantwortung für die Ge sundheits- und Umweltschäden aner kannt – auch davon handelt diese Ge schichte.

In den 1990er Jahren versprachen genmanipulierte Saaten und Pestizide aus dem Hause Monsanto, das heute zum Bayer-Konzern gehört, mehr Ertrag und weniger Hunger. Als erstes Land Südame rikas erlaubte Argentinien den Anbau von

genmanipuliertem Soja. Satellitenbilder, die seit den 1990er Jahren aufgenommen wurden, zeigen, dass immer mehr Wald flächen rings um Napenay in Anbauflä chen für Soja umgewandelt wurden. Cata lina Cendra kann über die Zeit davor be richten. Früher habe auf den Feldern hin ter Napenay dichter Wald gestanden, sagt die Kleinbäuerin. Heute gibt es nur noch einzelne bewaldete Flächen, die wie In seln in den Anbauflächen liegen. Mit dem Soja-Boom seien immer mehr Unterneh men von außerhalb gekommen, die Pesti zide aus der ganzen Welt in das Dorf brachten. Die Namen der Firmenbesitzer kennen sie im Dorf nicht. Sie seien aus China und Europa, vermutet Cendra.

Einige der Pflanzenschutzmittel, die beim Sojaanbau eingesetzt werden, sind in der EU verboten, obwohl sie zum Teil

dort hergestellt und von dort exportiert werden, erklärt der Agraringenieur Javier Souza, der an der Universität Buenos Ai res arbeitet. Offiziell sind in Argentinien mehr als 100 Pestizide erlaubt, die als hochgefährlich eingestuft werden. Seit dem das Land den Einsatz von genmani pulierten Sojasaaten und problemati schen Pestiziden freigegeben hat, hat sich die Menge der eingesetzten Pflanzen schutzmittel verdoppelt. Seit Jahrzehnten kämpfen Agraringenieure wie Souza für ein nationales Gesetz, das den Einsatz von Pestiziden regelt – bisher erfolglos. Es gebe nur regionale Gesetze, und die folg ten den politischen Interessen in den Re gionen, sagt der Pestizidexperte. Auch für die Provinz Chaco gilt ein eigenes Gesetz. Es erlaubt das Versprühen aus der Luft nur, wenn ein Abstand von eineinhalb Kilometern zu bewohnten Gegenden eingehalten wird. In den »eingenebelten Dörfern« wird dieser Mindestabstand zwischen Feldern und bewohnten Gegen den aber häufig nicht beachtet.

Erkrankte Jugendliche

In Napenay beginnen die Sojafelder di rekt hinter dem Dorfrand. Nur wenige Schritte sind es von dort bis zum Haus von Anna Dwack. Überall an den Wänden hängen Bilder von Dwacks Tochter: Valen tina in einem Babybett, auf dem Arm ih rer Eltern, ein Mädchen mit langen brau nen Haaren. Aber anders als viele Kinder im Dorf lernte sie nie laufen, denn Valen tina wurde mit einer Missbildung gebo ren, erzählt ihre Mutter. Die Elfjährige sitzt neben ihr, die Krücken an die Couch gelehnt. Sie kann sich nur mit Hilfe erhe ben, balanciert auf Beinen, die ihr nicht gehorchen. Sie habe kein Gefühl in den Beinen, erklärt Dwack, außerdem funk tioniere eine ihrer Nieren nur zu 60, die andere sogar nur zu 30 Prozent. Seit der Geburt ihrer Tochter sei ihr Leben geprägt von Sorgen, erzählt die 43-Jährige: von

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»Sie haben meine Gesundheit, alle meine Felder und alle meine Obstpflanzen zerstört.« Catalina Cendra, Bäuerin
Tierfutter für die Welt. Auf den Feldern um das Dorf Napenay wird Soja in riesigen Monokulturen angebaut.

Die Jugendliche. Valentina Dwack wurde mit geschädigten Beinen und Nieren geboren. Ihre Mutter sieht die Pestizidbelastung als Ursache.

Operationen und Besuchen bei Ärzten in der Hauptstadt. Doch gebe es bis heute keine überzeugende Antwort auf die Fra ge, warum Valentina diese Einschränkun gen habe.

Weil ihre Tochter rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen ist, hat Dwack auf gehört zu arbeiten. Mit dem Gehalt ihres Mannes, der als Taxifahrer arbeitet, kommt die Familie kaum über die Run den. Wegen ihrer Erkrankung ist Valenti na auf Schonkost angewiesen und darf nur Wasser trinken, das keine Spuren von Pflanzenschutzmitteln enthält. Im Dorf gibt es aber nur einen offenen Brunnen. »Ich möchte mir nicht vorstellen, was da drin ist«, sagt Dwack und meint die Pesti zide. Sie wäscht ihre Tochter mit Trink wasser, das sie in Fässern in einem Vor ratsraum lagert. Sicheres Wasser ist hier ein teures Gut.

Während ihre Mutter erzählt, spielt Valentina mit ihrem geflochtenen Zopf und spreizt langsam einen Finger nach dem anderen ab, als würde sie zählen. Sie liebe die Schule, sagt sie schüchtern. Ihre Mutter muss sie mittags abholen, denn

das Essen dort ist nicht unbelastet, und die Toiletten sind nicht behindertenge recht. Einfach rumtoben, wie ihre Mit schülerinnen, und danach selbstständig nach Hause kommen, ist für Valentina unmöglich.

Die Pestizide beeinträchtigten die Rechte der Bewohner*innen von Napenay auf Nahrung, auf unversehrte Gesund heit, auf Wasser. Im Fall von Valentina verhinderten sie auch eine unbeschwerte Kindheit. Und sie ist nicht die Einzige im Dorf. Ein Nachbarsjunge war erst 14 Jahre alt, als er Krebs bekam. Ein weiterer Junge hat Probleme mit seinem Blut und sitzt im Rollstuhl. Die 18-jährige Cousine von Valentina kann aus unerklärlichen Grün den nicht laufen. Sie kenne die Bilder von Tschernobyl aus dem Fernsehen, sagt Dwack. In den kontaminierten Gebieten hätten die Menschen ähnliche Krankhei ten wie ihre Tochter.

Verlässt man sich auf die letzte staat liche Untersuchung aus dem Jahr 2009, so haben sich die Missbildungen in den »eingenebelten Dörfern« seit 1997 ver fünffacht. Krebserkrankungen treten in der Region viermal so häufig auf wie im Rest Argentiniens. In ihrem Abschluss bericht stellte die Untersuchungskom

mission fest, dass der Einsatz von Chemi kalien nahe der Dörfer zu zahlreichen Beschwerden geführt habe und weitere tiefergehende Studien nötig seien. Statt dessen wurde die Kommission abgewi ckelt.

Schadenersatz unerreichbar

Ein paar Dörfer weiter ist sich Héctor Capitanich keinerlei Verantwortung be wusst. Der Landwirt baut auf 7.000 Hek tar Baumwolle, Mais und Soja an. Er benö tige die Pestizide, damit seine Pflanzen frei von Insekten und Schädlingen wach sen könnten, damit sich der Anbau lohne und der Preis stabil bleibe, sagt Capita nich, während er auf einem Plastikstuhl in seinem Hof sitzt. Einige der Pflanzen schutzmittel, die sich in seiner Scheune stapeln, stehen auf Javier Souzas Liste der hochgefährlichen Pestizide. Capitanich hält sie hingegen nicht für schädlich. Der

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»Wenn ich den Mund halte, wird es immer so weitergehen.« Anna Dwack, Geschädigte
Die Kleinbäuerin.
Catalina Cendra leidet unter Kopfschmerzen und Hautausschlägen, sobald die Felder mit Pestiziden besprüht wurden.

Landwirt ist sich sicher: »Die Unterneh men, die die Produkte herstellen, arbeiten auch mit dem Ziel, die Umwelt nicht oder so wenig wie möglich zu belasten.«

Wissenschaftler*innen können die Beobachtungen von Dwack und Cendra allerdings belegen: Es gibt einen Zu sammenhang zwischen Pestiziden und Krebserkrankungen, Fehlbildungen, Frühgeburten und Wachstumsstörungen. Das Schweizer Rechercheportal PublicEye listet 54 Stoffe auf, die als wahrscheinlich krebserregend, fortpflanzungsgefähr dend oder hormonell aktiv eingestuft werden. Vertrieben werden sie von deut schen Konzernen wie Bayer und BASF oder dem Schweizer Unternehmen Syn genta. Betroffene haben in der Vergan genheit immer wieder versucht, Agrar konzerne auf Schadenersatz zu verklagen. Für Dwack erscheint eine Klage allerdings unerreichbar. Außer ein paar verwackel ten Handyvideos der Sprühflugzeuge ha ben die Bewohner*innen von Napenay

keinerlei Belege. Und selbst wenn, an wen sollten sie ihre Beschwerden richten? Be schwerden bei lokalen Behörden seien in Argentinien oft langwierig und würden nur selten zu einer Verbesserung führen, sagt auch Souza.

Eine Veränderung könnte das Liefer kettengesetz bewirken, das 2023 in Deutschland in Kraft tritt. Denn es soll die Verantwortung von Ländern mit ge ringen Umweltauflagen auf deutsche Unternehmen verlagern, die aus dem Ausland Rohstoffe beziehen. Fleischpro duzenten, Tierfutterhersteller und Super marktketten mit mehr als 3.000 Mitar beitenden müssen ab dem kommenden Jahr Menschenrechtsbeauftragte einstel len und eine Risikoanalyse vornehmen.

Gibt es Anhaltspunkte für Rechtsverlet zungen, müssen die Unternehmen auch über ihren Geschäftsbereich hinaus ge nauer hinsehen: zum Beispiel auf einem Feld, auf dem Soja wächst.

Theoretisch können Betroffene wie Anna Dwack ihre Hinweise direkt an das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) richten, erklärt Annelen Micus, Fachreferentin für Wirtschaft und Menschenrechte von Amnesty in Deutschland. Weil dies nicht gerade einfach ist, können sie Unterstüt zung von Hilfsorganisationen bekom men. Amnesty und viele weitere Nicht regierungsorganisationen kritisieren je doch, dass Betroffene nicht auf Schaden ersatz klagen können. Werden Rechtsver letzungen nicht unterbunden, kann das BAFA das betreffende Unternehmen le diglich sanktionieren. Trotz aller Unzu länglichkeiten ist das Lieferkettengesetz aber nach Ansicht von Micus ein Fort schritt, weil es die Unternehmen stärker in die Pflicht nimmt.

11.000 Kilometer weit entfernt in Napenay denkt Dwack darüber nach, die »eingenebelten Dörfer« zu verlassen. Doch zunächst will sie jede Möglichkeit nutzen, sich zu beschweren: »Denn wenn ich den Mund halte, wird es immer so weitergehen.«

Amnesty Deutschland unterstützt die Initiative Lieferkettengesetz: lieferkettengesetz.de

Diesen Artikel können Sie sich in unserer TabletApp vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

ARGENTINIEN
Buenos Aires Napenay
AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 45
Der Landwirt. Héctor Capitanich ist davon überzeugt, dass die Pesitizide, die er einsetzt, nicht schädlich sind.
Soja-Schösslinge. Die Pflanzen wachsen im trockenen Norden Argentiniens nur unter hohem Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln.

KLIMAGERECHTIGKEIT JETZT!

Mitte November wird die Welt für zwei Wochen nach Ägypten blicken. Denn dort findet in Sharm El-Sheikh die nächste UNKlimakonferenz (COP27) statt. Die Erwar tungen sind hoch, denn es bleibt immer weniger Zeit, um einen ökologischen Kol laps aufzuhalten und die Klimakrise wirk sam zu bekämpfen.

Amnesty International hat eine Reihe von Forderungen an die Weltklimakonfe renz gestellt, was deren Ziele und Ergeb nisse betrifft. So muss das im Jahr 2015 in Paris beschlossene Ziel, die globale Erwär mung auf 1,5 Grad zu begrenzen, in der Gesetzgebung aller Mitgliedstaaten ver bindlich verankert werden. Alle Länder sollten sich bereit erklären, bis 2030 Kli maschutzmaßnahmen zu entwickeln, die ihrer Verantwortung und ihren Kapazitä ten entsprechen.

Unumgänglich ist dabei der stufen weise Ausstieg aus fossilen Energien. Die Länder des globalen Südens sind davon in besonderer Weise betroffen. Sie sind nicht

nur Opfer rohstoffbezogener Ausbeutung, sondern verfügen aufgrund kolonialer und neokolonialer Abhängigkeiten häufig auch nicht über die ökonomischen Mög lichkeiten, um einen ausreichenden Kli maschutz und eine ausreichende Klima prävention gewährleisten zu können.

Die Industrienationen sind daher ge fordert, angemessene Ausgleichs- und Entschädigungszahlungen an ärmere Staaten zu leisten. Dies ist insofern auch eine humanitäre und menschenrechtli che Verpflichtung, als schon die bisheri gen unzureichenden Zusagen von 100 Milliarden Dollar pro Jahr nicht eingehal ten wurden.

Doch der Übergang zu einer emis sionsarmen, klimaresilienten Welt wird

nicht nur von Regierungen gestaltet. Auch die Mitglieder der Gesellschaft müssen befähigt werden, sich an Klima schutzmaßnahmen zu beteiligen. Die UNO hat dafür bereits ein Rahmenüber einkommen (Action for Climate Empo werment) erarbeitet, das nun umgesetzt werden muss

Weitere Forderungen von Amnesty an die Teilnehmer*innen der COP27 betref fen die Menschenrechtslage in Ägypten. Das Gastgeberland geht seit Jahren mas siv gegen die Zivilgesellschaft vor: Zahl reiche Aktivist*innen wurden willkürlich inhaftiert und gefoltert. Die teilnehmen den Staaten müssen auf der Einhaltung der Menschenrechte bestehen. Wirksame Maßnahmen können nur durchgesetzt werden, wenn auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen die Möglichkeit haben, sich zu äußern und politischen Druck aufzu bauen.

Marcel Bodewig und Laurenz Hambrecht

Die Autoren sind in der Amnesty-Kogruppe Klimakrise und Menschenrechte aktiv.

Mehr Informationen: amnesty-klimakrise.de

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SPOTLIGHT: KLIMAKONFERENZ
Das Gastgeberland Ägypten geht seit Jahren massiv gegen die Zivilgesellschaft vor.
Bedrohte Artenvielfalt: Auch an der Küste von Sharm El-Sheikh könnte die Klimakrise Folgen haben. Foto: Khaled Desouki / AFP / Getty Images

»IM KAMPF GEGEN DIE KLIMAKRISE IST KEIN BEITRAG ZU GERING«

Tina Taylor-Harry ist Autorin und Aktivistin, leitet Workshops zu Klimathemen und engagiert sich ehrenamtlich in der Amnesty-Kogruppe Klimakrise und Menschenrechte. Was erwartet sie von der Klimakonferenz in Ägypten, der COP27?

Wie sind Sie zum Klima-Aktivismus gekommen?

Als Kind habe ich im Niger-Delta in Nigeria die schlimmsten Lebensbedingungen kennengelernt und nie verstanden, warum das so ist. Ich habe Hunger erlebt, hatte weder sauberes Wasser noch Strom. Ich war aber auch schon immer von der Natur faszi niert. Diese Faszination motivierte mich, zuerst Agrarwissen schaften und dann auch Nachhaltigkeit, Gesellschaft und Um welt zu studieren. Dadurch wurde mir bewusst, dass gewaltsame Konflikte, schlechter Lebensstandard, Korruption und Natur katastrophen im meiner Herkunftsregion, dem Niger-Delta, mit der Klimakrise zusammenhängen. Deshalb wollte ich eine deutlich vernehmbare Stimme sein und dafür kämpfen, meine Erfahrungen zu teilen.

Welche Unterschiede gibt es zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden in Bezug auf die Klimakrise? Die Klimakrise ist das Ergebnis übermäßiger Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch die Länder des globalen Nordens. Trotz aller Warnzeichen der Erwärmung nutzen Politiker*innen und Firmen des Nordens ihren Einfluss, um die Ausbeutung fortzusetzen. Handel mit Emissionszertifikaten trägt beispiels weise nicht zur Entschärfung des Problems bei, sondern macht Natur zur Ware und bedroht die Lebensgrundlagen und Ernäh rungssicherheit vieler Menschen. Die Länder des Südens müs sen auf der COP27 gehört werden, weil sie am meisten betroffen sind, und um ihre Zukunft selbst sicher gestalten zu können.

Was erwarten Sie von der COP27?

Es ist schwer, konkrete Erwartungen zu haben, wenn andere Kri sen wie der Ukraine-Krieg und Corona viel Raum einnehmen. Trotzdem hoffe ich auf konkrete Entscheidungen wie mehr Vor schriften für wirtschaftliche Investitionen, mehr Steuern für die Reichen, Umweltschutzvorschriften für die Produktion. Es wäre wichtig, auch Fragen der fossilen Brennstoffe zu behandeln.

Welche konkreten Maßnahmen sind fällig?

Zuerst einmal schnell handeln. Die Klimakrise muss überall an gegangen werden. Jede Region muss Verantwortung überneh men, indem sie die Ursachen der Klimakrise anerkennt und Lö sungen für den Planeten und künftige Generationen anbietet. Die reichen Länder haben Versprechungen gemacht, Emissio nen zu reduzieren, Auswirkungen des Klimawandels abzu schwächen und Mittel bereitzustellen, damit ärmere Länder sich an den Klimawandel anpassen und Verluste und Schäden aus gleichen können. Doch es gibt keine sichtbaren Fortschritte. Konkret müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den globa len Temperaturanstieg unter 1,5 Grad zu halten. Außerdem müs sen die versprochenen 100 Milliarden Dollar an solidarischer Klimafinanzierung zur Unterstützung der am stärksten betrof fenen Länder bereitgestellt werden sowie Mittel zur Wiedergut machung von Schäden und Verlusten jener Länder, die am meis ten mit den Auswirkungen der Klimakrise zu kämpfen haben.

Sie klingen positiv. Was inspiriert Sie, positiv zu denken? Ich glaube nicht, dass wir den Klimawandel vollständig aufhal ten können, aber wenn wir aufhören zu kämpfen, verschlim mern sich die Probleme. Obwohl ich Armut und Konflikten aus geliefert war, als ich in Nigeria aufgewachsen bin, und die Aus wirkungen dort selbst gesehen habe, habe ich mir eine positive Einstellung bewahrt. Was mich inspiriert, sind die Begegnung und Zusammenarbeit mit Jugendlichen, die die gleiche Vision haben, diese Welt besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefun den haben. Und es ist wichtig, sich zu erinnern, dass viele kleine Tropfen Wasser einen Ozean bilden, dass kein Beitrag zu gering ist im Kampf gegen die Klimakrise.

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 47
Foto: privat

Zeitenwechsel

Schwangerschaftsabbrüche sind in konservativ regierten US-Bundesstaaten nicht mehr erlaubt. Das zwingt betroffene Frauen, in weniger restriktive Staaten zu reisen. Hoffnung macht Aktivist*innen, dass gemäßigte Konservative sich vermehrt gegen ein absolutes Verbot stellen. Aus Oakland Arndt Peltner

Für Frauenrechte auf der Straße: Eine Amnesty-Aktivistin protestiert vor dem Supreme Court in Washington D.C. gegen die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung.

48 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 ABTREIBUNG IN DEN USA
Foto: Amnesty
USA

Ich habe seit 20 Jahren damit ge rechnet. Aber als Donald Trump ge wählt wurde, war mir klar: Das war’s. Ich habe meinem Mann da mals gesagt, das Grundsatzurteil ›Roe gegen Wade‹ ist durch, denn das war seit Langem der Plan.« Das sagt Tarah De mant, die derzeit bei Amnesty Internatio nal in den USA für nationale Programme zuständig ist.

Auch Bergen Cooper von Fòs Feminis ta, einer internationalen Allianz für das Grundrecht auf Abtreibung, war nicht überrascht, als der Oberste Gerichtshof im Juni 2022 »Roe gegen Wade« als allge meines Grundrecht in allen 50 Bundes staaten ersatzlos strich. »Ich habe es zwar kommen sehen, dennoch hat mich die Entscheidung persönlich verletzt. Wir, die wir schon lange für das Abtreibungsrecht kämpfen, konnten in den vergangenen 40 Jahren ganz deutlich verfolgen, wie Gesetzgeber in verschiedenen Bundes staaten an diesem Grundsatzurteil rüttel ten.«

Fast 50 Jahre galt Abtreibung als Teil der Privatsphäre

Gefällt hatte der Supreme Court das Ur teil am 22. Januar 1973. Hintergrund war der Fall von Norma McCorvey, die in den Gerichtsunterlagen nur als Jane Roe ge führt wurde. Sie war 1969 zum dritten Mal schwanger geworden und wollte die Schwangerschaft beenden. Doch in Texas, wo sie lebte, war eine Abtreibung nur bei Gefahr für das Leben der Mutter möglich. McCorvey schaltete zwei Anwältinnen ein, die Klage gegen den Bezirksstaatsan walt Henry Wade einreichten. Nachdem »Jane Roe« vor dem Distriktgericht für das nördliche Texas gewonnen hatte, ging die Staatsanwaltschaft in die Revision, und der Fall landete schließlich beim Su preme Court. Mit sieben zu zwei Stimmen entschieden die Richter, dass der 14. Ver fassungszusatz das Recht auf Privatsphä re garantiere und dass hierunter auch der – zeitlich begrenzte – Schwangerschafts abbruch einer Frau falle. Interessanter weise votierten damals fünf Richter, die von republikanischen Präsidenten ein gesetzt worden waren, für das Recht auf Abtreibung.

Fast 50 Jahre lang war »Roe gegen Wade« gültig, wurde jedoch von Teilen der Bevölkerung nie akzeptiert. Ende der 1970er Jahre gewannen evangelikale Grup pen wie die American Family Association Einfluss auf die republikanische Partei. Die christlichen Fundamentalist*innen verlangten, das Recht auf Schwanger schaftsabbruch müsse ersatzlos und ohne Ausnahmen gestrichen werden. »Seit 1973

wurden unzählige Gesetze in den ver schiedenen Bundesstaaten verabschiedet, die das Recht auf Abtreibung einschränk ten«, erklärt Amnesty-Expertin Demant. Gerade für ärmere Frauen in ländlichen Gegenden und für Mädchen wurde der Zugang begrenzt. »Schon vor dem Ende von Roe wurde das Recht auf Abtreibung nicht überall in den USA gleich ausge legt.« Frauen, deren Krankenversicherung aus Bundesmitteln finanziert wird, da runter Veteraninnen, Native Americans und Alaska Natives, aber auch Schwange re, die über die staatliche Basiskranken versicherung Medicaid versichert sind, bekamen Abtreibungen nicht erstattet. Medicaid übernimmt die Kosten einer Abtreibung zum Beispiel nur im Fall von Inzest, Vergewaltigung oder Gefahr für das Leben der Frau. Allerdings haben 16 demokratisch regierte Bundesstaaten die se Vorgaben seit Langem ausgehebelt und finanzieren den betroffenen Frauen einen Abbruch auch ohne diese Gründe.

Je mehr die Evangelikalen an Einfluss in der republikanischen Partei gewannen, desto wichtiger wurde das Thema Abtrei bung in der US-Politik. In allen Wahl kämpfen mussten Kandidatinnen wie Kandidaten die Frage nach ihrer Einstel lung zum Schwangerschaftsabbruch be antworten. Republikaner*innen, die an fangs noch das Grundsatzurteil »Roe ge gen Wade« unterstützt hatten, sahen sich nun als Teil einer »Pro Life«-Partei, die den Kampf um das ungeborene Leben an vorderste Stelle rückte. Abtreibung wurde zu einem hochpolitischen Thema. Und das, obwohl sich in Umfragen immer wie der gut 70 Prozent der Bevölkerung für die Möglichkeit eines legalen Abbruchs aussprechen. »Auf lokaler und bundes staatlicher Ebene wurden Leute in Posi tionen gewählt, die die Grenzen der Wahl bezirke neu zogen. Das führte zu Wahler gebnissen mit konservativen Mehrheiten, die nicht die eigentlichen politischen Ver hältnisse in den Bundesstaaten wider spiegelten«, erläutert Tarah Demant von Amnesty. Oftmals wurde in der Folge auch der Zugang zu Verhütungsmitteln eingeschränkt.

Diskussion über Reiseverbote für Schwangere Nach dem Urteil des Supreme Court im Juni 2022 setzten 13 Bundesstaaten umge hend sogenannte Trigger Laws in Kraft. Diese Gesetze waren bereits vorab verab schiedet worden für den Fall, dass »Roe gegen Wade« abgeschafft würde, und verboten Abtreibungen. Der Oberste Gerichtshof hatte mit seinem Urteil Ab treibungen nämlich nicht generell ver

boten, sondern vielmehr den einzelnen Bundesstaaten die Entscheidung überlas sen. Nun gibt es also in den USA einen Flickenteppich in Sachen Abtreibung: Der Großteil der republikanisch regierten Bundesstaaten verbietet Schwanger schaftsabbrüche, zum Teil sogar bei In zest oder Vergewaltigung. Demokratisch regierte Staaten bereiten sich hingegen darauf vor, dass betroffene Frauen aus ei nem Bundesstaat mit Abtreibungsverbot zu ihnen kommen werden. Kalifornien und New York haben bereits öffentliche Mittel für Reise- und Behandlungskosten bereitgestellt.

Abtreibungsgegner*innen sehen sich durch das Urteil bestätigt und werden nun ein generelles Verbot von Schwan gerschaftsabbrüchen in den gesamten USA fordern, befürchtet Tarah Demant von Amnesty. In einzelnen Bundesstaaten wird sogar über Reiseverbote für schwan gere Frauen diskutiert. Außerdem blickt Demant mit Sorge auf weitere Urteile des Obersten Gerichtshofs, die im kommen den Jahr erwartet werden: »Die Fälle, die auf der Agenda stehen, lassen das Schlimmste befürchten. Es handelt sich um Klagen gegen gleichgeschlechtliche Ehen oder den Zugang zu Verhütungsmit teln. Auch der Fall ›Lawrence gegen Te xas‹, in dem es um das Verbot von Anal verkehr geht, soll verhandelt werden.« Immer mehr konservative Bundesstaaten führen zudem Gesetze ein, die sich gegen die Rechte der LGBTI+-Community rich ten – stets mit der Begründung, dass die se nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt seien.

Doch Tarah Demant will sich trotz al lem nicht geschlagen geben: »Ich bin ent schlossen zu kämpfen. Genau das ist un ser Job.« Hoffnung bereitet ihr das Ergeb nis eines Referendums im konservativen Kansas Anfang August: 59 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten ge gen ein striktes Abtreibungsverbot in ih rem Bundesstaat. Und inzwischen stellen sich auch vermehrt gemäßigte Republika ner*innen gegen die drastischen Forde rungen ihrer Partei. ◆

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»Ich bin entschlossen zu kämpfen. Genau das ist unser Job.« Tarah Demant, Amnesty USA

DENKERIN FRAGEN: ANTJE MONSHAUSEN

Ist es okay, in Länder zu reisen, in de nen die Menschenrechte missachtet werden?

Wir müssen uns bewusst machen, dass Herrscher autokratischer Länder von Rei segästen profitieren – sei es direkt, weil sie selbst im Besitz touristischer Einrich tungen sind, sei es durch Visagebühren, Steuern oder dadurch, dass der Tou rismus ein positives Image in die Welt sendet. Tourismus ist ein wirtschaftlicher und politischer Stabilisator. Andererseits bietet eine Reise aber auch die Möglich keit, die Aufmerksamkeit auf ein Land zu lenken, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen oder in Kontakt mit Men schen zu kommen, die unter der Situation dort leiden. Im Tourismus liegt also auch das Potenzial, etwas zum Besseren zu wenden.

Welche Verantwortung haben die Rei senden selbst?

Es kommt darauf an, wie bewusst und sensibel man unterwegs ist, ob man sich zum Komplizen eines Regimes macht oder die Reise vielleicht sogar positive Impulse setzt. Grundsätzlich finde ich:

Für wen Sonne, Sand und Meer die wich tigsten Urlaubskriterien sind, der findet auch Länder, in denen die Menschenrech te geachtet werden. Wer in Länder mit problematischer Menschenrechtslage reist, sollte sich hingegen gut vorbereiten. Kann ich sicherstellen, dass das Per sonal, das mir einen schönen Aufent halt bereitet, nicht ausgebeutet wird? Problematische Arbeitsbedingungen sind im Tourismus allgegenwärtig. Das reicht von massenhaft unbezahlten Überstun den über schwere körperliche Arbeit und vorenthaltene Ruhephasen bis hin zu schlechter Unterbringung des Personals. Zudem arbeiten im Tourismus viele Mi grant*innen. Menschenhandel und damit auch moderne Sklaverei sind ein reales Risiko. Als Tourist*in sollte man aufmerk sam sein und Missstände seinem Reise veranstalter melden.

In Tansania sollen 70.000 Massai von ihrem Weideland vertrieben werden, um Safaritourismus und Trophäenjagd Platz zu machen. Bei deutschen Reiseanbietern ist derzeit Saudi-Ara

bien angesagt – trotz der Missachtung von Frauenrechten oder mangelnder Meinungsfreiheit. Lassen sich die Unternehmen in die Pflicht nehmen? Grundsätzlich haben alle deutschen Rei severanstalter eine Verantwortung im Sinne der UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte. Das deutsche Lie ferketten-Sorgfaltspflichtengesetz fordert ab 2023 von Unternehmen, Menschen rechtsstrategien zu entwickeln, ihre Lie ferkette zu überprüfen und bei Missstän den für Abhilfe zu sorgen. Es gilt aber nur für große Unternehmen. Von 3.000 deut schen Reiseveranstaltern ist weniger als eine Handvoll überhaupt erfasst – wir be wegen uns hier im Promillebereich!

Interview: Uta von Schrenk Antje Monshausen leitet die Fachstelle Tourism Watch bei Brot für die Welt, die sich für einen sozial gerechten Tourismus in Ländern des globalen Südens einsetzt. www.tourism-watch.de

BESSER MACHEN: SHOPPEN BEI AMNESTY

Vieles muss man besser machen, man ches kann man aber auch einfach nur nutzen: den Amnesty-Shop zum Bei spiel. Alle Partner*innen, deren Pro dukte der Online-Shop anbietet, müssen die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklä rung der Menschenrechte und in den internationalen Men schenrechtsverträgen verankert sind, achten und schützen. Der Shop bietet ausschließlich Produkte aus möglichst nachhaltiger und fairer Produktion, mit ausführlichen Informationen sowie um weltfreundlicher Verpackung und Ver sandart.

Die Hersteller*innen müssen die Arbeitnehmer*innenrechte gemäß den

Standards der Internationalen Arbeits organisation (ILO) garantieren und den Umweltschutz wahren. Denn Umwelt zerstörung und Klimakrise verursa chen auch Menschenrechtsverlet zungen. Und unser Konsumver halten beeinflusst aufgrund globaler Produktionsprozesse und Lieferketten nicht nur die wirtschaftliche und soziale Situation von Menschen, sondern auch den Zu stand der Umwelt.

Wer also noch keine Geschenkideen für Weihnachten hat, sollte sich mal im Amnesty-Shop umsehen. Jeder Einkauf ist nicht nur ein Statement für die Menschen rechte, sondern unterstützt Amnesty auch im Kampf gegen Menschenrechts verletzungen weltweit.

shop.amnesty.de

WAS TUN?
Foto: Brot für die Welt
50 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022

Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Walk Free und der Internationalen Organisation für Migration zufolge lebten im Jahr 2021 rund 50 Millionen Menschen in Formen moderner Sklaverei. Davon waren knapp 28 Millionen Menschen in Zwangsarbeit

DER FOTOBEWEIS: LANDRAUB AM AMAZONAS

Die brasilianische Regierung soll den Le bensraum der Yanomami schützen, einer indigenen Gemeinschaft im Amazonas gebiet. Rund 40.000 Yanomami leben dort auf über 97.000 Quadratkilometern. Dennoch arbeiten in dem Gebiet Schät zungen zufolge rund 30.000 Bergleute il legal. In den vergangenen Jahren ist ihre Zahl sprunghaft gestiegen. Die Konse quenzen für die Yanomami sind dras tisch: Ihr Lebensraum wird durch Entwal dung und Verseuchung der Gewässer zer stört. Eine Studie der NGO Hutukara be legt Folgen wie Unterernährung und Ma laria-Erkrankungen durch die Verbrei tung von Moskitos in den Tagebaugebie ten. Das Foto zeigt eine illegale Lande bahn für Flugzeuge, die Bergleute versor gen. Journalist*innen konnten mit Satelli tenbildern mehr als 1.200 nicht registrier te Landebahnen im brasilianischen Ama zonasgebiet nachweisen, 61 davon im Ge biet der Yanomami.

FREIHEIT FÜR HAYRIGUL NIYAZ!

Über eine Million Uigur*innen haben die chinesischen Behörden in der Region Xinjiang willkürlich inhaftiert. Zu ihnen gehört auch die 35-jährige Hayrigul Niyaz. Sie hat keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl oder Kontakt zu ihrer Familie. Beteilige dich an unserer Online-Aktion an die chinesische Bot schaft, fordere, dass Hayrigul sowie alle anderen Personen, die unrechtmäßig in Xinjiang inhaftiert sind, freigelassen werden.

KLICKEN FÜR AMNESTY WWW.AMNESTY.DE/MITMACHEN 2016 Gesamt: 40,3 Millionen Gesamt: 49,6 Millionen 2022 MALEN NACH ZAHLEN: MODERNE SKLAVEREI
und 22 Millionen in Zwangsehen gefangen. Die Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen fünf Jahren signifikant gestiegen. Quelle: ILO 2022 Zwangsehen: 15,4 Mio. Zwangsarbeit: 27,6 Mio. Zwangsarbeit: 24,9 Mio. Zwangsehen: 22,0 Mio. AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 51
Foto: Victor Moriyama
/ The
New York Times
/ Redux / laif

Schreib für Freiheit

Im Dezember findet zum 21. Mal der Amnesty-Briefmarathon

statt. Dabei schreiben Tausende Menschen weltweit Briefe, um gefährdete Menschenrechtsverteidiger*innen zu unterstützen: in diesem Jahr unter anderem Aleksandra Skochilenko aus Russland und Vahid Afkari aus dem Iran. Von Hannah El-Hitami

D as gemeinsame Schreiben ist eines der wichtigsten Druckmittel von Amnesty International: Aktivist*in nen setzen sich mit Briefen für Menschen ein, deren Rechte verletzt werden und schicken Solidaritätsnach richten an Menschenrechtsverteidiger*in nen in Gefahr. Einmal im Jahr gipfeln die se Bemühungen im Briefmarathon. Unter dem Motto »Schreib für Freiheit« fordert Amnesty seine Unterstützer*innen in al ler Welt dazu auf, für besonders gefähr dete Menschen massenweise Briefe zu schreiben, Mails zu schicken, in den Online-Netzwerken zu posten. Dieser Einsatz führt sehr oft zu positiven Ent wicklungen. In diesem Jahr hat Amnesty 13 Menschenrechtsverteidiger*innen aus gewählt, die dringend Unterstützung brauchen – sei es, um ihre Haftbedingun gen zu verbessern, ihre Freilassung zu erwirken, oder ihnen mit einer Flut von Briefen zu zeigen, dass sie nicht allein sind (siehe Seite 28/29).

Einer dieser Fälle ist 2022 der Iraner Vahid Afkari, der seit mehr als vier Jahren zu Unrecht inhaftiert ist. Er nahm in sei ner Heimatstadt Shiraz an friedlichen Protesten teil, die 2018 das ganze Land erfasst hatten. Zehntausende gingen da mals gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption auf die Straße und forderten die Freilassung politischer Gefangener. Im September 2018 wurde Afkari zusam men mit seinem Bruder Navid festge nommen. Beide wurden monatelang psy chisch und körperlich gefoltert, um sie zu Geständnissen zu zwingen. Die zahlrei chen Vorwürfe, die gegen die beiden Männer erhoben wurden, entsprachen größtenteils keinen international aner kannten Straftatbeständen. Anklagen wie »Störung der öffentlichen Ordnung«,

»Verdorbenheit auf Erden« oder »Beleidi gung des Religionsführers« werden im Iran häufig benutzt, um die Ausübung der Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zu kriminalisie ren. Am schwersten wog der Vorwurf, die Brüder hätten einen Sicherheitsbeamten ermordet. In mehreren Verfahren, die keinerlei rechtsstaatliche Standards er füllten, bestritten sie die Tat und wider riefen immer wieder »Geständnisse«, die sie unter Folter gemacht hatten. Ungeach tet dessen, und obwohl das Gericht kei nerlei Beweise gegen sie vorbringen konnte, wurden sie verurteilt: Vahid zu 33 Jahren und neun Monaten Haft sowie 74 Stockhieben, sein Bruder Navid zum Tode. Auch ein weiterer Bruder, Habib, der sich nach ihnen erkundigt hatte, wur de inhaftiert und zu 15 Jahren Freiheits strafe verurteilt.

Am 12. September 2020 wurde Navid

Afkari hingerichtet. Da beide Brüder in unmittelbarer Nähe zueinander im To destrakt des Adelabad-Gefängnisses in Shiraz inhaftiert waren, konnte Vahid hö ren, wie sein Bruder abgeführt, geschla gen und schließlich erhängt wurde. Er selbst sitzt noch immer in einer fenster losen Zelle – isoliert von anderen Gefan genen, ohne Freigang und ohne medizini sche Versorgung. »Ich weiß nicht, wie ich mich noch verteidigen soll und wie ich Menschen um Hilfe bitten soll«, teilte er in einer Sprachnachricht mit. »Ich kann nichts anderes tun, als mich immer wie der auf das Recht zu berufen und an Logik und Vernunft zu appellieren.« Im März berichtete Afkari seiner Familie, dass Wärter ihm einen Arm gebrochen hätten, nachdem er sie gebeten hatte, einen an deren politischen Gefangenen nicht in Isolationshaft zu nehmen. Trotz seiner niederschmetternden Lage setzt Vahid Af

52 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 AMNESTY-BRIEFMARATHON
Der Briefmarathon 2021 in einer Schule. Foto: N. Pfefferkorn

kari sich auch weiterhin für andere ein: Er bat darum, beim Briefmarathon die Auf merksamkeit nicht nur auf seinen Fall, sondern auch auf weitere politische Ge fangene im Iran zu richten, deren Namen und Geschichten nicht an die Öffentlich keit gelangten. Dass der internationale Druck zumindest teilweise wirkt, zeigt das Schicksal seines Bruders Habib: Er wurde im März dieses Jahres nach Druck von Amnesty International, seiner Fami lie sowie von Aktivist*innen im Iran und weltweit freigelassen.

Emotionale Unterstützung

Selbst wenn Appelle nicht unmittelbar zu einer Freilassung führen, so macht die Masse an Solidaritätsbriefen für die Be troffenen einen großen emotionalen Unterschied. Das zeigt der Fall der russi schen Künstlerin Aleksandra (»Sasha«) Skochilenko, für die sich Amnesty seit Monaten einsetzt und die auch beim Briefmarathon unterstützt werden soll. »Mir kommen vor Dankbarkeit die Trä nen, wenn ich an euch alle denke, die auf stehen und sich für mich einsetzen«, schrieb Sasha Skochilenko in einem Brief aus dem Gefängnis im April 2022. »Meine Kläger haben Macht und Geld, doch ich

habe etwas viel Wertvolleres: Freundlich keit, Empathie, echte Liebe und enorme Unterstützung von Menschen aus aller Welt.«

Seit dem 13. April sitzt die russische Künstlerin in einem Gefängnis in St. Pe tersburg. Der Grund: eine Kunstaktion gegen den Krieg. Skochilenko schreibt Lieder, zeichnet Comics und Zeichentrick filme, organisiert Konzerte und Jamses sions. Ende März tauschte sie in einem Supermarkt in ihrer Heimatstadt die Eti ketten der Produkte gegen Zettel aus, auf denen Informationen über Russlands In vasion in die Ukraine standen, zum Bei spiel über die Toten nach der Bombardie rung des Theaters von Mariupol. Kaum zwei Wochen später durchsuchte die Poli zei Skochilenkos Wohnung und nahm sie fest. Man wirft ihr vor, wissentlich falsche Informationen über den Einsatz der rus sischen Streitkräfte verbreitet zu haben. Das ist in Russland illegal – laut Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches, der Anfang März überstürzt eingeführt wurde, um Kritik an der russischen Invasion in die Ukraine zu stoppen.

»Sasha ist im Gefängnis, weil die Unterdrückung in unserem Land seit Be ginn des Krieges noch schlimmer ist als zuvor«, sagt ihre Partnerin Sofia Subboti na. »Die Behörden wollen eine Stimmung schaffen, in der keiner es wagt, sich öf fentlich gegen den Krieg auszusprechen.«

Die Untersuchungshaft ist für die 32jährige Künstlerin besonders gefährlich, da sie unter Zöliakie leidet und auf eine spezielle Diät angewiesen ist. Dennoch

erhielt sie im Gefängnis lange Zeit keine adäquaten Mahlzeiten und durfte keine privaten Nahrungspakete entgegenneh men. Inzwischen erhält sie einmal am Tag eine glutenfreie Mahlzeit, muss darü ber hinaus aber hungern. Zudem wurde sie von ihren Mitgefangenen im Auftrag der Gefängnisleitung schikaniert und vom Essen abgehalten. Erst massive Kri tik, auch der russischen Öffentlichkeit, führte dazu, dass sie in eine andere Zelle verlegt wurde und sich ihre Haftbedin gungen ein wenig verbesserten.

Jedoch wurde ihre Untersuchungshaft verlängert, ihre Partnerin darf sie nicht besuchen. Freund*innen von Skochilen ko, die sich auf einer Website für ihre Freilassung einsetzen, fürchten, dass der Stress die psychisch erkrankte Künstlerin schwer beeinträchtigen könnte. In Russ land ist Skochilenko für ein Buch über Depressionen bekannt. Es wurde in meh rere Sprachen übersetzt, verfilmt und wird von Psycholog*innen bei Behand lungen eingesetzt. Dass sie mit Kunst das Beste aus dunkelsten Situationen holt, hat Skochilenko schon mehrfach gezeigt. »Egal, wie sehr meine Kläger mich durch den Dreck ziehen, erniedrigen und den unmenschlichsten Bedingungen ausset zen, ich werde nur Strahlendes, Unglaub liches und Schönes aus dieser Erfahrung ziehen«, schreibt sie in einem Brief. Sie habe bereits angefangen, einen Comic über ihre Haft zu zeichnen. ◆

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 53
Vahid Afkari. Foto: privat Aleksandra Skochilenko. Foto: privat
»Ich weiß nicht, wie ich mich noch verteidigen soll.«
Vahid Afkari

DIE PROPAGANDA INS LEERE LAUFEN LASSEN

Ivan Kolpakov ist Chefredakteur des russischen Internetportals Meduza mit Sitz in Lettland. Es zählt zu den wichtigsten kremlkritischen Medien. Seit dem Angriff auf die Ukraine setzt sich der Journalist dafür ein, dass russische Kolleg*innen ein sicheres Exil im Ausland erhalten. Von Tigran Petrosyan

Heute ist er in Berlin, gestern war er noch in Riga, und morgen fliegt er nach Amsterdam. Ivan Kolpakov hat längst vergessen, wann die Nacht beginnt und wann der Tag. Der 38-jährige Journalist ist Chefredakteur des Internetpor tals Meduza, das er 2014 in Lettland mitgründete. Das russischund englischsprachige Portal, das zu den wichtigsten unabhän gigen russischen Medien zählt, erhebt seine Stimme gegen den Krieg in der Ukraine. Kolpakov fühlt sich jedoch nicht nur ver antwortlich für Millionen Menschen, die den Lügen und der Propaganda des Kremls ausgesetzt sind, sondern auch für die rund 60 Mitarbeitenden von Meduza. Seit dem russischen Über fall auf die Ukraine sind die Korrespondent*innen des Portals in Russland extrem bedroht. Kolpakov setzt sich deshalb dafür ein, dass seine Kolleg*innen in Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk und anderen Orten das Land verlassen können. Bislang hat er 25 Journalist*innen geholfen, ins Exil zu gehen, und sie damit vor Geld- und Haftstrafen bewahrt.

»Journalismus ist ein gefährlicher und bedrohter Beruf in Russland, und das ist längst keine Metapher mehr«, sagt Kolpa kov. Der Journalist wurde 1983 in Perm geboren, wo er Geschich te und Politik studierte und die Online-Zeitung Sol gründete. In Moskau arbeitete er für das Online-Magazin Lenta. Mit seiner damaligen Chefredakteurin Galina Timchenko und anderen gründete er später in Riga Meduza. Seit acht Jahren lebt Kolpa kov nun im lettischen Exil, in »Scheinsicherheit«, wie er sagt. »Lettland liegt sehr nahe an Russland.« Er habe das Gefühl, dass er in Riga beobachtet werde. »Das ist keine Paranoia. Es hat ver schiedene unangenehme Zwischenfälle gegeben«, sagt er.

Kolpakov konzentriert sich darauf, die Finanzen für Meduza hauptsächlich über Crowdfunding zu sichern. Mehrere Millio nen Menschen lesen täglich Nachrichten auf dem Portal. Viele von ihnen nutzen dafür VPN, eine nicht nachverfolgbare Netz werkverbindung. Die mobile App, die Blockaden durch die russi schen Behörden umgehen kann, wurde Mitte September mehr als eine Million Mal heruntergeladen. Und über eine Million Abonnent*innen folgen Meduza auf Instagram und Telegram. »Wir leben in einzigartigen Zeiten der Mediengeschichte. Im mer mehr Menschen legen Wert auf unabhängigen Journa lismus«, sagt Kolpakov.

Was in Russland passiere, sei »ein Albtraum, eine Katastro phe«. Er erwarte weitere »unvorstellbare Verbrechen« des Kremls. Seine schlimmsten Befürchtungen seien in den vergan genen Monaten von der Realität übertroffen worden, räumt der Journalist ein. »Ich war mir sicher, dass es keinen Krieg in der Ukraine geben würde. Dann war ich mir sicher, dass Wladimir Putin sein Amt in kürzester Zeit verlieren würde, weil ein Krieg gegen die Ukraine der schlimmste Albtraum eines Russen oder einer Russin ist.« Die Hoffnungen, die Kolpakov in die Soldaten mütter setzte, wurden ebenfalls enttäuscht. »Der Kreml konnte nicht verbergen, dass viele russische Soldaten sterben. Aber auch das führte nicht zu einer sozialen Explosion, einer Protest bewegung, die das Regime stürzen könnte.«

Seit dem 24. Februar sei in Russland eine Diktatur errichtet worden. »Putin hält seine Macht und die Kontrolle der Gesell schaft durch Propaganda und seinen Gewaltapparat aufrecht.« Umso wichtiger sei es, die Propagandamaschine durch ein Me dium wie Meduza ins Leere laufen zu lassen. ◆

54 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 PORTRÄT
Meduza.io
Foto: Janis Pipars / The New York Times / Redux / laif

EU BERÄT ÜBER KI-VERORDNUNG

In der EU wird in naher Zukunft darüber entschieden, welche Regeln für die Ent wicklung und Benutzung von künstlicher Intelligenz (KI) gelten sollen. Die Einsatz möglichkeiten dieser Technologie, bei der Programme selbstständig komplexe Auf gaben ausführen, sind vielfältig: Sie rei chen von Filmvorschlägen auf Streaming diensten bis hin zu moderner medizini scher Diagnostik. Doch KI kann auch für Waffensysteme, Massenüberwachung und zur Manipulation eingesetzt werden.

Die Technologie birgt große Chancen, aber auch Risiken für Einzelne und die Gesellschaft. Ihr Einsatz hat Auswirkun gen auf das Recht auf Leben, das Recht auf Privatsphäre, die Meinungs- und Ver sammlungsfreiheit und viele weitere

Menschenrechte. Amnesty setzt sich des halb dafür ein, dass die EU bei der Ausar beitung der »KI-Verordnung« hohe Men schenrechtsstandards beachtet. Die Ver ordnung ist die weltweit erste gesetzliche Vorgabe zum Einsatz von KI. Sie wird des halb Auswirkungen weit über Europa hin aus haben und könnte zu einer Blaupause für Regierungen weltweit werden. Umso wichtiger ist es, einen umfassenden Men schenrechtsschutz darin zu verankern.

Notwendig ist ein Verbot von KI-An wendungen, die ein nicht vertretbares Ri siko für die Menschenrechte bergen, wie beispielsweise Gesichtserkennung im öf fentlichen Raum, die einer Massenüber wachung gleichkommt. Auch der Einsatz von KI-Systemen, die menschliches Ver

halten analysieren, klassifizieren und be werten, muss verboten werden. Solche Anwendungen kommen zum Beispiel in China in Form eines Sozialkredit-Systems zum Einsatz. Auch KI-Anwendungen mit geringeren Risiken brauchen verbindli che Vorgaben, damit Firmen und Privat personen transparent handeln und men schenrechtliche Risiken einschätzen und verhindern können. Die KI-Verordnung wird derzeit im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat beraten und frühestens 2023 verabschiedet. Mehr zum Thema Gesichtserkennung: amnesty.de/my-face (»Was sagt Amnesty eigentlich zu … Gesichts erkennungstechnologie?« Amnesty Journal 05/2022)

DFB SCHLIESST SICH FORDERUNG VON AMNESTY AN

440 Millionen US-Dollar sollen der Welt fußballverband FIFA und Katar, das Gast geberland der Fußball-WM der Männer im Jahr 2022, bereitstellen, um Arbeits migrant*innen für erlittene Menschen

Druck ausüben. Amnesty protestiert vor der FIFA-Zentrale in Zürich, März 2022. Foto: Amnesty Schweiz

rechtsverletzungen zu entschädigen. Im September 2022 stellte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hinter diese Forde rung, die von Amnesty International be reits im Frühjahr 2022 erhoben wurde.

Der DFB hatte im vergangenen Jahr eine Menschenrechts-Policy verabschiedet und baut seither Strukturen auf, um sei ner unternehmerischen Sorgfaltspflicht nachzukommen. Mit der Forderung nach Entschädigung sendet der weltweit größ te Fußballverband ein Signal an die FIFA. Es ist auch eine Aufforderung, Verantwor tung zu übernehmen und bei künftigen WM-Vergaben die Menschenrechtssitua tion zu berücksichtigen.

Die FIFA wollte ihre Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen in Katar lange Zeit nicht wahrhaben. Auch für die nationalen Fußballverbände waren Men schenrechte zum Zeitpunkt der WM-Ver gabe an Katar kein Thema. Doch hat die jahrelange Arbeit von Menschenrechtsor ganisationen, Gewerkschaften und Fan initiativen Früchte getragen: Mittlerweile hat die FIFA ihre Statuten geändert, sich zu den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte bekannt, eine Nach haltigkeitsstrategie für die WM 2022 ver abschiedet und den Vergabeprozess für Weltmeisterschaften reformiert. (»Arbeitsmigrant*innen entschädigen«, Amnesty Journal 05/2022)

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 55
DRANBLEIBEN
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Verloren im Kaninchenbau

In ihrer neuen Graphic Novel erkundet die Journalistin Doan Bui die Welt der Verschwörungsmythen. Sie erklärt, warum Menschen Wissenschaft und Medien nicht mehr trauen – und wie das Internet uns süchtig nach Fake News macht. Von Hannah El-Hitami

G lauben Sie an die Wahrheit?« Der Titel der neuen Graphic Novel von Doan Bui und Les lie Plée fasst das Problem bereits ziemlich gut zusam men. Er nutzt den schwierigen Begriff der »Wahrheit«– gibt es überhaupt die eine? Und wer entscheidet, was sie ist? Und er spielt auf den geradezu religiösen Charak ter heutiger Debatten über »die Wahr heit« an. In einer mit Informationen überfütterten Welt muten auch Konflikte darüber, welche wissenschaftlichen Fak ten oder politischen Statements wahr sind, wie kleine Glaubenskriege an.

Seit der Corona-Pandemie sind auch in Deutschland »alternative Wahrheiten« und Verschwörungsmythen in aller Mun de. Die sogenannten Querdenker*innen fanden zeitweise eine breite Anhänger schaft in einer Gesellschaft im Ausnah mezustand. Doch der Aufstieg von Ver schwörungsmythen begann bereits wäh rend der Amtszeit des ehemaligen USPräsidenten Donald Trump. Er prägte auf höchster politischer Ebene den Begriff »Fake News«, um Wissenschaft und Me

dien zu diskreditieren, die nicht seiner Agenda entsprachen.

In der von Leslie Plée humorvoll gezeichneten Graphic Novel vergleicht Doan Bui die Welt der alternativen Wahr heiten mit Alices Wunderland: Alles steht Kopf und man geht leicht verloren. Auf fast 200 Seiten führt die mehrfach ausge zeichnete Journalistin ihre Leser*innen durch die großen Verschwörungsmythen unserer Zeit. Dabei verteufelt sie deren Anhänger*innen nicht, sondern erkundet deren Welt mit Neugier und dem ehr lichen Versuch zu verstehen – auch wenn sie dabei öfter an ihre Grenzen gerät.

Grundlage sind Interviews, die die vietnamesisch-französische Journalistin in den vergangenen Jahren geführt hat. Los geht es mit den Truthern (ins Deut sche ließe sich das als »Wahrheiter« über setzen), einer Gruppierung, die alle mög lichen Ereignisse – 9/11, die Mondlan dung, den Ukraine-Krieg – für staatlich organisiertes Theater hält. Bui recher chierte in diesem Milieu nach dem Amoklauf an einer Grundschule im USamerikanischen Sandy Hooks im Dezem

ber 2012. Truther behaupteten damals, der Amoklauf habe nicht stattgefunden, die trauernden Eltern seien Schauspie ler*innen im Auftrag einer von Demokra ten angeführten Anti-Schusswaffen-Lob by. Gegen Truther, so scheint es, kommt man weder mit Argumenten an noch mit der Realität, die direkt vor ihnen liegt. »Haben Sie den Sarg geöffnet? Wie kön nen Sie sicher sein, dass er nicht leer ist?«, fragt ein Truther, als Bui von ihrem Besuch an den Gräbern der ermordeten Schulkinder berichtet.

»Die Truther sind das Symptom einer Epoche, in der die Menschen in nichts mehr Vertrauen haben und an allen Insti tutionen zweifeln«, erklärt die Autorin im begleitenden Text. In den folgenden Kapi teln folgen Flat-Earther, Illuminati, Impf

Glaubenskriege in einer mit Informationen überfütterten Welt.

KULTUR DESINFORMATION IM INTERNET
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Alle Abbildungen aus dem besprochenen Buch

gegner*innen und andere Menschen, die kein Vertrauen mehr in Politik, Medien, Wissenschaft haben. Auch wenn Dema gog*innen dieses Misstrauen zum Teil in absurde Bahnen lenken und darauf men schenfeindliche Ideologien aufbauen, so bleibt die Grundfrage doch, warum das Vertrauen verloren ging – und vor allem, wie Institutionen es zurückgewinnen könnten.

Zwischen Kritik und Glauben

Wer sucht, findet zahlreiche Skandale, die Misstrauen rechtfertigen. Während der Corona-Pandemie waren Politiker*innen in dubiose Maskendeals verwickelt oder feierten Parties trotz Lockdown. Auch die Angst vor Schäden durch Impfungen oder Medikamente ist nicht unbegründet – sol che Fälle hat es in den vergangenen Jahr

zehnten immer wieder gegeben. Wissen schaftliche »Fakten« sind nicht unantast bar, sie verändern sich im Lauf der Jahre, wie eine andere Szene im Buch illustriert. Dort sitzt eine Frau mit Kleinkind einer Ärztin gegenüber, darüber steht »Vor 20 Jahren«. Die Ärztin rät der Mutter, ihr Baby auf dem Bauch schlafen zu lassen, so sei die Erstickungsgefahr geringer. Da neben sehen wir ein Bild mit dem Titel »Heute« und eine Ärztin, die sagt: »Legen Sie Ihr Baby auf keinen Fall auf den Bauch, es könnte am plötzlichen Kindstod sterben.«

Wo also liegt die Grenze zwischen ra tionaler Kritik und Verschwörungsglau ben? Bui findet sie im Kaninchenbau. Das englische »rabbit hole« bezeichnet einen endlos verzweigten Tunnel, in dem man sich immer weiter verliert. Etwa beim abendlichen Scrollen auf dem Smart phone. »Von Klick zu Klick verirren wir uns im Netz wie Alice im Wunderland«,

schreibt Bui im Kapitel »Algorithmen«. Darin erklärt sie anschaulich, wie Inter net-Firmen daran verdienen, dass Nut zer*innen möglichst lange auf ihren Sei ten bleiben. Ihre Algorithmen sind darauf ausgerichtet, weitere interessante Inhalte anzuzeigen, damit die User*innen immer mehr Links anklicken: »Google, Facebook, Twitter, Youtube: Sie alle haben diesen Mechanismus verstanden. Ihr Ziel: uns in das Loch fallen zu lassen, aus dem wir nie wieder rauskommen sollen.« Besonders brenzlig wird es, wenn Politiker*innen

58 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 Manipulationsfabrik: In einem Büro in St. Petersburg sollen Posts zur Destabilisierung der USA und Europas erfunden worden sein.

diese Filterblasen nutzen, um Menschen zu manipulieren. Im Kapitel »Troll-Fa brik« besucht Bui ein mazedonisches Dorf, dessen Bewohner*innen gegen Be zahlung gefälschte Nutzerprofile erstell ten, Fake News in Online-Netzwerken platzierten und so zu Donald Trumps Wahlerfolg beitrugen.

Tatsächlich generiert der Empfeh lungs-Algorithmus auf YouTube bereits 70 Prozent aller Seitenaufrufe. Selbst der ehemalige Algorithmus-Entwickler für Google und YouTube, Guillaume Chaslot,

Der Algorithmus wirkt wie eine Droge.

warnt inzwischen vor der Gefahr. »Der Algorithmus will deine Auf merksamkeit so lange wie möglich halten«, erklärt sein Comic-Pendant im Buch. Dadurch fördere er ver schwörungstheoretische Inhalte. »Das ist eine Droge, wie die Zigarette.« Wer sich für ein Thema interessiert, gerät in einen Kaninchenbau immer extremerer und einseitigerer Informationen. Gut re cherchierte Inhalte haben kaum eine Chance gegen die Schwemme vereinfach ter Falschnachrichten. Diese verbreiten sich bis zu sechsmal schneller, weil sie mit den Emotionen der Menschen spie len. Als Journalistin weiß Bui, wie auf wändig und teuer gute Recherchen sind. Ihre Graphic Novel solle auch dazu die nen, ihren Beruf zu erklären und das Ver trauen in die Medien wiederaufzubauen, schreibt sie in einem E-Mail-Interview.

Transparenz empfiehlt sie auch anderen Institutionen, die das Vertrauen der Men schen verspielt oder verloren haben.

Im Krieg mit der Gesellschaft

Doch was ist eigentlich so schlimm daran, wenn Menschen an Verschwörungsmy then glauben? Wem schadet es, wenn je mand denkt, die Erde sei flach? An sich sei das kein Problem, schreibt Bui. Sie habe auch sehr nette Flat-Earther getrof fen. Menschen mit Verschwörungsansich ten würden sich jedoch oft als Opfer der Gesellschaft ansehen und glauben, sie seien mit dieser im Krieg. »Die Welt der Verschwörungstheoretiker kann sehr ge waltvoll sein«, so Bui. In ihrem Buch wird das unter anderem deutlich am Beispiel der Eltern der ermordeten Kinder in San dy Hooks: Sie wurden von Truthern so sehr belästigt, dass sie umziehen mus sten. Auch jüngste Ereignisse zeigen, wie brutal der Kampf um die Wahrheit wer den kann: Im August nahm sich in Öster reich die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr das Leben, die wegen ihres Engagements in der Pandemie Morddrohungen von Impfgegner*innen ausgesetzt war.

Die Graphic Novel »Glauben Sie an die Wahrheit?« beleuchtet die dunklen Tun nelwindungen im Kaninchenbau der al ternativen Wahrheiten. Sie zeigt auf, was Verschwörungsmythen attraktiv macht, wie Algorithmen sie verstärken und wie dieser Mechanismus ausgenutzt wird, um Geld zu machen oder Politik zu beeinflus sen. Dabei entsteht manchmal der Ein druck, die Autorin würde zu viele The

Weltkarte der Flache-ErdeAnhänger*innen.

men vermischen. Kapitel wie »Truther« »Flat Earther« und »Illuminati« wechseln sich mit »Trump« und »Algorithmen« ab, dazu kommen noch die Impfgegner*in nen und Klimaskeptiker*innen. Dabei gibt es durchaus einen Unterschied zwi schen Individuen, die an eine flache Erde glauben, solchen, die der staatlichen Ge sundheitspolitik misstrauen, und dem bewussten Einsatz von Fake News zur Meinungsmanipulation.

Bui ist sich dieser Unterschiede sehr wohl bewusst, beobachtete jedoch bei ihren Recherchen, dass die bekannten Mythen immer mehr zu einem »großen, globalisierten Blob« verschmelzen. »Als der Reichstag 2020 von Demonstranten angegriffen wurde, war das eine seltsame Vereinigung von Impfgegnern, Reichs bürgern, Trump- und Putin-Anhängern«, schreibt sie im Interview mit dem Am nesty Journal.

Glaubt Bui eigentlich selbst an die Wahrheit? Sie sei sich unsicher, schreibt die Journalistin im E-Mail-Austausch: »Meine Eltern mussten vor dem Krieg in Vietnam fliehen. Nachdem Saigon gefal len war, kamen kommunistische Briga den in das Haus meines Vaters. Sie ver brannten seine Bücher, um die Massen ›zur Wahrheit zu erziehen‹.« Bei Men schen, die sagten, sie würden »die Wahr heit« kennen, bekomme sie Gänsehaut, so Bui. Sie glaube jedoch fest an Ehrlich keit und das Streben danach, der Wahr heit so nahe wie möglich zu kommen. ◆

Doan Bui, Leslie Plée:

Glauben Sie an die Wahrheit?

Übersetzt von Christiane Bartelsen. Carlsen 2022, 176 Seiten, 22 Euro

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»Sie haben mich umgebracht«

Als Kind musste Nabila Horakhsh vor den Taliban fliehen. Zurück in Afghanistan wurde sie eine erfolgreiche Künstlerin und Kuratorin, vertrat ihr Land auch auf internationaler Bühne. Dann kehrten die Taliban zurück. Von Cornelia Wegerhoff

E s sind Erinnerungsfotos aus besseren Tagen. Sie zeigen Na bila Horakhsh, damals Anfang 20, im Kreise anderer Künst ler*innen in Kabul. Die jungen Leute sitzen entspannt nebeneinander auf einem Teppich oder stehen diskutie rend vor frisch bemalten Leinwänden, die an den Wänden lehnen. Sie alle waren kurz zuvor, im Jahr 2009, in der Finalrun de für den afghanischen Preis für zeitge nössische Kunst: Sieben Männer und drei Frauen. »Wir beschlossen danach, als Gruppe weiter künstlerisch zusammen zuarbeiten«, berichtet Nabila Horakhsh heute. »Zeitgenössische Kunst war in Af ghanistan noch neu, wir wollten unsere Ideen austauschen.« Die Nationalgalerie in Kabul stellte eigens einen Raum zur Verfügung, in dem sich Künstler*innen

treffen konnten. 2011 fand im Goethe-Ins titut Kabul die erste gemeinsame Ausstel lung statt. »Wir wollten auch anderen Mut machen, ebenfalls ihre Gemälde, Plasti ken und Installationen öffentlich zu prä sentieren«, erzählt Horakhsh. Dafür grün dete die Gruppe die Berang Arts Organi zation. Jahr für Jahr stießen mehr aufstre bende afghanische Künstler*innen dazu.

Die Powerpoint-Präsentation springt zu den nächsten Fotos. Im Kleinen Hör saal der Hochschule für bildende Künste (HFBK) in Hamburg gibt Nabila Horakhsh deutschen Studierenden im Schnell durchlauf einen Einblick in ihr »altes« Le ben. Mit der erneuten Machtergreifung der Taliban am 15. August 2021 kam die pulsierende Kulturszene Kabuls abrupt zum Stillstand. Wie Horakhsh sind viele Kulturschaffende außer Landes geflohen, andere tauchten unter. Derzeit ist die Ma lerin Gastkünstlerin an der HFBK und hat ein Stipendium der Martin-Roth-Initiati

ve des Instituts für Auslandsbeziehungen und des Goethe-Instituts. Sie sei sehr dankbar, dass sie zusammen mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Mann in Deutschland aufgenommen wurde, sagt die 34-Jährige im Gespräch. Dann fügt sie bitter an: »Für mein eigenes Land wurden all meine Hoffnungen zerstört.«

Als die Taliban vor den Toren der af ghanischen Hauptstadt standen, nahm Nabila Horakhsh bei sich zu Hause sämt liche Gemälde aus den Rahmen, rollte die Leinwände zusammen und versteckte sie. Ausstellungsberichte und andere Doku mente ihrer Arbeit verbrannte sie. Was der Terror der Islamisten in ihrem Land anrichtet, hatte die Künstlerin schon Jah re zuvor zum Thema gemacht. Der Schutz der Menschenrechte stand auf der Agen da der von ihr mitgegründeten Berang Arts Organization. Und auch an der Staf felei widmete sich die Malerin den Folgen von Unterdrückung und Gewalt.

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Nicht nur an der Staffelei thematisiert die Malerin Nabila Horakhsh die Folgen von Unterdrückung und Gewalt.
KUNST AUS AFGHANISTAN

Feuerrot leuchtet der Himmel auf ei nem ihrer Gemälde. Die Landschaft im Vordergrund besteht aus halb brennen den, halb verkohlten Bäumen. Die sich windenden Stämme im Inferno ähneln menschlichen Gestalten. Explosionen, Selbstmordattentate – all das gehörte schon in den vergangenen Jahren wieder zum afghanischen Alltag, erzählt die Ma lerin. In Moscheen wurden Betende getö tet, auf Märkten Menschen, die nur Ge müse kaufen wollten. In Schulen starben Kinder beim Lesenlernen. »Die Taliban nahmen alles und jeden ins Visier, nur um unsere Regierung zu stürzen«, sagt Horakhsh. Mit dem Islam habe das nichts zu tun, betont sie. Die Taliban seien nur Terroristen, die sich zurück an die Macht gebombt hätten.

Berührende Geste des Verlusts

Auf einem Gemälde aus dem Jahr 2018 hat die Malerin fünf afghanische Frauen dargestellt. Sie stehen in ihren blauen Ge wändern vor einem ebenfalls feuerroten Hintergrund. Schmerzgebeugt halten sie die Fotos ihrer Angehörigen umschlun gen – eine berührende Geste des Verlusts. Der Raum, in dem die Trauernden stehen, ist von leuchtenden Blumen umrankt. Ein Motiv, das sich in Horakhsh’ Werken wiederholt. Es erinnert an die folkloristi

schen Stickereien, die sie bei Verwandten besuchen in den Dörfern sah. »Ich hörte mir die traurigen Geschichten der Frauen an, wie sie litten, wie sie kämpfen muss ten, umgeben vom Terror. Und dennoch war ihr Zuhause wunderschön dekoriert. Die Frauen haben ihre eigene bunte Welt geschaffen, ihre eigene Energie«, sagt Ho rakhsh. Sie sei unendlich stolz auf die tap feren afghanischen Frauen, die es sogar wagten, öffentlich gegen die Taliban zu demonstrieren.

Nach Angaben des UN-Kinderhilfs werks Unicef ist es derzeit rund drei Milli onen Mädchen in Afghanistan untersagt, eine weiterführende Schule zu besuchen (siehe auch Graphic Report, Seite 38). Die meisten Schülerinnen, die früher zu den gemischten Kunst- und Musikklassen von Berang Arts kamen, müssen jetzt zu Hau se bleiben. Als Nabila Horakhsh ein Mäd chen war, drohte ihr das gleiche Schicksal. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal Ka bul eroberten, packten ihre Eltern die Kof fer und zogen mit der Familie zunächst nach Masar-i-Scharif im Norden. Als die Taliban auch diese Region eroberten und ihre großen Schwestern aus der Schule nach Hause geschickt wurden, flohen sie ins benachbarte Pakistan. Erst 2002 wagte sich die Familie zurück in die Heimat. Na bila Horakhsh studierte in Kabul Literatur und entdeckte ihre Leidenschaft für die Kunst.

Ihren eigenen Kindern habe sie eine Flucht unbedingt ersparen wollen. Aber zu bleiben sei zu gefährlich gewesen. Ho rakhsh gehörte zu den ersten Frauen Af ghanistans, die im Center for Contempo rary Arts Afghanistan (CCAA) ihre Werke

präsentierten, war Teilnehmerin der ersten Ausstellung nur mit weiblichen Künstlerinnen. 2012 gehörte sie zum Pro jektteam, das die afghanische Teilnahme an der documenta 13 realisierte. Mehr fach vertrat Nabila Horakhsh ihr Land bei Gruppenausstellungen im Ausland. Nach dem Einmarsch der Taliban habe sie nachts vor Angst kaum noch geschlafen, sagt sie. Im Februar 2022 gelang ihr und ihrer Familie schließlich die Flucht.

Neben ein paar aufgerollten Leinwän den hat die Afghanin einige der Zeichnun gen mit nach Hamburg gebracht, die ent standen, als sie sich zu Hause versteckt hielt. Ein Bild zeigt eine Frau mit ge schlossenen Augen, der Mund fehlt. Der Körper der Frau scheint wie in einer Gru be versunken. In unzähligen schwarzen Linien zerfließen Kopftuch, Haare, Kör perumrisse mit dem Erdreich. Zwei Vögel hocken schon obenauf, aus dem Boden starren Augenpaare. Dutzende Male steht in Farsi zwischen dem Linienknäuel ge schrieben: »Sie haben mich umgebracht.«

Diese Zeichnung sei kurz nach dem 15. August 2021 entstanden, erläutert Na bila Horakhsh. Alle, die sich bis dahin in Afghanistan für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit stark machten, hät ten so viele Opfer gebracht. Und nun zer störten die Taliban alles Erreichte. »Sie haben mich tatsächlich umgebracht«, be tont die afghanische Künstlerin und Ku ratorin. Sie sage das nicht nur so daher: Ihr altes Leben werde sie nie wieder zu rückbekommen.

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Nabila Horakhsh in ihrem Hamburger Atelier. Foto: Tim Albrecht
Als die Taliban vor den Toren Kabuls standen, versteckte die Künstlerin ihre Leinwände.

Nur noch Standbilder

Hongkongs Filmindustrie war einst die drittgrößte der Welt. Schon vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung litt die Branche unter Zensur und Selbstzensur. Aber einige Filmemacher*innen machten mit kritischen Dokumentationen weiter. Damit ist es nun vorbei. Von Felix Lee

E s ist noch nicht lange her, da genossen Filme aus Hongkong einen legendären Ruf. Neben atmosphärisch dichten Spiel filmproduktionen und Kampf sportfilmen fanden sich auch Dokumen tarfilme zu politischen Themen. In Ab grenzung zum chinesischen Festland ging es um Freiheit, um Bürgerrechte, um alternative Lebensweisen. Ein Beispiel ist der Film »Lost in the Fumes« der Filme macherin Nora Lam von 2017. Sie porträ tiert darin den Politiker Edward Leung, der wegen seiner Teilnahme an Demokra tieprotesten im Gefängnis sitzt. Auf dem Dokumentarfilmfestival in Taiwan 2018 erhielt das Werk einen Preis.

Die vitale Filmszene, die solche Werke hervorgebracht hat, ist jedoch seit einem Jahr ausgelöscht. Produktionen, die sich mit Demokratieprotesten und Polizeige walt beschäftigen, wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Und auch keine anderen Filme, die der chinesischen Obrigkeit missfallen. Denn seit August 2021 gilt ein Zensurgesetz, das alle Inhalte verbietet, die von den Behörden als Auf rufe »zur Spaltung, zum Umsturz, zum Terrorismus oder als geheime Abspra chen mit ausländischen Kräften« gedeu tet werden. Das Gesetz gilt sowohl für Neuerscheinungen als auch für ältere Fil me. »Jeder Film, der öffentlich gezeigt wird, muss genehmigt werden«, bestätig te Hongkongs Handelsminister Edward Yau bei der Verkündung des Gesetzes vor einem Jahr.

Die Neuregelung hatte genau die ver heerende Wirkung, die befürchtet worden war: »Independent-Filme aus Hongkong sind quasi tot«, sagt Chris Berry, Filmwis senschaftler an der University of London, der auf Produktionen aus China, Hong kong und Taiwan spezialisiert ist. Das Zensurgesetz ist Teil des umfassenden Nationalen Sicherheitsgesetzes, das die chinesische Führung in Peking im Juli 2020 beschlossen hatte und das in Hong kong seither so ziemlich alles kriminali siert, was Hongkongs Regierung und die Volksrepublik kritisiert.

Die Bestürzung war umso größer, als Hongkonger Filmschaffende kurz vorher noch einmal richtig nachgelegt hatten. Das Drama »No. 1 Chung Ying Street« bei spielsweise räumte beim Osaka Asian Film Festival in Japan 2018 die wichtigste Ehrung ab. Der angesehene Hongkonger Regisseur Derek Chiu vergleicht darin die Proteste von 1967 gegen die Kolonial macht Großbritannien mit den Protesten von 2014 und 2015 gegen China. Auch die ser Film darf in Hongkong nicht mehr ge zeigt werden.

Der Vergleich tut China weh, stilisiert es sich doch als Befreier vom Kolonialis mus. Bis 1997 war Hongkong eine britische Kronkolonie. Nach der Übergabe an die Volksrepublik wurde ihren Bürgerinnen und Bürgern völkerrechtlich zugesichert, 50 Jahre lang Rechte wie Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit weiter ausüben zu dürfen – so wie sie es unter britischer Verwaltung gewohnt waren. Doch schon kurze Zeit nach der Übergabe unterhöhl ten pekingtreue Kräfte in Hongkong den Autonomiestatus und begannen damit,

die Stadt den Verhältnissen der autoritä ren Volksrepublik anzupassen.

Gegen den wachsenden Einfluss der Pekinger Führung hat es in Hongkong seither immer wieder Wellen von Mas senprotesten gegeben. Mehr als eine Mil lion Menschen gingen bei den sogenann ten Regenschirmprotesten 2014 und 2015 auf die Straßen. Zehntausende blockier ten wochenlang das Hongkonger Regie rungs- und Finanzviertel. Regenschirme dienten den Demonstrant*innen zur Ab wehr gegen Wasserwerfer – daher die Be zeichnung.

Hartes Vorgehen der Behörden

Mit dem Sicherheitsgesetz setzte die Füh rung in Peking der Demokratiebewegung in Hongkong ein abruptes Ende. Denn es erlaubt den Behörden ein hartes Vorge hen gegen alle Aktivitäten, die nach Auf fassung der chinesischen Führung die Si cherheit der Volksrepublik bedrohen. Da von betroffen sind auch Forschung, Bil dung und Medien. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Gesetz auch auf die Künste ausgeweitet werden würde – und damit auch auf den Hongkonger Film.

Für die einst florierende Filmszene in der chinesischen Sonderverwaltungszone ist das ein Schock. Hongkongs Filmindus trie war zeitweise eine der größten und vielfältigsten weltweit. Und sie blickt auf eine lange Tradition zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zahlreiche chi nesische Filmemacher nach Hongkong, die vorher in Shanghai – bis dahin das »Hollywood Asiens« – gearbeitet hatten. Auf dem chinesischen Festland siegten die Kommunist*innen, Schauspieler*in

62 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 FILME AUS HONGKONG

nen und Filmemacher*innen wurden als »bourgeois« gebrandmarkt und flohen nach Hongkong. Auch die Kapitalflucht reicher Investoren begünstigte den Auf bau einer Filmindustrie in der britischen Kronkolonie.

In den folgenden Jahrzehnten belie ferte die Hongkonger Filmbranche zu nächst die Klientel in den Chinatowns Südostasiens und Nordamerikas. Stars wie Bruce Lee und seine Kung-Fu-Filme wurden rasch auch in anderen Kreisen populär. Und die Hongkonger Filmprodu zent*innen waren fleißig. Mitte der 1960er Jahre produzierten sie mehr Filme als Deutschland und Frankreich zusam men. Während in den 1970er Jahren viele nationale Filmindustrien in die Krise ge rieten und von den Hollywood-Blockbus tern überrollt wurden, drehten die Film studios in Hongkong munter weiter.

In den 1980er und 1990er Jahren wag ten sich die Hongkonger Filmemacher auch an komplizierte Genres heran: Re gisseur John Woo etwa, der mit sozialkri tischen Gangsterfilmen weltweit bekannt wurde. Andere Regisseure wie Wong KarWai berührten ab den 1990er Jahren auch Themen, die in weiten Teilen Asiens Tabu waren: Homosexualität, psychische Krankheiten, Gewalt in der Familie. Dann folgte die Beschäftigung mit Demokratie bestrebungen. Innerhalb der Hongkonger Filmbranche entstand eine eigene IndieSzene mit Filmemacher*innen, die sich weltweit einen Namen machten.

Zugleich holte die Filmwirtschaft der Volksrepublik im Zuge der Öffnungspoli tik zumindest kommerziell rasch auf. Hongkongs Filmbranche verlor daher an Bedeutung. Wurden Anfang der 1990er in Hongkong pro Jahr noch fast 250 Filme fertiggestellt, waren es um die Jahrtau sendwende nur noch ein paar Dutzend.

Rettung brachte 2003 ausgerechnet ein Gesetz in China. Um die heimische Filmindustrie zu fördern, erlaubt China bis heute in seinen Kinos nur eine be grenzte Anzahl an ausländischen Filmen. Um der Hongkonger Filmindustrie aus der Krise zu helfen, gab die Führung in Peking grünes Licht, deren Filme eben falls als inländische Produktionen anzu sehen. Für die Hongkonger Filmindustrie eröffnete sich damit ein gigantischer Markt.

Einer hält noch die Stellung.

Statue des Actionhelden Bruce Lee vor der Skyline von Hongkong. Foto: Zoonar / pa

Aber was in der Volksrepublik laufen soll, muss an der Zensur vorbei. Hong kongs Filmindustrie hat sich darauf ein gestellt und liefert angepasste Ware. Die meisten Produzent*innen verzichten von sich aus auf kritische Themen. Sie setzen auf seichte Stoffe wie Historiendramen, die zuweilen den chinesischen Nationa lismus bedienen oder Action-Thriller, die völlig politikfrei sind. »Das chinesische Festland ist heute einer der größten und wertvollsten Kinomärkte der Welt, wahr scheinlich noch wertvoller als der der USA«, sagt Filmexperte Chris Berry. »Fil me aus Hongkong sind heute ausschließ lich Filme für China.«

Einige Filmschaffende in Hongkong haben sich ihre künstlerische Freiheit so lange wie möglich bewahrt. Dazu gehö ren Filmemacher*innen wie Nora Lam oder Derek Chiu. Sie zahlen jedoch einen hohen Preis: Ihre Werke werden seit In krafttreten des neuen Zensurgesetzes nun auch in ihrer Heimatstadt nicht mehr gezeigt. Bis 2020 hatte die Indie-

Szene noch ein jährliches Dokumentar filmfestival, das die unabhängige Organi sation Ying E Chi präsentierte. Seit 2020 ist auch das tot, die Webseite von Ying E Chi ist blank.

Viele kritische Filmschaffende haben Hongkong daher in den vergangenen Mo naten verlassen. Allein nach London sind rund 80 von ihnen gezogen, schätzt Kit Hung. Der 45-jährige Drehbuchautor und Filmemacher lebt seit Ende 2021 in Lon don. Er hatte unter anderem mit dem teils autobiografischen Film »Soundless Wind Chime« 2009 den Teddy-Award auf der Berlinale gewonnen. Nun unterrichtet er an der Film School der Westminster Universität in London. Ihm gehe es noch gut, sagt er, die Lage seiner Kolleg*innen sei viel schwieriger: »Viele sind nach Lon don gekommen und wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen nur, dass sie nicht nach Hongkong zurückkehren können.«

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 63
Zuletzt lieferte Hongkong angepasste Ware für den chinesischen Markt.
Energiegeladen wie ein Tornado: Die Musikerinnen Bela Salazar, Lucia de la Garza, Eloise Wong und Mila de la Garza (v. l. n. r.). Foto: Krista Schlueter / The New York Times / Redux / laif FEMINISTISCHER US-PUNK Mit Wut und Leichtigkeit Ihre energiegeladene Punk-Hymne »Racist, Sexist Boy« machte The Linda Lindas schlagartig bekannt. Mittlerweile haben die Nachwuchsmusikerinnen ihr Debütalbum veröffentlicht und spielen Konzerte in aller Welt. Von Tobias Oellig 64 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022

Rund zwei Minuten dauert das YouTube-Video zum Song »Racist, Sexist Boy«, das im Frühjahr für The Linda Lin das alles ins Rollen brachte. In dem Clip stehen vier Mädchen mit ih ren Instrumenten und Verstärkern in ei ner Bibliothek. Mit wenigen Worten kün digt die damals neunjährige Drummerin Mila de la Garza den Song an: »Kurz vor dem Lockdown kam ein Junge aus meiner Klasse zu mir und meinte, sein Vater habe ihm gesagt, er solle sich von Chines*in nen fernhalten«, erzählt sie. »Als ich ihm gesagt habe, dass ich Chinesin bin, ist er auf Abstand gegangen. Eloise und ich ha ben dann diesen Song darüber geschrie ben.«

»Das geht an alle rassistischen, sexis tischen Jungs da draußen!«, ruft ihre Bandkollegin und dann rocken die vier Teenagerinnen mit Wucht los, brüllen wütend in die Mikrofone, schrammeln auf ihren Gitarren und dreschen auf die Drums ein. »Du bist ein rassistischer, se xistischer Junge«, schreien sie. Und: »Wir bauen wieder auf, was Du zerstörst!«. Schlussakkord, schüchternes Lächeln –Ende der Durchsage! Kaum zwei Minuten lang, ist dieses Video so energiegeladen, als würde ein Tornado durch die Buch reihen wüten.

Ebenso stürmisch wie ihr Auftritt war die Resonanz im Netz. Nachdem die L.A. Public Library das Video mit dem Kom mentar »Legt euch bloß nicht mit den Linda Lindas an« veröffentlicht hatte, wurde der Song millionenfach geklickt. Musikerkolleg*innen twitterten begeis tert über den Auftritt in der Bücherei. Tom Morello, Gitarrist von Rage Against The Machine, kürte »Racist, Sexist Boy« zu seinem »Song des Tages«. Auch jen seits der Musikszene nahm man Notiz von den Kalifornierinnen: Überregionale US-Medien berichteten über die Linda Lindas, und der vietnamesisch-amerika nische Autor und Pulitzer-Preisträger Viet Thanh Nguyen lobte: »›Racist, Sexist Boy‹ ist das Lied, das wir gerade brauchen.«

Damit bezog er sich auf die seit Be ginn der Corona-Pandemie (und noch im mer) wachsende Zahl an Hassverbrechen gegen asiatischstämmige Menschen in den USA. Traurige Höhepunkte dieser Entwicklung waren im Frühjahr 2021 ein Amoklauf in Atlanta, bei dem acht Men schen getötet wurden, darunter sechs asiatischstämmige Frauen, sowie der Mord an Yao Pan Ma, einem 61-jährigen Einwanderer aus China, der seinen schwe ren Verletzungen erlag, nachdem er im April in New York auf der Straße zu sammengeschlagen worden war.

In diese Zeit fiel die Veröffentlichung des Konzertmitschnitts der Linda Lindas. Mit ihrem rohen Punksound fingen sie nicht nur den kollektiven Schmerz ein, sondern setzten gleichzeitig ein wütendmelodisches Statement gegen den Hass. Eine antirassistische Hymne, der trotz al ler Schwere des Themas Leichtigkeit inne wohnte, die etwas Hoffnung und Zuver sicht in düsteren Zeiten verbreitete. Ziem lich viel für ein paar Nachwuchspunke rinnen, die gerade mal zwischen elf und 16 Jahre alt waren.

Nicht rumsitzen, sondern mitmischen Seit 2018 spielen die vier Linda Lindas zusammen: die heute 12-jährige Mila de la Garza (Gesang & Schlagzeug), ihre 15jährige Schwester Lucia de la Garza (Ge sang & Gitarre), ihre Cousine Eloise Wong (14 Jahre alt, Gesang & Bass) und die ge meinsame Freundin Bela Salazar (Gesang & Gitarre), die gerade 18 geworden ist. Im politisch-gesellschaftlichen Diskurs mitmischen zu wollen, hat sich die Band schon früh auf die Fahnen geschrieben. Vor den letzten US-Wahlen forderten sie mit dem Song »Vote!« Erwachsene dazu auf, wählen zu gehen, und ließen in den Liedzeilen unmissverständlich ihr Band credo aufblitzen: »If you don’t speak/ You’ll never be heard/So shout and scream.«

Nicht einfach rumsitzen und auf bes sere Zeiten warten, sondern: sich nichts gefallen lassen, die Stimme erheben, oder besser noch: schreien! Damit stehen sie in gewisser Weise in der Tradition der Riot Grrrls, einer in den 1990er Jahren in der US-amerikanischen Hardcore-PunkSzene entstandenen emanzipatorischen und feministischen Bewegung. Die Riot Grrrls rebellierten gegen mangelnde Gleichberechtigung, die Dominanz männlicher Musiker und den Sexismus in der Punkszene und deuteten »weibli che« Rollenmuster radikal um.

Zu den frühen und prägenden Vertre terinnen der Bewegung zählt die US-ame rikanische feministische Aktivistin Kath leen Hanna, Sängerin der Band Bikini Kill und Gründerin der Electropunkband Le Tigre. Hanna nahm früh Notiz von den Linda Lindas und engagierte sie bereits 2019 als Vorband für einen Auftritt von Bikini Kill im Hollywood-Palladium vor mehreren Tausend Zuschauer*innen. Und für das Netflix-Comedy-Drama »Moxie« (2021) coverten die Linda Lindas »Rebel Girl«, einen der bekanntesten Bikini KillSongs: »When she walks, the revolution is coming/In her hips, there’s revolution/ When she talks, I hear the revolution/In her kiss, I taste the revolution.«

Ihr roher Punksound setzt ein wütendmelodisches Statement gegen den Hass.

Ganz so selbstgemacht wie bei den All-Girl-Bands in den 1990ern geht es bei den Linda Lindas allerdings nicht zu. Während die Riot Grrrls auf Selbstverwal tung und alternative Produktions- und Vertriebsstrukturen Wert legten, sorgen im Hintergrund der Linda Lindas profes sionelle Kräfte für Rückenwind. Der Vater von Mila und Lucia, Carlos de la Garza, hat als Produzent schon mit Bad Religion, Jimmy Eat World und den Musikerinnen und LGBTI+-Aktivistinnen Tegan And Sara im Studio gestanden. Dass die Linda Lindas nun bei Epitaph Records unter Ver trag stehen, dem Label von Bad ReligionGitarrist Brett Gurewitz, hat sicher auch mit dem Einfluss von Carlos de la Garza zu tun. In dieser kreativen kalifornischen Umgebung ist auch die Mutter von Gitar ristin Bela Salazar unterwegs, die Mode macht. Der Vater von Eloise war in den 1990ern Mitbegründer des Indie-Maga zins »Giant Robot«, das aus der asiatischamerikanischen Künstlerszene berichte te.

Seit der Bandgründung 2018 haben The Linda Lindas etliche Singles und eine EP veröffentlicht, derzeit sind sie mit ih rem Debütalbum »Growing Up« weltweit auf Tour. Es erzählt vom Aufwachsen in mitten der Corona-Pandemie, als Schulen geschlossen waren und man von Freun d*innen getrennt war, was die übliche Einsamkeit und Verwirrung des Teen agerdaseins noch verstärkte. Die Linda Lindas singen über Desillusionierung und Selbstakzeptanz, Ungewissheit und Leichtigkeit, Rassismus oder einfach über ihre Katze (»Nino«). Mal rotzig anklagend – »you think it’s fine, you say it’s fine, you tell us it’s fine, It’s not fine!« – mal unbe schwert und poppig. Immer mit eingän gigen Refrains und mit viel Zuversicht: »Maybe tomorrow will be bigger, brigh ter, bolder.«

Den überwältigenden Problemen un serer Zeit haben die Linda Lindas einiges entgegenzusetzen: spielfreudigen Punk und die frohe Botschaft des Titeltracks »Growing up«: Letztlich wissen wir ohne hin nicht, wohin es mit uns geht – also halten wir besser zusammen und passen gut aufeinander auf. ◆

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Elektroschocker auf der Brust

Der Eritreer Filimon Mebrhatom floh mit 14 Jahren nach Europa.

In seiner Autobiografie hat er das Martyrium dieser Reise dokumentiert.

Von Christian Jakob

E r wolle »doch nur frei sein«, schreibt Filimon Mebrhatom, so heißt auch das Buch über seine Flucht aus Eritrea. Man liest die grauenhaften Schilde rungen von Gefangenschaft, Hunger, Krankheit, Gewalt über Hunderte von Sei ten und fragt sich, ob jemals wirklich frei sein kann, wer solches durchlitten hat.

Mebrhatom ist heute jedenfalls frei genug, von seiner höllischen Odys see zu erzählen. Er hat, mit gerade An fang Zwanzig, seine Autobiografie ge schrieben, gemeinsam mit dem öster reichischen Journalisten Alexander Behr. Sie beginnt leicht romantisierend – »die Luft ist sauber und riecht gut, das Essen ist frisch und frei von Pestiziden« – in einem kleinen Dorf in Eritrea, nahe der äthiopischen Grenze, und endet in Mün chen, wo Mebrhatom eine Ausbildung zum Kameramann gemacht hat.

Was dazwischen liegt, ist schon viel fach beschrieben worden. So hat Co-Autor Behr bereits 2014 gemeinsam mit dem kongolesischen Flüchtling Emanuel Mbo lela ein ähnliches Buch geschrieben. Doch Mebrhatoms Schilderungen geben dem Ausmaß des Leids auf den Fluchtrou

Der libysche Peiniger fand Gefallen an der Qual des 14-Jährigen.

ten in ganz besonderer Weise Kontur, zeichnen mit Schärfe, was sich nur vage ahnen lässt.

Steineschleppen und Schläge

In Äthiopien und im Sudan ist es vor al lem der Versuch von Staat und Milizen, die Flüchtenden aufzuhalten, der ihm und vielen anderen, die mit ihm unter wegs sind, zum Verhängnis wird. Später dann, in Libyen, geht es um ihre Ausbeu tung als Opfer von Erpressung und Skla venarbeit. »Mein Rücken war bereits schwer gezeichnet vom Schleppen der Steine auf der Baustelle«, schreibt Mebr hatom. »Unzählige Stellen an meinem Körper waren wund und angeschwollen. Durch die Schläge platzte nun meine Haut auf, und Blut rann meinen Körper hinab.« Doch der Anführer der Bande, an die Mebrhatom von Schleppern verkauft worden war, schlägt weiter zu. »Als ich dachte, er sei mit mir fertig, holte er den Elektroschocker, um mir die Brust zu ver brennen.« Um seine Augen zu schützen, schließt Mebrhatom die Lider. Doch das stachelt seinen Peiniger nur noch mehr an. »Lass deine Augen offen, sonst öffne ich sie dir und verbrenne sie«, droht er. Offensichtlich findet er Gefallen an der Qual und hält den Elektroschocker in Mebrhatoms offene Wunden, bis dieser auf die Knie sackt und zu Boden fällt.

14 Jahre ist er da alt, ein Kind, das um sein Leben kämpft, in der Hoffnung auf eine Zukunft, die absolut ungewiss ist. Er wird eingesperrt, misshandelt, kommt dann irgendwie frei – bis wieder alles von vorn beginnt. Ein ganzes Jahr geht das so, in Äthiopien, Sudan, Libyen, Italien. Die

italienische Marine rettet Mebrhatom im Herbst 2014 in einem vollgelaufenen Schlauchboot zwischen Libyen und Lam pedusa vor dem Ertrinken – ein Glück, das viele andere Bootsflüchtlinge nicht haben. Den Weg von Sizilien nach Mün chen legt er auf eigene Faust zurück. Fünf Jahre dauert es dann noch, bis die deut schen Behörden ihn schließlich als Flüchtling anerkennen.

Dabei ist es schon ein Fluchtgrund an sich, in Eritrea geboren worden zu sein, das sich seit 1993 unter Isayas Afewerki zu einer Diktatur entwickelt hat. Allen jun gen Menschen, Männern wie Frauen, droht ein sklavenartiger staatlicher Zwangsdienst, den sie auf unbestimmte Zeit leisten müssen. Wie Mebrhatom ver suchen deshalb viele junge Eritreer*in nen, das Land zu verlassen. Rund 10.000 kamen 2021 in die EU, etwa ein Viertel da von nach Deutschland. 83 Prozent wur den direkt anerkannt, die übrigen schaff ten es zumeist nach einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht.

Schutz wird ihnen letztlich also ge währt, doch haben sie keine Möglichkeit, direkt nach Deutschland zu gelangen. Alle müssen vielmehr den Weg gehen, den Filimon Mebrhatom gewählt hat und der mit Lebensgefahr, Hunger und Ent rechtung verbunden ist. Davon berichtet dieses Buch in erschütternder Klarheit. ◆

Filimon Mebrhatom: Ich will doch nur frei sein. Wie ich nach Unter drückung, Gefangenschaft und Flucht weiter für eine Zukunft kämpfe. Komplett Media, Mün chen, 256 Seiten, 18 Euro

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BIOGRAFIE AUS ERITREA

»Flüchtende werden abgefangen und eingesperrt«

Wer in Europa Schutz suchen will, ist in Libyen oft schweren Misshandlungen ausgesetzt, sagt AmnestyAsylexpertin Franziska Vilmar. Die Ampelkoalition tue zu wenig, um Flüchtlingsrechten Geltung zu verschaffen.

Am Horn von Afrika leben 17 Millio nen Flüchtlinge und Binnenvertriebe ne. Wie ist die Menschenrechtslage für diejenigen, die nach Europa ge langen wollen?

Äußerst prekär. Nach wie vor fliehen un ter anderem Tausende Menschen aus Eri trea und suchen in anderen Ländern um Asyl nach. Auf dem Weg nach Europa sind sie schweren Übergriffen ausgesetzt. Vie le werden in den Transitländern – vor al lem, aber nicht nur in Libyen – inhaftiert, verschleppt, sexuell missbraucht, gefol tert, erpresst und auf andere Weise miss handelt. Es ist schwer, genaue Aussagen zur Lage auf dieser Route zu machen, denn Staaten wie Eritrea oder Libyen las sen grundsätzlich keine Menschenrechts beobachter*innen ins Land. Wir sind des halb auf Schilderungen von Migrant*in nen angewiesen, mit denen wir telefonie ren oder die wir nach ihrer Reise befragen.

Die EU versucht, fast alle Staaten auf dieser Route für den Schutz ihrer Außengrenzen in Dienst zu nehmen. Was sind die Folgen? Eine wesentliche Folge ist, dass die liby sche Küstenwache Flüchtlinge und Mi grant*innen auf dem Mittelmeer abfängt und in Libyen einsperrt. Das geht bereits seit 2017 so. In diesem Jahr betraf dies al lein von Januar bis Anfang September mehr als 15.000 Menschen. Und obwohl es überwältigende Beweise dafür gibt, dass sich die libysche Küstenwache rechtswidrig verhält und dass in den Haftzentren systematische Menschen rechtsverletzungen verübt werden, hält die EU an dieser Kooperation fest. Wir for dern, dass es keine Migrationskoopera tion mit Libyen geben darf, solange die Menschenrechte nicht gewahrt werden.

Die deutsche Regierung hat im Koali tionsvertrag angekündigt, solche Missstände zu beseitigen. Wie geht es dabei voran?

Zunächst haben wir uns gefreut, dass es im Koalitionsvertrag Passagen gibt, in denen es zum Beispiel heißt, die See notrettung dürfe nicht kriminalisiert werden. Soweit ich das sehe, hat sich die Ampelkoalition aber bisher im europäi schen Rahmen noch nicht dafür einge setzt.

Ein Alleingang Deutschlands ist hier nicht möglich, jede Verbesserung muss im Zusammenspiel mit den anderen EU-Staaten erfolgen. Aber obwohl an den EU-Außengrenzen täglich Menschen rechtsverletzungen und Pushbacks statt finden, habe ich noch nicht gehört, dass Innenministerin Nancy Faeser gesagt hätte: »Das muss aufhören, ich werde mit meinen Kolleg*innen sprechen, da mit das ein Ende hat.« Das hatte ich von der neuen Bundesregierung eigentlich erwartet.

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Filimon Mebrhatom ist über die Mittelmeerroute nach Deutschland geflüchtet. Foto: Sebastian Gabriel / SZ Photo / pa

Philosophische Notwendigkeit

Der Philosoph Arnd Pollmann untersucht in seinem Buch »Menschenrechte und Menschenwürde« die Voraussetzungen für ein Leben in Würde und zeigt Wege zu einer menschenrechtsbasierten Weltinnenpolitik auf. Von Silke Voss-Kyeck

Grausame Kriegsverbrechen in Sy rien, der Ukraine und anderswo, schwere Menschenrechtsverlet zungen in China, Burundi, Mexiko und zahllosen weiteren Ländern, ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer, das UN-Men schenrechtssystem unter Druck – ist es mutig, angesichts dieser deprimierenden Entwicklungen über die Menschenrechte zu philosophieren? Ist es naiv? Oder doch klug? Für Arnd Pollmann ist es vor allem notwendig. Der Philosoph plädiert in sei nem Buch »Menschenrechte und Men schenwürde« engagiert dafür, diese gera

de in Zeiten des menschenrechtlichen »Backlashs« zu verteidigen, und kritisiert die »akademisch-intellektuellen Nekrolo ge« auch der eigenen Zunft.

Pollmann führt Menschenrechte und Menschenwürde ideengeschichtlich erst mals in einen Begriffszusammenhang, der infolge monströser Gewalterfahrun gen 1945 seinen Ausgang nimmt. Gut les bar verknüpft er beide systematisch in eine neue wechselseitige Rechtferti gungsbeziehung und stellt dabei einen zentralen Glaubenssatz von Menschen rechtspraxis und -theorie auf den Kopf: Die Menschenwürde als a priori vorgege benes Begründungsfundament der Men schenrechte sei falsch. Die historische

Gerade angesichts grausamer Kriegsverbrechen ist die Verteidigung der Menschenwürde notwendig. Massengrab in Butscha, Ukraine.

Foto: Vladyslav Musiienko / Reuters

Evidenz fundamentaler Würdeverletzun gen führt laut Pollmann zwingend dazu, den Würdebegriff zu verstehen als Poten zial, dessen Realisierung durch Men schenrechte erreicht werden muss. Die höchst verletzungsanfällige Menschen würde sei zentrales Schutzgut der Men schenrechte. Begründungsvoraussetzung seiner Theorie sind die Menschenrechte als Anspruch, den jede und jeder Einzelne qua Menschsein hat und der für alle Men schen strikt gleich gilt.

Menschenrechte konkretisieren ver fassungs- und völkerrechtliche Garantien für ein Leben in Menschenwürde, die demnach der Maßstab für die konkrete Ausgestaltung der Menschenrechte sein muss. Dass die Menschenrechte deshalb zwar allesamt wichtig, aber nicht alle gleichgewichtig sein sollen, mag man chem als Zumutung erscheinen. Für Poll mann hängt aber ein Leben in Würde nicht ab von der gleichen Verwirklichung jedes einzelnen Menschenrechts.

Da staatliche Menschenrechtsgaran tien ohne überstaatliche Zusatzversiche rungen unzuverlässig bleiben, bedarf es auch einer menschenrechtlichen Welt innenpolitik. Pollmanns Modell hierfür kommt dem der Vereinten Nationen durchaus nahe. Deren Unzulänglichkeit dürfte eingefleischten Multilateralist*in nen bei der Lektüre schmerzlich bewusst werden.

Streitlustige Philosoph*innen und Menschenrechtstheoretiker*innen wer den bei Pollmanns Theorie manchen An griffspunkt finden. Gewinnbringend ist jedoch, dass er sich nicht mit der philoso phischen Geltung der Menschenrechte begnügt, sondern dezidiert auch die fakti sche Geltung nicht aus dem Blick verliert. Für die praktisch-politische Menschen rechtsarbeit sind wohl die »alternativlo sen Implikationen« seiner Theorie ent scheidend: Der Schutz der Menschenwür de durch die Menschenrechte muss abso lutes Gebot sein und bleiben und ist im mer wieder gegen staatliche Willkürherr schaft zu verteidigen.

Arnd Pollmann: Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philoso phischen Bedeutung eines revolu tionären Projekts. Suhrkamp Ta schenbuch Wissenschaft 2370, Berlin 2022, 451 Seiten, 26 Euro

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BÜCHER

Pflichtlektüre aus Kamerun

Die Sprache ist leise, die Botschaft un überhörbar: Djaïli Amadou Amals auto biografisch geprägter Roman »Die unge duldigen Frauen« ist ein vehementes Plä doyer gegen Zwangsheirat, Polygamie und häusliche Gewalt. Die Schriftstellerin aus dem Norden Kameruns lässt darin zwei 17-Jährige zu Wort kommen, die ge gen ihren Willen verheiratet werden: Ramla wird zur Zweitfrau eines alten rei chen Mannes erklärt, Hindou muss eine Ehe mit einem drogensüchtigen Cousin eingehen, der sie vergewaltigt und halb tot prügelt. Erschütternd sind nicht nur die Szenen, in denen Väter, Onkel und Ehemänner den Willen der Mädchen bre chen; die Autorin macht auch schonungs los deutlich, wie Frauen das patriarchale System stützen: Mütter, Tanten und Freundinnen predigen den Opfern stän dig Geduld, bis hin zur totalen Unterwer fung – »Munyal« heißt das in der Sprache der Fulbe, einer einflussreichen Ethnie im Norden Kameruns. Solidarität unter den geknechteten Mädchen und Frauen sucht man vergebens. Die dritte Protagonistin Safira demonstriert vielmehr, zu welch drastischen Mitteln Nebenfrauen in poly gamen Ehen greifen, um ihre Konkurren tinnen auszustechen.

»Munyal« ist das Leitmotiv dieses mu tigen Romans, den Amal 2017 zunächst in Kamerun veröffentlichte. Sein ursprüng licher Titel »Die Tränen der Geduld« wur de für das europäische Publikum in »Die ungeduldigen Frauen« geändert. Er soll suggerieren, dass es den Protagonistin nen gelingt, auszubrechen. Tatsächlich gibt es jedoch kein Happy End. Der einzi ge Lichtblick ist, dass die kamerunische Regierung das Buch auf den Lehrplan der weiterführenden Schulen setzte. Djaïli Amadou Amal ist nicht nur als Autorin fe ministisch engagiert: Sie gründete auch die Organisation Femmes du Sahel, die sich dafür einsetzt, dass Mädchen und Frauen einen besseren Zugang zu Bü chern und Bildung erhalten.

Djaïli Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen. Aus dem Französischen von Ela zum Winkel. Orlanda, Berlin 2022, 176 Seiten, 18 Euro

Fabel über Gewalt

»Nicht immer lässt sich unterscheiden, was mehr Einfluss auf uns hat: was uns bedroht oder was uns verführt«, heißt es in diesem Roman, der beunruhigende Er eignisse in einer lateinamerikanischen Provinzstadt schildert. Mitte der 1990er Jahre tauchen in einem Ort am Rande des Urwalds plötzlich 32 Kinder auf, die Angst und Schrecken verbreiten. Gleichzeitig geht von ihnen eine gewisse Faszination aus: Sie sprechen eine eigene Sprache und scheinen eine Art Republik zu bilden, wie ein menschlicher Bienenstock. Mehr als 20 Jahre später versucht der Ich-Erzähler, damals Angestellter der örtlichen Sozial behörde, die Geschehnisse zu rekonstru ieren. Er bemüht sich um eine ausgewo gene, vernunftgeleitete Darstellung der rätselhaften Kindergruppe, die sich nicht fassen ließ – auch im wortwörtlichen Sin ne –, ihm aber durchaus Respekt abnötig te. Gleichzeitig kann er sein Schuldbe wusstsein nicht verhehlen, denn nach dem es bei einem Überfall Tote gab und sich auch einheimische Kinder der Grup pe anschlossen, kam es in der Stadt zu ei nem Aufstand, und die Geschichte nahm ein tragisches Ende.

Der spanische Schriftsteller Andrés Barba entfaltet in »Die leuchtende Repu blik« auf nur gut 200 Seiten eine Erzäh lung mit suggestiver Wirkung – so be drohlich und verführerisch wie die kind lichen »Ungeheuer«, die im Mittelpunkt stehen. Er nutzt dabei ein raffiniertes Ve xierspiel: Die Darstellung erscheint rea listisch und verweist auf vermeintliche Quellen, tatsächlich räumt selbst der IchErzähler ein, dass sie sich »wie eine my thische Fabel« anhöre. Barba thematisiert anhand der Geschichte der 32 Kinder, auf die man »sowohl das Faszinierende wie das Erschreckende projizieren konnte«, auf subtile Weise Klassengegensätze und Gewalt, das Verhältnis zwischen Indige nen und Weißen sowie zwischen Kindern und Erwachsenen und mahnt, »nicht so naiv an die Gerechtigkeit zu glauben«.

Andrés Barba: Die leuchtende Republik. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Luchterhand, München 2022, 224 Seiten, 22 Euro

Gegen »Vorurteilsscheiß«

Charly, Benny und Hamid sind seit der Grundschule beste Freunde. Doch kaum haben sie im Sommer die Schule gewech selt, wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt: Benny bekommt von sei nem Opa an dessen Sterbebett eine Kette mit einem Davidstern geschenkt. Die Ket te, die er nun für alle sichtbar um den Hals trägt, trifft auf Vorurteile, und die gipfeln schließlich in antisemitisch moti vierten Übergriffen. Hamid ist der Mei nung, dass er als Muslim auf keinen Fall mit einem Juden befreundet sein kann –schließlich sagt das sein großer Bruder. »Der Keil war gesetzt. Freundschaft im Sinkflug. Wegen irgendwelchem Vorur teilsscheiß«, kommentiert die Ich-Erzäh lerin Charly, die zwischen den Stühlen sitzt und zusehen muss, wie die Freund schaft zwischen den drei Jugendlichen zu zerbrechen droht.

Dabei ist Benny nicht der Einzige, der mit Vorurteilen konfrontiert wird: Hamid wird wegen seiner Herkunft als Dieb be schimpft und verdächtigt, für HandyDiebstähle an der Schule verantwortlich zu sein. Die beiden Jungen können sich glücklich schätzen, eine Freundin wie Charly an ihrer Seite zu haben, die sich mit unerschütterlicher Loyalität und ei ner gehörigen Portion Mut für sie ein setzt.

Einfühlsam, mit Witz und Wärme er zählen Andreas Steinhöfel (Text) und Me lanie Garanin (Bild) in der Graphic Novel zur KIKA-TV-Serie von Freundschaft, Fa milie und dem Aufwachsen in einer viel fältigen Gesellschaft. Glaubhaft gehen sie der Frage nach, wie Jugendliche Antise mitismus, Rassismus, Mobbing und Ge walt begegnen können, und setzen die Möglichkeiten des Mediums überzeu gend ein, indem sie mit Perspektive, Zei chenstilen und Kommentaren der Erzäh lerin spielen.

»Völlig meschugge?!« ist nicht nur Spiegel und Wegweiser, sondern auch ausgesprochen unterhaltsam.

Andreas Steinhöfel, Melanie Garanin: Völlig meschugge?! Carlsen, Hamburg 2022, 288 Seiten, 20 Euro, ab 12 Jahren

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 69

Klangbrücken zwischen den Kulturen

Für ihr neues Album »Roya« hat die israelisch-iranische Sängerin Liraz Charhi heimlich Musiker*innen aus dem Iran nach Istanbul geholt. Das Resultat ist versöhnender globalisierter Pop. Von Thomas Winkler

Die Entstehungsgeschichte von »Roya« ist erstaunlich: Die Musi ker*innen standen sich gegen über, sahen sich in die Augen und musi zierten im selben Raum, als sie das Al bum aufnahmen. In diesem Fall ist dies keine Selbstverständlichkeit, denn Sänge rin Liraz Chari ist israelische Staatsbürge rin, die Musiker*innen, mit denen sie ihr Album aufgenommen hat, leben jedoch im Iran. Israel und die Islamische Repu blik sind bekanntlich alles andere als freundschaftlich verbunden.

Die Aufnahmen in Istanbul waren höchst gefährlich, die Namen der aus Teheran angereisten Musiker und vor allem der Musikerinnen müssen bis heute geheim bleiben. »Ich kann mich nur noch fragmentarisch erinnern«, erzählte Liraz in einem Interview. »Die Angst und die Sorgen, als sie sich auf den Weg machten. Die Tränen der Freude und der Erleichterung, als wir uns endlich umarmen konnten. Und die Musik, die wir zusammen machten. Was für eine Musik!«

Man hört »Roya« seine dramatische Entstehungsgeschichte durchaus an, vor allem in Balladen wie »Tanha« oder »Gandomi«, die Elemente der klassischen

persischen Musik aufgreifen. Daneben überraschen aufgeräumte Lieder wie »Mi miram« mit sommerlichem Pop, durch den nur eine sanfte Melancholie weht. Und »Junoonyani« flattert nervös wie ein hochmodernes K-Pop-Stück, konterkariert dies aber mit Harmonien aus der persi schen Tanzmusik. Das Ergebnis ist globa lisierter Pop, der Zwischentöne und Ver schiedenheiten nicht übertüncht, son dern miteinander versöhnt.

Das musikalische wie politische Ver söhnungsprojekt scheint bereits in der Biografie der heute 44-jährigen Liraz an gelegt zu sein: Ihre Eltern, sephardische Juden, wanderten als Teenager in den spä ten 1960er Jahren aus dem Iran nach Is rael aus. Ihre Tochter wurde in Ramla ge boren und wuchs mit Liedern, Geschich ten und Filmen aus dem Iran auf, den die Familie nach der Islamischen Revolution 1979 nicht mehr besuchen durfte: »Ich fühlte mich sehr iranisch, gleichzeitig aber auch sehr israelisch«, sagt Liraz. »Wenn ich von zu Hause zur Schule ging, fühlte ich mich, als reiste ich in ein ande res Land.«

Nach dem Militärdienst und einem Schauspielstudium reüssierte Liraz zuerst als TV- und Filmschauspielerin, bevor sie sich der Musik zuwandte. Schon auf ih rem ersten Album »Naz« verarbeitete sie ihr familiäres Erbe, ließ sich von irani

scher Musik inspirieren und schlug Klangbrücken zwischen den beiden Kul turen. Statt auf Hebräisch sang sie in ih rer Muttersprache Farsi (siehe auch Am nesty Journal 02/2021).

Das Album fand nicht nur Fans in Is rael, sondern auch im Iran. Dort lebende Musiker*innen, die zum großen Teil im Verborgenen, in ständiger Angst vor einer Entdeckung durch den Geheimdienst ar beiten müssen, nahmen mit ihr Kontakt auf. Weil Popmusik im Iran einer stren gen Zensur unterliegt und Frauen nicht als Solistinnen auftreten dürfen, plante Liraz ihr zweites Album deshalb als vir tuelle Zusammenarbeit mit den neuen Kolleg*innen: E-Mails gingen hin und her, über Skype wurde konferiert, die Musik fand durchs Netz zusammen, aber getrof fen hatten sich die Beteiligten nicht, als »Zan« vor zwei Jahren erschien.

Das wurde für »Roya« nun nachge holt. Die neue Nähe, die Intensität zwi schen der Sängerin und ihrer anonymen Band kann man hören, das Album klingt organischer als seine Vorgänger, aber die Musik hat ihren brückenschlagenden Charakter erhalten. Was für ein Glück, was für eine Musik.

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Liraz singt auf Farsi und Hebräisch. Foto: Renaud Monfourny / Leextra via opale.photo / laif

FILM & MUSIK

Fluide Identitäten

Der Titel klingt nach einem popfeministi schen Essay, aber stattdessen ist »Your Fe minism Is Not My Feminism« eine ver rauchte, mit Jazz-Klischees spielende Bal lade auf »Stay Close To Music«. Das neue Album von Mykki Blanco ist ein typisches Beispiel für ihre Kunst. Die Musikerin, Dichterin und Aktivistin ist eine Ver wandlungskünstlerin, die alles im Fluss hält. Ihr Erscheinungsbild, ihre Botschaft, ihr Geschlecht, die Musik sowieso, alles ist in stetem Wandel begriffen.

Geboren 1986 als Michael David Quattlebaum Jr. in Kalifornien, hat Mykki Blanco, die sich seit einigen Jahren als nonbinär identifiziert, als Kunstfigur ver schiedene Aggregatzustände durchlau fen. In der Techno-Szene erregte sie Auf sehen als Drag Queen am Plattenteller, im testosteronsatten HipHop war sie –lange vor Lil Nas X – schwule Avantgarde, den Literaturbetrieb verschreckte sie als Poetin mit queeren Positionen, als Akti vistin schlüpfte sie in die Rolle einer bra ven weißen Hausfrau. Die New York Ti mes beschrieb sie als »respekteinflößen de Präsenz in der Kunst- und Cabaret-Sze ne«. Sie erregte dermaßen Aufsehen, dass Stars wie Kanye West, Charli XCX oder Madonna um Zusammenarbeit baten, Mykki Blanco blieb aber immer Außen seiterin, Subkultur, Anti-Mainstream.

Auf dem neuen Album reflektiert sie ihre vielen Rollen, erzählt im BekenntnisTrack »Carry On« vom Leben als Schwar zer Schwuler mit AIDS und fragt, weniger provokativ als eher neugierig: »What you see when you look at me?« (»Was siehst du, wenn du mich ansiehst«?) Die Ant wort ist so komplex wie die Musik, die zwar eindeutig vom Dancefloor und Hip Hop kommt, aber auch vor Pop nicht zu rückschreckt und sich längst aufgemacht hat in experimentelle Sphären zwischen Jazz und Klangkunst. »Stay Close To Mu sic« ist ein Kaleidoskop, das zwar nicht alle, aber sehr viele Facetten einer kaum fassbaren Persönlichkeit abbildet.

Mykki Blanco: »Stay Close To Music« (PIAS/Transgressive/ Rough Trade) erscheint am 14.10.

Aufstehen!

Kali Akuno kämpft in den USA gegen Ras sismus. Gemeinsam mit anderen versucht er, in seiner Kommune eine solidarische Ökonomie zu implantieren. Camila Cáce res bezeichnet ihr Heimatland Chile als Militärdiktatur mit WLAN. Ihr Ziel: Demo kratie schaffen und die Welt verändern. Marlene Sonntag organisiert Hilfsgüter für die kurdische Autonomieregion Rojava und riskiert dabei ihr Leben: Rojava ist im mer wieder Ziel türkischer Angriffe. Ju dith Braband, einige Jahre älter als die an deren, hat sich aktiv an der Demokratisie rung der DDR versucht, musste dafür ins Gefängnis. Zur Wendezeit war sie politisch sehr aktiv, unter anderem als erste Ge schäftsführerin der Vereinigten Linken in Deutschland. Shahida Issel war ANC-Akti vistin in Südafrika, hat ihr Leben dem Kampf gegen die Apartheid gewidmet.

Fünf Menschen, die exemplarisch so ziale Kämpfe auf der Welt repräsentieren. Ein Team um den Filmemacher Marco Heinig porträtiert sie für den Film »Rise up« in ihrer Umgebung, mit ihren Ideen und Ansichten. »Heimgesucht von Alb träumen auf der Suche nach Träumen den« lautet das Filmmotto. Welche Be fürchtungen haben Menschen, die sich in soziale Auseinandersetzungen werfen? Wie können sie sie überwinden? »Angst ist okay«, sagt Marlene Sonntag, »aber sie sollte nicht das Leben bestimmen.« Ob wohl alle Protagonist*innen mit miss lichen Umständen zu kämpfen hatten, haben sie sich ihre positive Einstellung bewahrt – und Haltung entwickelt: »37 Prozent der englischen Arbeitnehmer halten das, was sie tun, für komplett sinn los«, führt Cáceres aus. Das könne ihr nicht passieren, ihr Kampf gebe ihr Ener gie.

Der Erfolg gebe den meisten Engagier ten zudem Recht, wie es im Film heißt: »Wir leben in einem Zeitalter eingelöster Utopien« – Verfechterinnen des Frauen wahlrechts seien früher auch ausgelacht worden. »Rise up!« ist eine höchst interes sante Reflexion über das sozi ale Engagement unserer Zeit.

»Rise up«. D 2022. Regie: Marco Heinig u. a. Kinostart: 27. Oktober 2022

Die Flucht in Öl auf Glas

»Das Haus beobachtet uns«: Die Ge schwister Kyona und Adriel befinden sich auf der Flucht; sie sind ängstlich, seitdem ihr Dorf überfallen wurde. Die Familie war gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, wurde unterwegs getrennt. Nun schlagen sich die zwei Kinder allein durch. Der Krieg wird die beiden immer wieder ein holen. Wo wird ihre Reise enden?

Kyona führt ein Skizzenbuch über ihr unfreiwilliges Unterwegssein, dieses bil det das märchenhafte Grundgerüst für den spektakulären Film »Die Odyssee«. Regisseurin Florence Miailhe will damit allen Kindern auf der Flucht ein Denkmal setzen. Und sie tut dies mit außergewöhn lichen Mitteln: Die einzelnen Szenen ih res Animationsfilms wurden mit Öl auf Glas gemalt. Zehn Jahre dauerte die Pro duktion. Das Drehbuch entstand in Zu sammenarbeit mit der Kinderbuchauto rin Mary Desplechin, die seit 30 Jahren Romane, Kurzgeschichten und Essays pu bliziert. Die ersten Entwürfe wurden auf eine Kassenzettelrolle gezeichnet, ein Stab von Künstlerinnen in Deutschland, Frankreich und Tschechien begab sich an schließend an die intensive Ausführung. Hanna Schygulla erzählt die spannende wie traurige Geschichte.

Ihre Familiengeschichte sei selbst eine von Krieg und Vertreibung, sagt Miailhe. Schon ihre Urgroßeltern seien zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus ihrer Heimat stadt Odessa vor antisemitischen Pogro men geflohen, die Großeltern mussten ebenfalls weg, versteckten die Kinder im Handgepäck. Miaihle: »Es braucht viel Einfallsreichtum und Hoffnung, um diese immensen und gefahrvollen Reisen auf sich zu nehmen«, sagt Miailhe.

Die Suche nach einem weniger feind seligen Land; der Entschluss, Meere und Kontinente zu überqueren, das alles sei Teil der Menschheitsgeschichte. Hinter den einfach gehaltenen Bildern des Films verbirgt sich eine universelle Geschichte. Eine beeindruckende künstlerische Ar beit.

»Die Odyssee«. CZE/Frankreich/ Deutschland 2021. Regie: Florence Miailhe. DVD. Im Handel ab 28. Oktober 2022

AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 71
Musik: Thomas Winkler, Film: Jürgen Kiontke

SCHREIBEN SIE EINEN BRIEF

Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Herkunft oder aus rassistischen Gründen inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht an dieser Stelle regelmäßig Geschichten von Betroffenen, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

EIRB• F E GEGE N DAS VE R NESSEG

ist in Polen stark eingeschränkt, und die Hil fe bei einem Schwangerschaftsabbruch außerhalb der begrenzten erlaubten Grün de ist eine Straftat. Die Anklagen gegen Jus tyna Wydrzyńska sind ein bewusster Ver such, ihren legitimen Aktivismus das Recht von Frauen und allen Menschen, die schwanger werden können, auf Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen in Po len zu unterbinden.

Bitte schreiben Sie bis 30. November 2022 höflich formulierte Briefe an den General staatsanwalt von Polen und fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass alle Anklagen ge gen die Menschenrechtsverteidigerin Justy na Wydrzyńska unverzüglich fallen gelassen und keine weiteren Anklagen erhoben wer den, die darauf abzielen, sie oder andere Aktivist*innen zu kriminalisieren, weil sie Menschen, die einen Schwangerschaftsab bruch vornehmen wollen, lebensrettende Hilfe leisten.

Schreiben Sie in gutem Polnisch, Englisch oder auf Deutsch an:

Prosecutor General

Mr. Zbigniew Tadeusz Ziobro ul. Postępu 3 02-676 Warszawa, POLEN

E-Mail: biuro.podawcze@pk.gov.pl

(Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehr ter Herr Generalstaatsanwalt)

POLEN JUSTYNA WYDRZYŃSKA

Die Menschenrechtsverteidigerin Justyna Wydrzyńska wurde wegen ihres Einsatzes für den Zugang zu sicheren Schwanger

schaftsabbrüchen angeklagt. Im Fall einer Verurteilung drohen ihr bis zu drei Jahre Haft. Die Anklagen gegen sie beruhen auf Artikel 152, Absatz 2 des polnischen Strafge setzbuchs wegen »Hilfe bei der Durchfüh rung einer Abtreibung« und Artikel 124 des Arzneimittelgesetzes wegen »Besitzes nicht zugelassener Arzneimittel mit dem Ziel, die se in den Verkehr zu bringen«. Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen

(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Polen

Herrn Paweł Sergiusz Gronow, I. Botschaftsrat (Geschäftsträger a. i.)

Lassenstraße 19 21, 14193 Berlin

Fax: 030 22 31 31 55

E-Mail: berlin.amb.sekretariat@msz.gov.pl

(Standardbrief: 0,85 €)

72 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022
Foto: Grzegorz Zukowski

CHINA ILHAM TOHTI

Der uigurische Wissenschaftler und Schrift steller Ilham Tohti musste seinen Geburts tag am 25. Oktober 2022 erneut in Haft ver bringen. Er wurde im September 2014 wegen »Separatismus« zu einer lebenslan gen Gefängnisstrafe verurteilt, nur weil er den Umgang der chinesischen Regierung mit der vornehmlich muslimischen uiguri schen Minderheit in der Autonomen Uiguri schen Region Xinjiang kritisierte, den fried lichen Dialog förderte und sich gegen Un recht und Diskriminierung einsetzte. Ilham Tohti ist ein gewaltloser politischer Gefan gener, der allein wegen der friedlichen Aus übung seines Rechts auf freie Meinungsäu ßerung festgehalten wird.

Das UN-Hochkommissariat für Menschen rechte hat am 31. August 2022 einen lange überfälligen Bericht über Menschenrechts verletzungen in Xinjiang veröffentlicht. Darin erheben die UN schwere Vorwürfe gegen China und sprechen von möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Rahmen der Kampagne »Free Xinjiang

MAROKKO OMAR RADI

Am 3. März 2022 bestätigte das Berufungs gericht in Casablanca die sechsjährige Haft strafe, zu der der Enthüllungsjournalist Omar Radi wegen Spionage und Vergewalti gung verurteilt worden war. Das gesamte Verfahren gegen ihn war durch eklatante Verstöße gegen die Standards für faire Ge richtsverfahren gekennzeichnet. Als die ma rokkanischen Behörden im Juni 2020 damit begannen, gegen Omar Radi zu ermitteln, recherchierte der Journalist gerade zu un rechtmäßigen Enteignungen von Stammes land in Ouled Sbita.

Bereits vor seiner Festnahme im Juli 2020 hatten die Behörden Omar Radi wegen sei ner journalistischen Arbeit, in der er Men schenrechtsverletzungen kritisierte und Kor ruption aufdeckte, wiederholt schikaniert. Im Juni 2020 hatte ein Bericht von Amnesty

Detainees« hat Amnesty International bis heute die Fälle von 120 Personen dokumen tiert, die zu den mutmaßlich mehr als eine Million Menschen gehören, die willkürlich in Internierungslagern und Gefängnissen in Xinjiang inhaftiert sind.

Bitte schreiben Sie bis 30. November 2022 höflich formulierte Briefe an den chinesi schen Staatspräsidenten und bitten Sie ihn, die Freilassung von Ilham Tohti anzuordnen. Solange er sich noch in Haft befindet, darf Ilham Tohti weder gefoltert noch anderwei tig misshandelt werden, er muss Zugang zu medizinischer Behandlung erhalten und re

gelmäßigen Kontakt zu seiner Familie und seinen Rechtsbeiständen haben. Fordern Sie den Präsidenten außerdem auf, die Freilas sung aller Gefangenen zu veranlassen, die willkürlich in Internierungslagern und Ge fängnissen in Xinjiang inhaftiert sind.

Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Xi Jinping

Zhongnanhai Xichangan’jie Xichengqu Beijing Shi 100017

VOLKSREPUBLIK CHINA

Fax: 00 86 10 62 38 10 25

E-Mail: english@mail.gov.cn

(Anrede: Dear President Xi Jinping / Sehr geehrter Herr Präsident)

(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herrn Wu Ken

Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin

Fax: 030 27 58 82 21

E-Mail: de@mofcom.gov.cn oder presse.botschaftchina@gmail.com (Standardbrief: 0,85 €)

Bitte schreiben Sie bis 30. November 2022 höflich formulierte Briefe an den marokka nischen Premierminister und fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass Omar Radi ein fai res Gerichtsverfahren nach internationalen Standards erhält. Bitten Sie ihn außerdem, zu gewährleisten, dass Omar Radi sofort die Möglichkeit erhält, seine fortgesetzte Inhaf tierung von einem Gericht prüfen zu lassen.

Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch, Französisch oder auf Deutsch an: Aziz Akhanouch

Palais Royal Touarga, Rabat 10070, MAROKKO

Fax: 002 12 53 77 71 010

International enthüllt, dass die Behörden Omar Radi mithilfe von Spionagesoftware des israelischen Unternehmens NSO Group ins Visier genommen hatten.

E-Mail über Justizminister: contact@justice.gov.ma Twitter:@ChefGov_ma

(Anrede: Your Excellency / Exzellenz)

(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Marokko

I. E. Frau Zohour Alaoui

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe.

Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL

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AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 73
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Fanny
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Gegen die Gleichgültigkeit

Zum zwölften Mal hat Amnesty International den Marler Medienpreis Menschenrechte vergeben. Gewürdigt wurden Medienbeiträge, die sich auf herausragende Weise dem Thema Menschenrechte widmen. Von Stefan Wirner

W assily Nemetz, der Vorstands sprecher von Amnesty Interna tional Deutschland, brachte es in seiner Einführungsrede auf den Punkt: »Ohne Öffentlichkeit wäre unsere Arbeit wirkungslos.« Deshalb ist es nur folge richtig, dass Amnesty jedes Jahr Medien beiträge auszeichnet, die sich auf außer gewöhnliche Weise dem Thema Men schenrechte widmen und die Öffentlich keit dafür sensibilisieren. Am 24. Septem ber wurde der Marler Medienpreis Men schenrechte (m³) im Grimme-Institut in Marl zum zwölften Mal verliehen.

Die diesjährige Vergabe brachte einige Neuerungen mit sich. So wurden erst mals auch Printartikel, Podcast-Beiträge und medienübergreifende Projekte in die Auswahl einbezogen. Schirmherrin des Preises war Sonia Seymour Mikich, ehe malige Moderatorin des Politmagazins »Monitor« und frühere Chefredakteurin des WDR. Sie sagte in ihrer Videobot schaft: »Mag die Welt nicht einfacher und der Mensch nicht vernünftiger geworden sein, mag es nach wie vor ungerecht, ge walttätig, beschämend zugehen, der Re flex, dies nicht hinzunehmen, ist leben

dig.« Sie forderte »einen aktiven, kämpfe rischen Journalismus, der keine Angst vor Konfrontationen hat«.

Die Jury wählte aus zahlreichen Vorschlägen Beiträge in den Kategorien »Information Video«, »Information Au dio/Print« und »Fiktion« aus. Zusätzlich wurden erstmals ein Preis der AmnestyJugend und ein Ehrenpreis an die deutsch-iranische WDR-Journalistin Isabel Schayani vergeben.

Die Themen der eingereichten Beiträ ge waren weit gefächert: Es ging etwa um illegale Pushbacks an der kroatisch-bosni schen Grenze, um Frauenmorde in der Türkei und um Todestrakte in den USA. Die prämierten Beiträge wurden jeweils von Amnesty-Aktivist*innen vorgestellt, die Teil der Jury waren.

In der Kategorie »Information Video« wurde die Dokumentation »Wikileaks –die USA gegen Julian Assange« (NDR/WDR) ausgezeichnet. Sie beschreibt über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren die Ereignisse um Julian Assange, wobei auch Filmmaterial aus der ecuadorianischen Botschaft in London verwendet wurde. Dort lebte der Whistleblower lange Zeit

als politischer Flüchtling. Der Umgang mit Assange stelle eine »Gefahr für die Presse- und Informationsfreiheit« dar, hieß es in der Laudatio.

Das Radiofeature »Der letzte Tag – Das Attentat von Hanau« von Sebastian Fried rich (Deutschlandfunk Kultur/WDR/NDR) erhielt den Preis in der Kategorie »Infor mation Audio/Print«. Es lässt Angehörige der Opfer und Überlebende des rassisti schen Attentats im Jahr 2010 zu Wort kommen, bei dem neun Menschen er mordet wurden. Friedrich erzählte bei der Preisvergabe von den bewegenden Inter views, die er führte, und von der großen Offenheit seiner Gesprächspartner*in nen.

In der Kategorie »Fiktion« gewann das Filmdrama »Was werden die Leute sagen« (ZDF/Arte). Es erzählt die fiktive Geschich te eines 15-jährigen Mädchens, das mit seiner pakistanischen Familie in Nor wegen lebt. Die norwegisch-pakistanische Regisseurin Iram Haq verarbeitet darin eigene Erfahrungen mit Integration und interkulturellen Welten.

Der Preis der Amnesty-Jugend ging an »Ich bin Liv – Das Leben von Transkin dern« von Jana Magdanz (WDR). In dem Podcast erzählt das Transmädchen Liv von Alltagserfahrungen und von der Unterstützung, die es von Familie und Freund*innen erfährt.

Höhepunkt der Veranstaltung war die Verleihung des Ehrenpreises an Isabel Schayani, die für ihr beispielhaftes men schenrechtliches Engagement gewürdigt wurde und persönlich nach Marl gekom men war. Auf die Frage, wie sie damit zu rechtkomme, immer wieder erschüttern de Geschichten zu recherchieren, sagte sie: »Wenn man einmal damit anfängt, fühlt man sich den Menschenrechten ver pflichtet.« Außerdem gebe es »kleine ho möopathische Dosen von Erfolg«. Der Marler Medienpreis wird auch künftig seinen Beitrag dazu leisten, dass aus die sen homöopathischen Erfolgen vielleicht größere werden.

www.amnesty.de/deutschland-der-marlermedienpreis-menschenrechte

AKTIV FÜR AMNESTY Ehrenpreisträgerin des Marler Medienpreises Menschenrechte. Isabel Schayani, Köln, 2021. Foto: Geisler-Fotopress / pa
74 AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022

MENSCHENRECHTE! MENSCHENPFLICHTEN?

»Rules for living together« lautet die Überschrift auf dem Zettel an unserem Familienkühlschrank. Es folgen zwölf Re geln, darunter »if you open it, close it«, »if you move it, put it back«, »if you mess up, clean up« oder »if it belongs to some one else and you want it, get permission«. Es sind Regeln, die selbst- und allgemein verständlich sind, die unabhängig von Zeit, Ort und Kulturkreis als »basics« oder »common sense« gelten dürften. »Ba sics«, um das Miteinander für jede und jeden Einzelnen erträglich und für die Gemeinschaft zuträglich zu halten.

Solche »Hausordnungen« regeln das gemeinsam angestrebte Verhalten der Hausgemeinschaft über geltende Gesetze und Rechtsordnungen hinaus. Und sie helfen der Hausgemeinschaft als konsti tuierendes, mitunter sogar als »iden titätsstiftendes« Element. Eine Vereinba rung über »the way we do things here«. Eine Vereinbarung, zu der man sich be kennt und die sich alle zu eigen machen.

Wie viele Organisationen und Unter nehmen entwickelt Amnesty in Deutsch land derzeit für sich eine solche Hausord nung, einen »Code of Conduct«. Er be nennt über gesetzliche und betriebliche Regeln hinaus unseren Anspruch an eine offene, respektvolle, diskriminierungs sensible und diskriminierungsarme Or ganisation. Und er nimmt uns alle in un serer Menschenrechtsorganisation als

IMPRESSUM

Amnesty International Deutschland e.V.

Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin

Tel.: 030 42 02 48 0

E-Mail: info@amnesty.de

Internet: www.amnesty.de

Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal

Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin

E-Mail: journal@amnesty.de

Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de

Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Nina Apin, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk, Lena Wiggers

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Markus N. Beeko, Marcel Bodewig, Hannah El-Hitami, Ann Esswein, Oliver Grajewski, Ben Gutberlet, Laurenz

Menschen in die Pflicht. Menschenrechte. Menschenpflichten?

Aleida Assmann, Friedenspreisträge rin des Deutschen Buchhandels, widmet sich in ihrem Buch »Menschenrechte und Menschenpflichten« der Frage nach die sen Pflichten. Wie ist der Zusammenhang und die Wechselwirkung mit den in der Allgemeinen Erklärung der Menschen rechte verbrieften Menschenrechten? Sie räumt mit dem Missverständnis auf, dass die Einhaltung von Menschenpflichten durch einen Menschen zur Vorausset zung für dessen Menschenrechte ge macht werden kann. Für diese These wird oft Mahatma Gandhi bemüht, der auf eine Frage zu den Menschenrechten ge antwortet haben soll: »Ich habe von mei ner des Schreibens und Lesens unkundi gen, aber weisen Mutter gelernt, dass alle Rechte, die wir verdienen und bewahren, aus gut erfüllten Pflichten stammen. So erwerben wir uns das Recht zu leben erst wirklich, wenn wir unsere Pflicht als Bür ger der Welt erfüllen. Aus diesem funda mentalen Satz könnte man leicht die Pflichten von Mann und Frau ableiten und jedes Menschenrecht mit einer vor gängigen Menschenpflicht verbinden.«

Assmann betont, diese Worte Gandhis führten in die Irre; sie macht dagegen auf die wahre Beziehung zwischen Rechten und Pflichten aufmerksam: Menschen rechte bestehen aus garantierten (und ge setzlich verankerten) Forderungen an den Staat. Menschenpflichten definieren in

Hambrecht, Rouven Harms, Kristina Hatas, Christian Jakob, Jürgen Kiontke, Sabine Küper-Büsch, Felix Lee, Felix Lill, Katja Müller-Fahlbusch, Arndt Peltner, Tigran Petrosyan, Olalla Piñeiro Trigo, Wera Reusch, Bettina Rühl, Till Schmidt, Oliver Schulz, Julia Trampitsch, Silke Voss-Kyeck, Cornelia Wegerhoff, Natalie Wenger, Thomas Winkler, Stefan Wirner, Marlene Zöhrer

Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de

Druck und Verlag: Zeitfracht GmbH, Nürnberg

Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00

BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

ISSN: 2199-4587

Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr.

Ergänzung – nicht in Relativierung –Pflichten gegenüber den Mitmenschen zur Achtung und zum Schutz der Men schenrechte aller.

Dies wird verständlicher in der 1997 verfassten »inoffiziellen« Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten. Sie umfasst 19 Artikel, die Pflichten beschrei ben, welche allen Menschen auferlegt sein sollen. Damit kommt die Erklärung einer uns alle ansprechenden »Hausord nung« für persönliches Verhalten gleich.

Wenn das deutsche Grundgesetz ein Bekenntnis formuliert (»Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletz lichen und unveräußerlichen Menschen rechten als Grundlage jeder mensch lichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt«) und in den folgenden Grundrechten den Staat in die Pflicht nimmt, so gibt die Erklärung der Menschenpflichten jede und jedem von uns persönlich direkte Handlungsanwei sungen zum Schutz und zur Achtung der Menschenrechte mit auf den Weg.

Schauen Sie doch mal rein. ◆

Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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KOLUMNE: EINE SACHE NOCH
AMNESTY JOURNAL | 06/ 2022 75

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