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Salzburger Nachrichten Salzburg, am 08.08.2020, 312x/Jahr, Seite: 32 Druckauflage: 88 246, Größe: 61,4%, easyAPQ: _ Auftr.: 8420, Clip: 13042652, SB: Galtür

„Pfiat di, Gletscher“ Eine Wanderung ins sterbende Eis. Gletscherforscherin Andrea Fischer begleitete uns auf eine kalte Reise dorthin, wo bald Blumen blühen werden. EVA BACHINGER (TEXT), ELISABETH NIESNER (BILDER)

Großes Bild: Andrea Fischer im künstlichen Eistunnel des Schaufelferners im Stubaital. Darunter: Die Geologin in ihrem Element. Bild rechts oben: Eishöhle am Jamtalferner bei Galtür.

Andrea Fischer blickt auf das Eis, senkt den Kopf und denkt nach. Man meint, keine Antwort mehr zu bekommen, nachdem sie den Schwund des Jamtalferners im Tiroler Silvrettagebiet erklärt hat. Dann sagt sie: „Umwelt ist nichts Statisches, sondern immer veränderlich. Ökosysteme müssen flexibel bleiben, um lebendig und resilient zu sein. Heraklit und Humboldt haben es gut ausgedrückt: Das einzig Beständige ist der Wandel.“ Die Glaziologin Andrea Fischer tut, was man sich von vielen Zeitgenossen wünschen würde: Sie denkt nach, bevor sie etwas sagt. Andrea Fischer ist im Salzburger Pongau aufgewachsen und hat in Graz Theoretische Physik und Umweltsystemwissenschaften studiert. Schreibt man über Andrea Fischer, kommt man am Schwund der Eisgiganten nicht vorbei. Sie kennt die Gletscher Österreichs wie kaum jemand: Seit mehr als 20 Jahren beobachtet und vermisst sie Gletscher und verantwortete von 2009 bis 2016 die Erstellung der Gletscherberichte, die der Österreichische Alpenverein alljährlich herausgibt.

Nun ist sie am Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) tätig. „Zufall“, antwortet sie kurz und bündig auf die Frage, warum sie ausgerechnet Glaziologin wurde. Ein Kollege fiel bei der Feldforschung aus und sie sprang ein. Es gibt jene, die meist am Computer vor den Modellen sitzen, und jene, die rausgehen. Fischer gehört zu Letzteren. Auf die Frage, wie man am besten auf die 3156 Meter hohe Jamspitze, die vor uns am Rande eines riesigen Kessels thront, hinaufkommt, sagt sie: „Direkt in der Mitte, im Zickzack geht’s gut.“ Wir blicken auf steile Flanken, kombiniertes Gelände, Fels, Eis und Schnee. Man kann sich aber gut vorstellen, wie sie da flink und wendig hinaufklettert. Heute hingegen geht sie gemütlich einer kleinen Gruppe von Hotelbesitzern aus Galtür voran, die als Wanderführer ihren Hausgästen Ausflüge in der Bergwelt anbieten wollen. Eine Wanderung heißt „Pfiat di, Gletscher“ und führt an die Ränder des Jamtalferners. Er ist der am schnellsten schmelzende Gletscher Österreichs. Bereits in 30 Jahren könnte er verschwunden sein – das heißt, wenn nichts völlig Unvorhergesehenes passiert, wie etwa ein riesiger Vulkanausbruch, der die Atmosphäre verfinstert. Im Lauf von hundert Jahren hat der Jamtalferner einen ganzen Kilometer seiner Gletscherzunge eingebüßt. Selbst wenn wir wirklich begännen, CO2-Emissionen massiv zu reduzieren,

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würde das nichts mehr nützen: Er schmilzt seinem Ende entgegen. Dass mit dem Rückzug der Gletscher große Traurigkeit entsteht – wie etwa im Roman „Eistau“ von Ilja Trojanow beschrieben, wo ein Gletscherforscher letztlich verzweifelt – , diese „große Emotion zum Vergehen“ sei Fischer als Naturwissenschafterin fremd. „Das kenne ich so auch von Kollegen und Kolleginnen nicht. Hier geht es wahrscheinlich mehr um das eigene Vergehen, das Altern und den Abschied, Themen, die aufs schmelzende Eis übertragen werden. Man könnte es aber auch anders deuten: Nur wenn Altes geht, kann Neues kommen, ein Lebensprinzip.“ Andrea Fischer hat einen naturwissenschaftlichen Zugang, es ist keine romantische Verklärung zu spüren, wenn sie über die Gletscher spricht. Sobald eine Fläche eisfrei werde, komme die Vegetation in rasanter Geschwindigkeit, erklärt sie auf dem Gletschervorfeld. Das Neue begegnet uns auf Schritt und Tritt: Gräser, Blumen, Büsche gedeihen auf einer Fläche, die seit 150 Jahren eisfrei ist, seit 15 Jahren wachsen hier Bäume. Je näher wir dem Gletscher kommen, desto spärlicher wird die Vegetation. „Nun sind wir an dem Punkt, wo der Gletscher 1980 noch war. Aber auch hier haben wir bereits 20 verschiedene Pflanzenarten, Moose, Flechten und Pionierpflanzen, oft farbenprächtige Individualisten, die gleich auffallen“, sagt die Forscherin. Das Verschwinden an sich sei nicht schlimm. Schlimm sei der wohl entscheidende Faktor für die rasante Auslöschung der alpinen Eismassen: unser maßloser, konsumorientierter Lebensstil. Prinzipiell unterstütze sie die Forderungen der Klimaschutzbewegung Fridays for Future, aber dem Protest könne sie sich als Forscherin nicht anschließen. Sie kritisiere nicht so gern, sagt sie. „Wir Wissenschafter müssen sachlich bleiben und seriöse Konzepte liefern, ohne dass andere Werte wie Bildung, Soziales, Freiheit, Demokratie unter die Räder kommen. Da sind wir aus meiner Sicht noch sehr konkrete Antworten schuldig geblieben.“ Dass Fischer Systemwissenschaft studiert hat, merkt man: „Ich will als Forscherin die ganze Bandbreite, die Komplexität des Fachs vermitteln, aber auch Zuversicht.“ Die mitunter aufgeheizten, emotionalen und dadurch spaltenden Debatten zum Klimawandel können ihrer Meinung nach nicht zu Lösungen führen. Auch andere Disziplinen seien gefragt. Fischer würde sich etwa wünschen, dass mehr Philosophen gehört würden, die Naturwissenschaft könne nur „hard facts“ liefern. Und die seien letztlich immer nur ein Teil der Wirklichkeit. Als wir den Jamtalferner im Tiroler Silvrettagebiet hinter uns lassen, stehen wir auf einer Anhöhe und blicken ins Tal hinaus. Fischer zeigt in lichte Höhen: „Bis zu den Felsen hoch oben hat das Eis das ganze Tal ausgefüllt.“ Die Vergletscherung vor 22.000 bis 18.000 Jahren reichte von hier bis nach Bayern und in den Süden. Der Chiemsee und der Gardasee sind wie viele andere Seen Überbleibsel der Gletscher. Das Eis hat die Landschaft geformt, geschliffen, ausgehöhlt. Andrea Fischer kann die Spuren des früheren Gletschers lesen: Sie zeigt an einem Felsen die Schleifspuren von Gestein, die der Gletscher vor sich hergeschoben hat, eine andere Fläche ist glatt geschliffen, vorn hat der Gletscher Felsbrocken abgerissen. Wir erahnen Zeitdimensionen, die weit über ein Menschenleben hinausgehen: In der Nähe liegen Felsbrocken, die 9000 v. Chr. durch einen Bergsturz in die Tiefe gedonnert sind. Wir schauen nochmal ins Tal und können die Ausmaße des früheren Gletschers kaum fassen: Heute sehen wir idyllische Almwiesen, wo Blumen blühen, Kühe weiden, Murmeltiere pfeifen, der Bergpieper singt und der Jambach rauscht. Mehrmals im Verlauf der letzten 10.000 Jahre war die Waldgrenze mindestens so hoch wie heute. Das weiß man, weil jahrtausendealte Holzreste aus den sich zurückziehenden Gletscherzungen ausapern. „Man muss vorsichtig sein, wenn man sagt, diese Schwankungen gab es schon immer. Ja, aber aus anderen Gründen als heute“, so Fischer. Es gebe noch viele offene Fragen. „Die heutige Erwärmung ist ein Faktum, auch dass sie großteils menschengemacht ist, aber ob das der einzige Faktor für den Rückgang ist, wissen wir nicht.“ Wir verlassen das Eis, das rohe Gestein und erreichen wieder saftige Almwiesen. „Ist das nicht wunderschön, dieses Grün?“, freut sich Fischer. Infos: www.alpin-club-galtuer.at. Im Sommer 2020 steht die Gletscherwanderung „Pfiat di, Gletscher“ im Fokus. Andrea Fischer: Alpengletscher – eine Hommage, Fotograf: Bernd Ritschel, Tyrolia-Verlag 2020, 256 Seiten, 39 Euro.

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