CHRISTINE CAZON Christine Cazon, alias Christiane Dreher, ist Krimiautorin und Wahlfranzösin. Zusammen mit ihrer Romanfigur Kommissar Duval erlebt sie Cannes sowohl vor als auch hinter den Kulissen der südfranzösischen Glitzerwelt.
Dekorative Zebrastreifen Monsieur gestikuliert wild auf der anderen Straßenseite. Es ist ihm unbegreiflich, dass ich nicht zeitgleich mit ihm über die Straße geeilt bin. Ich rufe innerlich „Nur bei Grün der Kinder wegen“, zucke mit den Schultern und zeige demonstrativ auf die junge Frau mit drei kleinen Kindern neben mir. Prompt scheucht sie genau in diesem Moment ihre Kinder eilig bei Rot über die vierspurige Straße. Ich bleibe fassungslos und übrigens auch als einzige zurück. Es dauert lange bis zur nächsten Grünphase für Fußgänger. „Wo bleibst du denn?“ brummelt Monsieur unge— duldig. „Aber die Kinder“, setze ich an. „Wie, die Kinder?“, fragt Monsieur verständnislos. „Ich wollte ein gutes Beispiel geben“, sage ich kleinlaut. Er sieht mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Franzosen scheren sich nicht um rote Fuß gängerampeln. Besonders Französinnen, vor allem junge und sehr junge Französinnen nehmen nicht mal ansatzweise irgendeine Regel der Straßenverkehrsordnung, die es auch in Frankreich zumindest theoretisch gibt, in ihren öffentlichen Verhaltenskodex auf. „Rot? Et alors?“ Was geht mich das an? Sie gucken nirgends hin, wenn sie über die Straße gehen, quatschen dabei mit der Freundin, telefonieren, tippen eine Nachricht oder teilen ein Foto. Sie gehen mit einer solchen Unverfroren heit einfach weiter, nicht das geringste Zögern, nicht einen Lidschlag lang wird wenigstens die Umgebung sondiert, da kann es noch so Rot sein, sie gehen weiter, denn für Göttinnen wie sie gelten diese Regeln einfach nicht. Schon die Fernsehkoryphäe Ulrich Wickert war von diesem Phänomen derart fasziniert, dass er 1984 für den ARD Weltspiegel in Paris unter Einsatz seines Lebens vor laufender Kamera ein legendäres Experiment veranstaltete. (Googeln Sie mal „Ulrich Wickert Place de la Concorde“). Denken Sie daran, falls Sie mit dem Auto in Frankreich unterwegs sein sollten. Unfälle können Sie vermeiden, indem Sie grundsätzlich nicht an Zebrastreifen anhalten. Andernfalls fährt Ihnen nämlich der nachfolgende Wagen auf. Zebrastreifen sind hier gefühlt eher dekorativ als funktionell. Eigentlich logisch, denn wenn sowieso alle anarchistisch über die Straße gehen, braucht man nicht noch extra Zebrastreifen. Entsprechend werden sie von den Auto fahrenden Franzosen (Französinnen sind ausdrücklich mitgemeint) schnöde ignoriert. Parken gehört auch in diese
Kategorie. Ich bin ungelogen täglich mit Monsieur in Auseinan dersetzungen verstrickt, weil ich finde, dass man „so“ oder „da“ nicht parken kann. „Den nehmen wir!“, ruft Monsieur, und macht Anstalten zum Einparken. „Nein!“, rufe ich, „Nicht gegen die Fahrtrichtung parken, außerdem stehst du halb auf einem Motorradparkplatz!“ „Ist kein Motorrad da“, knurrt der Gatte. „Mais on n’a pas le droit“, sage ich ängstlich. Wörtlich, „wir haben nicht das Recht“, meint, das darf man nicht. „Si je n‘ai pas le droit, je prends le gauche“, winkt er lässig ab. Es ist ein unübersetzba res Wortspiel, in etwa: „Wenn ich nicht das Recht habe, nehme ich eben Links“. Verbieten lässt man sich nichts. „Wir bleiben da nicht ewig stehen“, fügt er beschwichtigend hinzu. Ich bin trotzdem nervös, denn neuerdings versucht man auch in Frankreich der ParkAnarchie mit Strafzetteln Herr zu werden. Dass dieser Umgang im Straßenverkehr abfärbt, merke ich beim letzten Deutschlandbesuch: Ohne groß nachzu denken überquere ich mit Monsieur in einer deutschen Großstadt eine mehr spurige Straße. „Hallo!“, ruft eine Stimme hinter uns. „Hallo Sie!“ Meint der uns? Ich drehe mich um. „Es ist ROT!“ ruft ein Mann streng und zeigt auf das rote Ampellicht. Er schimpft erbost hinter uns her. „Denken Sie an die Kinder!“ höre ich noch. Mir wird heiß und ich kichere aufgeregt, weil ich bei etwas Verbotenem erwischt wurde. „Was wollte er?“, fragt Monsieur. „Er wollte, dass wir bei Rot stehen bleiben“, sage ich. „Aber da war weit und breit kein Auto“, wundert sich Monsieur. „Wegen der Kinder“, erkläre ich. Monsieur dreht sich um. Außer dem Herrn steht niemand an der Ampel. Wieder in Frankreich treffe ich mich zum Essen mit anderen Deutschen. Alle jammern über die Schwierigkeit, in diesem Viertel einen Parkplatz zu finden. Nur ich hatte Glück und parke direkt vor dem Restaurant. Nach dem feinen Essen fragen sie vor der Tür. „Wo steht denn dein Auto?“ „Na da, direkt gegenüber“, ich zeige auf meinen Kleinwagen. „Auf dem Zebrastreifen!“, empören sie sich vielstimmig. „Ach was“, winke ich ab, „nur die Hinterräder stehen auf dem Zebrastreifen.“ „Das ist doch verboten! In Deutschland ginge das nicht“, tönt es. Verwundert merke ich, dass mir gar nicht warm wird. „Wir sind in Frank reich“, sage ich. „Si je n’ai pas le droit, je prends le gauche!“ •
PORTRÄT CHRISTINE STEPHAN GABRIEL
Da kann es noch so rot sein, sie gehen weiter, denn für Göttinnen wie sie gelten diese Regeln nicht
FRANKREICH MAGAZIN 23