Maskerade der Perversionen? Christopher Isherwoods Berlin — von Jens Wietschorke Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke forscht u.a. zu den Themen Stadtanthropologie, Raum und Archi tektur sowie Diskursgeschichte sozialer Ungleichheit(en).
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Der junge Schriftsteller Christopher Isherwood lebte von 1929 bis 1933 in Berlin. Seine autobiografischen Romane »Leb wohl, Berlin« und »Mr. Norris steigt um« erlangten Weltruhm, wurden mehrfach verfilmt und eroberten als Musical »Cabaret« die Bühne. 1926 wurde der aufstrebende Nationalsozialist Joseph Goebbels als Gauleiter von Berlin-Brandenburg in die Reichshauptstadt beordert. »Alle wollen mich nach Berlin als Retter. Ich danke für die Steinwüste«, schrieb er am 10. Juni in sein Tagebuch. In Berlin war die NSDAP bislang nur eine politische Randerscheinung gewesen, desorganisiert und zerstritten, ohne wirklichen Einfluss in der Öffentlichkeit. Goebbels sollte das ändern, und er nahm die Herausforderung an. Unter seiner Leitung waren die Berliner Nationalsozialisten nun nicht mehr zu übersehen: Sie probten den Gewaltexzess, wo es nur ging, mischten Versammlungen auf und zettelten gezielt Straßen- und Saalschlachten an. Gleichzeitig kopierte Goebbels den Stil der radikalen Linken, gab sich als rebellischer Volkstribun im Ledermantel, fast wie ein Bolschewik, von Bertolt Brecht in dieser Zeit äußerlich kaum zu unterscheiden. Der Kampf um die Zeichen der Straße war in vollem Gange. Und Berlin war gegen Ende der 1920er-Jahre ein Hexenkessel, in dem die unterschiedlichsten Lebensentwürfe und -stile, die Ideologien, Parteien und Splittergruppen ein toxisches Gemisch ergaben. Nachts wurde das besonders sichtbar. Kurz nach seiner Ankunft in Berlin notierte Goebbels
in sein Tagebuch: »Berlin bei Nacht. Ein Sündenpfuhl! Und dahinein soll ich mich stürzen.« Für andere war gerade dieses Nachtleben weit abseits der bürgerlichen Moral attraktiv. Im März 1929 zog der Schriftsteller Christopher Isherwood nach Berlin. Er folgte seinem Freund W. H. Auden, der sich bereits dort aufhielt, begeistert von der Atmosphäre der Stadt und ihren unerhörten Freizügigkeiten, die man in England so nicht kannte: »Berlin ist der Traum eines jeden Schwulen. Es gibt hier 170 von der Polizei überwachte Männerbordelle.« Für die beiden jungen Briten war der Umzug nach Berlin mehr als nur ein Wechsel in ein anderes Land, eine andere Stadt. Er bedeutete auch einen sozialen Registerwechsel. Während Isherwood und Auden in England in großzügigen bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen waren, stürzten sie sich nun ganz bewusst in das proletarische Berlin. Sie entdeckten die rauen Seiten der Stadt, liebten deutsche Zigaretten und deutsches Bier, verbrachten ihre Nächte im Dunst von »Salem Aleikum« und »Schultheiss-Patzenhofer«. Das »Cozy Corner« im Arbeiterviertel um das Hallesche Tor wurde ihr Stammlokal; Isherwood lernte dort »Bubi« kennen, einen arbeitslosen Jungen tschechischer Herkunft. Berlin war für ihn ein Spielplatz für sexuelle Abenteuer, aber auch eine Bühne, auf der er jemand ganz anderer sein konnte als der, der er in England gewesen war. Für alle, die sich ausprobieren wollten, ein ideales Terrain. Schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg war die homosexuelle S zene Berlins zu einer regelrechten Touristenattraktion geworden. Der Historiker Felix Gilbert berichtet in seinen Memoiren, dass viele Berlin besucher*innen aus dem Ausland immer zuerst das unmoralische Berlin sehen wollten, über das sie so viel gehört hatten. Neben dem Flughafen Tempelhof, dem Sechstagerennen, den Künstler*innenlokalen und dem gigantischen Themenrestaurant »Haus Vaterland« waren es vor allem die Etablissements und Tanzsäle der schwulen und lesbischen Halbwelt, die mehr oder weniger stolz vorgeführt wurden. Einer der Hauptschauplätze von »Cabaret«, der fiktive Kit Kat Klub, ist in diesem Sinne ein exem plarischer Ort. Exemplarisch nicht für Berlin als Ganzes, sondern für ein bestimmtes Image von Berlin, das in der kulturellen Ökonomie der Stadt angelegt war. 1931 erschien denn auch der Reiseführer für alle, die