Liebes Publikum, wir sind in diesen Tagen und Wochen weit entfernt von jeder Normalität, von jeder Vertrautheit mit den Verhältnissen, von jedem Gefühl des Aufgehobenseins. Und es ist schwierig zu bestimmen, an welchem Punkt von existenzieller Bedrohung und Krise wir stehen: gerade am Anfang, mittendrin oder doch schon am Ausgang. Vielleicht ist es einfach ein Stück dringend notwendiger Normalität, in diesen Zeiten als Theater ein Spielzeitheft anzubieten, vielfältige künstlerische Pläne zu entwerfen und davon auszugehen, diese in der kommenden Spielzeit umsetzen zu können. Verstand und Emotion, Haltung und Empathie sind im Theater – auch als einer Art Gegenwelt – mehr denn je gefordert; Dinge, die oft unvereinbar erscheinen. Wenn man etwas vom Theater lernen kann, ist es, diese Widersprüche zuzulassen, die Welt nicht in Gut und Böse, in Freund und Feind einzuteilen. Man kann lernen, den einfachen Lösungen und Gedanken zu misstrauen und in den Auseinandersetzungen und vermeintlich unerträglichen Differenzen nach Hoffnung zu suchen. So ist der Spielplan eine Form des Forschens und des Schweifens. Er versucht, Sie, liebe potenzielle Zuschauer*innen, zu gewinnen und dafür zu interessieren, das Verschiedene nebeneinander zuzulassen und jedes Einzelne wichtig zu nehmen. Und wir wollen – gerade auch in der Fotoreportage von Thomas Rabsch, die dieses Spielzeitheft durchzieht – deutlich machen, dass Theater ein Arbeitsplatz ist. Für eine Arbeit, die mit Kreativität und Konzentration, mit Kraft und Liebe zu tun hat, Arbeit, an der viele mit vielen unterschiedlichen Kompetenzen beteiligt sind. Zahlreiche künstlerische Perspek-
tiven scheinen auf, greifen ein und schlagen vor: Die südafrikanische Regisseurin Lara Foot beschäftigt sich mit dem Kolonialismus anhand eines Shake speare-Stücks, der Autor Rainald Goetz erzählt vom entwickelten Kapitalismus, ein Musical beschreibt Freiheitssehnsucht und Intoleranz im aufziehenden Faschismus, Robin Hood wird eine starke Frau sein, Bassam Ghazi unternimmt eine Erinnerungsreise nach Solingen, die queere Community stellt Fragen und feiert, Geschlechterbilder geraten in einer ganz anderen »Don Giovanni«-Inszenierung für Jugendliche durcheinander, ein ukrainisches Künstlerteam wird mit ukrainischen und deutschen Menschen die Odyssee gemeinsam erzählen … Dies ist ein kleiner Ausschnitt, dies sind Anlässe, Welt zu reflektieren, zu begreifen, sich besser zu wünschen. Der Filmemacher, Autor und Jurist Alexander Kluge hat vor ein paar Tagen geschrieben: »Kunst ist kein Richter. Kunst trainiert Wahrnehmung ... Im Märchen von Dornröschen reicht das Geschirr nur für zwölf weise Frauen. Die 13. Fee wird aus dem Schloss verjagt. Die Kunst ist der Anwalt der 13. Fee.« Liebes Publikum, selten haben wir eine engere emotionale Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum gespürt als gerade jetzt. Das Theater verbindet uns als Live-Erlebnis. Wir erfahren Gegenwart und Gegenwärtigkeit, die gemeinsamen Gedanken und den gemeinsamen Alltag, die gemeinsame Sehnsucht. Wir sind dankbar, dass wir Unruhe und Hoffnung teilen können. Wir grüßen und begrüßen Sie herzlich! Wilfried Schulz Generalintendant Düsseldorf, im Mai 2022
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