Leere Fläche, weißer Wal — Der »Moby-Dick«-Experte Friedhelm Rathjen über Melvilles monströsen Roman und warum uns dieser bis heute fasziniert
Mit »Moby-Dick« verfolgte Herman Melville zwei Anliegen: Der sachliche Anteil seines großen Schreibvorhabens bestand darin, Informationen über die unbekannte Welt des Walfangs zu vermitteln. Man muss sich vor Augen halten, dass die Gewinnung von Rohstoffen aus der Waljagd in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Melville den Roman schrieb, mindestens so wichtig war wie heutzutage die Förderung von Öl. Und trotzdem waren die eigentlichen Zusammenhänge rund um das Thema Walfang großen Teilen der Menschheit, die nicht selbst auf den Weltmeeren unterwegs waren, unbekannt. Heute sind Wissensdefizite durch das Internet leicht behebbar. Damals gab es die Möglichkeit jedoch noch nicht. Deshalb musste dieser Roman her. Außerdem wollte Herman Melville eine Geschichte erzählen, und zwar eine abgründige, die die Grundfesten der Existenz berührt. Gut und Böse, Kultur und Natur, der Mensch und andere Lebe
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wesen prallen aufeinander. In »Moby-Dick« findet sich bereits viel von dem, was wir heute als unsere Entdeckung begreifen – ein ökologisches Bewusstsein z. B., die Rücksichtnahme auf unsere Umwelt und natürliche Ressourcen. Melville beschreibt die wackeren Waljäger einerseits so, dass wir Sympathie für sie empfinden und erfahren, wie wichtig ihr blutiges Geschäft für die Menschen damals war. Auf der anderen Seite wechselt der Autor immer wieder die Perspektive und zeigt, wie sehr Wale leiden, wenn sie erlegt werden. Er macht deutlich, was für Wesen sie sind, wie sie sich um ihre Babys kümmern und wie sie in ihren sozialen Zusammenhängen interagieren. In seinen Schilderungen wechselt Melville immer wieder die Seiten und macht durch multiperspektivisches Erzählen mehrere Positionen nachvollziehbar. Das ist ein sehr moderner Zugriff, den es in der Literatur zuvor selten gegeben hat. Es kommt zu Kippeffekten, durch die sich Bewertungen ins Gegenteil verkehren. Es zeigt sich, dass das vermeintlich Böse vielleicht besser ist als das vermeintlich Gute und dass dieses Monster, als das der Wal Moby Dick zunächst geschildert wird, im Grunde gar kein Monster ist. Vielmehr ist am Ende der Waljäger das Monster. Ich als Übersetzer würde sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass die Sprache das eigentlich Monströse an diesem Buch ist. In »Moby-Dick« gibt es die Frontstellung von Mensch und Natur, aber sie wird immer wieder aufgeweicht, weil sich herausstellt, dass es den Menschen nicht gibt. Es treten sehr viele unterschiedliche Figuren auf, die aus verschiedenen Weltgegenden und Kulturen kommen. Melville wollte die ganze Welt im Mikrokosmos dieses einen Walfangschiffes
Friedhelm Rathjen lebt als freier Übersetzer und Literaturkritiker in Nordfriesland. Seine einzigartige Übersetzung von »MobyDick« wurde von Christian Brückner als dreißigstün diges Hörbuch eingelesen.