Welches Begehren?
Thymos, oder: Gibt es rechte Affekte? S
eit er einen Namen hat, begegnet man ihm an vielen Orten. Nicht wenige sind in den letzten Monaten dazugekommen: in Clausnitz, Heidenau, Tröglitz, aber auch an Wahlständen in den Fußgängerzonen westdeutscher Kleinstädte oder von Anwält_innen unterstüzt im feinen Hamburg-Blankenese. Wohl keine Typologie der deutschen Gegenwartsgesellschaft käme ohne ihn aus: den Wutbürger. Er (der Typus ist deutlich männlich konnotiert) ist zornig: Nicht unbedingt wegen einer bestimmten politischen Entscheidung, sondern weil man ihn nicht gefragt hat, weil andere entschieden haben, weil er übergangen wurde. Und weil er ja nur den Zorn als Mittel hat. Die Unmittelbarkeit seiner Wut soll deutlich machen, worum es ihm geht, wie sehr er betroffen und affiziert ist und damit eben auch: wie sehr er Bürger ist. Das ist neu im politischen Diskurs der BRD; dass ausgerechnet die Wut eine bürgerliche Tugend sein soll. Nicht Vernunft, Kompromissfähigkeit, Gelassenheit, sondern die ungehemmt geäußerte, persönliche Betroffenheit. Deutlich geht es dieser Wut um Verteilung; wenn sie davon spricht, dass „die” etwas kriegen, was „uns” zusteht. Sie ist die Reaktion auf das Gefühl des Übergangenwerdens, die Kompensation einer gefühlten Ohnmacht. Dabei ist sie selbst keinesfalls ohnmächtig. Sie ist ansteckend, bildermächtig und lautstark und damit ein starkes, politisches Instrument in der Mediendemokratie. Um den Zorn als politischen Affekt zu rehabilitieren, hat die Philosophie in den letzten Jahren den
weiten Rückgriff in die Antike unternommen. Peter Sloterdijk führt in seiner Abhandlung „Zorn und Zeit“ den Begriff des Thymos wieder ein und stellt ihn, anstelle des Thanatos (also dem „Todestrieb”, dem Destruktiven), dem Eros, dem Schöpferischen gegenüber. Er konzeptualisiert den Begriff als Kraft und nähert ihn Friedrich Nietzsches Willen zur Macht an. Sloterdijks Überlegungen verorten sich in einem von Samuel Huntingtons ‚clash of civilizations’ inspirierten politischen Szenario, in dem Kämpfe um die Verteilung von Gütern, Macht und nicht zuletzt Menschen geführt werden müssen. Fehlender Zorn, fehlender Wille sind für jeden Akteur in diesem Planspiel ein strategischer Nachteil. Affektpolitik wird so zum Korrelat von Bio- und Geopolitik. Nicht nur der thymotische Affekt selbst, auch der Begriff ist ansteckend. Sloterdijks ehemaliger Assistent an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, Marc Jongen, überführt ihn in die Parteipolitik: Jongen ist Vizevorsitzender der AfD Baden-Württemberg und Mitglied der Kommission zur Ausarbeitung des AfD-Parteiprogramms. „Parteiphilosoph der AfD“ hat ihn die F.A.Z. kürzlich genannt. Im dazugehörigen Artikel wird er zitiert mit der Beschreibung des Islamismus als „hochgepushte[r] thymotischer Bewegung“. Es folgt die aus Jongens Perspektive zwingende Analyse: In einem Konflikt mit dieser Bewegung hätten die westlichen Demokratien keine Chance, solange sie nicht selbst die Macht des politischen Affekts zu nutzen wüssten. Jongen gibt seiner Partei damit den weltpolitischen Auftrag „die ThymosSpannung in unserer Gesellschaft wieder zu heben“.