Wann, wenn nicht jetzt!?
Fragment zur Dialektik
von Genuss und Verzicht
D
as Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft 1781 ist aus vielen Gründen ein historischer Moment und philosophiegeschichtlicher Meilenstein. Kants Vernunftskritik konzipiert einen menschlichen Geist, der als reines Planungsinstrument und als Mittel zu jedwedem Zweck angewendet werden kann. Rund ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft beginnt Marquis de Sade seine Schriftstellerei. Aus seinem Schaffen ist die moralphilosophische Konsequenz der instrumentellen Vernunft ersichtlich:
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zierten Erscheinungsform, einer Ideologie des Lebens mit dem Imperativ „Genieße!“. Jegliches Scheitern wird tabuisiert als ein Akt, der das Geschenk des Lebens nicht angemessen und sittsam annimmt (Zupančič 2001: 16). Im Gleichschritt ist das herrschende gesellschaftliche Ganze durchzogen von der Forderung nach Disziplin und Leistung.
„Alles, was ich begehre, soll mir zu Füßen liegen und alle Menschen dienen mir zum Zwecke meines Genusses. Ich, das moralische Genie, darf alles und jede_n zum Mittel degradieren, denn nur so kann meine Lust bis ins Exzessive gesteigert und befriedigt werden.“
Das aufklärerische Erwachen des einzelnen Subjekts bezahlte eben jenes mit seiner Annullierung (Adorno/ Horkheimer 2014: 4). Suggeriert wird, dass ihm/ihr die Gnädigkeit des Lebens vergönnt worden sei und dieses das größte Geschenk sei. Begehre alles, was deinen Genuss erhöht, begehre es noch mehr, wenn dies deinen Genuss potenziert. Subtil zwischen den Zeilen des „Fühl-dich-wohl-Tees“ im Regal des Bioladens steht eben jene Sade‘sche Maxime. Unterwerfe alles deiner Herrschaft, denn alles, was du begehrst, existiert nur zu deinem Zwecke und ist bloß, damit du es genießen kannst. Die Welt liegt dir zu Füßen, sauge das Leben aus wie eine saftige Orange und mache Limonade daraus! Vermittelt durch die Welt der Waren und Werte wirkt der okkulte Schein dieser Ideologie stabiler und stärker als es sich de Sade wohl jemals hätte vorstellen können.
Diese Sätze ließen sich ohne Probleme als Kern der Sade‘schen Agenda formulieren (Adorno/Horkheimer 2014: 102ff ). Für Adorno und Horkheimer ist Sade die Verkörperung der instrumentellen Vernunft (ebd. 90ff ). Jene Agenda durchzieht auch noch die heutige postmoderne Gesellschaft, wenn auch in einer neuen modifi-
Die scheinhafte Stabilität kann aber nur gehalten werden durch das Gegensätzliche, das als Fundament des exzessiven Hedonismus dient. Die negative Maxime zum Imperativ „Genieße!“ ist die Forderung zum Verzicht. Durch das dialektische Verhältnis zwischen schrankenlosem Hedonismus und exzessiver Askese, erscheint