lie:zeit Ausgabe 95

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meine:zeit

05/2021

Aus agnostischem Elternhaus auf die Kanzel «Zäh» war Michael Wimmers Weg zum Pfarrer, wie er selbst sagt. Geradlinig war er auf jeden Fall nicht. Dennoch – oder gerade deswegen – hat er seit seiner Priesterweihe vor rund zehn Jahren keinen Tag im Dienst Gottes und der Menschen bereut. Text: Heribert Beck

Kirchen im gotischen Baustil, von denen es in Wien, an dessen Stadtrand er aufgewachsen ist, viele gibt, haben Michael Wimmer als Kind fasziniert. Ein Interesse, das ihm möglicherweise von seiner Mutter, einer Professorin für Architektur, in die Wiege gelegt worden ist. Von ihr und insbesondere von seinem Vater, einem Professor für Philosophie, hat Wimmer aber auch gelernt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Beides kam zusammen, als er im Alter von 12 oder 13 Jahren gelesen hat, dass sich auf den Dachbereichen dieser Kirchen perfekt ausgearbeitete Steinfiguren befinden, die erst bekannt geworden sind, als der Mensch wiederum das Fliegen für sich entdeckt hat. «Dass die Steinmetze im Spätmittelater solche Mühen auf sich genommen haben für Figuren, die ihrem Verständnis nach nur Gott je sehen wird, zeugte für mich von ihrer tiefen religiösen Überzeugung», sagt Michael Wimmer. Von dieser Erkenntnis bis zu seiner heutigen Position als Dompfarrer von Vaduz war es dennoch ein weiter Weg.

«Ich dachte, in Rom wüssten sie es am besten» «Meine Eltern waren damals beide nichtpraktizierende Katholiken, Agnostiker, und mein Vater wollte mich eher von der Kirche sowie vom Glauben fernhalten. Auch ich habe alles hinterfragt, wie es mir beigebracht worden ist», sagt Michael Wimmer. Nach der Matura entschied er sich zunächst für ein Studium der

Rechtswissenschaften und Arabistik, während er auf seinen Platz als Zivildienstleistender in einem Altersheim wartete. «Wir jungen Zivildiener waren psychologisch überhaupt nicht auf die Situation vorbereitet, wurden aber dennoch in der Hospizabteilung eingesetzt und haben Menschen unter Schmerzen sterben gesehen.» Wimmer hinterfragte wieder – in dieser Situation den Sinn des Lebens, wenn am Ende unter Umständen ein leidvoller Tod steht. «Mir wurde klar, dass das Leben

Ich sass eines Abends allein am Strand, betete den Rosenkranz und empfand eine plötzliche Klarheit darüber, was ich im Leben am meisten will: Priester werden. Solche Momente gibt es in einem Menschenleben nicht viele, aber wenn man einen erlebt, spürt man eine tiefe Zufriedenheit. Michael Wimmer, Dompfarrer von Vaduz

letztlich ziel- und sinnlos wäre, wenn es keinen Gott gäbe, kein Leben nach dem Tod, das Universum nur Zufall wäre. Ich wollte aber auch dies genauer wissen.» Wimmer entschied sich daher für ein Theologiestudium in Rom. «Ich dachte mir, dass die Professoren es dort am besten wüssten, wo der Papst ist», sagt er und lacht. Aufgrund der teuren Lebenshaltungskosten war es Wimmer nicht möglich, sein ganzes Studium in Rom zu absolvieren,

und nach vier Semestern packte er wieder seine Koffer. «Bereits damals hatte ich aber eine wesentliche neue Erkenntnis gewonnen. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Priester getroffen, die wirklich zufriedene Menschen waren, ihre Berufung gerne lebten und ihre Botschaft glaubwürdig verkündeten. Das hatte ich aus meiner Jugend nicht gekannt, weshalb ich zunächst selbst nicht Priester werden wollte – aus Sorge vor Einsamkeit und Verbitterung.»


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