Die neue Lust auf Neues
Verehrtes Publikum,
vor einigen Wochen rieb sich die Opernszene verdutzt die Augen, nachdem die New Yorker Metropolitan Opera verkündet hatte, einen Kurswechsel in ihrem Spielplan vorzunehmen und nicht mehr auf Klassiker des Repertoires in gediegenen Inszenierungen zu setzen, sondern auf Gegenwartsopern und Uraufführungen. 17 neue oder fast neue Opern will das Haus in den kommenden fünf Jahren auf die Bühne bringen und sieben Uraufführungsaufträge erteilen. Ausgerechnet die konservative Met, die aufgrund ihrer Grösse und ihrer Finanzierungsstruktur immer zuallererst darauf achten muss, dass die aufgeführten Werke Erfolg an der Kasse haben, wagt sich an Neues? Die Ankündigung erstaunte. Aber mit genau jenem notwendigen Erfolg an der Kasse wurde sie begründet: Beim bewährten Repertoire, so hiess es, blieben immer mehr Plätze leer, während sich neue Opern hervorragend verkauften und viele der Gäste bei ihnen zuvor noch nie ein Opernhaus betreten hätten. Die Met ist nicht gerade das Haus unseres Vertrauens in Sachen zeitgenössischer Musik, deshalb sollte man vorsichtig sein bei der Einordnung dieses scheinbaren Paradigmenwechsels. Es könnte sich herausstellen, dass manche der angekündigten Opern-Uraufführungen am Ende nicht mehr sind als bessere Musicals. Trotzdem steht die Ankündigung für etwas, das auch jenseits von New York von Bedeutung ist: Die Opernhäuser müssen dringend ihr Repertoire erweitern. Sie brauchen neue Geschichten. Und die gibt es schon. Man muss sie gar nicht alle neu komponieren.
Unsere nächste Premiere präsentiert ein solches Werk. Lessons in Love and Violence von George Benjamin wurde vor fünf Jahren in London uraufgeführt. Die Oper ist packend wie ein Krimi, in den eineinhalb Stunden Aufführungsdauer bis in die kleinste Note hinein meisterhaft auf den Punkt komponiert, zugegeben ein bisschen grausam, aber atemberaubend in den Abgründen von Liebe, Begehren und Machtgier, in die sie uns schauen lässt. Der englische Komponist George Benjamin erhält – nicht zuletzt wegen seines Opernschaffens – in diesem Jahr den hochdotierten Ernst-von-SiemensPreis, der als Nobelpreis der Musik gilt. Der Stoff ist ein Königsdrama von shakespearehafter Wucht. Es geht um den englischen König Edward II., der im 14. Jahrhundert herrschte, sich in einen Günstling namens Piers Gaveston verliebte, seine Regierungsgeschäfte vernachlässigte, abgesetzt und grausam ermordet wurde. Die Oper konzentriert sich ganz auf die vier Hauptfiguren. Neben dem männlichen Liebespaar sind das Mortimer, der kalt rationale Gegenspieler des Königs, und die Königin, die ihren Nebenbuhler weghaben will und sich auf die Seite Mortimers schlägt. In Liebe und Hass sind sich alle vier gleichermassen haltlos zugetan.
Wer mit Gegenwartsopern Erfolg haben will, muss sie auch spannend erzählen. Dafür ist in unserer Neuproduktion Regisseur Evgeny Titov zuständig, ein TheaterFeuerkopf, der zum ersten Mal in Zürich inszeniert. Die immens schwere Partitur (der man aber wie allen guten Kompositionen die Schwierigkeit nicht anhört) wird von Ilan Volkov dirigiert. Grossartige Sängerinnen und Sänger gibt es selbstverständlich auch, die lernen Sie aber am besten persönlich auf der Bühne kennen.
Haben Sie Lust auf ein Opern-Abenteuer? Dann sind Sie bei Lessons in Love and Violence richtig.
MAG 102 / Mai 2023
Unser Titelbild zeigt Jeanine De Bique, die Königin Isabel in «Lessons in Love and Violence».
(Foto Florian Kalotay)
Claus SpahnJohannes Martin Kränzle
Zwischenspiel
Der Podcast des Opernhauses
Zweimal schon ist er in der Kritikerumfrage der «Opernwelt» als Sänger des Jahres ausgezeichnet worden, einmal erhielt er den Theaterpreis «Der Faust», und nicht nur wegen seiner Vielseitigkeit und Wandelbarkeit ist er ein äusserst gern gesehener Gast auf den Opernbühnen der Welt. Für die Wiederaufnahme von Donizettis «Don Pasquale» kommt Johannes Martin Kränzle zurück nach Zürich. Im Podcast erzählt er von seinem Leben und seiner Kariere.
10 Ein Porträt des englischen
Komponisten George Benjamin
16 Der Regisseur Evgeny Titov und der Dirigent Ilan Volkov
über ihre Sicht auf die Oper «Lessons in Love and Violence» von George Benjamin 26 Volker
Hagedorn hat den karibischen
Sopranstar Jeanine De Bique
getroffen 38 Unsere Debatte
«Wie toxisch ist das OpernReper toire?» setzen wir mit Beiträgen der zukünftigen Generation Opernschaffender fort
Ich sage es mal so – 4, Opernhaus aktuell – 6, Drei Fragen an Andreas Homoki – 7, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 9, Volker Hagedorn trifft … – 26, Der Fragebogen – 28, Wir haben einen Plan – 30, Auf dem Pult – 35, Kalendarium –
Ich sage es mal so
Stumme Antworten auf grundsätzliche Fragen – mit Björn Bürger, der in der Oper «Lessons in Love and Violence» den Gaveston singt.
Fotos Michael SieberBjörn Bürger
war vor einigen Wochen am Opernhaus Zürich in den konzertanten
Aufführungen von Léo Delibes Oper «Lakmé» zu erleben. Der deutsche Bariton war fünf Jahre im Ensemble der Oper Frankfurt. Seit 2019 gehört er zum Ensemble der Staatsoper Stuttgart.
Du spielst einen gewalttätigen Emporkömmling. Macht das Spass?
Du stehst am Gotthard wegen Klimaklebern im Stau. Bist du geduldig?
Die Figur, die du spielst, will Macht. Wie ist dein Verhältnis zur Macht?
Was ist der schönste Moment für einen Opernsänger?
Wie ging es dir, als du die Noten von «Lessons» zum ersten Mal gesehen hast?
Liederabend Sabine Devieilhe
Als Lakmé in drei konzertanten Aufführungen der gleichnamigen Oper von Léo Delibes riss Sabine Devieilhe im April das Zürcher Publikum zu Ovationen hin und wurde ihrem Ruf als exquisite Koloratursopranistin und eine der wandlungsfähigsten Interpretinnen unserer Zeit mehr als gerecht. Ehe sie diesen Sommer in der Neuinszenierung von Mozarts Le nozze di Figaro bei den Salzburger Festspielen als Susanna zu erleben sein wird, gibt sie einen Liederabend am Opernhaus Zürich. Begleitet von Mathieu Pordoy, unternimmt Sabine Devieilhe einen ausgedehnten Ausflug ins deutschsprachige Liedrepertoire. Auf dem Programm stehen Kompositionen von Alban Berg, Wolfgang Amadeus Mozart, Hugo Wolf und Richard Strauss.
Montag, 12 Jun, 19 Uhr
Opernhaus
Einführungsmatinee Turandot
Giacomo Puccinis Oper Turandot bietet reichlich Stoff für Diskussionen. Warum ist sie Fragment geblieben und in welcher Fassung soll man sie aufführen? Wie kann man sie auf die Bühne bringen, ohne China-Klischees zu bedienen? Worin genau liegt eigentlich die Popularität dieser grossen Chor-Oper? Über all diese Fragen diskutiert Dramaturg Claus Spahn in der nächsten Matinee mit dem künstlerischen Team unserer Turandot-Neuproduktion.
Sonntag, 4 Jun, 11.15 Uhr Bernhard Theater
Brunch-/Lunchkonzert
Nino Rota «Quintett»
Bekannt geworden ist Nino Rota mit Filmmusik-Kompositionen für so berühmte Kino-Hits wie Coppolas Der Pate oder Fellinis La strada. In unserem nächsten Brunch-/Lunchkonzert sind die kammermusikalischen Facetten des Komponisten zu entdecken, den man zuweilen als Maurice Ravel Italiens bezeichnet hat: Pamela Stahel (Flöte), Philipp Mahrenholz (Oboe), Karen Forster (Viola), Alexander Gropper (Violoncello) und Julie Palloc (Harfe) spielen Rotas Quintett aus dem Jahr 1935. In verschiedenen Formationen interpretieren sie ausserdem Trios von Arnold Bax und Harald Genzmer sowie ein Duo des argentinischen Komponisten Alberto Ginastera.
Brunchkonzert: Sonntag, 4 Jun, 11.15 Uhr
Lunchkonzert: Montag, 5 Jun, 12 Uhr Spiegelsaal
Opernhaus Jung
«Die chinesische Nachtigall»
Auf der Studiobühne bieten wir regelmässig Musikgeschichten für Kinder ab 7 Jahren in Begleitung von Erwachsenen an. Unsere jungen Gäste lernen dabei live gespielte Instrumente kennen, sie singen, tanzen und gestalten das Geschehen mit. Zum Abschluss der diesjährigen Musikgeschichten-Reihe zeigen wir mit Die chinesische Nachtigall ein Stück, das auf einem Märchen von Hans Christian Andersen basiert mit Musik von Igor Strawinsky: Eine echte und eine künstliche Nachtigall treten darin beim Kaiser von China auf. Zu den besonderen Highlights dieser Aufführung zählt ein Glöckchengarten, den die Kinder selber zum Klingen bringen dürfen.
Vorstellungen: 3, 4 Jun, jeweils 15.30 Uhr Studiobühne
Ballettgespräche
Zum Abschied von Christian Spuck und Katja Wünsche
Bevor er mit Beginn der neuen Saison die Intendanz des Staatsballetts Berlin übernehmen wird, ist Christian Spuck ein letztes Mal zu Gast im Ballettgespräch. Gemeinsam mit Ballettdramaturg Michael Küster und weiteren Gästen lässt er die elf Jahre seiner Direktion beim Ballett Zürich Revue passieren. Aufgrund der grossen Nachfrage findet dieses Ballettgespräch am 11. Juni im Bernhard Theater statt. Auch Katja Wünsche, seit 2012 Erste Solistin des Balletts Zürich, verabschiedet sich von ihrer Compagnie. Immer wieder beeindruckte sie das Publikum mit bewegenden Rollenporträts wie Julia, Anna Karenina, Marie in Woyzeck oder Solveig in Peer Gynt. Zum Ende dieser Saison beendet Katja Wünsche ihre Tanzkarriere. Im Ballettgespräch am 14. Mai blickt sie gemeinsam mit Michael Küster und Christian Spuck auf die Höhepunkte ihrer Laufbahn zurück.
Sonntag, 11 Jun, 11.15 Uhr
Bernhard Theater (Christian Spuck)
Sonntag, 14 Mai, 11.15 Uhr
Ballettsaal A (Katja Wünsche)
Zehn Jahre «Oper für alle»
Herr Homoki, am 17. Juni findet wieder «Oper für alle» statt. Welchen Stellenwert hat diese Open-AirVeranstaltung für das Opernhaus? In diesem Sommer haben wir ein Jubiläum – «Oper für alle» findet zum zehnten Mal statt. Als ich 2012 als Intendant in Zürich angefangen habe, war der Platz vor der Oper noch im Umbau, deshalb hat «Oper für alle» 2013 zum ersten Mal stattgefunden. Für uns hat diese Veranstaltung einen sehr hohen Stellenwert, weil sie zeigt, dass die Kunstform Oper populär ist und breite Schichten der Bevölkerung begeistert. Jedes Jahr kommen mehr als 12’000 Menschen. Das sind Dimensionen, die kennt man sonst nur von Grossveranstaltungen aus dem Sport oder der Popmusik. Ich habe das Gefühl, dass «Oper für alle» nach zehn Jahren so selbstverständlich zum Kulturleben auf dem Platz vor dem Opernhaus gehört wie das Sechseläuten. Es freut uns natürlich, dass wir so eine Tradition begründen konnten.
Was muss zusammenkommen, damit «Oper für alle» ein Erfolg wird?
Gutes Wetter hilft. Obwohl die Veranstaltung selbst bei schlechtem Wetter funktioniert, weil dann die Leute in der Hoffnung kommen, von einem Regenschauer verschont zu bleiben. Das schafft positiven Zusammenhalt. Die sommerliche Abendstimmung am See, die lockere Picknick-Atmosphäre, grossartige Musik, packendes Theater – das ist einfach attraktiv. Ganz wichtig ist auch, dass die Künstlerinnen und Künstler am Ende der Vorstellung auf dem Balkon des Opernhauses erscheinen und sich dem Applaus des Publikums auf dem Platz stellen. Das stärkt den LiveCharakter: Die Hauptfigur, die gerade auf der Grossleinwand gestorben ist, steht jetzt im Kostüm auf dem Balkon und verbeugt sich. Natürlich wählen wir auch Titel aus, mit denen das Publikum etwas anfangen kann. Eine völlig unbe-
kannte Ausgrabung würden wir in diesem Format nicht präsentieren. Aber das heisst nicht, dass man nur Blockbuster spielen kann, es gibt inzwischen eine gewisse Neugier. In diesem Jahr steht Don Pasquale von Gaetano Donizetti auf dem Programm – ein charmantes, komödiantisches, nicht zu langes Stück. Ein alter Mann möchte nochmal ein junges Ding heiraten und blamiert sich. Das sehen die Leute immer gerne, zu allen Zeiten. Der Witz basiert auf den bewährten Konstellationen der Commedia dell’arte. Wir zeigen Don Pasquale in einer sehr schönen Inszenierung, mit einer attraktiven Besetzung. Ich bin sicher, das wird gut ankommen.
Sie sind gerade aus Paris zurück, wo Sie eine neue Carmen inszeniert haben. Was war das für eine Erfahrung? Eine sehr spannende. Ich habe die Carmen ja an der Opéra Comique gemacht, also an dem Theater, an dem 1875 die Uraufführung stattfand. Der besondere Ort sollte sich natürlich auch in unserer Produktion spiegeln. Wir haben die Oper mit französischen Kräften realisiert, was der Sprache und speziell den Dialogen sehr gutgetan hat. Das Orchester hat auf historischen Instrumenten gespielt, der Chor war vergleichsweise klein besetzt. Der Dirigent Louis Langrée hat sehr darauf geachtet, dass der Geist der Comique, also die Nähe zum Text und zum Schauspiel, die Durchhörbarkeit des Klangs und eine intime Balance zwischen Stimmen und Orchester gewahrt ist. In der nächsten Spielzeit kommt diese Carmen dann nach Zürich. Die Besetzung wird anders aussehen, Gianandrea Noseda steht am Dirigentenpult. Aber natürlich wollen wir diesen französischen Esprit szenisch wie musikalisch auch hier auf die Bühne bringen. Im Juni 2024 zeigen wir unsere neue Carmen dann bei «Oper für alle».
«Ein erstaunlicher Film über einen Pianisten, der erklärt, Beethoven hätte Musik ohne Angst komponiert.»
Die Presse
Die hohe Kunst des Verfolgens
Das Bühnenbild von The Cellist besteht aus zwei dunklen Wänden im Hintergrund, einem schwarzen Tanzboden und einer breiten, drehbaren Holzwand, die recht mittig auf der Bühne steht. Obwohl sie sich nur drehen kann, ist diese Wand manchmal total präsent und manchmal unsichtbar im Dunkeln. Doch so dunkel die Bühne auch wird: die Tänzerinnen und Tänzer sind immer gut zu sehen. Auch wenn sie wild tanzen, allein, zu zweit oder zu dritt, folgt ihnen doch wie von Geisterhand das Licht. Das ist für einmal keine technische Raffinesse, sondern die nicht wahrnehmbare aber deswegen umso grossartigere Leistung von fünf Beleuchterinnen und Beleuchtern, die in jeder Vorstellung als sogenannte Verfolger eingesetzt werden. Das Verfolgen von Personen auf der Bühne erfordert grosse Konzentration und ist beim Tanz eine hohe Kunst. Der Verfolger muss nicht nur mit dem Lichtkegel die Person treffen, er ist auch dafür zuständig, den Lichtkegel zu dimmen und ihn in der Grösse, der Farbe und der Schärfe einzustellen.
In The Cellist werden die Verfolger an vier verschiedenen Orten eingesetzt: Zwei über dem Kronleuchter im Zuschauerraum, in der sogenannten «Kuppel». Von dort kann man den vorderen Teil der Bühne sehen und beleuchten – weiter nach hinten auf der Bühne kommt man mit dem Lichtstrahl des Verfolgers nicht, weil das Bühnenportal im Weg ist. Weitere Verfolger sind in den obersten Logen links und rechts im Zuschauerraum. Hier kommt man zwar sowohl vorne auf die Bühne als auch bis zur Hinterbühne, doch leider kann man vom rechten Verfolger nur die linke Bühnenhälfte sehen und beleuchten, und vom linken nur die rechte. Deswegen braucht es noch einen fünften Verfolger, der für alle Positionen zuständig ist, die weder die Kuppel-, noch die Logenverfolger erreichen können.
Während der Beleuchtungsproben werden zur Szene passende Lichtstimmungen (englisch: «cues») erarbeitet und durchnummeriert. Dort wird dann auch festgelegt, ab wann ein Verfolger eingesetzt wird. Das kann z.B. dann sein, wenn das Bühnenbild möglichst dunkel, die Tänzer:innen jedoch in helles Licht getaucht sein sollen. Die Nummer des «cues» wird in der Partitur notiert. Kommt die entsprechende Stelle, gibt die Beleuchtungskapellmeisterin über Funk die Nummer durch. Der Verfolger muss dann selbst wissen, was er zu tun hat: Er oder sie muss mit dem Scheinwerfer das Ziel anvisieren, mit viel Fingerspitzengefühl das Licht hochdimmen, den Lichtkegel auf die richtige Grösse einstellen und die sich sehr schnell bewegende Tänzerin von Kopf bis Fuss einfangen. Verlässt die Tänzerin den Bereich des einen Verfolgers, muss ein anderer sie bereits fliessend übernommen haben, das heisst, dimmt der zweite Verfolger seinen Scheinwerfer hoch, muss der erste Verfolger seinen Scheinwerfer parallel herunterdimmen, damit die Helligkeit der angeleuchteten Person konstant bleibt. Gleiches gilt für das Treffen von zwei oder drei verfolgten Personen: Sobald sie auf der Bühne zusammenkommen und sich zu einem Ensemble vereinigen, verschmelzen auch die beiden Verfolger zu einem Lichtkegel und beide müssen die Helligkeit reduzieren, oder einer der beiden dimmt seinen Scheinwerfer aus. Das alles klingt schon komplex genug, doch richtig heftig wird es, wenn mehrere Personen über die ganze Bühnenbreite und -tiefe tanzen. Da brauchen auch die Verfolger viele Proben. Und wenn dann noch Dekorationen auf der Bühne stehen, die nicht vom Lichtkegel getroffen werden sollen, wird das Spiel der Lichtkegel zur ganz grossen Kunst. Unsere Verfolger beherrschen sie.
Ich liebe das Sonnenlicht und Klarheit in der Musik
Am Opernhaus Zürich wird mit «Lessons in Love and Violence» erstmals eine Oper von George Benjamin aufgeführt. Der 63-jährige Engländer gehört zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart und wird in diesem Jahr mit dem Ernst-von-Siemens-Preis ausgezeichnet, der als Nobelpreis der Musik gilt. Thomas Meyer stellt den Künstler vor, dessen Markenzeichen eine messerscharfe Genauigkeit im Ausdruck ist
Sechzehn Jahre alt war er, ein Teenager, allerdings hochbegabt, manchen galt er als musikalisches Wunderkind. «Mein Unterricht ist nicht mehr gut genug für dich», teilte ihm damals sein Lehrer mit – und deshalb flog er 1976 mit ihm nach Paris zum berühmten Kollegen Olivier Messiaen. Von da an reiste der junge Mann ein-, zweimal pro Monat von London über den Ärmelkanal. Bei Messiaen besuchte er die Kompositionsklasse am Conservatoire, bei dessen Frau Yvonne Loriod studierte er Klavier. Zwei Jahre später beendete er seine Pariser Studienzeit mit einer virtuosen Klaviersonate, die er natürlich selber uraufführte: George Benjamin.
Bei Messiaen haben zahlreiche der bedeutenden Komponistinnen und Komponisten studiert: Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, Betsy Jolas, Pierre Henry und Iannis Xenakis. Auch für Benjamin wurde er prägend: «Der Unterricht fand bei Messiaen zuhause statt. Die Zeit verging jeweils wie im Flug. Es war nichts Mystisches an ihm, sondern einfach eine unendliche Neugier und Liebe für die Musik. Er hat mein Hören verändert», erzählte Benjamin im Gespräch. Gemeinsam war den beiden die Liebe zur Farbe der Harmonien. Er selber war der Harmonik schon zugetan, bevor er zu Messiaen kam, aber das sei amateurhaft gewesen. «Messiaen erweiterte die Möglichkeiten und vermittelte mir zudem ein Wertgefüge: Jede Note muss genau ausgehört sein und muss sich verantworten lassen.» Man erkennt in der Klaviersonate durchaus, was er bei Messiaen gelernt hat, aber es klingt dennoch nicht nach Messiaen. Jeder Ton ist eigenständig durchhört. Messiaen bezeichnete ihn später als seinen Lieblingsschüler. Das wäre ein Ausweis, mit dem man stracks in eine Bilderbuchkarriere starten könnte. Und tatsächlich feierte Benjamin mit der Doppelbegabung als Komponist und Interpret, die bald durch das Dirigieren ergänzt wurde, früh Erfolge. Aber er war und ist auch ein Skeptiker, er misstraut den vorschnellen Lösungen. Zunächst studierte er in Cambridge bei Alexander Goehr weiter, der ihm die deutsche Tradition näherbrachte. Und langsam erst entstand ein Stück nach dem anderen, manchmal nur eines pro Jahr. Die Werkliste George Benjamins ist nicht lang, aber jedes Stück leuchtet darin wie ein geschliffener Solitär.
Zwei Regeln nämlich seien ihm wichtig, sagt er, und er gebe sie heute auch seinen Studenten weiter: Erstens, sich nicht zu wiederholen und zweitens: «clarity» –äusserste Klarheit. Diese Klarheit sei nicht kopflastig oder abgehoben, er wolle einfach, dass in seiner Musik, auch wenn sie zuweilen sehr dunkel klinge, die Strukturen hörbar blieben. «Diese Klarheit ist meine Obsession. Ich hasse graue, unartikulierte Texturen, und ich liebe das Sonnenlicht und die Klarheit in der Welt, ja es gibt sogar eine grausame Klarheit.» Seine Musik klingt komplex und doch völlig transparent –und durch Lichtmetaphern lässt sich so manches darin beschreiben. Manche Klänge wirken wie Sonnenstrahlen auf einem Klangmeer. Seine frühe Ensemblekomposition At First Light von 1982 ist denn auch von einem lichtdurchfluteten Gemälde William Tur ners inspiriert. Ein anderes Beispiel für diesen klaren Stil ist sein Klavierkonzert, das er schlicht als Duet for piano and orchestra bezeichnet. Schlicht ist auch die klangliche Disposition, bei der er sich nicht an der romantischen Tradition orientiert, sondern an Mozart. Die Orchesterbegleitung ist sparsam, der Klaviersatz geradezu linear. Wie ein Mozart-Konzert spricht die Musik ganz selbstverständlich zu uns. Benjamin staffelt den Klang im Raum. Alexander Goehr, der musikalische Sachverhalte einfach und präzis ausdrücken konnte, habe es auf fast naive Weise formuliert: «Mit der Musik sei es wie mit dem Zugfahren: Vorne bewegen sich die Dinge schneller als weiter weg und noch weiter weg, und dahinter scheint die unbewegliche Sonne.» Man kann die Entwicklungen, die zuweilen auf vielschichtige Weise vor sich gehen, genau verfolgen. So entsteht eine imaginative Musik, die nichts Intellektuelles an sich hat. «Selbst wenn ich komplex denke und wie im Ensemblestück Palimpsests acht, neun Schichten übereinanderlege, will ich keine Bouillabaisse. Die Klarheit verleiht der Musik Energie; die Harmonien und Polyphonien werden so deutlich. Das sei mein Job als Komponist.»
Diese Akribie aber bedeutet, dass er Musik nicht am Fliessband produzieren kann, sondern jedes Mal um neue Lösungen ringt. «Neu» nicht im Sinn eines Fortschritts.
Vielmehr ist jedes Stück für ihn ein «Neuanfang» – und das sei manchmal ziemlich hart. Nach At First Light geriet er in eine Krise, wie sie vielleicht für einen jungen und früh schon erfolgreichen Komponisten typisch ist. Eine wichtige Erfahrung, denn am Ende dieser ersten Schaffensperiode suchte er nach einer Neuorientierung, studierte nochmals am Pariser IRCAM, dem Forschungsinstitut für elektronische Musik, beschäftigte sich mit Computermusik, dirigierte viel, komponierte wenig, bis er anfangs der neunziger Jahre auf seinen weiteren Weg fand.
In diesen Jahren erwarb sich Benjamin eine eiserne Arbeitsdisziplin. Häufig ist er als Interpret unterwegs, vor allem als Dirigent und weiss deshalb um die Verführungskraft dieses Jobs. «Komponieren Sie!» war der lapidare Ratschlag, den ihm Pierre Boulez einst gab. Der Franzose wusste, wovon er sprach. Es ist so einfach, sich als Dirigent zu zerstreuen (was Boulez gerne tat). Benjamin griff den Rat auf. Mittlerweile hat er gelernt, sein Temperament zu lenken. So bereitet sich Benjamin oft lange auf eine Komposition vor, macht Tausende von Skizzen und schottet sich dann für längere Zeit fast völlig ab. Ohne diese Disziplin würde er wohl immer noch wie früher tagelang brütend und auf Inspiration wartend vor dem leeren Blatt Papier sitzen. Für grosse Werke zieht er sich monate-, ja jahrelang zurück, sagt alle Dirigate und weiteren Auftritte ab. Er lässt sich Zeit, ist ungemein selbstkritisch: es falle ihm nicht leicht zu komponieren. Mit Plan geht er vor, wahrt sich aber seine Freiheit. Gerade das ist eine seiner grossen Qualitäten: die Verbindung von Temperament und Konsequenz. Er geht sehr rational vor, im Vertrauen, dass sich das Irrationale von selber einstellt; denn seine Musik soll spontan bleiben. Sein Œuvre ist relativ schmal, an seiner Musik ist kein Gramm Fett. Wo andere Komponisten mit Klängen wuchern, reduziert Benjamin sie und schleift sie zu unerbittlicher Schärfe. Was nicht bedeutet, dass sich die Klänge nicht entfalten dürften. Mit zwei Bratschen etwa kann er ein ganzes Orchester imaginieren und eine Art «Superviola» schaffen. Die Palette an Farben ist ungemein reich. Wildes Drauflosbramarbasieren aber ist nicht seine Sache, der billige theatrale Effekt erst recht nicht.
Von da her erwartete man von ihm damals um die Jahrtausendwende nicht gerade, dass er einmal Opern schreiben würde, in denen ja alles etwas effektvoller und vielleicht auch gröber gestrickt wird als in reiner Instrumentalmusik. Eine Fehleinschätzung. George Benjamin war von klein auf begeistert vom Musiktheater. Wenn er als Kind die griechischen Sagen las, habe er sie sich in Opernszenen vorgestellt. In der Schule sammelte er erste Erfahrungen, indem er Musik zu Schauspielen schrieb und sie dirigierte. Die Texte stammten mal von Shakespeare, mal von Klassenkameraden. «Das Theater liegt mir im Blut, und in gewisser Weise kehre ich mit der Opernkomposition zu meinen Wurzeln zurück», sagte er. Diese Rückkehr war nicht so leicht, denn Benjamin strebte einen eigenen Zugang zu diesem Genre an, eine Unabhängigkeit von vergangenen ebenso wie gegenwärtigen Modellen.
«Ich traf zwar etliche Regisseure, Schriftsteller, Filmemacher und Dichter, aber es kam nie über ein paar Sitzungen hinaus.» Über zwanzig Jahre suchte Benjamin nach einem geeigneten Text, bis er dem englischen Dramatiker Martin Crimp begegnete. Mit ihm zusammen konnte er der Gattung nochmals auf den Grund gehen. Das erste Stück Into the Little Hill, uraufgeführt im Dezember 2006 in Paris, markiert einen wichtigen Schritt. Es verfolgt ein neuartiges Konzept und kehrt gleichzeitig zu den Anfängen des Musiktheaters zurück, zur «Rappresentazione» der Florentiner Camerata um 1600 beziehungsweise zur Favola in Musica Claudio Monteverdis. Denn in dieser lyrischen Erzählung wird zuallererst eine Geschichte behandelt, die berühmte Sage des Rattenfängers von Hameln. «Der Pied Piper», der die Stadt zunächst von den Ratten befreit, nimmt, nachdem man ihm den Lohn verweigert, die Kinder mit. Das Stück erzählt von der Verführungskraft der Musik und formt die Sage auf berührende und eindringliche Weise um. Das geschieht mit einer Gradlinigkeit, die alle theoretischen Spekulationen über ein nicht-narratives, postdramatisches Theater beiseiteschiebt. Wir wissen zwar kaum, ob wir uns im Mittelalter oder in der Jetztzeit bewegen, aber die Handlung ist völlig klar. Nur zwei Sängerinnen, Sopran
«An seiner Musik ist kein Gramm Fett. Wo andere mit Klängen wuchern, reduziert Benjamin sie und schleift sie zu unerbittlicher Schärfe.»
und Alt, treten auf und erzählen die Geschichte, sie singen alle Rollen, die männlichen und die weiblichen und gemeinsam auch die Menschenmenge, sie spielen sie aber nur andeutungsweise. So entsteht keine eigentliche Aktionsoper, sondern eher ein oratorisches oder episches Theater. Das war ein Neubeginn.
Im folgenden hat Benjamin diese Methode zusammen mit Martin Crimp weiterund schliesslich vom epischen Theater weggeführt. Schon mit seiner nächsten Oper nämlich, die er wieder mit Martin Crimp entwarf, folgte er seiner Grundregel, sich nicht zu wiederholen. Hier handelt es sich um eine altprovenzalische Liebesgeschichte: Der Troubadour Guillem de Cabestany verliebt sich in die Frau seines Auftragsgebers und wird von diesem ermordet. Der Ehemann gibt seiner Frau das Herz ihres Geliebten zu essen; sie kostet es und findet, sie habe noch nie so etwas Gutes gegessen. Kurz darauf wird sie sich aus dem Fenster stürzen, während drei Engel sie mitleidlos betrachten. So grausam und kalt endet die Oper Written on Skin. Tatsächlich ist diese Musik auf die Haut geschrieben, ja in die Haut geritzt, in einer knapp und hart for mulierten Tonsprache, die immer wieder die alltägliche Gewalt aufblitzen lässt. Zentral dabei: Nicht nur jeder dramatische Moment ist genau gesetzt, sondern jede Note passt auf das Wort.
Eine Erneuerung folgte auch in der bislang jüngsten dritten Oper, die nun in Zürich gezeigt wird: Lessons in Love and Violence. Vergleichbar ist die historische Verortung im Mittelalter sowie die schneidende Nüchternheit der Darstellung. Es geht um den englischen König Edward II, der von 1284 bis 1327 lebte, sich in seinen Günstling Gaveston verliebte und ihm fast uneingeschränkte Macht gewährte. Gaveston wurde hingerichtet. Edward blieb im Amt, wurde erst später nach politischen Misserfolgen abgesetzt und im Kerker auf bestialische Weise ermordet, wie die Legenden spekulieren. Crimp und Benjamin rücken nicht die Homosexualität ins Zentrum, sondern die Frage nach Liebe, Macht und Grausamkeit. Liebe und Gewalt gehörten von je her zu den zentralen Motiven im Musiktheater. Hier wirken sie von Beginn weg ineinander, auf ungewöhnliche, intime, ja auch unangenehme Weise. Wo endet bedingungslose Liebe, wo beginnt Gewalt? Diese Lessons in Love and Violence sind von grosser Eindringlichkeit. Das liegt zum einen an der Stringenz der Handlung, die auf ungemein flexible und direkte Weise erzählt wird; zum anderen an der präzisen Zeichnung der Personen. Hinzu kommt die Musik Benjamins, die wiederum äusserst sparsam und klar gesetzt ist. In dieser Konzisheit trumpft das Orchester in den Zwischenspielen mit grosser Klangschönheit auf. Die Musik erzählt mit Wendigkeit und folgt den Emotionen. Sie ist spannungsgeladen wie ein Krimi. Und sie ist singbar. Er legt Wert darauf, dass sich die Sänger ohne Forcieren und vor allem ohne das ihm verhasste Vibrato gegen den Orchesterapparat durchsetzen können und dass dabei die Details hervortreten. «Für mich ist die melodische Erfindung essenziell», sagte Benjamin. Der Melodie wohne ein geradezu ethischer Impuls inne. «Die Stimme ist die Wurzel der Musik. In einer einzelnen Linie ist, auch wenn sie nicht gross ausholt, eine unendliche Vielfalt enthalten. Die Stimme steckt voller Geheimnisse.» Dabei vermeidet er die «Zickzackmelodien» so vieler zeitgenössischer Opern – wie er überhaupt den stilistischen Klischees der Neuen Musik aus dem Weg geht. Dieser Stil sei vorbei. «Mir geht es um die Integration von Stimme und Orchester, ohne etwas zu verdoppeln.» Er habe sich, wie so viele Komponisten, mit den Möglichkeiten der Stimme anfangs zu wenig ausgekannt: Mit der Formung der Vokale, dem Finden der Töne, den Akzenten und dem Atem, ja der ganzen sängerischen Psychologie. Demnächst steht in Aix-en-Provence eine neue Oper an: Picture a Day Like This. Es erzählt von einem schrecklichen Ereignis an einem ganz normalen Tag: Ein Säugling stirbt, und die Mutter macht sich auf die Suche nach einem Wunder, das ihm das Leben zurückgeben könnte. Dafür muss sie ein wirklich glückliches menschliches Wesen finden. Jede noch so vielversprechende Begegnung endet in einer Enttäuschung – bis sie auf die geheimnisvolle Zabelle trifft. Auch da geht es wieder um eine tiefe existenzielle Erfahrung, um Letztes.
«Die Stimme ist die Wurzel der Musik. Sie steckt voller Geheimnisse.»
Ringen um Lust und Macht
Die Oper «Lessons in Love and Violence» ist ein Königsdrama von shakespearehafter Wucht. Sie erzählt die Geschichte eines Königs, der sich in der Liebe zu einem Mann verliert und auf grausame Weise zu Fall kommt. Ein Gespräch mit dem Regisseur Evgeny Titov und dem Dirigenten Ilan Volkov über die zerstörerischen Energien obsessiver Liebe
Auf der Probe: Der König (Lauri Vasar, links) sehnt sich nach schönen Dingen, sein Günstling Gaveston (Björn Bürger) giert nach Herrschaft
Fotos Admill KuylerIn welchen Kosmos führt uns die Oper Lessons in Love and Violence?
Evgeny Titov: Der Stoff ist ein Königsdrama, dessen literarische Vorlage auf den englischen Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe zurückgeht. Marlowe hat ein Schauspiel über Edward II. geschrieben, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts über England herrschte. Ihm wurde die Liebe zu seinem Günstling Piers Gaveston zum Verhängnis. Edward II. vernachlässigte seine Regierungsgeschäfte, wurde abgesetzt und grausam ermordet. George Benjamin und sein Textautor Martin Crimp haben nun aus diesem Stoff eine Oper gemacht, die sich auf die vier Hauptfiguren konzentriert und deren innere Dramen offenlegt.
Wer sind die Hauptfiguren?
Titov: Das sind natürlich der König, der in der Oper nur als «King» vorkommt, also namenlos bleibt, und sein Geliebter Gaveston, mit dem er sich in eine Welt der Musik und der schönen Künste zurückgezogen hat, während das Volk hungert. Gegenspieler ist Mortimer, ein ehrgeiziger Politiker, der mit allen Mitteln an die Macht will, alles Schöngeistige verachtet und Gaveston und den König grausam zu Fall bringt. Und es gibt die Königin Isabel, die mit Edward II. zwei Kinder hat, die ebenfalls in der Oper auftauchen. Sie ist ihrem Gatten emotional zugetan trotz dessen Affäre, will den Nebenbuhler aber weghaben und schlägt sich auf die Seite Mortimers. Die vier Figuren sind geprägt von obsessiver Liebe, Machtgier, Triebhaftigkeit und Gewaltbereitschaft und treffen in ständig veränderten Konfliktkonstellationen aufeinander. Sie verbeissen sich regelrecht ineinander wie Tiere.
Der Stoff ist blutig. Gaveston wird ermordet, der König zu Tode gefoltert, am Ende ereilt auch Mortimer ein grausames Schicksal. Gleichzeitig hat der Komponist George Benjamin eine ungemein feinsinnige Art, Musik zu schreiben. Wie passt das zusammen?
Ilan Volkov: Christopher Marlowes Dramenvorlage ist ein Theaterspektakel, bei dem man sich gut vorstellen kann, welche grosse Wirkung es auf einer Bühne der Shakespeare-Zeit entfacht hat. Benjamin und Crimp aber haben alles äusserlich Spektakuläre der Vorlage eliminiert. Sie interessieren sich für die inneren Abgründe der Hauptfiguren, die wechselnden Energien von Anziehung und Abstossung, Liebe, Hass und Vernichtungswille. Die Oper besteht aus sieben Szenen, die wie fragmentarische Ausschnitte eines Ganzen erscheinen, das man als Zuschauer nicht wirklich überblickt. Es geht in der Oper nicht darum, dass eine spannende Handlung von Anfang bis Ende erzählt wird. Man hat den Eindruck, das Drama hat bereits begonnen, bevor sich der Vorhang hebt, und man wird vom ersten Moment an unmittelbar hineingeworfen in das Geschehen. Die Gewalttaten selbst stehen entweder unmittelbar bevor oder sind gerade geschehen. Es gibt Vorahnungen und Ängste über schreckliche Dinge, die sich ereignen werden oder bohrendes Nachsinnen über Furchtbares, das passiert ist. Aber die Musik stellt die Grausamkeit des Stoffes nicht aus. George Benjamin lässt kein Blut im Orchestergraben spritzen. Das interessiert ihn nicht, obwohl es durchaus zwei, drei kolossale Orchesterausbrüche gibt, in denen die Türen des Orchesterklangs weit aufgerissen und alle Register gezogen werden.
Ist Lessons in Love and Violence eine Oper über die Zerstörung einer schwulen Liebe?
Titov: Es gibt keine schwule Liebe. Es gibt nur Liebe. Die Liebe ist eine so starke, offene, existenzielle Energie, dass es uninteressant ist, ob sie schwul, heterosexuell oder sonstwie ist.
Ich habe die Frage gestellt, weil es für die Entstehungszeit des Marlowe-Dramas im 16. Jahrhundert sehr aussergewöhnlich ist, dass eine Liebe zwischen zwei Männern thematisiert wird.
Titov: Ich finde, in George Benjamins Oper steht das nicht im Vordergrund. Es geht um die Macht und die Gefährlichkeit von Liebe generell. Wie weit kann sie gehen? Welche zerstörerischen Ausmasse kann sie annehmen? Die Oper blickt in die dunklen Abgründe entfesselter Liebe.
Wie tut sie das musikalisch?
Volkov: Benjamins Art zu schreiben entwickelt einen eminenten Sog, weil in der Musik alles sehr dicht miteinander verwoben ist. Aus einem motivischen Nukleus von zwei, drei Noten erwachsen ganze Szenen. Charakteristische Rhythmen sind, wenn sie sich einmal in Gang gesetzt haben, nicht mehr zu stoppen. Immerzu spinnt die Musik auf obsessive Weise Ideen fort und wendet sie um und um. Die Har monik ist superraffiniert, variantenreich und farbig, und die Singstimmen sind organisch in sie eingebunden. Alles ist präzise auf den Punkt geschrieben, und alles hängt mit allem zusammen. Zwischen den Szenen erklingen Orchesterzwischenspiele, in denen das Geschehene musikalisch nachhallt und kommentiert wird. Die Partitur ist in ihrer Konsequenz wie sinfonische Musik gebaut. Sie erinnert mich in dieser Hinsicht an Alban Bergs Wozzeck, in dem ja auch jede Szene und jeder Akt in eine sinfonische Form gekleidet ist.
Ich erkenne in der Fähigkeit, Unaussprechliches in Töne zu fassen, auch eine gewisse Nähe zu Claude Debussys Pelléas et Mélisande.
Volkov: Das nehme ich auch so wahr. Obwohl Benjamins Personalstil unverwechselbar ist, glaubt man immer wieder Referenzen zu hören, beispielsweise auch zu englischer Musik des 17. Jahrhunderts. Wie er Gesangsensembles schichtet und dabei alle Singenden in ihrer jeweils eigenen Gefühlswelt eingesponnen sind, hat wiederum etwas von Giuseppe Verdi. Er hat das eben alles sehr genau studiert und reflektiert.
Aus George Benjamins Musik spricht also ein Bekenntnis zur Tradition. Das ist für Gegenwartskomponisten lange Zeit nicht selbstverständlich gewesen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es in der zeitgenössischen Musik verpönt, sich auf die Tradition zu berufen. Da musste das Neue auch durch neues kompositorisches Material bezeugt werden.
Volkov: Benjamin macht nichts Neues im Hinblick auf Kompositionstechniken und das kompositorische Material wie etwa Helmut Lachenmann, der Geräusche in sein Komponieren integriert hat. In dieser Hinsicht schreibt er traditionell, wenn man das so bezeichnen will. Aber er findet trotzdem zu einem musikalischen Ton, wie man ihn noch nie gehört hat. Er entwickelt Modernität von innen heraus und schafft dadurch Neues. Seine Harmonik etwa arbeitet mit zwölf Tönen, verwendet also keine Mikrotonalität oder Ähnliches, und ist trotzdem abenteuerlich und voll von neuen überraschenden Verbindungen. Gerade die Harmonik trägt stark zur dramatischen Qualität in den Opern bei.
Titov: Ich finde toll an der Musik, wie sie die emotionalen Ausnahmezustände der Figuren offenlegt. Sie ist eben nicht nur feinsinnig. Sie ist auch krass, verrückt, sinnlich, voll von «love and violence». Denn die Ausnahmezustände der Figuren sind wirklich extrem. Der König etwa ist völlig vereinnahmt von seiner Liebe zu Gaveston, muss aber regieren und Entscheidungen zum Wohl seines Volkes treffen, was er nicht tut. Gleichzeitig ist diese Liebe nur ein Teil seiner inneren Disposition. Mir kommt er so übersensibel, empfindsam und verletzlich vor, dass er zu einem normalen Königsleben gar nicht fähig wäre. Er hat keine Schutzhaut gegenüber der Welt. Er gibt sich der Poesie, der Musik und der Kunst hin, lebt in der völligen Überfeinerung aller Sinne und geniesst das Schöne bis zur Übersättigung. Das alles schwingt mit in dieser Figur. Hier wird nicht die Geschichte eines Herrschers erzählt, der sich in einen Mann verliebt hat und Probleme mit seiner eifersüchtigen, vernachlässigten Ehefrau kriegt. Die Figur ist viel, viel grösser.
Lessons in Love and Violence
Oper von
George Benjamin
Musikalische Leitung
Ilan Volkov
Inszenierung
Evgeny Titov
Bühnenbild
Rufus Didwiszus
Kostüme
Falk Bauer
Lichtgestaltung
Martin Gebhardt
Video
Tieni Burkhalter
Dramaturgie
Claus Spahn
König, Edward II
Lauri Vasar
Isabel
Jeanine De Bique
Gaveston/Fremdling
Björn Bürger
Mortimer
Mark Milhofer
Junge, späterer König
Edward III
Sunnyboy Dladla
Mädchen
Ivan Vlatković
Zeuge 1 / Sängerin 1 / Frau 1
Isabelle Haile
Zeuge 2 / Sängerin 2 / Frau 2
Josy Santos
Zeuge 3 / Irrer
Andrew Moore
Philharmonia Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Premiere 21 Mai 2023
Weitere Vorstellungen 25, 27 Mai;
2, 4, 8, 11 Juni 2023
Unterstützt von Mit freundlicher Unterstützung der René und Susanne
Braginsky Stiftung
Diese Sehnsucht des Königs nach einem Immermehr an sinnlichen Erfahrungen ist wie eine Wunde, die sich nie schliesst.
Was für ein Typ ist auf der anderen Seite Mortimer, der Gegenspieler des Königs, der nach der Macht greift?
Titov: Er ist der rationale Politiker, der Ordnung schaffen will, weil er sieht, dass die Welt im Chaos versinkt. In seinem allerersten Satz im Stück sagt er, dass nicht die Liebe zu einem Mann das Problem sei, sondern die Liebe an sich, sie sei das Gift. Sie stiftet das Unheil durch unkontrollierbare Gefühle. In meiner Vorstellung ist Mortimer einer, der das Dekadente radikal ausmerzen und letztlich eine neue Menschheit schaffen will. Das macht ihn so gefährlich und gewalttätig.
Die Oper spielt mit einem polemischen Gegensatz zwischen der luxuriösen Welt der Schönen Künste auf der einen Seite, in der sich die Königsfamilie bewegt, und der harten Wirklichkeit des Lebens auf der anderen Seite, in der das Volk unter der Tyrannei der Herrschenden leidet, und als deren Anwalt der Rationalist Mortimer erscheint. Sympathisieren Benjamin und Crimp mit einer der beiden Seiten?
Titov: Natürlich nicht. Das Stück urteilt nicht. Beide Konzepte scheitern. Beide sind zerstörerisch, pervertiert und führen in den Untergang.
Volkov: Die gegensätzlichen Welten, die du benennst, sind zwar musikalisch durchaus angelegt, aber die Partitur ist viel zu raffiniert für Eindeutigkeiten. In ihr durchdringen und konterkarieren sich die Ebenen und Gefühlssphären ständig. Es gibt ja beispielsweise auch die Situation des Theaters auf dem Theater im Stück wie in Shakespeares Hamlet, im Königshaus werden sogenannte «Entertainments», also Abendunterhaltungen, zur Aufführung gebracht. Das sind unheilvolle Allegorien.
Aber der Titel der Oper lautet Lessons in Love and Violence. Welche Lektionen erteilt denn die Oper?
Titov: So einfach ist das nicht mit «Lektionen». Diese Oper will niemanden belehren. Das Theater ist kein Ort, der uns Antworten auf Fragen gibt. Wir erfahren nicht, wie wir uns zu verhalten haben. Was lehrt uns das Drama von Medea, die ihre eigenen Kinder umgebracht hat? Die eigenen Kinder umbringen!? Gibt es etwas Grausameres? Und trotzdem kann es sein, dass wir auf der Seite dieser antiken Heldin stehen. Im Theater machen wir Erfahrungen. Theater lässt uns in die Abgründe des Menschen schauen. Es führt uns an die dunklen Orte der Triebe, des Irrationalen und des Unbewussten. Das spüre ich auch stark in dieser Oper. Sie hat eine antikische Wucht. Mir ist bei der Vorbereitung auch aufgefallen, dass sich die sieben Szenen der Oper auch auf die sieben biblischen Todsünden der Menschen beziehen lassen, auf Wollust, Neid, Völlerei, Hochmut usw. Ich weiss nicht, ob das von Crimp und Benjamin intendiert ist, aber mir steht dieser Zusammenhang ganz klar vor Augen.
Die Szenen der Oper haben in ihrer Grundkonstellation ein ums andere Mal demonstrativen Charakter. Mortimer wird vom König in der ersten Szene alles genommen, sein Rang, sein Besitz, sogar sein Name, er wird zum toten Mann erklärt. Später ist es umgekehrt: Mortimer zwingt den König dazu, ihm die Krone zu geben. In der fünften Szene wiederum wollen Mortimer und Isabel den Königssohn dazu nötigen, Macht auszuüben. Er soll einen Wahnsinnigen töten, der behauptet, er sei der König. Die Figuren sind es, die brutale Lektionen lernen müssen.
Titov: Ja, aber das Stück ist nicht ordentlich nach Lektionen aufgebaut. OpferTäter-Beziehungen kehren sich andauernd um. Gerade hat einer auf Knien gefleht, im nächsten Moment fletscht er die Zähne. Zärtlichkeit und Zuneigung schlagen
Probenszene oben: Die Zeugin 2 (Josy Santos) und das aufgebrachte Volk treiben den König (Lauri Vasar, links) in die Enge
Probenszene unten: Der kalt rationale Politiker Mortimer (Mark Milhofer) bekämpft das Gift der Liebe
unvermittelt um in Gewalt und Sadismus. Auch in den erotischen Beziehungen geht es ständig um das Demütigen und Gedemütigtwerden und Schmerzlust. Das ist theatralisch natürlich ein Geschenk für die Regie.
Volkov: Auch die Musik lebt davon: Welche der verschiedenen Schichten, die in der Partitur angelegt sind, dominiert? Was ist oben, was unten? Da greift ständig eins ins andere. Und die musikalischen Motivebenen bleiben im Verlauf der Szenen immer präsent. Nichts verschwindet aus dem Stück. Auch auf der Ebene der Figuren: Der zwischen der dritten und vierten Szene getötete Gaveston beispielsweise kehrt in der sechsten Szene als Todesfigur des «Strangers», des Fremden, wieder zurück.
Titov: Ich weiss nicht, ob es viele Stoffe gibt, die so dicht und dynamisch sind im plötzlichen Wechsel extremer Emotionen. Zuschlagen. Lieben. Zuschlagen. Ohne Erklärungen. Wenn es eine Lektion gibt, die wir aus dieser Oper lernen, dann ist es die, dass die Liebe die grausamste aller Energien ist, dass sie noch gewalttätiger als die Gewalt selbst ist.
In welchem Bühnenraum spielt man dieses Stück?
Titov: Die Materie, die behandelt wird, ist tief und existenziell. Ich möchte, dass sich das auch im Raum spiegelt. Er sollte die Offenheit haben, Unerklärliches und Nichtfassbares zu beherbergen. Und er muss die richtige Temperatur haben.
Was ist die richtige Temperatur?
Titov: Glühend heiss und frostig kalt.
Es gibt bisher nur eine szenische Realisierung von Lessons in Love and Violence, das war die Uraufführung vor fünf Jahren in London durch die Regisseurin Katie Mitchell. Bei ihr spielte das Stück in einem modern eingerichteten, realistischen Bühnenbild mit Wohnzimmer, Schlafzimmer und edlen Vitrinen.
Titov: Katie Mitchell und ihre Bühnenbildnerin Vicki Mortimer haben bei der Uraufführung einen möglichen Weg aufgezeigt. Wir aber wollten hier in Zürich bei der zweiten szenischen Realisierung in eine andere Richtung gehen. Wir haben nach einer Bühne gesucht, die das Surreale der Situationen zum Ausdruck bringt, dem Wahnsinn, der dem Stück innewohnt, Raum gibt und Platz lässt für Einsamkeitsabgründe der Figuren.
Hat der Bühnenbildner Rufus Didwiszus den Raum gebaut, den du dir vorgestellt hast?
Titov: Ja.
Das Gespräch führte Claus Spahn
Foto vorige Seite: Königin Isabel (Jeanine De Bique) lädt zu einer Theateraufführung
oben links: Regisseur Evgeny Titov bei der Probenarbeit
oben rechts: Stanislav Hnat und Flavio Papaleo von der Statisterie spielen eine stumme Allegorie
unten:
Der König (Lauri Vasar, rechts) demütigt Mortimer (Mark Milhofer)
Jeanine De Bique
Jeanine De Bique ist seit einigen Jahren unterwegs zur ganz grossen internationalen Opern-Karriere. Sie singt an renommierten Bühnen von Paris bis Wien und bei den Festspielen in Salzburg und Aix-en-Provence. Am Opernhaus Zürich gibt die Sopranistin aus Trinidad und Tobago nun ihr Hausdebüt: Sie ist die Königin Isabel in George Benjamins zeitgenössischer Oper «Lessons in Love and Violence».
«Können Sie mich verstehen?» Jeanine De Bique sitzt im Tram, auf dem Weg zur Probebühne. Es wird diesmal ein road movie, per Zoom und per WhatsApp, improvisiert und in geweiteter Perspektive, vom spätmittelalterlichen England des Edward II. bis in die Karibik, die Insel Trinidad, auf der Jeanine gross wurde und sich wohl allerlei träumen liess, aber nicht, dass sie mal in einem Zürcher Tram in ein Smartphone blicken und über Isabel reden würde, die Gattin des schwulen Königs Edward, in deren Rolle sie sich für Lessons in Love and Violence gerade hineinarbeitet. «Ich weiss nicht, wie es ist, eine Königin zu sein,» meint sie, während Hausfassaden hinter der Scheibe vorbeiziehen, «ich weiss auch nicht, wie es ist, reich zu sein. Aber ich weiss, wie es ist, an etwas festzuhalten, woran ich sehr hart gearbeitet habe. Isabel hat viel zu verlieren, das ist für mich ein guter Ausgangspunkt, um in die Rolle einzutauchen.»
Und damit ist Jeanine eigentlich schon bei sich selbst, denn sie hat sehr viel erkämpft und gewonnen, seit sie und andere ihre Stimme entdeckten, auf jener Insel im karibischen Meer vor Venezuela, die nicht gerade zu den gängigen Startorten für Opernkarrieren zählt. Längst wird die Sopranistin hoch gehandelt, sie sang bei den Londoner Proms und in der New Yorker Carnegie Hall, wurde bei den Salzburger Festspielen als Annio in Mozarts Titus gefeiert und als Händels Alcina in der Pariser Oper, an die sie kürzlich als Susanna in Mozarts Le nozze di Figaro zurückkehrte. Das werden die Fahrgäste in der Tram kaum vermuten – sie sehen eine lässig gekleidete junge Frau, die so unbekümmert plaudert, als sässe sie mit mir in der Opernkantine, und mit gewissen Vorurteilen gegenüber der Karibik aufräumt, ehe sie überhaupt zum Vorschein kommen können. Zum Beispiel sei es nicht so, dass man dort nur dem Calypso fröne, dem synkopischen, tanzbaren Gesang, den sie natürlich auch beherrscht.
Sie ist, wie nicht wenige im Zweiinselstaat Trinidad und Tobago, als Christin mit dem anglikanischen Gesangbuch aufgewachsen, das die Briten, Kolonialherrscher bis 1958, mitbrachten, und in dem wiederum finden sich etliche Choräle von J.S.Bach. «Anfang dieses Monats sang ich meine erste Matthäuspassion, in Rotterdam, und fand da so viele Melodien, die ich schon als Baby kannte», sagt sie lachend, «nur mit anderem Text. In meinem Land gibt es so viel Musik, alles dreht sich darum, auch Chorvereine sind eine grosse Sache.» Dazu kam, dass ihre alleinerziehende Mutter, eine Botanikerin, Gitarre und Klavier spielte. «Wenn man so von Musik umgeben ist, müssten eigentlich alle Musiker werden, aber die eine meiner Schwestern wurde Ärztin, die andere Physiotherapeutin». Inzwischen ist sie dem Tram entstiegen, macht sich singend mit ein paar improvisierten Calypsotakten Luft, lacht und gesteht, dass sie als Jugendliche keineswegs Opernarien hörte (ohnehin hielt sich der karibische Sender, der auch Klassik spielte, nicht lange), sondern am liebsten die Kassette mit Barbara Streisands Broadway Album von 1985, «ich wusste gar nicht, was Broadway ist, kannte aber alle Lieder und Texte.» Und sie lernte Klavierspielen, das war auch eine ihrer Berufsoptionen neben Psychologin und Rechtsanwältin.
«Ich wusste nicht, was ich wollte – nur, dass ich die Pflicht hatte, sehr gut zu sein, wenigstens so gut wie möglich.» Derweil fiel beim Chorsingen ihre Stimme auf, sie sang auch solistisch, «vieles fiel mir leicht. Als ich sechzehn war, fragte mich die Gesangslehrerin an der Secondary School, ob ich nicht Privatstunden nehmen wollte, um an einem regionalen Wettbewerb teilzunehmen.» Sie hatte Erfolg. Was Oper ist, wusste sie da immer noch nicht richtig, aber Gesang sollte es sein, und für ein professionelles Studium musste sie die Insel verlassen – gen Norden, zur Manhattan School
of Music. Für den Flug, für die Unterkunft musste erstmal Geld gesammelt werden, und sie brauchte ein Visum, es war eine völlig neue Welt, in die sie da geriet.
«Und es war anfangs keineswegs glanzvoll. Ich war mit 20 Jahren zwei Jahre älter als meine Kommilitonen, und ich hatte einen Akzent – natürlich bin ich mit Englisch aufgewachsen, aber wir benutzen andere Worte, und in New York klingt es wie ein Dialekt.» Hilda Harris wurde ihre Gesangslehrerin, eine afrikanischamerikanische Mezzosopranistin, und es war der Klavierbegleiter und Korrepetitor Warren Jones, der ihr zu ihrem ersten schulinternen Bühnenauftritt verhalf – eine Nebenrolle in Bernsteins Einakter Trouble in Tahiti – und ihre Liebe zu den Liedern Hugo Wolfs entflammte. Und Renée Fleming war es, der sie ihr allererstes LiveOpernerlebnis verdankte, mit 21 Jahren: Fleming gab 2007 ihr Rollendebüt als Violetta in La traviata an der MET.
Nun hat Jeanine die Probebühne in Zürich erreicht, meine Zoomverbindung bricht zusammen, macht nichts, wir wechseln zu WhatsApp, jetzt wird ihr Akku knapp, macht auch nichts. «This is hooorrible», singt sie fröhlich, dann höre ich sie zu einem Kollegen sagen: «Hast du ein Ladegerät?» Das passt alles ganz gut zu ihrem Leben im Transit, voller Übergänge und Ungewissheiten, aber auch voller Fäden, die nicht verloren werden, sondern neu verknüpft. Renée Fleming zum Beispiel hat später ihre junge Kollegin beraten, als die sich auf ihre Pariser Alcina vorbereitete. Aber an solche Engagements dachte Jeanine De Bique noch gar nicht, als sie 2008 einen ersten Preis bei den Young Concert Artists International Auditions errang und sich auf eine Karriere als Konzertsängerin einstellte. Bis das Theater Basel, auf Talentsuche in New York, sie nach einem Vorsingen einlud, für ein Jahr an der Nachwuchsförderung in Basel teilzunehmen. Mit Auftritten natürlich – zum Beispiel in Christoph Marthalers morbider Inszenierung der Grossherzogin von Gerolstein im Jahr 2010. Es folgte ein Jahr Wien, und es folgte immer mehr. Kopenhagen, Montpellier So schön das ist, kann es einen nicht auch aus der Kurve tragen? Überwältigen? Sie denkt nach. «Seit Basel hatte ich einen Agenten, mit dem ich planen konnte, der mein Guide wurde … War es überwältigend? Es war auch aufregend, und es konnte auch extrem einsam sein. Aber wirklich einsam ist man nie, es gibt so viel zu entdecken. In New York habe ich gelernt, mit allem Unvertrauten klarzukommen. Ich weiss aber noch, wie ich mich in Basel gefreut habe, ein Starbucks zu finden, das war vertraut. Und dann konnte ich mir die hot chocolate dort nicht leisten! Das war zum Weinen. Aber seitdem ist mein Leben epically different geworden», sie lacht wieder. «Als ich in Wien war, im Young Artist Program, hatte ich ein vision board, so eine Liste mit Zielen. Darauf stand: ‹Ich werde in der Oper Zürich auftreten›. Da bin ich nun. Das ist ein Wunder. Aber ob ich angekommen bin? I’m a solo female black traveller …»
Die Probe geht los, in der Pause meldet sie sich wieder. Ich möchte wissen, ob es sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich anfühlt, ein solo female black traveller zu sein. «Ich würde sagen, man muss überall die ganze Zeit aware and alert sein, bewusst und wachsam. Es gibt noch viel Arbeit zu tun in der Gesellschaft, auch wenn Fortschritte da sind. Leontine Price ist eine, die ich bewundere. Sie und andere African American stars wurden gross in einer Epoche, die sehr schwierig war. Sie haben für uns den Weg gebahnt als schwarze Sänger. Und ich wiederum erreiche über die social networks Leute, die nicht die Möglichkeit haben, in die Oper zu gehen, die gar keine Ahnung von Oper haben, aber die berührt sind von dem, was ich mache.» Ihr folgen auf Instagram fast 30’000 Fans. «Sie können sich identifizieren mit einer, die aussieht wie ich. Das ist mir wichtiger als das grösste Opernhaus.»
Von welcher Rolle träumt sie? Aus dem Pausentrubel hat sich Jeanine in ein schattiges Zimmer zurückgezogen, auf dem Bildschirm kann ich ihr Gesicht fast nur noch in Umrissen sehen, als sie mit gedämpfter Stimme sagt: «Desdemona.» Die traditionellerweise weisse Frau, die der traditionellerweise schwarze Otello aus Eifersucht erwürgt. Bei Jeanine De Bique könnte es sein, dass das mal ganz anders endet. «Ich will positive Änderungen bewirken mit allem, was ich tue.»
Lauri Vasar
Aus welcher Welt kommst du gerade? Ich habe im April bei den Festtagen der Berliner Staatsoper als Donner und Gunther in Richard Wagners Ring des Nibelungen auf der Bühne gestanden.
Du bist König Edward II. in der Oper Lessons in Love and Violence. Was heisst es, die Hauptrolle in einer zeitgenössischen Oper zu übernehmen? Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit! Ich habe mich zuhause in einer Zelle eingesperrt und Wochen darin verbracht. Raus durfte ich nur, um auf die Toilette zu gehen oder wenn der Hunger zu gross wurde.
Du kannst den Komponisten der Oper, George Benjamin, treffen. Was sagst du ihm?
Ich würde mich bei ihm für das unglaublich tolle Werk bedanken. Die Partitur ist einfach genial! Aber ein paar Fragen zu meiner Figur habe ich auch.
Welche Erinnerungen verbindest du mit Zürich?
Vor 12 Jahren habe ich am Opernhaus Zürich mit der Hauptrolle von Dmitri Schostakowitschs Die Nase debütiert. Eine legendäre Inszenierung von Peter Stein. Das war eine wunderschöne und sehr intensive Zeit! Die Zusammenarbeit mit dem Altmeister werde ich nie vergessen!
Woran merkt man, dass du in Estland geboren bist?
Wahrscheinlich an meinem charmanten estnischösterreichischen Akzent auf britisch.
Welches Bildungserlebnis hat dich besonders geprägt?
Ehrlich gesagt, hat meine Bildung schon mit meiner Geburt begonnen, denn ich bin in einer Theater und Musikerfamilie zur Welt gekommen. Ich habe meine ganze Kindheit an der estnischen Nationaloper verbracht, hab Geige
studiert, getanzt, Kinderlieder aufgenommen, Filme gedreht und bin schon mit sechs Jahren auf der Bühne gestanden. Das alles hat mich sehr geprägt und war quasi wie eine kontinuierliche Vorbereitung für meinen späteren Weg als Opernsänger.
Welchen überflüssigen Gegenstand in deiner Wohnung liebst du am meisten?
Bei mir findet man keine überflüssigen Gegenstände. Ich bin Sternzeichen Waage mit Aszendent Jungfrau.
Welches künstlerische Projekt, das dir viel bedeutet, bereitest du gerade vor? Die nächste Rolle, an der ich gerade arbeite: Es ist der Jochanaan in Salome von Richard Strauss.
Welches Buch würdest du niemals aus der Hand geben? Ganz eindeutig mag ich mich da nicht festlegen. Zurzeit bin ich total von Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens gefesselt.
Was muss passieren, damit die Welt in hundert Jahren noch existiert? Die Menschen müssen endlich aufhören so egozentrisch zu sein. Und sie müssen alle an einem Strang ziehen. Nur so können wir unseren wunderschönen Planeten retten!
Lauri Vasar singt den König in George Benjamins Oper «Lessons in Love and Violence». Der perfekt deutsch sprechende Bariton war in Linz, Hannover und an der Staatsoper in Hamburg im Festengagement und tritt in den grossen Partien seines Fachs von Wagner über Richard Strauss bis zu Aribert Reimanns «Lear» an den ersten Opernhäusern in Europa auf.
Demut
14. JULI – 2. SEPTEMBER 2023
PRETTY YENDE lässt Mahler in all seinen Facetten erstrahlen Sie ist eine der bemerkenswertesten Stimmen unserer Zeit. Zusammen mit Jaap VAN ZWEDEN und dem GSTAAD FESTIVAL ORCHESTRA interpretiert die südafrikanische Sopranistin am Samstag, 19. August, in Gstaad Mahlers zweite Sinfonie. Klangliche Höhepunkte sind garantiert! Sichern Sie sich die besten Plätze unter gstaadmenuhinfestival.ch – 033 748 81 82
Wir haben einen Plan
Plan
Die meisten unserer Produktionen werden irgendwann wiederaufgenommen, manchmal laufen sie über mehrere Spielzeiten. Damit das Maskenbild für Agathe und Ännchen aus dem «Freischütz» auch im dritten oder vierten Jahr nach der Premiere genau so wiederhergestellt werden kann, wie es die Kostümbildnerin Victoria Behr vorgesehen hatte, wird alles fotografiert. Dazu wird genau aufgeschrieben, welche Farbtöne für Makeup, Rouge, Lidschatten und Lippenstift verwendet wurden. Auch der zeitliche Ablauf wird genau festgehalten, angefangen vom Zeitpunkt, zu dem die Sängerin zum ersten Mal auftritt –daraus errechnet sich, wann sie in der Maske sein muss, um rechtzeitig für ihren ersten Auftritt fertig zu sein. Beim «Freischütz» ist es jedoch mit einem Maskentermin nicht getan, denn Agathe muss im Lauf der Vorstellung mehrmals die Perücke wechseln, zudem wird ein aufwändiger Kopfputz darauf befestigt; all das passiert, wenn es schnell gehen muss, auf der Seitenbühne, und auch dafür gibt es einen genauen Zeitplan. Wird der nicht eingehalten, verpasst Agathe ihren nächsten Auftritt.
Ein alter Herr will jung heiraten
«Don Pasquale» ist ein Opera buffa-Klassiker – witzig, turbulent, mit viel Herz. Christof Loy hat die Oper mit einem feinen Humor in Szene gesetzt.
Mit Julie Fuchs, Johannes Martin Kränzle u. a. Vorstellungen: 29 Mai; 1, 4, 10, 14, 17 Jun 2023
Mit freundlicher Unterstützung der Hans Imholz-Stiftung
Alle Infos zur Produktion
WAS SIE SCHON IMMER ÜBER DAS OPERNHAUS WISSEN WOLLTEN, ABER NIE ZU
So 20.08. «LA BARTOLI» SINGT HÄNDEL & VIVALDI
Il Pomo d’Oro | Maxim Emelyanychev | Cecilia Bartoli u.a.
Di 22.08.
RICHARD WAGNER «DAS RHEINGOLD»
Dresdner Festspielorchester | Concerto Köln | Kent Nagano
Simon Bailey | Mauro Peter | Gerhild Romberger | Annika Schlicht | Nadja Mchantaf | Daniel Schmutzhard | Thomas Ebenstein u.a.
Mo 04.09.
TICKETS AB CHF 30
HENRY PURCELL «THE FAIRY QUEEN»
Les Arts Florissants | William Christie | Mourad Merzouk | Solist*innen des «Jardin des Voix» 2023
Don Pasquale
Laurent Tinguely, Solotrompeter in der Philharmonia Zürich, über eine berühmte Stelle in Donizettis Oper
Der Arie von Ernesto im zweiten Akt geht ein grosses Trompetensolo voraus, das auch eine berühmte Probespielstelle ist. Sie ist technisch nicht schwierig, aber man muss sie mit Ausdruck spielen, die Phrasen richtig miteinander verbinden und eine Stimmung für die Szene erzeugen. Zu den Noten überlege ich mir die genaue Artikulation und sorgfältige Dynamik, um die musikalische Erzählung zu unterstützen. Es ist eine sehr melancholische Stelle, die umso überraschender erscheint, als Don Pasquale ja eigentlich eine Komödie ist. Donizetti hat diesen Effekt aber sicher bewusst provoziert, um die Vielschichtigkeit seiner Buffa zu betonen, die mehr sein soll als eine blosse Verwechslungskomödie. Die Situation, in der sich Ernesto befindet, ist durchaus ernst: Gerade eben wurde er von seinem Onkel Don Pasquale vor die Tür gesetzt und in die weite Welt geschickt. Ernesto, völlig niedergeschmettert, nimmt innerlich von seiner angebeteten Norina Abschied. Normalerweise verbindet der Hörer, die Hörerin gerade die Trompete nicht mit diesen Gefühlen. Zur Zeit von Donizetti wurde aber die chromatische Trompete erfunden, die es den Komponisten ermöglichte, sie auch als Melodieinstrument einzusetzen. Die noch bis Rossini verwendeten Naturtrompeten wurden vor allem im Tutti zusammen mit der Pauke verwendet und hatten meistens nur eine rhythmische oder harmonische Funktion mit einer militärischen Färbung. Jetzt aber geht die Trompete mitten ins Herz! Bestimmt hat sich auch Nino Rota für seine Filmmusik für Fellini davon inspirieren lassen. Ich spiele die Arie auf einer sogenannten PerinetTrompete französischer Bauart, die hell, schlank und leicht klingen soll. Ich gehe davon aus, dass sich Donizetti, dessen Don Pasquale ja in Paris uraufgeführt wurde, diese Farbe vorgestellt hat.
Laurent TinguelyLiebe im Milieu der Perlen
Georges Bizets Oper «Les Pêcheurs de perles» erzählt von grossen Gefühlen in einer unterdrückten Gesellschaft.
Mit Ekaterina Bakanova, Javier Camarena, Alexey Markov und Hubert Kowalczyk
Vorstellungen: 23, 25, 29 Jun; 5, 7, 9 Jul 2023
Was sagt die junge Generation?
In unserer Debatte um die Themen Diskriminierung, Rassismus und Vielfalt im Opern- und Ballettbetrieb haben wir in den vergangenen MAG-Ausgaben Regisseurinnen, Theaterverantwortliche, Expertinnen und Betroffene befragt. In dieser Folge kommt die zukünftige Generation Opernschaffender zu Wort.
In den Opernhäusern gibt es noch viel zu tun
Studentinnen
und Studenten der Fachbereiche Regie und Dramaturgie in Bern und Berlin äussern ihren Standpunkt zu struktureller Diskriminierung im Opernbetrieb
Misogynes Verhalten kostet Leben, das Patriarchat verhindert Chancengleichheit, Vergewaltigungen und andere Formen von Gewalt gehören zum unsichtbaren Alltag vieler, und die Stimmen von Minderheiten werden konsequent kleingehalten. Diese Realität lässt sich in Zahlen abbilden, in Studien zeigen, von Betroffenen schildern; sie hat sich als kollektives Trauma über Generationen eingeschrieben.
Im Opernrepertoire gibt es Geschichten (alte Geschichten!), die mit dieser Realität (heute!) zu tun haben. Die Gegenwart ist das Problem, und Oper sollte sich mit ihren Geschichten zu dieser Gegenwart verhalten. Oper sollte hinterfragen, verschiedene Perspektiven einnehmen und möglichst viele Menschen meinen. Sollte das gängige Repertoire das nicht erfüllen können, lohnt es sich, nach anderen Geschichten zu suchen – die gibt es. Der Debatte um die Oper und das Opernrepertoire fehlt es an Selbstverständlichkeit, sich zur Gegenwart verhalten zu wollen und diese ernst zu nehmen. Es braucht keinen Trend, keinen Wokeness-Begriff, keinen Blick für Toxizität, um einschätzen zu können, ob das, was man erzählt, Menschen diskriminiert, ausschliesst oder unnötig Gewalt reproduziert.
«Toxisch» ist ein sehr grosses Wort, und es ist schwierig, dieses Wort auf die Werke anzuwenden. Denn ein Werk wird oder wird nicht toxisch durch die Umsetzung und Interpretation des Teams, das sich mit diesem auseinandersetzt.
Ganz generell kann man sagen, dass die meisten im deutschsprachigen Raum gespielten Opern von «weissen, europäischen Männern» geschrieben und komponiert wurden, allein daher wird eine sehr männlich geprägte Sichtweise auf den Bühnen gezeigt. Auch am Opernhaus Zürich finde ich keine Komponistin unter den inszenierten Opern dieser Spielzeit.
Zugang zur klassischen Musik zu finden als für weisse Menschen»).
Daher ist toxisch vielleicht das falsche Wort, ich würde eher das Wort einseitig verwenden. 7:2 ist in dieser Spielzeit das Verhältnis von männlichgelesenen zu weiblichen-gelesenen Opernregisseur:innen in Zürich. Die musikalische Leitung kommt sogar auf 100% männlich-gelesene Menschen. Wie können wir es da schaffen, nicht nur männliche Weltbilder zu vermitteln?
In der Vergangenheit und auch heute noch wird dadurch ein Weltbild vermittelt, das von Männern gestaltet wurde. Die Wahrnehmungen, Konflikte, das Denken und Fühlen von beispielsweise Frauen oder anderen Geschlechtern und gesellschaftlichen Gruppen kommt auf den Opern- und Theaterbühnen quasi nicht vor (siehe den Beitrag auf neuedeutsche.org: «Es ist für BIPoC wesentlich schwieriger, in Deutschland
Dazu kommt, dass es, im Gegensatz zum Schauspiel, nicht so einfach ist, Opern entgegen der «Gender-Vorgaben» zu besetzen, denn es kommt noch die Stimmlage, die einer Rolle zugeschrieben wurde, hinzu. Auch ist es weitaus schwieriger zu kürzen. Im Schauspiel haben wir da häufig freie Hand, können kürzen, umschreiben und Fremdtexte hinzufügen, um den bestehenden Text zu kommentieren, Haltung zu beziehen und den Fokus eines Stücks zu verschieben – das ist in der Oper anders. Jeder Text hängt mit der Musik zusammen, die Interpretation eines Stücks ist dementsprechend komplizierter und das Streichen von diskriminierenden Textstellen nicht so einfach möglich. Das alles führt dazu, dass die Opern (jedenfalls die klassischen) im Licht der aktuellen Debatten (Sexismus, Rassismus, Diskriminierung jeglicher Art) schnell in der Kritik stehen. Ich denke, es ist an der Zeit, nicht-männlichen, nicht-weissen Sichtweisen mehr Raum zu geben und
«Misogynes Verhalten kostet Leben.»
gesellschaftliche Gruppen, die bis heute nicht oder nur selten einen Platz in bildungsbürgerlichen Kunsträumen bekommen, selbst zu Wort kommen zu lassen.
Nola Friedrich macht zurzeit ihren Master Expanded Theatre an der Hochschule der Künste Bern
Der Opernbetrieb muss sich immer wieder scharfen Vorwürfen stellen. Das Repertoire sei eingestaubt, der Betrieb träge, die Kunstform veraltet. Sicherlich haben all diese Vorwürfe einen Ursprung und eine Berechtigung, aber die Auseinandersetzung mit unserem relativ klar definierten Opernrepertoire bietet auch Chancen. Es gibt schliesslich einen Grund, warum diese Kunstform noch immer faszinierend ist. Eines ist klar: Auf der Opernbühne begegnen wir zurzeit den immer gleichen Narrativen in immer gleichen Stücken, die wir schon in zehn verschiedenen Interpretationen kennen, die besonders häufig von mittelalten weissen Männern inszeniert werden. Oft beschleicht mich bei diesen Inszenierungen das Gefühl, dass sich die Regie wenig für die tatsächliche Geschichte der Figuren interessiert. Im Inszenierungsprozess befindet man sich immer auch auf einer Gratwanderung: Reproduziert man altbackene Stereotype vom leidenden weiblichen Opfer auf der Opernbühne, von exotisierenden oder gar rassistischen Zuschreibungen? Oder nutzt man die Auseinandersetzung mit dem Stück dazu, fehlgeleitete Tendenzen zu entlarven, das Patriarchat auszustellen und toxische und fragile Männlichkeit auflaufen zu lassen? Ich bin gelangweilt (und genervt), wenn ich zum 100. Mal eine leidende Frau auf der Bühne sterben sehen muss oder tatsächlich noch jemand einen «hysterischen» Anfall inszeniert! Denn schliesslich thematisiert die Oper vielleicht gar nicht die Frau als alleiniges Opfer, sondern zeigt das Scheitern des Patriarchats anhand ihrer Geschichte auf.
Vielleicht könnte man sich vom heiteren Musiktheater eine Scheibe abschneiden – die Frauenfiguren in
manchen Operetten sind weitaus selbstbestimmter, freier und vielleicht auch vielschichtiger, sie müssen nicht unbedingt am Ende sterben oder anderen den Tod bringen, sondern können freier mit ihrer Identität und Sexualität umgehen. Natürlich liegt diese Freiheit auch in den Stoffen, aber auch im Umgang damit. Die Musik und der Text werden häufiger als Material betrachtet, mit dem man frei umgehen darf oder sogar muss, um das Stück überhaupt spielbar zu machen.
Ich würde mir wünschen, dass man sich neben der eingehenden Auseinandersetzung mit den Problematiken eines Stücks auch die Freiheit erlaubt, mit dem Werk als Material umzugehen. Schliesslich werden die Werke nur durch ihre Aufführung am Leben erhalten – und diese Aufführung gestalten wir heute, in unserer Gesellschaft, aus unserer Weltsicht.
schiedene Perspektiven berücksichtigen und sich mit echtem Interesse am Stück diesem nähern – um vielleicht auch gegen die Publikumserwartung an zu inszenieren. Inszenierungen haben die Aufgabe, sich all diesen uns bekannten Problemen zu stellen, sie zu bemerken, zu interpretieren und damit auch das Werk neu aus der Taufe zu heben. Mein Wunsch ist es, gegen veraltete Topoi anzugehen oder sie in ihrer ganzen Härte zu zeigen und damit zu entlarven, bei all den Herausforderungen aber nicht die Leichtigkeit und Freude am Stück und an der faszinierenden Form Oper zu verlieren. Ich wünsche mir, dass wir Regie nicht mehr als Alleinherrschaft, sondern als gemeinsame Entwicklung verstehen. Als künstlerischen Entstehungsprozess im Austausch mit vielen Perspektiven. Das ist in der Probenarbeit ja sowieso angelegt – Regie allein erweckt ein Werk nicht zum Leben, sondern ein ganzes Team tut es. Und natürlich wünsche ich mir, dass wir weiter neue Opern schreiben, die sich mit einem heutigen Blick den Themen widmen, die uns beschäftigen. Die darin vielleicht auch über Genre-Grenzen gehen und so neue Blickwinkel ermöglichen, tradierte Rollenverteilungen umkehren, Erwartungen an Stimmfächer aufheben.
Die Auseinandersetzung mit den immer gleichen Stücken bietet die Möglichkeit, toxische Aussagen zu entlarven und neue Perspektive aufzuzeigen. Alle denken, sie kennen die Zauberflöte in- und auswendig, aber den genauen Inhalt hat man vielleicht vor lauter Zauber-Märchenoper-Eindrücken verdrängt. Das erfordert auch den Einsatz von diverseren Regieteams, die ver-
Sicherlich hilft es, dass wir uns mittlerweile mit diesen Themen beschäftigen und sie Einzug auch in die Opernwelt erhalten haben. Das kritische Hinterfragen und der Wille zur Modernisierung der Kunst sind auch belebend. Ich finde es äusserst aufregend, sich den Problemen zu stellen und so die Oper am Leben zu erhalten. Schliesslich verhandeln wir noch immer Themen, die auch abgesehen von ihrem historischen Kontext für uns interessant und relevant sind – und es durch die Musik noch immer schaffen, uns zu bewegen.
Pia Syrbe studiert Produktionsdramaturgie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin«Gerade durch die Aspekte einer Oper, die Widerspruch hervorrufen und uns zwingen, eine Haltung einzunehmen, bleiben die Werke lebendig.»
Viele Stücke des gängigen Opernrepertoires sind zweifelsohne aus unserer heutigen Perspektive antifeministisch, rassistisch und heteronormativ. Im Falle nicht weniger Dauerrenner von Mozarts Zauberflöte über Verdis Otello und Aida bis zu Puccinis Madama Butterfly treffen sogar gleich mehrere der Problematiken zu – und trotzdem bin ich überzeugt davon, dass uns diese Stücke nach wie vor etwas angehen und auch in ihrer Unzeitgemässheit zeitgemäss auf die Bühne gebracht werden können. Gerade die Aspekte an einem Werk, die unseren Widerspruch provozieren und uns zwingen, eine Haltung ihnen gegenüber einzunehmen, halten dadurch ein Stück lebendig. Das Theater muss keine gesellschaftliche Utopie formulieren, unsere Realität widerspiegeln oder Konsens erzeugen, vielmehr sollte es uns die Möglichkeit geben, eben eine eigene Haltung den Dingen gegenüber zu entwickeln oder die bisherige zu hinterfragen. Sucht man eine Antwort, was heutzutage auf einer Bühne noch gezeigt werden kann, sollte man sich an dieser Maxime orientieren und szenische Lösungen entwickeln, die einen inhaltlichen Gehalt haben und auch spielerisch überzeugen.
Dabei halte ich für genauso wichtig, dass das Theater auch weiterhin Grenzen der Darstellbarkeit ausloten darf, um mit der Heftigkeit des Bühnengeschehens auf die Heftigkeit eines Stückes reagieren zu können. Dennoch sind diskriminierende oder stereotype Darstellungsweisen keine notwendigen Konsequenzen eines Stückes, sondern in den meisten Fällen Ergebnis einer unkreativen Regie oder falsch verstandenen Werktreue, die in beiden Fällen einer inhaltlichen Auseinandersetzung im Wege steht. Beispielweise haben nicht zuletzt die medienwirksamen BlackFacing-Skandale um die Arena di Verona in den letzten Jahren eindrücklich vor Augen geführt, wie sehr man in manchen Teilen des Opernbetriebes vom Erhalt der Flamme zur Anbetung der Asche übergegangen ist. Inzwischen sollte es selbstverständlich sein, Körperformen und Hautfarbe nicht mehr an bestimmte Klischeevorstellungen von
Rollendarstellung zu koppeln, sondern mit dem zu arbeiten, was Sänger:innen darstellerisch individuell mitbringen. Der Oper wünsche ich deshalb für ihre Zukunft auch weiterhin differenzierte und leidenschaftliche Diskussionen über Inhalte und einen Betrieb, in dem respektvoll und einvernehmlich im Bewusstsein der gesellschaftlichen Verantwortung der Theater geprobt und gearbeitet werden kann. Denn struktureller Rassismus, Sexismus und Machtmissbrauch sind reale Baustellen in unserer Gesellschaft, und die Frage, was wir auf einer Bühne zeigen beziehungsweise sehen möchten, muss unser Miteinander, mit dem wir Theater machen wollen, einbeziehen. Das, was hinter der Bühne geschieht, ist nicht minder wichtig als das, was auf ihr zu sehen ist.
Max Nattkämper studiert Regie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin
In welcher Welt wollen wir leben? Diese Frage mag auf den ersten Blick kitschig klingen, ist für mich allerdings die grundlegende Fragestellung bei der Beschäftigung mit «toxischem» Opernrepertoire. Träumen wir nicht alle von einer Gesellschaft, in der jede:r die gleichen Chancen hat und Wertschätzung erfährt, in der niemand aufgrund von Ethnie, Herkunft, Geschlecht und/oder Sexualität ausgegrenzt wird? Ich wünsche mir, dass sich diese Welt auf der Bühne spiegelt. Theater muss nicht immer eine moralische Anstalt sein, die ein Publikum erzieht, aber es sollte sich stets seiner gesellschaftlichen Kraft bewusst sein.
Bei nahezu allen Opern des klassischen Kernrepertoires sehe ich die Gefahr des «Toxischen». Denn alle diese Werke sind ein Konstrukt der Zeit, in der sie verfasst wurden, und die Gesellschaft hat sich seitdem glücklicherweise weiterentwickelt. So beispielsweise die Frauenfiguren, alle von Männern geschrieben, komponiert und rezipiert –alle mehr Männerfantasien als authentische Charaktere, wie sollte es anders sein. Ausserdem gibt es zahlreiche
andere Diskriminierungen, die in diesem Repertoire vorliegen: Allen voran Sexismus und Rassismus, aber auch andere stereotype und diffamierende Darstellungen. In der Oper sind die Frauen oft schwach und dankbar, die Männer dominant und stark, sowieso sind alle cisgeschlechtlich, heterosexuell, nicht behindert und weiss. Gibt es People of Color, werden diese meist exotisiert und ihre ethnische Identität als Alleinstellungsmerkmal ausgestellt, das sind klar rassistische Fremddarstellungen. All diese unterschiedlichen Ausgrenzungen schliessen von vornherein einen riesigen Teil der Gesellschaft aus, entsprechen
und entsprachen noch nie der Realität. Die Welt um die Häuser verändert sich stetig, und dieser Wandel sollte auch nicht mit dem Mantel an der Garderobe abgegeben werden. Durch die «Metoo»-Bewegung haben wir eine Sache schmerzlich gelernt: Viele Menschen streben nach Macht und benutzen diese, um sie zu missbrauchen. Wir haben leider sehen müssen: Wer auf der Bühne keine Grenzen kennt, beachtet sie oft auch in der Probe oder hinter der Bühne nicht. Es ist wohl eine der extremsten Erkenntnisse, dass wir als Menschen nicht zureichend zwischen unserer (kreativen) Arbeit und unserem Leben unterscheiden können.
Ich plädiere also dafür, die Debatten der Welt auch in die Oper zu lassen. Die Oper hat meiner Meinung nach so viele Jahrhunderte überdauert, weil sie urmenschliche Konflikte zeigt und uns Empathie lehrt: Wir begegnen dort Liebe, Hass, Eifersucht, Schmerz,
«Viele Opern schliessen einen riesigen Teil der Gesellschaft von vornherein aus.»
Tod, anderen menschlichen Abgründen und Konflikten, die für uns als Gesellschaft immer relevant und aktuell bleiben werden. Aber der ganze Ballast darum ist absolut zweitrangig, die Musik steht deutlich an zentraler Stelle –denn diese Musik kann etwas, was andere Kunst nicht kann: Uns in ihren Bann ziehen, unseren Körper im Konflikt anderer Figuren mitschwingen lassen, uns Ausnahmesituationen erleben lassen, ohne sie wirklich erleben zu müssen, und so als kulturtechnischer Ort Gesellschaft stützen. Die Opernfiguren befinden sich in solchen Extremsituationen, dass sie schon gar nicht mehr sprechen können, sondern singen müssen. Ich finde, man kann das klassische Repertoire durchaus als Steinbruch verwenden, denn auch ich möchte auf keinen Fall auf die fantastische Musik der Carmen, La bohème oder Zauberflöte und ihre ureigenen Grundkonflikte verzichten müssen –ich wünsche mir aber die Entschlackung der Stoffe und eine Aufführung, die die zeitlosen Konflikte extrahiert, versteht und den nicht mehr zeitgemässen Ballast mutig fallen lässt.
Arbeit — immer ist man damit konfrontiert, dass wir alle unterschiedlich sind, anders denken und sprechen, uns andere Dinge bewegen, wir von anderen Erfahrungen geprägt sind. Und genau dort sehe ich die Chance der Oper: Indem mir in der Kunst Geschichten von Menschen vermittelt werden, die anders sind als ich, lerne ich Empathie — ich begleite sie auf ihrem Weg, in ihrer Emotion und kann diese plötzlich nachvollziehen. Das ist der Kern friedlichen menschlichen Zusammenlebens: Unser Interesse füreinander.
Dagegen den Kampfbegriff der «Werktreue» zu setzen, empfinde ich als nicht zielführend, denn Theater sollte kein Museum, sondern ein Ort der kulturellen Praxis und wandelbar sein. Oper muss ein aktueller Ort, ein Schutzraum und für jede:n sein.
Und dann ist da noch die Sache mit der Empathie. Andere zu verstehen, ist wohl die grösste Aufgabe in unser aller Leben — in Partnerschaft, Familie,
Viele Menschen haben nicht das Privileg, sich aussuchen zu können, ob sie heute politisch sind oder nicht — aufgrund ihrer vermeintlichen Hautfarbe, ihrer gelesenen Geschlechtsidentität oder anderen Merkmalen werden sie immer als politisch wahrgenommen. Wenn die Oper weiter existieren will (was ich mir unbedingt wünsche!), muss sie sich dem Aussen öffnen, sich den aktuellen Debatten stellen und deren Erkenntnisse auch auf der Bühne verarbeiten. Denn wenn wir Dinge auf der Bühne nicht mehr reproduzieren, werden sie auch hinter / vor / um die Bühne herum schneller verschwinden. Wir müssen alle am gleichen Strang ziehen, Theatermacher:innen und Publikum, vor, hinter und auf der Bühne, und gemeinsam daran arbeiten, dass Oper kein Museum, sondern ein aktueller Raum bleibt, der die Gesellschaft in ihrer Komplexität spiegelt. Denn spätestens seit es Filmaufnahmen gibt, liegt der Wert ja sowieso nicht mehr darin, Stücke genauso «toxisch» darzustellen wie zu ihrer Entstehungszeit — der freie, aktuelle Umgang mit den Stücken muss nicht zum Regietheater führen, aber zu einem Theater von allen für alle. Denn so könnte die Oper als Kunstform sich immer wieder in neuer Gestalt zeigen, könnte unterschiedliche Gesellschaften weiter überdauern und uns alle mit ihrer unvergleichlichen Kraft immer wieder verzaubern und berühren.
Ich will von meiner Erfahrung als Regieassistentin bei einer Produktion von La forza del destino im Jahr 2019 erzählen. Die Produktion wurde von einem älteren, weissen Cis-Mann inszeniert. Im Rahmen des ersten Treffens mit der Kostümbildnerin startete bereits früh die Debatte, wie das Anders-Sein der Figur Don Alvaros gekennzeichnet werden soll. In der Originalgeschichte ist er eine Person of Color, doch der Sänger dieser Produktion war weiss. Der Regisseur äusserte die für ihn naheliegende Idee, sein Gesicht dunkel anzumalen und ihm langes schwarzes Haar aufzusetzen. Black-Facing nach aller Kunst. Um ihn davon abzuhalten, erzählte ich von der Tradition des BlackFacings in Minstrel-Shows und wie es dazu benutzt wurde, sich über Schwarze Menschen karikaturistisch lustig zu machen. Ich sprach über den Mangel an Selbstrepräsentation von People of Color auf der Bühne und über kulturelle Aneignung. Das Argument, das schliesslich zu einem Sinneswandel geführt hat, war der Ausblick auf den Vorwurf des Backlash in der Kritik.
Das zeigt mir zwei Dinge: Erstens, dass es zum Glück bereits einen Diskurs über das Thema gibt, der in der Rezeption von Inszenierungen eine Rolle spielt. Zweitens, dass es bei diesem Regisseur kein Verständnis für die soziopolitische Bedeutung von BlackFacing gab. Ein Phänomen, das ich hier nicht zum letzten Mal antraf. Weitere Stolperfallen, die sich u. a. auch durch Exotismus und klischeehafte Charakterisierung von Frauen auszeichnen, sind Opern wie Madama Butterfly, Lakmé oder Turandot. Die Bühnenkunst darf natürlich fordern, dass jede:r jede:n spielen darf. Dabei darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass marginalisierte Gruppen noch immer keine Chancengleichheit auf Jobs haben In unserer Produktion wäre die Lösung gewesen, entweder ein anderes Symbol für das Anderssein Don Alvaros zu finden, oder wirklich eine Person of Color zu engagieren. Man könnte hier natürlich argumentieren, dass Hautfarbe beim Casting keine Rolle spielen sollte. Doch wenn Hautfarbe zum blossen
«Der männliche Blick ist in allen Bereichen des Opernbetriebs immer noch vorherrschend.»
Make-up Konzept reduziert wird, verrennt man sich schnell in eine Doppelmoral. Denn in der Realität hat Hautfarbe konkrete strukturelle Konsequenzen. Die Idee der Frauenquote ist keine neue und wird bereits flächenübergreifend angewendet. Doch was ist mit Quoten für People of Color oder Menschen mit Migrationshintergrund?
Ein Denkanstoss, der von der Galeristin Anahita Sadighi aufgeworfen wird, denn noch bis vor kurzem belief sich die Quote in Leitungspositionen von Berliner Kulturbetrieben auf genau null Prozent. Man müsste die Strukturen der Betriebe selbst verändern, damit sich das Bühnengeschehen ändern kann. Einer der Vereine, der solche Änderungen vorantreibt, ist Pro-Quote-Bühne. Gegründet 2012, wurde er ins Leben gerufen mit der Forderung, eine 50% Quote von FLINTA* (also Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender) Personen an allen Theaterressorts zu erreichen.
Dass dies absolut notwendig ist, kann man an den folgenden Zahlen ablesen. Sehen wir uns eine Studie des Deutschen Kulturrats zur Genderaufteilung in Bühnenbetrieben aus dem Jahre 2014 an, eine aktuellere liegt momentan nicht vor. In der Intendanz machten Frauen damals einen Anteil von 22% aus, ebenso wie Dirigent:innen. Im Bereich der Regie war man 2014 bei 30%, obwohl durchschnittlich 66% der Regiestudierenden weiblich waren. Erst auf der Ebene der Regieassistenz befanden wir uns mit 51% in einem Gleichgewicht. Vorstände von Kunsthochschulen wurden bis 2014 nur zu 20% von Frauen besetzt. Es lässt sich hier also deutlich erkennen, dass Männer vorwiegend die Entscheidungsträger sind, sowohl was Ausbildungsstätten als auch die Produktion von Opern betrifft. Das Repertoire selbst besteht zu 7% aus Werken von Komponistinnen, bei Uraufführungen verdoppelt sich der Wert immerhin auf 15%. Durch diese Besetzung ist der männliche Blick in Komposition, Betriebsleitung und Inszenierung absolut vorherrschend. Es werden also Geschichten hauptsächlich von (weissen) Männern komponiert,
ausgewählt, dirigiert und inszeniert. Ich bestreite daher, dass die Oper die conditio humana angemessen widerspiegelt, wenn ihr jegliche Multiperspektivität in der Entstehung und Umsetzung fehlt. Die männliche Perspektive behauptet schon lange eine vermeintliche Allgemeingültigkeit für sich, die einfach nicht wahr ist. Deswegen plädiere ich für die Aneignung eines Paradigmas, in dem eine intersektional gedachte Diversität das Optimum darstellt und Opernwerke nicht mit Samthandschuhen angefasst werden, sondern einer radikalen Öffnung in Form und Inhalt unterzogen werden können. Denn Oper hat durch ihre musikalische Ebene die Fähigkeit, Affekte und Emotionen am unmittelbarsten zu übermitteln und zugänglich zu machen, und das soll sie auch weiterhin können und dürfen.
Nada Zimmermann studiert Regie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin
«Die Opern müssen in Form und Inhalt einer radikalen Öffnung unterzogen werden.»
Mai
1O Mi Serse
19.00 Oper von Georg Friedrich Händel Theater Winterthur
open space tanz
19.00 Tanz-Workshop für alle ab 16 Jahren Mittwochs
11 Do Orphée et Euridice
20.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
12 Fr Die Zauberflöte
19.00 Oper von Wolfgang Amadeus Mozart
Serse
19.00 Oper von Georg Friedrich Händel Theater Winterthur
13 Sa Familien-Workshop
The Cellist
14.30 ab 9 Jahren, Kinder in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
imprO-Opera
«Die Welt der Händel-Opern»
15.30 ab 7 Jahren, Kinder in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
Roméo et Juliette
19.00 Oper von Charles Gounod
Nachtkino: Romeo und Julia
23.00 Aufzeichnung des Balletts von Christian Spuck
14 So Ballettgespräch
11.15 Zu Themen aus der Welt des Tanzes Treffpunkt Billettkasse
Klavierquartette II
11.15 Brunchkonzert, Spiegelsaal
Orphée et Euridice
14.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
Serse
14.30 Oper von Georg Friedrich Händel Theater Winterthur
imprO-Opera
«Die
15.30 ab 7 Jahren, Kinder in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
The Cellist
20.00 Ballett von Cathy Marston
15 Mo
Klavierquartette II
12.00 Lunchkonzert, Spiegelsaal
Liederabend Aleksandra Kurzak und Roberto Alagna
19.30 Marek Ruszczyński, Klavier
16 Di open space stimme
19.00 Chor-Workshop für alle ab 16 Jahren Dienstags
17 Mi Serse
19.00 Oper von Georg Friedrich Händel Theater Winterthur
Die Zauberflöte
19.30 Oper von Wolfgang Amadeus Mozart
18 Do The Cellist
13.00 Ballett von Cathy Marston AMAG Volksvorstellung
Roméo et Juliette
19.30 Oper von Charles Gounod
19 Fr Orphée et Euridice
19.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
2O Sa The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
21 So
Lessons in Love and Violence
19.00 Oper von George Benjamin Premiere
23 Di Orphée et Euridice
19.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
25 Do Lessons in Love and Violence
19.00 Oper von George Benjamin
26 Fr Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
27 Sa Lessons in Love and Violence
20.00 Oper von George Benjamin
29 Mo Monteverdi
14.00 Ballett von Christian Spuck AMAG Volksvorstellung
Don Pasquale
20.00 Oper von Gaetano Donizetti
31 Mi Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
Welt der Händel-Opern»
1 Do Don Pasquale
19.00 Oper von Gaetano Donizetti
2 Fr Lessons in Love and Violence
19.00 Oper von George Benjamin
3 Sa Musikgeschichten
Die chinesische Nachtigall
15.30 Für Kinder ab 7 Jahren, in Begleitung von Erwachsenen Studiobühne
Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
4 So Nino Rota Quintett
11.15 Brunchkonzert Spiegelsaal
Einführungsmatinee
Turandot
11.15 Bernhard Theater
Don Pasquale
14.00 Oper von Gaetano Donizetti
Musikgeschichten
Die chinesische Nachtigall
15.30 Für Kinder ab 7 Jahren, in Begleitung von Erwachsenen Studiobühne
Lessons in Love and Violence
20.00 Oper von George Benjamin
5 Mo Nino Rota Quintett
12.00 Lunchkonzert Spiegelsaal
6 Di open space stimme
19.00 Chor-Workshop für alle ab 16 Jahren Dienstags
7 Mi open space tanz
19.00 Tanz-Workshop für alle ab 16 Jahren Mittwochs
8 Do Lessons in Love and Violence
20.00 Oper von George Benjamin
9 Fr Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
1O Sa Ballette entdecken The Cellist
14.30 Workshop für Kinder von 7 bis 12 Jahren Treffpunkt Billettkasse
Am Opernhaustag sind die Tickets ab 11.30 mit einer Ermässigung von 50% für die gleichentags stattfindende Opernoder Ballettvorstellung erhältlich.
Unterstützt von
Don Pasquale
19.00 Oper von Gaetano Donizetti
11 So Ballettgespräch
11.15 Zu Themen aus der Welt des Tanzes Bernhard Theater
Lessons in Love and Violence
14.00 Oper von George Benjamin AMAG Volksvorstellung
Monteverdi
20.00 Ballett von Christian Spuck
12 Mo Liederabend Sabine Devieilhe
19.00 Mathieu Pordoy, Klavier
14 Mi Don Pasquale
20.00 Oper von Gaetano Donizetti
15 Do The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
16 Fr The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
17 Sa oper für alle
18.00 Sechseläutenplatz
Don Pasquale
20.00 Oper von Gaetano Donizetti AMAG Volksvorstellung
18 So The Royal Consort
11.15 Brunchkonzert Spiegelsaal
Turandot
19.00 Oper von Giacomo Puccini Premiere
19 Mo The Royal Consort
12.00 Lunchkonzert Spiegelsaal
Brahms Dvořák
19.00 4. La Scintilla Konzert Riccardo Minasi, Musikalische Leitung
2O Di The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
21 Mi Turandot
20.00 Oper von Giacomo Puccini
22 Do The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
23 Fr Les Pêcheurs de perles
19.00 Oper von Georges Bizet
24 Sa Turandot
20.00 Oper von Giacomo Puccini
25 So Les Pêcheurs de perles
13.00 Oper von Georges Bizet
Monteverdi
19.30 Ballett von Christian Spuck
27 Di Turandot
19.00 Oper von Giacomo Puccini
28 Mi Der Freischütz
19.00 Oper von Carl Maria von Weber
29 Do Les Pêcheurs de perles
19.00 Oper von Georges Bizet
30 Fr Turandot
19.00 Oper von Giacomo Puccini
1 Sa Der Freischütz
19.00 Oper von Carl Maria von Weber AMAG Volksvorstellung
2
So
Ballettschule für das Opernhaus Zürich
11.00 Premiere AMAG Volksvorstellung
Berg Brahms
19.00 6. Philharmonisches Konzert Gianandrea Noseda, Musikalische Leitung
3 Mo Galakonzert
Internationales Opernstudio
19.00 AMAG Volksvorstellung
4 Di Turandot
19.00 Oper von Giacomo Puccini
open space stimme
19.00 Chor-Workshop für alle ab 16 Jahren Dienstags
# Look behind the mirror
19.30 Premiere Eine Produktion mit Sekundarschulklassen aus Zürich Studiobühne
5 Mi Les Pêcheurs de perles
19.00 Oper von Georges Bizet
# Look behind the mirror
19.30 Eine Produktion mit Sekundarschulklassen aus Zürich Studiobühne
6 Do Der Freischütz
19.00 Oper von Carl Maria von Weber
# Look behind the mirror
19.30 Eine Produktion mit Sekundarschulklassen aus Zürich Studiobühne
7 Fr Les Pêcheurs de perles
19.00 Oper von Georges Bizet
# Look behind the mirror
19.30 Eine Produktion mit Sekundarschulklassen aus Zürich Studiobühne
8 Sa «fussspurenXIX»
11.00 Premiere AMAG Volksvorstellung
Turandot
19.00 Oper von Giacomo Puccini
# Look behind the mirror
19.30 Eine Produktion mit Sekundarschulklassen aus Zürich Studiobühne
9 So Der Freischütz
13.00 Oper von Carl Maria von Weber
# Look behind the mirror
19.30 Eine Produktion mit Sekundarschulklassen aus Zürich Studiobühne
Les Pêcheurs de perles
20.00 Oper von Georges Bizet AMAG Volksvorstellung
Führungen
Führung Opernhaus
13, 20, 21, 27 Mai; 3, 10, 11, 18, 24, 25 Jun; 1, 2, 8, 9 Jul 2023
Guided Tour Opera House
13, 20, 27 Mai; 3, 11, 18, 25 Jun; 2, 8 Jul 2023
Familienführung
Mittwochnachmittags
17, 31 Mai; 14, 28 Jun; 5 Jul 2023
Führung Bühnentechnik
9, 30 Jun 2023
Führung Maskenbildnerei
13 Mai; 3 Jun, 1 Jul 2023
Führung Kostümabteilung
23 Mai 2023
Tickets für die Führungen sind im Vorverkauf erhältlich
Unter opernhaus.ch/fuer-alle gibt es Angebote für jeden Geldbeutel
Das Kalendarium mit Preisangaben finden Sie auf der Website
Impressum
Magazin des Opernhauses Zürich
Falkenstrasse 1, 8008 Zürich www.opernhaus.ch
T + 41 44 268 64 00
Intendant
Andreas Homoki
Generalmusikdirektor
Gianandrea Noseda
Ballettdirektor
Christian Spuck
Verantwortlich
Claus Spahn
Sabine Turner
Redaktion
Beate Breidenbach
Kathrin Brunner
Fabio Dietsche
Michael Küster
Claus Spahn
Gestaltung
Carole Bolli
Sandi Gazic
Fotografie
Florian Kalotay
Admill Kuyler
Danielle Liniger
Michael Sieber
Anzeigen
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Schriftkonzept und Logo
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Druck
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Illustrationen
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Atto primo
Clariant Foundation
Freunde der Oper Zürich
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Projektsponsoren
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Freunde des Balletts Zürich
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Hans Imholz-Stiftung
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Kühne-Stiftung
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Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung
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Swiss Re
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Alfons’ Blumenmarkt
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Ernst von Siemens Musikstiftung
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Förderinnen und Förderer
CORAL STUDIO SA
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Dr. Samuel Ehrhardt
Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG
Garmin Switzerland
Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen
Irith Rappaport
Richards Foundation
Luzius R. Sprüngli
Madlen und Thomas von Stockar
PENÉLOPE CRUZ
ein Film von EMANUELE CRIALESE