JEWGENI ONEGIN
PJOTR TSCHAIKOWSKI
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PJOTR TSCHAIKOWSKI (1840-1893)
Unterstützt von der Marion Mathys Stiftung
Ein Sommeridyll in der russischen Provinz. Man tut, was man an solchen Tagen eben so tut: Inmitten einer Ausflugsgesellschaft von Landleuten plaudert die ver witwete Gutsbesitzerin Larina mit der treuen Hausangestellten Filipjewna, der Amme ihrer Töchter Olga und Tatjana. Die beiden alten Frauen kochen Marmelade ein und erinnern sich: an vergangene Liebeshoffnungen und an die Gewöhnung an Enttäuschung. Larinas Töchter singen ein Lied; die lebenslustige Olga tanzt, ihre introvertierte Schwester Tatjana schmökert lieber in Romanen. Olgas Verlobter, der junge Poet Wladimir Lenski, erscheint und macht seiner Angebeteten auch heute Liebeserklärungen. Zusammen mit Lenski kommt auch ein Unbekannter, den Lenski als seinen Freund und Nachbarn vorstellt: Jewgeni Onegin. Tatjana verliebt sich auf den ersten Blick in ihn. Am Abend ist es um Tatjana geschehen. Sie gesteht ihrer Amme, dass sie verliebt ist, und schreibt Onegin einen flammenden Liebesbrief. Doch am nächsten Tag weist Onegin Tatjanas Offenbarung kühl zurück.
Ausgelassen feiert die Familie Larin Tatjanas Namenstag. Es wird getrunken und getanzt, der Franzose Triquet widmet Tatjana zur allgemeinen Freude ein Couplet. Nur Jewgeni Onegin kann sich nicht für das Fest begeistern. Er flirtet mit Lenskis Verlobter Olga. Als der eifersüchtige Lenski Onegin zur Rede stellt, eskaliert der Streit. Lenski fordert Onegin zum Duell, das in einer Katastrophe endet: Onegin tötet seinen Freund.
Nach Jahren ziellosen Reisens trifft Jewgeni Onegin in Sankt Petersburg auf einem Ball im Hause des Fürsten Gremin ein. Gremin ist seit zwei Jahren verheiratet – mit Tatjana. Nun plötzlich entdeckt Onegin seine Liebe zu Tatjana. Er fleht sie an, ihren Mann zu verlassen und mit ihm mitzukommen. Unter Tränen erinnern sich beide jenes Sommers auf dem Lande. Tatjana, die Onegin einst zurückgewiesen hatte, weist nun Onegin ab: Es ist unwiderruflich zu spät. Sie ist verheiratet, und Onegins Schicksal ist nicht mehr mit dem ihren verbunden...
Ein Gespräch mit Regisseur Barrie Kosky über seine Kindheit mit Tschaikowski, verpasste Chancen und Marmelade
Barrie Kosky, Sie haben einmal gesagt, Sie seien «Tschaikowski-Freak». Was verbindet Sie mit diesem Komponisten?
Mein russischer Grossvater starb, als mein Vater noch sehr jung war, ich kannte also meinen Grossvater nicht. Aber er hinterliess mir seine Schallplattensammlung. Mehr als die Hälfte dieser Schallplatten waren Einspielungen mit Musik von Tschaikowski, neben sehr vielen Aufnahmen der Sinfonien auch Jewgeni Onegin, Pique Dame und Nussknacker. Als ich ungefähr fünf oder sechs Jahre alt war, hörte ich zum ersten Mal den Nussknacker und führte ihn anschliessend immer wieder zusammen mit meiner Schwester als Tanztheater auf. Besonders der arabische und der chinesische Tanz hatten mich tief beeindruckt. Als ich ein bisschen älter war, hörte ich die Vierte und Fünfte Sinfonie, und mit etwa 14 dann zum ersten Mal Onegin. Tschaikowski war ein grosser und wichtiger Teil meiner Kindheit.
Und obwohl dieser Komponist so wichtig für Sie war, inszenieren Sie mit dem Jewgeni Onegin nun zum ersten Mal in Ihrer Karriere eine Oper von Tschaikowski...
Ich habe es mir immer gewünscht, Onegin, Pique Dame oder Mazeppa zu inszenieren, aber entweder kam das entsprechende Angebot nicht, oder ich war gerade nicht frei.
Was fasziniert Sie an Jewgeni Onegin?
Jewgeni Onegin gehört zu einer kleinen Gruppe von Opern, in denen man keinen einzigen Takt ändern möchte, weil nichts überflüssig oder unverständlich erscheint. Bei dieser Oper habe ich das Gefühl: Das Stück kann nur so sein und nicht anders! Das liegt zum einen am Zusammenspiel von Text und
Musik – die Geschichte, die Psychologie, die Musik, alles ist unglaublich perfekt kombiniert. Man denkt ja oft, Tschaikowski habe sich mit Tatjana identifiziert. Das hat er zweifellos getan, aber genauso hat er sich mit Onegin identifiziert. In der Musik spüre ich eine tiefe autobiografische Verbindung des Komponisten mit beiden Figuren – the loved and the not loved. Tschaikowski hat diese Oper nicht nur komponiert, er hat sie gelebt. Während der Arbeit am Onegin hat er seine ehemalige Schülerin Antonina Miljukowa geheiratet, nachdem sie ihm einige Liebesbriefe geschrieben hatte; nach drei Monaten trennte er sich wieder von ihr, weil er es einfach nicht mehr aushielt. Aber es geht hier nicht nur um die Homosexualität des Komponisten, es geht vor allem auch um seine Einsamkeit, um sein geradezu klaustrophobisches Gefühl innerhalb der Gesellschaft, die Sehnsucht nach Liebe und die Unmöglichkeit, sie zu finden. «Lyrische Szenen» hat Tschaikowski sein Stück genannt, nicht einfach Oper – ein grossartiger, absolut passender Titel. Sowohl Tatjana als auch Onegin sind sehr komplexe Figuren von grosser Tiefe und vor allem voller Menschlichkeit. Ich bin immer sehr berührt von diesem Stück; egal, ob es eine furchtbare Inszenierung ist oder ob schlecht gesungen wird, am Schluss bin ich immer in Tränen aufgelöst.
Viele Zeitgenossen kritisierten Tschaikowski, weil sein Onegin angeblich wenig bühnenwirksam sei. Und Tschaikowski selbst schrieb an seinen Freund und Kollegen Sergej Tanejew, er habe ja «bekanntermassen keine szenische Ader». Wie sehen Sie das? Den Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde den Onegin total bühnenwirksam. Natürlich gibt es keine spektakulären Szenen wie beispielsweise im Barocktheater, auch keine Kriegsszenen und keine Opernklischees, wie man sie im 19. Jahrhundert liebte. Man muss das auch im Zusammenhang sehen mit der Entwicklung im Sprechtheater bei Ibsen und Strindberg: Es findet eine Verinnerlichung des Dramas statt. Und das Drama im Onegin entsteht durch den Clash der Emotionen. Es ist ein unglaubliches Emotionsgewitter, das wir hier erleben!
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In einem Portrait über Sie habe ich gelesen, die Arbeit an einer neuen Inszenierung beginne für Sie immer mit einem Bild. Was für ein Bild war das bei der Konzeption von Onegin? Ich hatte immer das Gefühl, dass man die Figuren in einer Landschaft sehen muss. Das war der Ausgangspunkt, von dem aus wir dann zu dieser Welt aus Gras und Bäumen kamen. Wichtiger war aber vielleicht noch das Einmachglas. Im ersten Gespräch mit meinem Team habe ich gesagt: Normaler weise ignorieren wir ja alle Regieanweisungen. Aber in diesem Fall bin ich sehr beeindruckt von diesem Bild: Zwei Frauen kochen Marmelade. Das ist ein bisschen wie bei Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und den berühmten Madeleines: Der Geruch und der Geschmack von frisch gekochter Marmelade löst alle möglichen Erinnerungen aus. In diesem Stück wird von der ersten Szene an sehr viel über die Vergangenheit gesprochen, über das, was hätte sein können, über die Zukunftsträume, die sich nicht erfüllt haben. Und über der Erinnerung an die Vergangenheit vergessen die Figuren, in der Gegenwart zu leben. Übrigens bin ich immer wieder überrascht davon, wie komplex Tschaikowskis Idee von der Liebe war. Nur bei Wagner findet man eine vergleichbare Komplexität, natürlich in einer anderen Form. Für mich hat Tschaikowski die Themen Liebe und Liebesbeziehungen so tief ausgeleuchtet wie fast kein anderer Komponist. Es ist so einfach für uns, die wir im 21. Jahrhundert leben, uns mit diesen Figuren zu identifizieren!
Also denken Sie, dass die Emotionen, die Puschkin und vor allem Tschaikowski beschreiben, in unserer heutigen Welt ganz ähnlich sind? Auf jeden Fall. Man hat die Chance verpasst, man hat das Falsche gesagt, man hat falsch reagiert, man war unhöflich und bereut es später. Das alles ist absolut heutig.
Trotzdem haben Sie sich dagegen entschieden, die Inszenierung in der Gegenwart anzusiedeln...
Man könnte sicherlich einen wunderbaren Film machen, der diese Geschichte komplett in die Gegenwart holt. Aber da das Thema Vergangenheit in
Jewgeni Onegin eine so wichtige Rolle spielt, fand ich es schöner, die Oper so aufzuführen, dass eigentlich offen bleibt, wann und wo sie genau spielt. Würde man sie in der heutigen Zeit spielen, müsste man auch die elektronischen Kommunikationsmittel wie EMail und SMS verwenden. Aber das funktioniert für mich nicht in diesem Stück. Mir war es wichtig, auf der Bühne eine Welt zu erschaffen, die den Zuschauer gar nicht darüber nachdenken lässt, wann und wo das Stück spielt, sondern die es ermöglicht, sich auf die Geschichte, die Figuren und ihre Beziehungen zu konzentrieren.
Onegin ist eine Figur, die oft kalt und herablassend auftritt. Wie sehen Sie ihn?
Ich möchte vor allem nicht, dass Onegin von Beginn der Oper bis zum Schluss nur eine einzige Emotion zeigen kann. Man darf das Ende noch nicht am Anfang zeigen! Weder die Charaktere auf der Bühne noch die Zuschauer wissen, was am Ende wirklich passiert. Onegin ist ein Aussenseiter. Aber er ist bei uns am Anfang trotzdem guter Laune. Er ist voller Frustrationen und Ängste, aber er ist nicht böse. Er weiss nicht so genau, wer er ist; er sucht seine Identität, genauso wie Tatjana. Am Anfang hat man das Gefühl, die beiden könnten vielleicht ein interessantes Paar werden. Man muss Widersprüche zeigen, Rastlosigkeit, Schlaflosigkeit. Onegin ist ein Gejagter, doch er weiss selbst nicht, wovon er eigentlich gejagt wird. Heute würde man ihn vielleicht als bipolar bezeichnen. Onegin muss auch ein Sympathieträger sein, sonst funktioniert das Stück für mich nicht. Man muss Mitleid mit ihm haben, man sollte nicht denken: You got what you deserved. Das ist nicht die Geschichte.
Peter Mattei, der hier am Opernhaus Zürich den Onegin singt, hat die Rolle schon auf vielen grossen Bühnen der Welt gesungen. Was schätzen Sie an ihm?
Peter Mattei ist natürlich ein sehr erfahrener Onegin. Er hat – und das ist meiner Meinung nach extrem wichtig für diese Rolle – sowohl als Mensch als auch als Künstler ein gewisses Geheimnis. Ich weiss nicht, was Peter denkt, ich möchte es auch nicht wissen, denn es ist nicht wichtig.
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Wichtig ist nur, dass er es auf die Bühne bringt. Peter Mattei ist vielleicht der beste Onegin der Welt momentan, aber zugleich ist er sehr offen, Neues auszuprobieren. Es macht grossen Spass, mit ihm zu arbeiten. Ausserdem ist er nicht mehr ganz so jung, er hat viel Lebenserfahrung. Die Figur Onegin wird bei ihm vielleicht etwas mehr Bitterkeit ausstrahlen, als das mit einem ganz jungen Sänger der Fall wäre.
Onegin bringt seinen besten Freund Lenski im Duell um; anschliessend muss er für eine Weile das Land verlassen. Als er zurückkommt, ist Tatjana mit dem Fürsten Gremin verheiratet. Diese Ehe will und kann sie nicht aufgeben, obwohl sie Onegin noch immer liebt – und obwohl auch er ihr nun seine Liebe gesteht... Um die Liebe Tatjanas zu Onegin zu verstehen, muss man an die Idee der «Liebe auf den ersten Blick» glauben. Tatjana träumt von einem Mann und von der Liebe, von der sie in vielen Romanen gelesen hat – und dann taucht Onegin auf. Für sie geht es zunächst gar nicht um den Menschen Onegin; sie projiziert alle ihre Träume auf ihn, und wenn er nicht gekommen wäre, hätte sie sich in einen anderen verliebt. Wenn sie in der letzten Szene sagt, dass sie Onegin liebt, dann geht es für einmal nicht um die Vergangenheit, sondern um die Liebe, die sie in diesem Moment für ihn empfindet, wenn sie ihn nach Jahren wiedertrifft. In dieser Szene muss für ein paar Sekunden eine Verbindung zwischen Onegin und Tatjana aufscheinen – man muss das ahnen, was hätte sein können. Vieles bleibt offen am Ende des Stückes; es schliesst mit einem Fragezeichen. Das Stück hat eine faszinierende Architektur. Am Schluss ist Onegin genau da, wo Tatjana war, als sie ihm ihren glühenden Liebesbrief schrieb.
Sie haben vorhin gesagt, Onegin sei ein Aussenseiter; welchen Anteil hat die Gesellschaft daran, dass die Liebe von Onegin und Tatjana keine Chance bekommt?
Ich glaube nicht, dass Tschaikowski Interesse daran hatte, Gesellschaftskritik zu üben. In Puschkins Vorlage ist das natürlich anders, aber Tschaikowski hat sich vor allem für die beiden Hauptfiguren interessiert. Olga und Lenski
– Tatjanas Schwester und Onegins bester Freund – sind wichtige Figuren, weil sie eine andere Art von Liebe zeigen; aber auch sie sind – ebenso wie der Chor – letztlich nur eine Folie für die Entwicklung der Beziehung von Tatjana und Onegin. Diese Beziehung zwischen den beiden darf übrigens nie sentimental wirken...
... eher melancholisch ... Ja, melancholisch auf jeden Fall. Aber auch nicht romantisch. Ich würde sogar sagen, Onegin ist ein antiromantisches Stück.
Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich ausserhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stossen, hängt einzig vom Zufall ab.
Viele Jahre lang hatte von Combray ausser dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiss nicht warum, eines anderen. Sie liess darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man «Madeleine» nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.JakobsMuschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem blossen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmässig, zufallsbedingt,
sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen?
Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muss aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiss und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muss die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewissheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.
Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewusstseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? Ich weiss es nicht. Jetzt fühle ich nichts mehr, er ist zum Stillstand gekommen, vielleicht in die Tiefe geglitten; wer weiss, ob er jemals wieder aus seinem Dunkel emporsteigen wird? Zehnmal muss ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschliesslichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann.
Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, dass ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und dass dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, dass von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen – darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid – waren versunken oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durch den sie ins Bewusstsein hätten emporsteigen können. Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.
Pjotr Tschaikowskis Brief an den Freund und Komponisten Sergej Tanejew
Es kann durchaus sein, dass Sie Recht haben, wenn Sie sagen, meine Oper sei nicht bühnenwirksam. Aber ich antworte Ihnen darauf, dass ich auf eine Bühnenwirksamkeit pfeife. Die Tatsache, dass ich keine szenische Ader habe, ist längst anerkannt und ich gräme mich jetzt darüber recht wenig. Wenn sie nicht bühnenwirksam ist, so inszeniert sie nicht und spielt sie nicht. Ich habe diese Oper deshalb geschrieben, weil ich eines Tages den unaussprechlichen Drang verspürte, alles das in Musik zu setzen, was sich im Onegin für Musik anbietet. Das habe ich getan, wie ich es konnte. Ich arbeitete mit unbeschreiblicher Hingabe, Begeisterung und kümmerte mich wenig um Bewegung, Effekte usw. Ich pfeife auf Effekte. Und was sind denn schon Effekte! Wenn Sie sie zum Beispiel in irgendeiner Aida finden, so versichere ich Sie, dass ich um nichts in der Welt eine Oper mit einer solchen Handlung schreiben könnte, weil ich Menschen brauche und keine Puppen; ich nehme mich gern einer jeden Oper an, in der, auch ohne starke und unerwartete Effekte, Wesen, wie ich, ein Gefühl erleben, das auch von mir erlebt wurde und mir verständlich ist. Die Gefühle einer ägyptischen Prinzessin, eines Pharao, irgendeines verrückten Mörders kenne ich nicht, verstehe ich nicht. Im Übrigen, ich ernte die Früchte meiner geringen Belesenheit. Würde ich jegliche Art Literatur besser kennen, würde ich natürlich auch etwas Passendes gefunden haben für meinen Geschmack und gleichzeitig etwas Bühnenwirksames. Leider kann ich selber nichts finden und treffe keine Menschen, die mich auf einen Stoff aufmerksam machen würden, wie zum Beispiel Carmen von Bizet – eine der wunderbarsten Opern unserer Zeit. Sie werden fragen: Was will ich eigentlich? Gestatten Sie, ich sage es Ihnen. Ich brauche keine Zaren, Zarinnen, Volksaufstände, Schlachten, Märsche, mit einem Wort alles das, was mit dem Attribut Grand opéra bezeichnet wird. Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber
erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können. Ich habe nichts gegen ein phantastisches Element, weil man hier nicht eingeengt ist und der Weite der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind.
Bezüglich Ihrer Bemerkung, dass sich Tatjana nicht sofort in Onegin verliebt, sage ich, dass Sie sich irren. Gerade sofort: «Kaum tratst du ein, hab ich’s erkannt, ich erstarrte ganz, erglühte!» Denn sie verliebt sich in Onegin nicht deshalb, weil er so oder anders ist; sie braucht ihn nicht kennenzulernen, um sich zu verlieben. Noch vor seinem Erscheinen ist sie schon verliebt in einen unbestimmten Helden ihres Romans. Onegin brauchte sich nur zu zeigen, und sofort versah sie ihn mit allen Eigenschaften ihres Ideals und übertrug auf einen lebenden Menschen jene Liebe, die sie zum Kind ihrer hitzigen romantischen Phantasie empfand.
Die Oper Onegin wird niemals Erfolg haben, ich weiss das im voraus. Ich werde niemals Künstler finden, die auch nur ungefähr meinen Forderungen entsprechen könnten. Beamtentum, die Routine unserer grossen Bühnen, der Unsinn der Inszenierungen, das System, Invalide zu halten, ohne den Jungen Platz zu machen, alles das lässt meine Oper für eine Oper unmöglich erscheinen. Stellen Sie sich den Orlow oder den Dawydow in der Rolle des Lenski vor, oder die Alexandrowa und sogar die Ljuschtschenko als Tatjana, Führer oder sogar Melnikow als Onegin! Lachhaft und armselig! Viel lieber gäbe ich diese Oper auf die Bühne des Konservatoriums, und dieses wünsche ich sogar. Das würde besser zu meinem bescheidenen Werk passen, das ich sogar nicht «Oper» nennen werde, wenn es gedruckt werden sollte. Ich werde es: «lyrische Szenen» nennen, oder irgendetwas in diesem Sinne.
Ja, diese Oper hat keine Zukunft, ich wusste es, als ich sie schrieb, und dennoch schrieb ich sie, werde sie beenden und in die Welt schicken, wenn Jürgenson sie zum Druck annimmt. Ich werde nicht nur nichts unternehmen, dass sie am MariinskiTheater gegeben wird, ich werde mich, wenn es geht, dagegenstellen. Wenn meine Begeisterung an der Handlung des Onegin von meiner Beschränktheit, Stumpfheit zeugt, von meiner Kenntnislosigkeit und Unwissenheit der szenischen Bedingungen, so tut es mir leid, aber wenigstens ist das, was ich geschrieben habe, buchstäblich aus mir geflossen und nicht erdacht, nicht herausgepresst.
Anselm Gerhard
Manchen Kennern der russischen Literatur scheint Tschaikowskis Jewgeni Onegin ein Verbrechen an Puschkins grossartigem «Roman in Versen». Vladimir Nabokov ereiferte sich noch 1964 über «das unglaubliche Libretto» dieser «läppischen und schludrigen» Oper. Bereits im November 1878 hatte Iwan Turgenjew seine Irritationen in einem Brief an Tolstoi formuliert: «Aber was für ein Libretto! Stellen Sie sich vor: Puschkins Verse, die die Figuren beschreiben, werden diesen selbst in den Mund gelegt. Zum Beispiel, wenn es über Lenski heisst ‹Er sang […]›, steht im Libretto ‹Ich singe […]› usw.»
In der Tat ist die 1879 uraufgeführte Oper in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Natürlich war es nicht möglich, die polyperspektivische und in jedem Detail ironische Konzeption von Puschkins Epos auf die Bühne zu übertragen. Mit seinem Bruder Modest Tschaikowski entschied sich der Komponist für eine radikale Zuspitzung auf die irreale Liebe Tatjanas zum Titelhelden. Ein bei Puschkin nur nebenbei erwähnter (namenloser) Ehemann Tatjanas tritt im dritten Akt der Oper sogar leibhaftig auf. Statt einer stringenten Entwicklung der Liebesgeschichte (im Sinne einer Einheit der Handlung) entschied sich Tschaikowski – der Gattungstitel «Lyrische Szenen» deutet es an – überdies für drei, nur lose miteinander verbundene Momentaufnahmen, die freilich jede für sich ein aussergewöhnlich hohes Mass an Einheit ausprägen.
Gleichzeitig wollte der Komponist so viele originale Verse Puschkins wie nur möglich übernehmen – mit oder ohne syntaktische Anpassungen. Am eindrücklichsten ist ihm dies in der berühmten Briefszene gelungen. Diese stellte bereits bei Puschkin einen Fremdkörper dar, weil ihre Verse nicht der kunstvollen Anlage der eigens für den Roman konzipierten «OneginStrophe» folgen:
am Sonett orientierte Gruppen von vierzehn Versen, in denen sich sieben Paare mal umschliessend, mal über Kreuz und eben im Paar reimen. In Tatjanas Brief hingegen klappert wiederholt auch ein dritter Vers mit demselben Reim nach – Stolpersteine, die ihre emotionale Verwirrung spiegeln.
Ein Fremdkörper ist die Szene auch in der Oper: Wenn sich im ersten Akt von Verdis La traviata die Titelheldin in ganz ähnlicher Weise einer erwachten Liebe bewusst wird, sind ihr zwanzig lyrische Verse und etwa acht Minuten zugemessen. In Gounods Faust singt Marguerite im Lied über den König von Thule und der anschliessenden «Juwelenarie» 28 Verse in etwas mehr als zehn Minuten. Tschaikowski dagegen komponiert fast achtzig Verse. Mit nahezu vierzehn Minuten Dauer handelt es sich um eine der längsten Monologszenen der Operngeschichte.
Dabei ist das Schreiben eines Briefes alles andere als eine dramatische Situation. Wenn überhaupt, werden deshalb Briefe in der Oper von überraschten Empfängern laut gelesen, selten findet sich das Diktat eines Briefes. Ganz anders in diesem experimentellen Werk: Hier sehen wir, wie Tatjana einen Brief schreibt, den sie nach den damals geltenden Regeln als unverheiratetes Mädchen gar nicht schreiben (und noch weniger abschicken) dürfte. Nicht nur unter russischen Adligen, sondern auch in bürgerlichen Kreisen westlicher Staaten hatte damals eine Frau gefälligst auf den ersten Schritt des Mannes zu warten. Dies ist allerdings auch das einzige Spannungsmoment in Tschaikowskis Umsetzung eines zur stillen Lektüre bestimmten Textes: Wir wissen zunächst nicht, ob Tatjana ihren Brief tatsächlich abschicken wird.
Tschaikowski war sich von Anfang an solcher Probleme bewusst. Noch vor der Ausarbeitung der Partitur schrieb er seinem Bruder: «Ich weiss genau, dass die Oper zu wenig Handlung, zu wenig Bühneneffekte haben wird.» Doch ging es ihm um «die Einfachheit der Vorgänge». Und so aussergewöhnlich die Idee ist, Puschkins Brief zum Kern eines musikalischen Dramas zu machen, so schnörkellos ist die Briefszene komponiert. Dort werden nur an sechs Stellen einzelne Wörter wiederholt, mit ganz wenigen Ausnahmen gibt es keine Melismen. Fast jede Note entspricht einer Silbe, jede Silbe entspricht einer Note. Konsequent verzichtet Tschaikowski auf wesentliche Merkmale dessen, was auch in seinen Opern selbstverständlich zum Prinzip einer Arie gehört.
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Dabei handelt es sich bei dieser Briefszene um eine unglaubliche Herausforderung: Alle Verse haben denselben Rhythmus. Im immergleichen Metrum des vierhebigen Jambus ist ausnahmslos die Betonungsfolge dadammdadammdadammdadamm(da) vorgegeben. Fast scheint es, als habe der Komponist die Monotonie des vorgegebenen Versmasses noch übersteigern wollen – zum Beispiel wenn die mehrfach wiederholte Oboenmelodie am Anfang des eigentlichen Briefschreibens ebenfalls aus genau acht «Silben» (Achteln) besteht. Damit ergibt sich aber eine Versuchsanordnung, die mit der sogenannten «Literaturoper» des 20. Jahrhunderts weit mehr zu tun hat als mit jeglicher Operntradition. Wie ist es aber Tschaikowski gelungen, dass Tatjanas Monolog nicht eintönig wirkt, dass auch bei der hundertsten Begegnung mit dieser Briefszene keine Langeweile aufkommt? Ganz einfach: Offensichtlich hat er aus den Schwächen früherer Versuche (wie in Dargomyschskis 1872 erstmals aufgeführter
Oper Kamennyj gost’ / Der steinerne Gast), Verse von Puschkin unverändert in Musik zu setzen, gelernt. Er wechselt zwischen auf und volltaktigen Melodien, lässt einmal nur eine Silbe, dann aber auch drei, fünf oder gar sieben Silben auftaktig singen. Mit dieser rhythmisch differenzierten Gestaltung des Jambus weist die Briefszene überdies direkt auf das Eröffnungsbild zurück, in dem Tschaikowski bei der Vertonung vier und fünfhebiger Jamben ebenfalls mit verschiedenen Auftaktlängen gespielt hatte.
Diese auffällige musikalische Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr: Sie unterstreicht Tatjanas verzweifelten Versuch, aus den erdrückenden sozialen Zwängen des russischen Landlebens auszubrechen. Diese Zwänge werden in der Eröffnungsszene auf eine Weise sicht und hörbar, die nur bei reichlich oberflächlicher (jedoch verbreiteter) Betrachtung als Inszenierung einer «har monischen und heilen Welt» missverstanden werden kann. Aus dem Innern des Hauses singen zunächst Tatjana und ihre Schwester Olga von ihren Träumereien – mit Versen, die Tschaikowski einem Gedicht des siebzehnjährigen Puschkin entnommen hat. Im Vordergrund kommentieren dann zwei ältere, mit Hausarbeiten beschäftigte Frauen, Tatjanas und Olgas Mutter sowie deren Kinderfrau, die Utopien der jungen Mädchen mit ihrem resignierten Lebensrückblick: Mutter Larina war das Opfer einer arrangierten Heirat. Sie hatte nicht den inzwischen verstorbenen Larin geliebt, sondern einen jungen Gardeoffizier, und so «tobte
und weinte sie anfangs» auf dem abgelegenen Landgut, dachte gar an Scheidung. Aber am Ende gewöhnte sie sich an die hauswirtschaftliche Routine – von Puschkin mit einem sarkastischen Zweizeiler kommentiert: «Privyčka svyše nam dana: / Zamena sčastiju ona.» («Die Gewöhnung ist uns vom Himmel geschenkt; Ersatz für Glück ist sie.») Und damit auch keinem Leser die schneidende Ironie dieser Pointe entgehen möge, nannte er in einer Fussnote als vermeintliche Quelle die Selbsterkenntnis eines französischen Romanhelden von 1802: «Wenn ich so verrückt wäre, an das Glück zu glauben, würde ich es in der Gewohnheit suchen» – als ob der von WertherEinflüssen und Inzestfantasien gespeiste Weltschmerz des von Chateaubriand imaginierten René etwas mit dem platten Leben in den Weiten der russischen Provinz zu tun haben könnte.
Puschkins Versroman ist nicht nur ein – im «Westen» immer noch zu entdeckendes – Ausnahmewerk der «Weltliteratur», sondern auch ein Vexierspiel mit inter textuellen Verweisen und ständigen Wechseln der Perspektive, die jede dauerhafte Einfühlung in die Figuren durchkreuzen. Da das Musiktheater kaum über vergleichbare Möglichkeiten der Distanzierung und Ironisierung verfügt, liegt der Schluss nahe, dass Tschaikowskis schwermütige Oper die leichtfüssige Ironie Puschkins verfehlt hat.
Gerade die Eröffnungsszene mit dem Loblied auf die «Gewöhnung» könnte als (vermeintlicher) Beweis für diese These herangezogen werden. Denn der zitierte Zweizeiler ist hier nicht mehr distanzierter Kommentar des Erzählers, sondern Tatjanas Mutter selbst in den Mund gelegt. Aber handelt es sich bei dieser Eröffnungsnummer wirklich um ein Loblied auf die «Gewöhnung»? Bereits der merkwürdige Satztitel «Duet i kvartet» sollte uns misstrauisch werden lassen. Gewiss wird hier aus dem Duett der Schwestern durch das Hinzutreten der Mutter und der Kinderfrau ein Quartett. Dramaturgisch bedeutet aber die Überblendung der zweiten Strophe des Duetts der jungen Mädchen mit der wie nebenbei gesprochenen Unterhaltung zwischen den alten Frauen den Zusammenstoss zweier Welten. Olgas und Tatjanas Träumereien wirken
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wie sinnlose Flausen angesichts Larinas Resignation. Präzise in dem Moment, wenn Larina und die Kinderfrau mit Puschkins Versen von der «vom Himmel» geschenkten «Gewöhnung» sprechen, verstummen die Schwestern, aus dem Quartett wird wieder ein Duett, diesmal freilich ein Duett der alten Frauen. In der patriarchalischen Gesellschaft des alten Russlands ist kein Raum für die Bedürfnisse junger Mädchen. Die Macht der «Gewöhnung» ist stärker als jeder Wunsch nach Veränderung, Tatjanas Versuch, aus der Langeweile des immer gleichen Provinzlebens auszubrechen, von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Die abgeschiedene Lebenswelt der Familie Larin, in die ein «modischer Tyrann» wie Jewgeni Onegin, Puschkins negativer Held, einbrechen wird, ist also durchaus nicht so gemütlich, wie es scheinen mag. Tschaikowski hat die trügerische Idylle aus einer Perspektive beleuchtet, die vielleicht nicht ironisch, sehr wohl aber distanziert genannt werden kann. Dies gilt insbesondere für die verwendeten musikalischen Mittel: Der Zweizeiler, der die «Gewöhnung» zu preisen scheint, wird von Larina und der Kinderfrau im Kanon gesungen – in dieser Gesellschaft hat sich jede Frau der unerbittlichen Logik eines Kanons unterzuordnen, in dem die zweite Stimme das Vorgegebene unverändert übernimmt. (Das Gleiche wird am Ende des zweiten Aktes dann auch für den grausamen Ehrenhandel Onegins und Lenskis gelten, wenn Tschaikowski die Duellanten wieder in die ungewöhnliche Struktur eines strengen Kanons zwingt.)
Aber nicht nur deswegen hinterlassen die gut vier Minuten dieser Eröffnungsnummer den Eindruck einer drückenden Schwüle, in der die Zeit stillzustehen scheint. Keine einzige Modulation in eine DurTonart weist einen Ausweg aus dem lastenden gMoll der Gesänge, denen jede vorwärtstreibende Energie fehlt. Das Unerträgliche der Situation wird immer wieder durch den sogenannten neapolitanischen Sextakkord unterstrichen, der seit dem 18. Jahrhundert stereotyp auf extremen Schmerz verweist und hier zu einem Gesamteindruck beiträgt, der so klebrig wirkt wie die Marmelade, die beim Einkochen der Früchte entsteht, von dem die Szenenanweisung ausdrücklich spricht.
So ist es gewiss kein Zufall, dass Tschaikowski in der Briefszene zu den Worten «Ich schreibe Ihnen» die Oboe mit einer Phrase aus sieben auftaktigen Achteln genau das rhythmische Modell dieses Lobpreises auf die «Gewöhnung» aufgreifen lässt. Tatjana durchbricht sämtliche Anstandsregeln und schreibt
Onegin, weil sie endlich aus dieser klebrigen «Gewöhnung» ausbrechen will. Tschaikowski hat dabei mit ebenso subtilen wie wirkungsvollen Mitteln verdeutlicht, wie sich Tatjana allmählich in das Traumbild einer idealen Liebe hineinsteigert und sich wenigstens so von ihren lastenden Lebensumständen befreit – am Ende der Briefszene wird Tatjana (so die Szenenanweisung) das Fenster ihres Zimmers öffnen. Während die Musik am Anfang der Briefszene noch von regelmässigen ZweitaktPhrasen – genau wie in der Eröffnungsnummer – geprägt ist, findet sie in dem Moment, wenn Tatjana Onegin und sich selbst ihre Liebe erklärt, zu immer unregelmässigeren Gestalten, zunächst zweiund dreitaktigen Doppelversen, dann schliesslich konsequent zu dreitaktigen Phrasen.
Dass es dabei auf das Objekt von Tatjanas Liebe gar nicht ankommt, war auch Tschaikowski klar: «Noch vor seinem Erscheinen ist sie schon verliebt in einen nicht näher bestimmten Helden ihres Romans.» Diese Interpretation spitzt das zu, was wir in Puschkins Brieftext lesen können, übrigens an der Stelle, zu der Tschaikowski erstmals eine wirklich emphatische Melodie erklingen lässt: «Du erschienst mir in Traumbildern, Du warst mir lieb, bevor ich Dich sah.»
Einer allzu verwirrenden Vielfalt musikalischer Ereignisse begegnet Tschaikowski, indem er mehrmals mit der Wiederholung gleicher musikalischer Abschnitte vereinheitlichende Strukturen andeutet. Auch sind alle melodischen Gestalten von Tatjanas Solo in einen Rahmen gefasst, der mit der Spannung zwischen Unterquart und Terz – so schon beim allerersten Beginn auf die (nicht von Puschkin stammenden) Worte «Und auch wenn ich dabei untergehe» – eine ganz andere melodische Energie ermöglicht als die immer wieder in den Grundton absinkenden Melodien der Eröffnungsnummer. Keineswegs handelt es sich dabei – wie von Richard Taruskin behauptet – um «die Aufeinanderfolge von vier Romanzen, die durch Rezitative verbunden» sind. Zwar lassen sich in der Tat vier grössere Abschnitte isolieren; entscheidend ist jedoch die konsequent vorwärtstreibende Gestik Tatjanas, die sich in einen wahrhaften Liebesrausch hineinsteigert, der am Ende durch die Emphase der höchsten Sopranlage überhöht wird, jedoch keinen Bezug zur Realität hat. An den entscheidenden Stellen bricht Tschaikowski das entrückte DesDur bei Formulierungen wie «Wer bist Du: mein Schutzengel oder mein heimtückischer Versucher?» durch den
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melodischen Abstieg über die «falschen», nur zur MollTonart passenden Töne ces und heses zum as, was im Orchester den fahlen Beleuchtungswechsel von DesDur nach HesesDur (also ADur) nach sich zieht. Den Melodien, mit denen Tatjana auftrumpfen will, ist nicht nur mit diesem Abgleiten nach Moll das Scheitern eingeschrieben. Ab dem dritten grösseren Abschnitt sind sie allesamt abwärtsgerichtet. Zwar findet sich in der musikalischen Umsetzung von Puschkins Brief begreiflicherweise keine Entsprechung zu dem maliziösen Hinweis des Dichters, er habe Tatjanas Brief aus dem Französischen übersetzen müssen, da ja eine Gutsbesitzertochter nicht in der Lage sei, längere Briefe in russischer Sprache zu verfassen. Tschaikowskis illusionslose Darstellung von Tatjanas selbstvergessener Liebe ist aber um nichts weniger distanziert und gebrochen als die zwischen Empathie und Spott schwankenden Beschreibungen Puschkins. Auch der Komponist macht sich keine Illusionen darüber, dass ein solcher Gefühlsüberschwang zu dem «Untergang» führen wird, von dem Tatjana bereits im ersten Vers der Briefszene spricht. In den fein kalkulierten Bezügen zu den melodischen und rhythmischen Eigenheiten der Eröffnungsnummer wird deutlich, dass diese junge Frau scheitern wird.
Am Ende kann Tatjana noch zufrieden sein, wenn sie eines Tages in der «Gewöhnung» an einen ungeliebten Ehemann und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten wie dem Einkochen von Beeren einen «Ersatz für Glück» erkennen sollte. Noch schärfer formuliert hat Puschkin dieses grausame Scheitern einer grossen Liebe mit einer Nebenbemerkung zu Tatjanas letzter Ansprache an Onegin: «Für die arme Tanja waren alle Schicksale gleich.» Zur Pointe dieser Formulierung gehört, dass unklar bleibt, ob es sich um einen Autorenkommentar handelt oder um die Selbsterkenntnis der (unglücklich) verheirateten Frau. Tschaikowski hätte sich bei der Komposition dieser Worte dafür entscheiden müssen, sie einer Bühnenfigur in den Mund zu legen, so dass er diesmal auf deren Verwendung verzichtete. Der Schärfe dieser und vieler anderer Charakterisierungen von Puschkins Figuren ist er aber mit ganz eigenen und auf ihre Weise atemberaubenden kompositorischen Verfahren gerecht geworden, die nicht weniger skeptische Distanzierungen und melancholische Brechungen erkennen lassen.
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Neulich auf einem Dachterrassenfest unter Literaten, bei flackerndem Kerzenlicht, sprach man über grosse Themen, die früher ausgiebig behandelt, heute aber in der Literatur nahezu verschwunden sind. Zum Beispiel die Reue. Wo gibt es noch das seitenweise Klagen über die eigenen Verfehlungen, das Grübeln über die eigene Unzulänglichkeit, über Gut und Böse, und dann den Schrecken, dass es vielleicht zu spät ist für eine Wiedergutmachung? Wie soll Reue vorkommen, wenn Selbsteingeständnisse und echtes Bedauern fehlen? Das wurde heftig diskutiert. Da sind andere Erzähltechniken, das Bedauern kommt schon noch vor, fragmentarisch eben, oder nicht? Aber warum die Ausflüchte des Fragmentarischen, Abgehackten? Wo doch die Reue einer gewissen Ruhe und Stille bedarf. Vielleicht, weil die eingestandene Reue der christlichen, katholischen und orthodoxen Beichtpflicht entstammt, die heutzutage kaum mehr praktiziert wird. Damit ist die Reue, wie auch überhaupt der Glaube, Privatsache geworden. Hat sich denn wirklich Radikales ereignet, das alles verändert hat? Und auch für den Künstler? Ja – man betrachte nur schon die Manuskripte von einst: Mittels grafologischer Analysen lassen sich allerlei Rückschlüsse auf den Charakter des Schriftstellers ziehen und auch untersuchen, wie seine Gemütslage beim Schreiben bestimmter Textstellen war, ob er fahrig geschrieben hat oder expansiv, druckstark oder druckschwach, einen Satz einfach oder mehrfach durchgestrichen hat, mit Nachdruck, oder aber ob er seine Schrift mit vielen Girlanden und Bögen versehen hat, langsam und verträumt, lange auf der Seite verblieben ist. Heutzutage entstehen keine solchen Manuskripte, vor dem Bildschirm un
serer Computer lässt der Arbeitsprozess keine Spuren mehr. Beim Sichten alter Manuskripte wird uns bewusst, wie viel sinnlicher die Welt war, in der sie entstanden sind, und dass man früher mit weit mehr Stoffen und Gerüchen in Kontakt kam und zum Schreiben weit mehr Körpereinsatz benötigte. Man kann sich fragen, ob die verminderte Sinnlichkeit unserer Welt, die uns gewissermassen abstumpft, dieses schnellere Gleiten durch das Leben, das uns die technische Entwicklung und zuletzt die Digitalisierung ermöglicht haben, uns als Menschen nicht auch fehlbarer, weil auch minder schuldfähig gemacht haben. Ein Blick in Alexander Puschkins Manuskripte verrät: Er hat in seinen Arbeitsheften am Rand auch noch gezeichnet. Jede Seite mutet einen heutigen Betrachter wie ein Kunstwerk an, das eingerahmt werden könnte, eine Seelenschau, ein Manifest. Puschkin hat Manuskripte hinterlassen, bei deren Sichtung Literaturkritiker und Historiker frohlocken. Er hatte eine schöne, regelmässige, nach rechts geneigte Schrift und schrieb stets mit Gänsefeder oder Bleistift, vor allem aber mit der Gänsefeder. Eine solche wurde ihm auch von Johann Wolfgang Goethe zugeschickt – Puschkin liess dafür ein rotes Etui aus Saffianleder anfertigen. Er schätzte schöne Dinge mit weicher Haptik. Ein berühmtes Porträt zeigt ihn auf einem Diwan am Fenster, auf vielen Kissen ruhend, mit weit geöffnetem weissen Hemd, nachdenklich, das Ende einer Gänsefeder im Mund. Es ist die erotische Inszenierung eines Schöpfers. Von sich fertigte Puschkin auch zahlreiche humorige Selbstporträts an – das bekannteste ist jenes mit der Mönchskappe, Auge in Auge mit dem Teufel. Andere Selbstbildnisse in Travestie schildern ihn als Jüngling mit schöner Lockenpracht, als Greis, als Hofmohr, als Pferd oder als Dante Alighieri mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf. Wie Dante, der Latein auf der Seite liess und dem Italienisch des Volkes zu literarischem Rang verhalf, erwies auch Puschkin dem Volksrussischen diesen Dienst und verewigte sich als Spracherneuerer. Mit dieser Zeichnung wusste er seinen späteren Ruhm vorwegzunehmen. Er war jung und kühn, grossmäulig und impulsiv, setzte das Selbstbewusstsein seiner jungen Jahre immer zur Schau. Er wusste sich allerdings, vor allem in der Konzentration am Schreibtisch, richtig einzuschätzen.
Puschkin schrieb schön reinlich in seine grossen Arbeitshefte, strich aber auch viel durch. Die Zeichnungen waren ihm eine Denkhilfe beim Schreiben.
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Wo heutzutage die Schriftsteller bei Inspirationspausen vor dem Laptop Gefahr laufen, im Internet wegzusurfen und von da nur sehr viel später zu ihrem Schreibprogramm zurückzukehren, gab es bei Puschkin die vermeintlich mindere Verführung des aus dem Fenster Schauens – oder aber er blieb bei seinem Blatt und zeichnete. Puschkin zeichnete vorausgegangene Szenen nach, nahm mit den Skizzen Szenen vorweg oder zeichnete schlicht das, was ihn an dem Tag beschäftigt hatte, womit seine Arbeitshefte oft auch den Charakter von intimen Tagebüchern annahmen. Auch machte er mit seinen Selbstdarstellungen en travestie deutlich, dass er Kunst als Mimesis, mithin als Seelenerkundung und als Einübung in die Empathie empfand.
Eines seiner Bilder zeigt Puschkin zusammen mit seiner Figur Eugen Onegin. Zwei Freunde mit Frack und Zylinder an der Newa in Sankt Petersburg. Onegin ist mit dem Rücken gezeichnet, an der steinernen Brüstung aufgestützt, ein wenig nach hinten geneigt, in lässiger Pose, er schaut auf den Fluss. Puschkin hingegen, dessen Gesicht mit der länglichen Nase frontal zu sehen ist, hat sich gerade umgedreht und macht einen Schritt auf den Freund zu, streckt die Arme nach ihm, scheint beherzt auf ihn einzureden. Wer bist Du, mein Freund, was treibt Dich um? Und wieso verhältst Du Dich so, wieso? Es ist ein Ringen des Autors mit seiner Figur, ein Leiden an dessen Fehlern.
Ganze sieben Jahre lang hat Puschkin an dem Versepos Eugen Onegin geschrieben, zwischen 1823 und 1830. In der vollständigen Fassung wurde das mit dem Gattungsnamen «Roman in Versen» versehene Werk erst drei Jahre später veröffentlicht. Puschkins grosse Arbeitshefte zeugen von einer obsessiven Beschäftigung mit der Figur Onegins. Seitenweise ist die Schrift durchgestrichen, jede Zeile einzeln. Wer ist Eugen Onegin? Wer kann er sein? Was treibt ihn um?
Am Anfang schwebte Puschkin eine DonJuanFigur vor, nach dem Vorbild des romantischen Dichters Lord Byron, der damals in Mode war und den Puschkin verehrte. Seine Verehrung für den englischen Poeten war so gross, dass er sich gerne als den «russischen Byron» bezeichnen liess und auch eine Affäre einging mit einer verflossenen Liebschaft von Byron, der Griechin Calypso Polichroni. Eugen Onegin betritt also die Bühne als Frauenheld. Er ist ein Gentleman aus gutem Hause, mit einer Blasiertheit, die ihn vor der Kulisse einer russischen Familienidylle unter fröhlichen Gästen sofort zum Aussenseiter
macht, zum Rebellen. Obwohl er in seinem Verhalten eine beträchtliche Kühle zutage legt, fällt ihm die junge Tatjana gleich auf, und er lobt sie vor seinem Freund Lenski. Ein Lob, das etwas verzwickt formuliert ist und auf einen inneren Konflikt Onegins zwischen seiner wahren, leidenschaftlichen Natur und seinem Erscheinungsbild hinweist: Wäre er Lenski, sagt er zu diesem, würde er nicht Olga wählen, deren Äusseres auf keinerlei inneres Feuer schliessen lasse, sondern Olgas Schwester Tatjana. Die junge Tatjana aber, die unter anderem Lord Byron liest, verfällt sofort dem Charme Onegins. Der ByronExperte Peter Cochran schreibt, dass ein Untertitel des Eugen OneginVersromans unbedingt «how reading Byron will ruin your life» hätte lauten müssen.
Tatjana ist ein kühnes Mädchen, fern von ihr die Trägheit des Herzens, das einen in der Romantik auch befallen kann. Sie will handeln, die ganze Nacht über schreibt sie einen Brief an Eugen Onegin. Wie ihr Schöpfer Puschkin kämpft auch sie um die richtigen Worte, mit der Scham, enthüllt sich, sucht dabei Wahrhaftigkeit. Erschöpft, lässt sie in den ersten Morgenstunden den Brief Eugen Onegin zukommen. Am Rand der Aufzeichnung dieser Szene zeichnet Puschkin Tatjana stehend, mit offenem Haar, das Gesicht schamerfüllt zur Seite gewandt, mit der linken Hand bedeckt. Das Nachthemd fällt in Falten, wie eine Toga, die rechte Brust ist unbedeckt.
Onegin aber wird Tatjana abweisen, er wird sagen, er sei nicht für die Ehe gemacht und seine Gefühle würden rasch erkalten. Doch damit nicht genug: Onegin begleitet seinen Freund Lenski zu Tatjanas Namensfest und tanzt zunächst mit ihr und dann, beleidigt vom Gerede der Gäste, mit Lenskis Olga. Lenski ist verletzt, die Freunde streiten sich, und der erhitzte Lenski verlangt Satisfaktion. Ein Duell soll die Sache regeln. Puschkin selber stürzte sich in zahlreiche Duelle – man staunt also über diese Selbstreflexion eines Unverbesserlichen.
In der Vorahnung seines Todes besingt Lenski sein junges Leben und seine Sehnsüchte, eine umso berührendere Szene, als sie sich mit dem Leben seines Schöpfers deckt. Mit 37 Jahren focht Puschkin sein letztes Duell aus und starb qualvoll, zwei Tage später, an einem Bauchschuss.
Aber unser Hauptheld, Onegin, will sich eigentlich nicht duellieren, schon auf dem Feld bereut er den Bruch mit dem Freund. Er lamentiert, aber dies
natürlich abseits, für sich, denn nach aussen verhält er sich weiterhin kühl. Er folgt den Regeln des Duells – und streckt den Freund mit einem Schuss nieder.
Es ist diese romantische Damnation des Helden, der dem Epos die Spannung verleiht; der Zwiespalt zwischen seinem Gefühl und dem, wie er glaubt, sich geben zu müssen. Dieses Thema ist heutzutage, in unserem Kulturkreis zumindest, in der Literatur seltener geworden.
Im Unterschied zu Puschkins Männerfiguren haben seine Frauenfiguren den richtigen Instinkt und nehmen sich auch mehr Freiheiten, im Handlungsraum der Geschichten, zumindest. Sie reden offen und geradeheraus über die Zwänge und über ihre Wünsche, auch über Vergangenes, und verkörpern auf eine delikate, unaufdringliche Art das Natürliche im Menschlichen, sie versuchen erst gar nicht, sich zu verstellen. Eines von Puschkins Bildern im Manuskript zeigt Tatjana, verzweifelt auf einen Stuhl gesunken, den Fächer lau in den Händen haltend, als würde er gleich umfallen. Sie wurde von Onegins Taten schwer getroffen und gibt sich im Moment ihrer Traurigkeit hin. Ihre Füsse hingegen hält sie in graziler Pose.
Puschkin hat übrigens in viele Manuskripte Frauenfüsschen gekritzelt, oft gekreuzt und in schmalen Ballettschuhen dargestellt. Er, der Begriffsübertragungen über die Künste hinweg so schätzte, hat die Spitze des Ballettschuhs, die man französisch Pointe nennt, bei einigen seiner Werke ans Ende gesetzt – und damit eine textliche Pointe, ein überraschende Wendung, herbeigeführt.
Auch hier wird es eine Frau sein, die die Pointe bereithält: Tatjana. Nach sechsjährigem Herumirren durch die Welt kehrt Onegin 26jährig nach Sankt Petersburg zurück und besucht das Fest eines Fürsten. Dieser ist glücklich verheiratet – mit der schönen Tatjana. Onegin erblickt sie und versteht, dass er leidenschaftlich in sie verliebt ist.
Er trifft sie heimlich, und auch sie gesteht ihm, dass sich nichts an ihren Gefühlen geändert hat. Doch will sie ihrem Ehemann die Treue halten.
Eugen Onegin ist am Boden zerstört. Reue? Und wie!
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Er zog als Mensch mich lebhaft an, mit seinem Hang zum Phantasieren, den unnachahmlichen Manieren, dem unbeirrbar scharfen Geist. Ich war verbittert, er vereist.
Uns beide hatte schon das Leben, der Leidenschaften Spiel genarrt, uns beiden war das Herz erstarrt; wir hatten Jugend hingegeben, und nur Fortunas blinden Hohn und unsrer Mitwelt Hass zum Lohn.
Alexander Puschkin, «Jewgeni Onegin»PJOTR TSCHAIKOWSKI (1840-1893)
Lyrische Szenen
Libretto von Konstantin Schilowski und Pjotr Tschaikowski
Nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin
Personen
Larina Mezzosopran
Tatjana Sopran
Olga Mezzosopran
Filippjewna Alt
Jewgeni Onegin Bariton
Lenski Tenor
Fürst Gremin Bass
Ein Hauptmann Bariton
Triquet Tenor
Saretzki Bariton
Chor
Bauern und Bäuerinnen, Gutsbesitzer, Offiziere, Ballgäste
Ort
ein russisches Landgut
NR. 1 DUETT UND QUARTETT
Das Theater stellt den Garten beim Gut der Larins dar. Links ist ein Haus mit Terrasse, rechts ein Baum mit ausladenden Zweigen, in einem Rundbeet Blumen. Im Hintergrund ein baufälliger, hölzerner Zaun, hinter dem man im dichten Grün eine Kirche und ein Dorf sieht. Es wird Abend. Larina sitzt unter dem Baum und kocht Marmelade ein, dem Gesang der Töchter lauschend. Filipjewna steht neben ihr und hilft ihr beim Kochen. Bei der zweiten Strophe des Duetts von Tatjana und Olga beginnen die beiden Alten ein Gespräch. Aus dem Haus hört man Gesang. Die Türen zur Terrasse sind geöffnet.
TATJANA
«Habt ihr hinter dem Hain die nächtliche Stimme des Sängers der Liebe gehört, des Sängers seines Kummers? Als die Felder in der morgendlichen Stunde schwiegen, habt ihr da den traurigen und schlichten Klang der Schalmei gehört?»
OLGA
«Habt ihr hinter dem Hain die nächtliche Stimme des Sängers der Liebe gehört, des Sängers seines Kummers? Als die Felder in der morgendlichen Stunde schwiegen, habt ihr da den traurigen und schlichten Klang der Schalmei gehört?»
LARINA
Sie singen. Auch ich sang in längst vergangenen Jahren, erinnerst du dich? Auch ich habe gesungen!
NJANJA
Sie waren damals jung!
TATJANA
«Habt Ihr geseufzt, als Ihr die leise Stimme des Sängers der Liebe, des Sängers seines Kummers vernahmt? Habt Ihr geseufzt, als Ihr in den Wäldern den Jüngling saht und dem Blick seiner erloschenen Augen begegnet seid?»
OLGA
«Habt Ihr geseufzt, als Ihr die leise Stimme des Sängers der Liebe, des Sängers seines Kummers vernahmt? Habt Ihr geseufzt, als Ihr in den Wäldern den Jüngling saht und dem Blick seiner erloschenen Augen begegnet seid?»
LARINA
Wie habe ich Richardson geliebt!
NJANJA
Sie waren damals jung!
LARINA
Nicht weil ich ihn gelesen hatte, doch erzählte mir damals die Fürstin Alina, meine Moskauer Cousine, ständig von ihm.
NJANJA
Ja, ich erinnere mich! Zu jener Zeit war Ihr Gatte noch Bräutigam, aber Sie träumten damals notgedrungen von einem anderen, der Ihnen mit Herz und Verstand weit mehr gefiel.
LARINA
Ach, Grandison, ach Richardson! –In der Tat war er ein bekannter Geck, ein Spieler und ein Sergeant der Garde.
NJANJA Längst vergangene Jahre!
LARINA
Wie war ich immer angezogen!
NJANJA Immer nach der Mode!
LARINA Immer nach der Mode und was mir stand!
NJANJA Immer nach der Mode und was Ihnen stand!
LARINA
Doch plötzlich, ohne mich zu fragen...
NJANJA
...wurden Sie getraut, danach, um den Kummer zu vertreiben, fuhr der gnädige Herr bald hierher.
LARINA
Ach, wie habe ich zuerst geweint, beinahe hätte ich mich vom Gatten getrennt, dann nahm ich mich des Haushalts an, gewöhnte mich daran und wurde zufrieden.
NJANJA
Sie haben sich hier des Haushalt angenommen und wurden zufrieden.
LARINA, NJANJA
Die Gewohnheit ist uns von oben gegeben, sie ist der Ersatz für das Glück. Ja, so ist es!
LARINA
Das Korsett, das Album, die Fürstin Polina, das Heft mit gefühlvollen Versen, alles vergass ich...
NJANJA
Sie begannen die frühere Céline wieder Akulka zu nennen und führten schliesslich...
VORSÄNGER
Meine weissen Hände schmerzen von der Arbeit...
CHOR
...weissen Hände von der Arbeit!
VORSÄNGER
Das Herz in meiner Brust schmerzt vor Sorge! Ich weiss nicht...
CHOR ...wie leben, wie den Geliebten vergessen!
VORSÄNGER
Meine schnellen Füsse schmerzen vom Gehen...
CHOR ...schnellen Füsse vom Gehen!
LARINA, NJANJA
...den wattierten Schlafrock und die Haube wieder ein! Die Gewohnheit usw.
LARINA
Doch mein Mann liebte mich von Herzen...
NJANJA
Doch der gnädige Herr liebte Sie von Herzen...
LARINA
...in allem vertraute er mir unbekümmert.
NJANJA
...in allem vertraute er Ihnen unbekümmert.
LARINA, NJANJA
Die Gewohnheit usw.
Hinter der Bühne hört man den Chor der Bauern, der langsam näher kommt.
NR. 2 CHOR UND TANZ DER BAUERN
VORSÄNGER
Meine schnellen Füsse schmerzen vom Gehen...
CHOR ...schnellen Füsse vom Gehen!
VORSÄNGER
Meine weissen Hände schmerzen von der Arbeit...
CHOR ...weissen Hände von der Arbeit!
Die Bauern treten auf; voran tragen sie eine geschmückte Garbe.
CHOR Grüss Gott, gnädige Frau!
Grüss Gott, unsere Ernährerin!
Wir sind zu dir gekommen, Gnädige, eine geschmückte Garbe haben wir mitgebracht! Mit der Ernte sind wir fertig!
LARINA
Nun, das ist schön, vergnügt euch, ich freue mich über euch. Singt etwas Lustigeres!
CHOR Erlaubt, Mütterchen; erfreuen wir die gnädige Frau! Nun, Mädchen, versammelt euch im Kreis, nun was denn, stellt euch auf!
Während des Chores tanzen die Mädchen mit der Garbe.
«Wie einst über die Brücke, über das Brückchen, über die beerenroten Brettchen, tralala, tralala, tralala. Dort ging, dort schritt ein stämmiger Bursche, genau wie eine Himbeere, tralala, tralala, tralala. Auf der Schulter trägt er einen Knüppel, unter dem Rockschoss trägt er einen Dudelsack,
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Onegin will Tatjana packen, sie bemüht sich in grösster Erregung, seiner Umarmung zu entfliehen. Schliesslich beginnt der Kampf sie zu erschöpfen.
TATJANA Genug!
ONEGIN Oh, ich flehe dich an, geh nicht!
TATJANA Doch, ich werde hart bleiben!
ONEGIN Ich liebe dich! Ich liebe dich!
TATJANA Lass mich!
ONEGIN Ich liebe dich!
TATJANA Lebe wohl auf ewig!
ONEGIN Du bist mein!
Onegin bleibt einige Zeit verständnislos stehen, von Verzweiflung übermannt. Schande... Weh... o mein elendes Schicksal! rennt davon
Wörtliche Übersetzung aus dem Russischen: Tatjana Kukawka, Markus Wyler, Beate Breidenbach
Programmheft
JEWGENI ONEGIN
Oper von Pjotr Tschaikowski (1840-1893)
Lyrische Szenen
Libretto von Konstantin Schilowski und Pjotr Tschaikowski
Nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin
Premiere am 24. September 2017, Spielzeit 2017/18
Wiederaufnahme am 10. Februar 2023, Spielzeit 2022/23
Herausgeber Opernhaus Zürich
Intendant Andreas Homoki
Zusammenstellung, Redaktion Beate Breidenbach Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli
Titelseite Visual François Berthoud
Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler Druck Fineprint AG
Textnachweise:
Handlung: Simon Berger / Beate Breidenbach. – Die Gespräche mit Barrie Kosky und Stanislav Kochanovsky sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Marcel Proust, Vom Geschmack der Erinnerung, in: ders., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Stuttgart 2013. – Den Brief von Pjotr Tschaikowski entnahmen wir dem Band Eugen Onegin. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg 1985. – Die Texte von Anselm Gerhard und Dana Grigorcea sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. –
Die Puschkin-Zitate entnahmen wir dem Band Eugen Onegin/Evgenij Onegin, Zweisprachige Ausgabe, Bremen 2012.
Bildnachweise:
Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 13. September 2017.
Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz.
PRODUKTIONSSPONSOREN
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Swiss Re
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GÖNNERINNEN UND GÖNNER
Josef und Pirkko Ackermann
Alfons’ Blumenmarkt
Familie Thomas Bär
Bergos Privatbank
Margot Bodmer
Maximilian Eisen, Baar
Elektro Compagnoni AG
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Fitnessparks Migros Zürich
Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung
Walter B. Kielholz Stiftung
KPMG AG
Landis & Gyr Stiftung
Fondation Les Mûrons
Neue Zürcher Zeitung AG
Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung
StockArt – Stiftung für Musik
Else von Sick Stiftung
Ernst von Siemens Musikstiftung
Elisabeth Weber-Stiftung
FÖRDERINNEN UND FÖRDERER
Theodor und Constantin Davidoff Stiftung
Dr. Samuel Ehrhardt
Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG
Garmin Switzerland
Richards Foundation
Luzius R. Sprüngli
Stiftung Lyra zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen
Madlen und Thomas von Stockar
Verleih von Operngläsern im Eingangsfoyer des Opernhauses