Turandot

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TURANDOT

PUCCINI
GIACOMO
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PUCCINI (1858 –1924) Partner Opernhaus Zürich
TURANDOT GIACOMO

Wir wollen die

aggressive Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.

HANDLUNG

Erster Akt

Ein Mandarin verkündet das Gesetz: Prinzessin Turandot nimmt nur den Mann zum Gatten, der ihre drei Rätsel löst. Wer sich den Rätseln stellt und sie nicht lösen kann, wird enthauptet. Zuletzt hatte sich der junge Prinz von Persien vergeblich an ihnen versucht. Das Volk ruft nach dem Henker Pu-Tin-Pao und fordert dessen Hinrichtung. Im Tumult der Menge trifft Calaf, der Sohn des gestürzten Tartarenkönigs Timur, seinen totgeglaubten Vater wieder. Der greise Timur wird begleitet von der Dienerin Liù. Die drei befinden sich unerkannt in Turandots Reich. Calaf fragt Liù, warum sie sich um seinen Vater kümmere. Sie antwortet: Weil Calaf ihr einst im Tartarenpalast zugelächelt habe. Das Volk schärft die Messer und besingt den Mond, dessen Erscheinen das Zeichen für die Hinrichtung ist. Nachdem der Mond aufgegangen ist, wird der persische Prinz hereingeführt. Das Volk bittet jetzt um Gnade für ihn. Aber Turandot erscheint und gibt ungerührt das Zeichen zur Vollstreckung des Urteils. Calaf ist geblendet von Turandots Anblick, er will sie erobern. Timur und Liù bitten ihn inständig, nicht in sein Verderben zu laufen. Auch die drei Minister Ping, Pong und Pang, die der blutigen Rituale überdrüssig sind, versuchen Calaf mit Drohungen und Spott abzuschrecken. Calaf aber ist überzeugt von seinem Sieg und schlägt den Gong, der das Prüfungsritual erneut in Gang setzt.

Zweiter Akt

Erstes Bild

Ping, Pong und Pang haben genug von der Herrschaft Turandots und ihren Hinrichtungen. Sie beklagen den Niedergang Chinas und sehnen sich auf ihre Landgüter, weit weg von Turandots Grausamkeit. Sie stellen sich vor, ein Prinz würde das Land erlösen und Turandot zu einer liebenden Frau machen. Sie werden aus ihren Träumen gerissen, als die Trompeten das Rätselritual für Calaf ankündigen.

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Zweites Bild

Die Regierung und das Volk versammeln sich, der alte Kaiser Altoum erscheint. Er sehnt das Ende des Blutbads herbei, das seine Tochter unter den Bewerbern anrichtet. Aber auch er kann Calaf nicht von seinem Entschluss zurückhalten, sich um seine Tochter zu bewerben. Turandot erklärt, warum sie nicht bereit ist, sich einem Mann zu unterwerfen. Ihre Urahnin Lou-Ling war vor hunderten von Jahren von Tartaren verschleppt und missbraucht worden. Der Schrei der Ahnin habe Zuflucht in ihrer Seele gesucht, erklärt sie. Sie räche Lou-Lings Tod. Turandot stellt Calaf die drei Rätselfragen. Der Tartarenprinz kann sie alle richtig beantworten. Die richtigen Antworten lauten Hoffnung, Blut und Turandot. Das Volk jubelt. Turandot fleht ihren Vater Altoum an, sie nicht dem Fremden auszuliefern. Calaf stellt daraufhin ein Gegenrätsel: Kann Turandot ihm bei Tagesanbruch seinen Namen nennen, ist er bereit auf sie zu verzichten und zu sterben.

Dritter Akt

Erstes Bild

Turandots Herolde verkünden: Keiner dürfe in dieser Nacht schlafen. Bei Todesstrafe müsse der Name des Fremden vor Tagesanbruch enthüllt werden. Calaf ist sich seines Sieges sicher. Ping, Pong und Pang versuchen Calaf zur Flucht zu überreden, drohen und machen Versprechungen, ohne Erfolg. Turandots Häscher schleppen Timur und Liù herbei. Aus ihnen will man Calafs Namen mit Gewalt herauspressen. Liù erklärt, sie alleine kenne den Namen des unbekannten Prinzen, werde ihn aber unter keinen Umständen verraten. Man foltert sie, aber sie gibt den Namen nicht preis. Turandot fragt sie, was ihr solche Kraft verleihe. Liù antwortet: die Liebe. Die sei ihr jedes Opfer wert. Liù ersticht sich. Das Volk beklagt Liùs Tod.

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EINE MERKWÜRDIG

LICHTLOSE OPER

Der Dirigent Marc Albrecht über «Turandot», die letzte Oper von Giacomo Puccini

Marc, warum ist die Oper Turandot eigentlich beim Publikum so beliebt? Vermutlich, weil sie eine der populärsten Arien der gesamten Opernliteratur enthält.

So einfach ist das: Die Leute wollen Nessun dorma hören? Diese Arie hat einfach eine anhaltend elektrisierende Wirkung auf ihre Zuhörer. Dabei ist der von Calaf gesungene Text eigentlich nur ein Beispiel für männliche Hybris. Die Musik dazu ist dann allerdings einfach hinreissend. Wenn es Nessun dorma nicht gäbe, sähe das mit der Popularität von Turandot vielleicht anders aus. Das Stück ist auf den ersten Blick nämlich weniger zugänglich als andere Werke Puccinis. Es ist eine merkwürdig lichtlose Oper mit beklemmender Handlung. Die Härte der Charaktere und auch des Tonfalls zieht sich durch alle drei Akte. Vor diesem Hintergrund wirkt das Licht, das die Figur der Liù in das Stück trägt, umso stärker.

Das Libretto basiert auf einem Schauspiel von Carlo Gozzi, in dem die Figur der Liù in anderer Gestalt und in viel marginalerer Bedeutung vorkommt. Liù ist eine Erfindung Puccinis.

Ja, sie kam auch im ersten Librettoentwurf der Oper noch nicht vor. Puccini hat sie erst im Verlauf des Entstehungsprozesses eingefügt. Man sieht daran, wie sehr Puccini auch sein eigener Dramaturg war und an der theatralischen Konzeption in diesem Fall noch viel intensiver mitgearbeitet hat, als bei früheren Werken. Seine Ungeduld hat dabei die beiden Librettisten regelrecht gepeinigt. Wenn er beim Komponieren nicht schnell genug voran kam, schrieb er sich notfalls selbst die Verse wie beispielsweise in Liùs letzter Arie.

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Puccini hat sehr gekämpft mit dem Stoff und der musikalischen Sprache. Er ist gestorben, bevor das Finale fertig war. Hat er so intensiv gesucht, weil er nicht genau wusste, wohin die Reise mit Turandot gehen sollte, oder stand ihm das, was er wollte, besonders genau vor Augen, und er konnte es nur nicht auf das Papier bringen?

Wahrscheinlich beides. Puccini hat sich tatsächlich sehr an dem Stoff abgearbeitet, die Komposition immer wieder unterbrochen, um den Text ändern oder gleich neu schreiben zu lassen. Oft brauchte es mehrere Textfassungen bestimmter Passagen, um kompositorisch weiter voran zu kommen. Aber schliesslich hat ihn sein untrügliches Gespür für dramatische Zusammenhänge die richtigen Entscheidungen treffen lassen. Durch seine visionäre Akribie ist ein Drama entstanden, das die Version Gozzis an Gehalt und Tiefe weit hinter sich lässt.

Puccinis Stoffe waren bis dahin konkret, realistisch, manche sagen: veristisch. Und plötzlich greift er zu einem Märchenstoff, der wie alle Märchen auf Bilder und Typisierungen aufbaut. Die Turandot -Geschichte hat ja ihre Wurzeln in einer Erzählung aus Tausendundeiner Nacht. Wie ist das Interesse zu erklären?

Puccini wollte mit diesem chinesischen Märchen endlich neue Wege beschreiten. Der Triumph der Liebe über die Finsternis hat ihn als Thema fasziniert und zu seiner besten und abgründigsten Musik inspiriert. Und wenn man nachliest, wie dornig der Schaffensprozess für ihn war, der sich über vier Jahre hinzog, hat man das Gefühl, dass es ihn selbst fröstelte angesichts des Charakters seiner Hauptfigur, Turandots Kälte wurde für ihn immer mehr zum Problem. Liù entspricht da dem Typus der vom Komponisten geliebten Frauenfiguren seiner früheren Opern. Er brauchte diesen positiven Charakter und die entsprechende Musik, um über der Arbeit nicht zu verzweifeln. Daher macht es auch Sinn, das Stück mit dem Tod Liùs enden zu lassen. Sie ist das heimliche Zentrum der Oper.

Es gibt nur 36 Skizzenseiten zum Finale. Hat Puccini es einfach nicht hingekriegt, oder war es doch der Tod, der die Vollendung verhinderte?

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Er sagte zwar selbst, es sei nur noch eine Sache von sechs oder sieben Wochen, aber ich habe da meine Zweifel. Dieses grosse abschliessende Duett war für Puccini der wichtigste Moment des Dramas, dem er vor allem musikalisch erhabene Schönheit geben wollte, die Krönung alles Vorherigen. Insbesondere der alles entscheidende Kuss sollte ein sinfonisch-epischer Moment purer Magie werden. Aber er wusste eben noch nicht, wie das hätte gehen können. Im Manuskript findet sich dann am Rand eines Notenblatts der Hinweis «Poi Tristano» (weiter wie bei Tristan). Das hat beinahe etwas Rührendes. Man weiss, dass er sich in dieser Zeit intensiver mit Wagners Tristan beschäftigt hat, die Partitur aber einmal frustriert zugeklappt und sinngemäss gesagt hat: Wir sind alle nur Hütchenspieler – dieses werden wir nie erreichen! Neben seiner Krankheit waren es die destruktiven Selbstzweifel, die ihn immer wieder stark behinderten.

Wir geben in Zürich nicht die oft gespielte Fassung mit dem von Franco Alfano nachkomponierten Finale. Wir enden mit dem Tod Liùs, an der Stelle also, an der Puccini nicht mehr weitergeschrieben hat. Was waren deine Überlegungen als Dirigent für diese Entscheidung?

Immer wenn ich bei Turandot im Publikum sass und die Oper mit dem Alfano-Schluss gehört habe, fand ich dieses Finale problematisch. Es wirkt seltsam grob und mit Ausnahme von zwei kurzen Momenten eher unpoetisch. Es klingt vor allem nach Alfano. Es ist hier eben anders als etwa bei Alban Bergs Lulu, wo das kompositorische Material für den fehlenden dritten Akt im Wesentlichen im Particell vorlag und es «nur» noch instrumentiert werden musste. Bei Turandot ist das von Puccini hinterlassene Skizzenmaterial bruchstückhaft und lässt wesentliche Fragen offen. Daher sind für mich alle bisherigen Versuche, diese letzten beiden Szenen zu vervollständigen, nicht überzeugend. Sie schwächen das Werk eher, gerade im entscheidenden Moment. Ich finde es stärker, die Oper mit Liùs Tod enden zu lassen in dem Wissen, dass dies die letzten Takte sind, die Puccini komponiert hat. Ich glaube, dass die Oper so auf ihrem inneren Höhepunkt schliesst.

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Das

Du hast in letzter Zeit sehr viele Opern dirigiert, die im zeitlichen Umfeld von Turandot entstanden sind wie Werke von Erich Wolfgang Korngold, Alexander von Zemlinsky oder Richard Strauss. Wie blickst du mit diesen muskalischen Parallelerfahrungen auf die Turandot -Partitur? Ich finde es spannend, dass sie alle hinter den selben Stoffen her waren, dass Puccini beispielsweise auch sehr genau Die tote Stadt geprüft hat, die Korngold dann vertont hat, oder dass Puccini lange und ernsthaft an der Florentinischen Tragödie interessiert war, die dann von Zemlinsky komponiert wurde. Die haben alle um ähnliche Themen gerungen. Das zeigt Puccinis Zeitgenossenschaft mit diesen Komponisten. Nur dass Puccini einer anderen Generation angehörte. Er hat sehr deutlich wahrgenommen, dass die Moderne angebrochen war und das Komponieren sich in eine neue Richtung bewegt hatte. Diesen Aufbruch konnte er selbst nur teilweise nachvollziehen, aber er war an ihm interessiert. In seinem letzten Lebensjahr ist Puccini noch zu einer Aufführung von Schönbergs Pierrot Lunaire gereist und war davon irritiert und fasziniert zugleich. In Turandot findet man daran auch Anklänge, in der Beschwörung der Geister der verstorbenen Prinzen.

Gleichzeitig gibt es Briefstellen, in denen er kein gutes Haar an der neuen Musik von damals lässt. Nach aussen hin musste er wohl so reagieren. Puccini hat 1913 Strawinskys Sacre du printemps in Paris gehört und fand das irgendwie interessant, aber vor allem schrecklich. In der Turandot -Partitur jedoch finden sich immer wieder Spuren von Strawinsky. Über Schönbergs Gurrelieder lästerte er, eigentlich hätte er keine Lust gehabt, Richard Wagner zu hören, man solle ihn mal den richtigen Schönberg hören lassen. Er hat genau studiert, was um ihn herum passierte, auch die Werke von Richard Strauss. Er wusste genau, was die Kollegen machen und wie sie es machen – nicht zuletzt, um seinen eigenen Stil bewusst dagegen behaupten zu können. Nicht ausgeschlossen, dass er dabei Anleihen bei Komponisten machte, von denen er sich gerade noch distanziert hatte.

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Nimmst du Turandot kompositorisch als rückwärtsgewandt wahr, oder hat sie doch moderne Züge?

Turandot ist für mich ein Werk des Aufbruchs. Puccini hat dabei die Parameter seiner Musik, insbesondere Harmonik und Instrumentation, einer Totalrevision unterzogen. Bitonalität verwendet er dabei zum ersten Mal im grossen Massstab. Gleich zu Beginn des Stücks, zur Rede des Mandarins, setzt er den neuen Ton und lässt das Orchester den Grundakkord aus gleichzeitigem d-Moll und Cis-Dur nicht weniger als 60mal hämmern. Der harte und unerbittliche Sound der beiden Xylophone komplettiert diese albtraumhafte klangliche Szenerie. Wir werden dadurch ganz unmittelbar hineingezogen in die brutale Welt dieses Märchens, und von den ersten hasserfüllt herausgeschleuderten Rufen des Chores nach dem Henker Pu-Tin-Pao scheint der Weg zu Schönbergs Moses und Aron nicht mehr weit.

Der Orchesterapparat ist riesig. Eigentlich sind es ja sogar zwei Orchester, eins auf und eins hinter der Bühne.

Du meinst die grosse Banda hinter der Bühne mit zehn Blechbläsern, Saxophonen, Orgel, die Fanfaren in der Hinrichtungsszene des persischen Prinzen. Das alles irrlichtert von draussen herein und trägt ein beunruhigendes Element in das Stück. Man spürt, wie gross dieses imaginäre Peking ist, und dass die Oper surreale Räume öffnet, die alle mit bespielt werden. Das Orchester im Graben ist das grösste je von Puccini verwendete – neben dem schon erwähnten Xylophon und Bass-Xylophon spielt auch eine Batterie chinesischer Gongs für den Klang eine wichtige Rolle. Wenn früher bei Puccini die ausdrucksvolle Streichermelodie prägend war, so steht nun ein gehärteter Grundklang an deren Stelle, der dem inneren Zustand der Titelheldin und der Erstarrung des ganzen Staates entspricht.

Welche Rolle spielt das Chinesische in der Musik?

Der musikalische Exotismus der Turandot geht deutlich über das hinaus, was Puccini in Madama Butterfly bereits versucht hatte. Das Verwenden originaler oder auch nur gut erfundener chinesischer Volkslieder war natürlich naheliegend. Und Puccini macht es auf sehr intelligente Weise: Er borgt sich zwar

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zentrale Melodien, integriert sie harmonisch aber in seine eigene musikalische Grammatik. Pentatonische Melodik findet man oft – in den Chorpartien und vor allem bei den ursprünglich aus der Commedia dell’arte stammenden drei Ministern. Aufregend an dieser Partitur finde ich die formale Weite, die Puccini hier einzieht. Er spannt Bögen über einen ganzen Akt hinweg, die er durch grosse Tableaux wie die Hinrichtungsszene des persischen Prinzen oder den Mondchor strukturiert. In Turandot hat Puccini einen langen Atem entwickelt und muss nicht mehr alle zehn Takte das Tempo ändern. Das ist neu: diese Ruhe, Geduld und Übersicht. Trotzdem erzählt er detailliert seine Geschichte, aber eben nicht mehr verspielt und nicht mehr jeder spontanen Eingebung folgend. Das ist spannend, weil er natürlich insgesamt trotzdem immer ein äusserst agiler Komponist bleibt, immer ganz nah am Herzschlag seiner Figuren.

Was muss man als Turandot-Dirigent interpretatorisch im Auge behalten?

Die grossen Chormomente. Die Rolle des Chores steht hier singulär in Puccinis Schaffen. Er fordert dem Chor eine enorme Ausdrucksvielfalt ab –die Gewalt, die überschiessende Aggression, das Ätzende, Sadistische und im nächsten Takt Momente grosser Zartheit und Anteilnahme. Der Chor spielt die eigentliche Hauptrolle der Oper. Deshalb bin ich auch bei jeder szenischen Chorprobe dabei. Turandot zu machen, kam für mich nur mit einem Regisseur in Frage, der wie Sebastian Baumgarten mit besonderen Ideen den Chor bewegt, denn darauf kommt es in dieser Oper an.

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Woran entscheidet sich beim Dirigat, ob eine Turandot -Interpretation gelingt?

Als Dirigent muss man einen Ausgleich suchen zwischen der Monumentalität und den relativ wenigen lyrischen Momenten, denen Puccinis besondere Liebe galt. Wenn das Zarte und Fragile, also das Wertvollste dieser Musik, gelingt, dann erschliesst sich von dort aus alles Übrige.

Das Gespräch führte Claus Spahn

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RASANT BESCHLEUNIGTE ERREGUNGSKURVEN

Regisseur Sebastian Baumgarten über seinen Blick auf den Opernkomponisten Puccini und seine «Turandot»

Sebastian, du hast eine Schwäche für die Opern von Giacomo Puccini. Was begeistert dich an ihnen?

Puccinis Wirkungsästhetik verfängt bei mir. Ich mag die Energie, die seinen Werken innewohnt, die Überhitzung. Dagegen kann ich mich intellektuell wehren, aber es nützt nichts.

Was löst bei dir intellektuelle Abwehrreaktionen aus? Dass Puccini gerne unter Kitschverdacht gestellt wird?

Nicht nur unter Kitschverdacht. Er pflegte ja für seine Zeit einen eher rückwärts gewandten Kompositionsstil. Er ist eine Künstlerfigur, die mit patriarchaler Autorität auftritt. Man spürt bei ihm eine Nähe zum italienischen Futurismus, zu Mussolini und der Entstehungsphase des Faschismus. Solche Indizien leuchten bei mir wie Warnschilder auf. Aber ich muss zugeben, dass mich eine Oper wie Turandot trotzdem einfach kriegt – und das ist immer ein guter Widerspruch, diese Werke auch zu inszenieren. Es gibt Künstler, die mir intellektuell viel näher stehen, bei denen aber weniger Reibungshitze zwischen mir und dem Material entsteht.

Was ist so packend an Puccinis Musik?

Er ist immer auf den Punkt, und er ist schneller, als man es bei einem Opernkomponisten seines Schlages erwartet. Die Feier der Geschwindigkeit, die ich in Turandot wahrnehme, korreliert mit dem Tempowahn der Futuristen.

Die Geschwindigkeit fällt zusammen mit plötzlichen Abstürzen und einer starken Fragmentierung. Die Stimmungsumbrüche und die vielen Doppelstriche in Turandot sind wie kubistische Verschiebungen. Gleichzeitig hat

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Puccinis Musik diese grosse Eingängigkeit. Eine Arie wie Nessun dorma – das muss man ja wirklich mal sagen – ist mit einer unfassbaren Könnerschaft gemacht und zwar nicht als Ergebnis eines kompliziert reflexiven Kompositionsvorgangs, sondern intuitiv. Weil du den Kitschverdacht angesprochen hast: Ich finde, der greift in der Musik nicht. Wenn überhaupt, dann eher in der Anlage der Stoffe und auf dramaturgischer Ebene. Da ist vieles problematisch, Puccinis Frauenbild etwa, stereotype Milieuentwürfe oder fragwürdige Figurenkonstellationen. Aber ich muss ehrlicherweise gestehen: Genau das interessiert mich als Regisseur verbunden mit der Frage, wie man heute damit umgehen kann.

Du sagst, Puccini schreibe intuitiv. Ist bei ihm nicht alles unglaublich strategisch und kalkuliert hergestellt, die dramatischen Höhepunkte, die Momente des Sentiments, die Kontraste, das Timing? Ich empfinde es als intuitiv, aber klar, gibt es da eine Ambivalenz. Bei Puccini ist es beides zugleich. Man spürt das zum Beispiel bei den Arienhits und der Tatsache, dass sie an Stellen kommen, an denen sie gar nicht kommen müssten. Tosca beispielsweise sitzt bei Scarpia. Man weiss gar nicht, warum die Handlung plötzlich stoppt, und dann kommt Vissi d’arte. Das macht für den Fortlauf der Geschichte eigentlich keinen Sinn, ist aber dramaturgisch trotzdem sehr bewusst gesetzt. Das ist kalkuliert als Einbruch. Eine Kalkulation, die du nicht lernen kannst.

Puccini hat fast ausschliesslich für das Theater geschrieben. In einem Brief sagt er, er könne nur komponieren, «wenn sich meine HenkerMarionetten auf der Bühne tummeln». Alles, was er schreibt, ist an der Theaterpaxis ausgerichtet und geradezu filmisch in der Musik ausgearbeitet. Macht das die Arbeit für dich als Regisseur leichter oder schwerer, wenn sozusagen jede Zigarette, die in der Handlung angezündet wird, in Töne gefasst ist?

Das kann man nicht eindeutig beantworten, das kann so oder so sein. Zu Puccinis Sinn für Theaterpraxis gehörte ja auch, dass er seine neuen Opern bis zur Uraufführung begleitete und das Komponierte an die konkreten

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theatralischen Gegebenheiten anpasste. Dieser Abgleich mit der Praxis konnte bei Turandot wegen seines Todes nicht mehr stattfinden, und ich finde, das merkt man dem Stück an. Puccini will in der Musik manchmal mehr als die Szene herstellen kann. Es wäre interessant gewesen, ob er die Gestalt der Oper während der Proben noch einmal revidiert hätte. Man sagt bei bestimmten Opern übrigens immer, dass sie filmisch gedacht seien, aber ich sehe es andersherum: Die Oper ist wie die Vorerfindung des Films. Filmmusik ist so bedeutsam für die bewegten Bilder wie die Musik in der Oper. Ich bin ein grosser Fan von Musik aus Fernsehserien der siebziger Jahre wie Die Strassen von San Francisco. Es ist unglaublich, was da passiert, Jazz, BigbandSound mit gestopften Posaunen usw., und man spürt, dass das alles bei der Wirkungsästhetik von Opernkomponisten wie Puccini, Wagner oder Verdi abgehört ist.

Turandot ist in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts entstanden. Was ist charakteristisch für diese Zeit, und wie schlägt sie sich in der Oper nieder?

Diese Zwanziger Jahre waren geprägt von politischen und sozialen Unruhen. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs steckte den Menschen noch in den Knochen, und die hochaggressive, aufgeheizte Stimmung spiegelt sich auch in Puccinis Oper, etwa in den Chorauftritten im ersten Akt. Oder bei Calaf: Er will um jeden Preis die drei Turandot-Rätsel lösen und gegen diese Frau gewinnen. Alle versuchen ihn, davon abzuhalten, sein Vater Timur und Liù, die Minister Ping, Pang, Pong, und auch das Volk. Alle führen ihm vor Augen, wie grausam das für ihn enden wird, aber er muss es durchziehen. Er muss diesen Gong schlagen, durch den das blutige Rätselritual erneut in Gang gesetzt wird. Er wird da als frenetische Heldenfigur erkennbar, die gegen allen Rat und gegen alle Vernunft handelt. Dieser Irrationalismus, diese Bereitschaft zur Übersteigerung erzählt viel über die Stimmungslage der Umbruchszeit, in der Turandot entstanden ist. Die heraufdämmernde IndustrieModerne, der Imperialismus, der Kolonalismus, die heftigen Verteilungskämpfe – das alles ist Hintergrund für diesen Stoff. Die Parallelen zu den italienischen Futuristen habe ich ja bereits erwähnt. Auch Puccini liebte die

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schnellen Motoren, und ein Kennzeichen der Turandot-Partitur sind die rasant hochfahrenden Er regungskurven. Ich nehme diese Beschleunigung in der Musik als ein Kippen ins Surreale wahr. Sie erinnert mich an schnell drehende Räder, bei denen es ab einem bestimmten Umschlagpunkt so aussieht, als würden sich die Speichen langsam rückwärts drehen.

Der Gesamteindruck der Handlung ist ein statischer: Nichts scheint mehr zu gehen in dem Reich, an deren Spitze Turandot steht. Alle sehnen sich nach Veränderung und Erlösung, aber es herrscht Erstarrung. Genau. Turandot hat den Stecker gezogen. Der Grund ist aus heutiger Sicht ein feministisches Anliegen: Ihre Urahnin Lou-Ling ist vor tausend Jahren von einem Tartarenkönig missbraucht worden. Lou-Lings Schrei habe «Zuflucht in ihrer Seele genommen», erklärt Turandot in ihrer grossen Arie In questa reggia. Den Missbrauch rächt sie nun durch Totalverweigerung. Ihr Motiv ist feministisch, aber ihre Aggressivität und das Stoppen aller Vorgänge sind männliche Strategien. Keiner ist für sie, weder das Volk, noch die Minister, noch ihr Vater, der alte Kaiser Altoum. Alle wollen ein Ende des Stillstands. Turandot ist eine Widerstandsfigur, die am Ende mundtot gemacht wird. Dass Calaf sie bezwingt, ist sozusagen die Rache des Imperiums an ihrer Verweigerung. Die Beziehung zwischen Calaf und Turandot ist dadurch zusätzlich aufgeladen, dass Calaf ebenfalls aus dem Geschlecht der Tartaren stammt, das der Urahnin die traumatische Gewalt angetan hat. Wie man sieht: Die Handlung, die hier abläuft, ist nicht die Geschichte einer grundsätzlich unnahbaren Prinzessin, deren kaltes Herz durch die Kraft einer italienischen Tenorliebe erweicht wird.

Puccini hat mit Turandot zu einem Märchenstoff gegriffen, in dem die Charaktere eher schemenhaft gezeichnet sind. Ist das für dich als Regisseur ein Problem?

Überhaupt nicht. Märchen und die grundsätzlichen Themen, die sie behandeln, sind viel geräumiger als eine konkrete Geschichte. Eine Märchenoberfläche, wie sie Turandot bietet, ist in vielerlei Hinsicht interpretationsfähig. Man streicht bei Puccini immer so heraus, dass er in seiner letzten Oper

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überraschend einen Märchenstoff gewählt hat, in dem die Figuren überhöht und modellhaft sind. Ich frage mich, ob das in seinen früheren Opern wirklich so viel anders war. Nehmen wir Tosca: Sie ist die Gute, Scarpia der Böse, und Cavaradossi ein Kämpfer für politische Freiheit. In dieser Grundkonstellation wird letztlich auch in dieser Oper alles durchgespielt. Vielleicht fand Puccini den Realismus, mit dem man ihn immer in Verbindung brachte, gar nicht so interessant, als er sich an Turandot machte. In der Malerei ist der Realismus zu dieser Zeit auch verschwunden. Die Moderne war nicht mehr die Zeit für die feinfühlig stringente Ausarbeitung von Figuren und konsistente Plots. Scharf geschnittene Aspekte, die verkantet nebeneinander stehen, waren viel interessanter. Puccini war ja über die künstlerischen Entwicklungen seiner Epoche informiert. Er versuchte zwar, sich an das Alte zu halten, aber folgenlos zog das Neue eben doch nicht an ihm vorbei.

Was folgt daraus für dich als Regisseur?

Es gibt grosse Chöre in Turandot, kurze Arien, die «Komödien»-Szenen von Ping, Pang, Pong. Man muss versuchen, die Kontraste scharf zu ziehen und gleichzeitig gegen die Gefahr eines unverbundenen Nacheinanders anzuarbeiten. Man muss Subtexte stark machen und Reaktionen motivieren. Warum beispielsweise beginnt Turandot, ihre grosse In questa reggia-Arie ziemlich unvermittelt zu singen? Weil der Chor die Melodie mitsummt, mit der die Knaben zuvor die Prinzessin angefleht hatten, die seufzenden Stimmen nicht länger zu überhören und von ihrer Höhe herabzusteigen. Das bringt Turandot unter Druck, sie will sich rechtfertigen. Ausserdem geht es natürlich grundsätzlich darum: Wie kriege ich den hohen Puls dieser Gesellschaft in Tempo auf der Bühne umgesetzt? Wie kriege ich Bewegung in den Chor? Da kann ich zum Glück auf die volle Unterstützung durch den Chor des Zürcher Opernhauses bauen.

Welche Rolle spielt für dich, dass Puccini Turandot in China verortet hat?

Es ist ein erfundenes China mit einer Musik, die so chinesisch klingt, wie sich ein italienischer Komponist eben chinesische Musik vorstellt.

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Ich habe gelesen, dass er einige Melodien einer chinesischen Spieluhr entnommen hat, die ein Freund in Bagni di Lucca besass und – Achtung! –in der Schweiz hergestellt wurde. Soviel zur Authentizität des Chinesischen. Es ist selbstverständlich ein FantasieChina, mit dem wir es hier zu tun haben. Tiefgreifende gesellschaftliche Themen in der kulturellen Ferne zu verorten, um sie über den Umweg des Exotischen darstellbar zu machen, ist ja eine bewährte Strategie im Theater. Das schafft eine veränderte Perspektive. Bestimmt wollte Puccini mit der Stoffwahl auch ganz simpel die Sehnsucht nach dem Exotischen bedienen. Das geht aber heute nicht mehr. Die Diskussionen um kulturelle Aneignung und stereotype Darstellung fremder Kulturen, die wir gerade führen, lassen bei einer Oper wie Turandot alle Ampeln für eine folkloristisch chinesische Ausstattung auf Rot gehen. Die würde mich auch gar nicht interessieren. Geht man der Frage nach, wie sich Puccini sein China vorgestellt hat, kommt man sehr schnell weg von fernöstlichem Dekor und landet bei ganz anderen Themen, etwa dem Konflikt zwischen Matriarchat und Patriarchat. Eine junge Frau ist in der Lage, kraft ihrer Identifikation mit einer weiblichen Urahnin den ganzen patriarchalen Apparat auszuhebeln – das ist doch ein interessantes und durchaus modernes Thema, bei dem es völlig zweitrangig ist, in welchen kulturellen Kontext man es ansiedelt.

Und wo ist es in der Zürcher Neuproduktion angesiedelt?

Dazu nur so viel: Der Gedanke der Überschreibung ist für uns wichtig gewesen, so wie Puccini auch eine Turandot -China-Überschreibung vorgenommen hat. Der Stoff stammt ursprünglich aus den Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Carlo Gozzi hat ein Schauspiel daraus gemacht, das Friedrich Schiller zu einer eigenen Dramenversion umgearbeitet hat. Die wiederum war der Ausgangspunkt für Puccinis Librettisten. Man nimmt ein grosses Blatt Papier und beginnt, eine Welt darauf zu zeichnen. Hinter dem Papier liegt die politische Realität der Entstehungszeit, über die wir bereits gesprochen haben. Die drückt sich natürlich durch das Papier durch.

Das Gespräch führte Claus Spahn

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Wir verkünden die Idee der mechanischen Schönheit. Wir preisen die Liebe zur Maschine.

DIE HÖLLE IN DER KEHLE

Die letzten Tage seines Lebens verbrachte

Puccini in Brüssel, wo er sich der Tortur einer RadiumTherapie seines Kehlkopfkrebses unterzog

An diesem 24. November öffnet Dr. Ledoux den Kehlkopf und führt die radiumhaltigen Nadeln direkt in den Tumor ein, um diesen durch eine so genannte Kontakt-Röntgentherapie zu zerstören. Ausserdem wird ein Luftröhrenschnitt vorgenommen, damit der Patient durch eine Kanüle unter Umgehung des Kehlkopfs atmen kann. Zur Versorgung mit flüssiger Nahrung erhält Puccini eine Nasensonde. Er ist wegen seines labilen Gesamtzustands nicht in Vollnarkose, sondern nur lokal mit Morphium betäubt.

Der schreckliche Eingriff beendet Puccinis menschliche Existenz, obwohl er noch fünf Tage am Leben ist. Aber von nun an kann er nicht mehr sprechen, mit Hilfe von Notizzetteln macht er sich seiner Umgebung verständlich. Ein paar davon sind ehrerbietig aufgehoben worden, deprimierende Dokumente eines wehrlos gewordenen Lebens. «Wie viele Tage bleiben die Nadeln?» fragt Puccini schriftlich, als er am Tag nach der Operation seiner Situation gewahr wird. «Das wird sicher schmerzhaft sein», lautet seine Reaktion auf die Antwort seines Sohns Antonio, und erschrocken erkundigt er sich noch einmal: «3 Stunden Operation?» «Weisst du es jetzt?» fragt er Antonio und ergänzt: «Ich nicht – sie haben eine Öffnung gemacht – es scheint, dass das Radium zu wirken beginnt.» Und dann die Bewertung: «Sie glaubten, die Erkrankung sei geringer –haben sie die Tumore herausgeschnitten? Sie haben mich geöffnet, um den Kehlkopf zu sehen.» Seine grösste Angst ist nach all diesen Schrecken: «Ich fürchte, dass die Operation, dass sie am Ende sehen, dass sie nicht vollständig ist und dass sie dann noch eine machen müssen, und darüber bin ich sicher, ich Armer!» Mit dem Arzt korrespondiert er auf französisch: «Ich atme durch die Kehle, und ich verschlucke auch die Auswürfe – sie sind weniger geworden.»

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Am Tag nach der Operation telegrafiert Fosca aus Brüssel an Sybil Seligman: Puccini sei ruhig und sein Zustand normal, die Ärzte seien zufrieden. Die hoffnungsvoll gewünschte Besserung hält einige Tage an. Drei Tage nach der Operation teilen Fosca und Tonio den Verwandten und Freunden mit, Puccini gehe es gut, er habe keine Schmerzen mehr. Auch Carlo Clausetti, der auf einer Reise nach London ein paar Tage in Brüssel Station macht, bestätigt, dass überraschenderweise die besten Hoffnungen bestünden; selbst der gewöhnlich eher skeptische Doktor Ledoux sei dieser Ansicht: Puccini werde geheilt aus seiner Klinik entlassen werden können. Das ist am 28. November geschrieben. Und am selben Nachmittag informiert Fosca ausführlich Sybil Seligman über Puccinis guten Zustand.

Es ist der gewöhnliche Irrtum unmittelbar vor der Katastrophe. Auf seine Notizzettel schreibt Puccini: «Mir geht es schlechter als gestern – die Hölle in der Kehle – und ich fühle mich verlöschen – frisches Wasser». Dann vermutlich als allerletztes: «Elvira, arme Frau, zu Ende.» Um neun Uhr abends Clausetti an Adami: «Plötzlich schwere Herzkrise – man befürchtet Katastrophe – wir sind verzweifelt.» Am nächsten Morgen kommt der apostolische Nuntius in Begleitung des italienischen Botschafters in Belgien an Puccinis Sterbebett, um die kirchlich-sakramentale Zeremonie der letzten Ölung zu vollziehen. Und gegen Mittag teilen Tonio und Fosca «gebrochen» der Familie den «kürzlich eingetretenen» Tod des «armen Papa» mit: am 29. November 1924 um 11.30 Uhr.

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DER SIEGHAFTE ÜBERMENSCH

Giacomo Puccini und seine Beziehung zu Gabriele D’Annunzio

Eine etwa 1905 aufgenommene Fotografie zeigt Giacomo Puccini, seine Frau und einige Freunde, wie sie in den Feldern von Torre del Lago eine improvisierte Aufführung des Dramas La Figlia di Iorio geben. Offensichtlich stellen sie eine Kernszene der «tragedia pastorale» von Gabriele D’Annunzio nach: eine verhüllte Frauengestalt – Mila, die Tochter Iorios, «gespielt» von Elvira Puccini – und eine Hirtengruppe, vor deren Zudringlichkeiten sie flieht.

Die Werke des abruzzesischen Dichters waren keineswegs nur ein Freizeitspass der Familie Puccini: Immer wieder taucht die Idee einer Zusammenarbeit Puccinis mit D’Annunzio auf, der ihm über lange Jahre als «primo ingegno d’Italia», als grösste Begabung Italiens, gilt. Immer wieder zeigt sich Puccini fasziniert, weniger von der dichterischen Eigenart D’Annunzios, mehr wegen seines grossen Ruhms, der auf ein gemeinsames Werk ausstrahlen könnte. Auch D’Annunzio, angelockt durch die Aussicht, an der Seite des auch finanziell erfolgreichsten italienischen Komponisten der Zeit seine stets unermesslichen Schuldenberge abtragen zu können, ist interessiert, macht mehrfach Vorschläge, schickt sogar Libretto-Entwürfe. Da ist zum Beispiel La Crociata degli Innocenti, die Geschichte des Hirten Odimondo, der seine Verlobte wegen einer vom Aussatz befallenen Prostituierten verlässt, der er als Medizin das Blut der eigenen Schwester zu trinken gibt. Erstaunlicherweise geht Puccini auf diese kruden Ideen ein und beurteilt den ersten Akt sehr günstig. Er meldet jedoch auch Bedenken an und entwickelt eigene Vorstellungen und präzise Kritik. Damit ist das Projekt erledigt: D’Annunzio, dem seine literarischen Erfolge eine erstaunliche Selbstgewissheit verliehen haben, ist tief gekränkt und zur Anpassung

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an andere, anders geartete Talente nicht bereit. 1918 kommt Puccini zu einem endgültig klingenden Urteil: «Der Dichter bringt der Opernbühne Unglück.»

In den Jahren, als Puccini und seine Librettisten die Arbeit an Turandot beginnen, steht D’Annunzio im Blickpunkt der italienischen Öffentlichkeit. Eine eigenartige innere Unruhe, völlige Mittellosigkeit und ein offensichtliches Erlahmen der dichterischen Inspiration führen ihn zu der erstaunlichsten und auch heute, neben den Trümmern des literarischen Ruhms, noch bekanntesten Episode seines Lebens. Im September 1919 setzt er sich an die Spitze einer Gruppe von Offizieren und Freiwilligen, die die zwischen Italien und Jugoslawien umstrittene Stadt Fiume (das heutige Rijeka) besetzen, um sie dem Vaterland einzugliedern. Bis zum Januar 1921 ist er «Comandante» dieser Stadt und verteidigt sie gegen den Willen der italienischen Regierung, stets am Rande des Bürgerkriegs, zuletzt auch gegen den Willen der Fiumaner und gegen die öffentliche Meinung. Renato Simoni, einer der beiden Librettisten der Turandot und zum ersten Mal Mitarbeiter des Komponisten, ist ein eingefleischter Dannunzianer.

In den Jahren des französischen Exils des Dichters ist er dessen Sprachrohr, vertuscht als Theaterkritiker des Mailänder «Corriere della sera» die Pariser Misserfolge von dessen Dramen durch fromme Lügen und gibt ihm als Interviewpartner Gelegenheit, seine politischen Überzeugungen zu verbreiten.

Puccini ist lebenslang am Werk D’Annunzios interessiert; einer seiner Librettisten ist ein Prophet des Dichters, D’Annunzio selbst geniesst grosse Popularität in der Entstehungszeit von Turandot – kein Wunder, dass die aktuelle Ausformung des Turandot-Stoffes von den literarischen Motiven des Dichters überformt wird. Ein kleines Detail kann dies beispielhaft zeigen: In allen Turandot-Bearbeitungen gibt es besondere Rätselworte, dem Geschmack der jeweiligen Schriftsteller oder ihres Publikums angepasst. Die Librettisten Adami und Simoni setzen mit der Rätselfrage «fiamma» (Flamme) und der Auflösung «sangue» (Blut) zwei Kernworte der europäischen Dekadenz und die zwei wichtigsten Bilder der literarischen Welt D’Annunzios ein. In seinem 1900 veröffentlichen Roman Il Fuoco sind Blut und Feuer – «ausgeströmt, um die geheimsten Gründe des menschlichen Willens und des menschlichen Begehrens zu durchleuchten» – als Symbole einer erotischen Lebenskraft von zentraler Bedeutung. «Fuoco e sangue» ist andererseits ein Refrain aus dem Henkerschor im ersten

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Akt der Turandot: Auch diese Dimension der leidenschaftlichen Gewalt hat Parallelen im Werk D’Annunzios. Blutrot ist übrigens auch der Sonnenuntergang im zweiten Rätsel der Turandot: Das Blut besitzt dort «del tramonto il vivido baglior» (den hellen Schein des Sonnenuntergangs). Kein anderer als Gabriele D’Annunzio hat seine Nation den Übermenschen gelehrt. Der «superuomo», eine durch Nietzsches «Übermenschen» angeregte Umformung des Heldentypus, dem von Anbeginn an sein literarisches Inter esse gegolten hatte, träumt einen Doppeltraum von Schönheit und Herrschaft. In dem erwähnten Roman Il Fuoco wird der Held Stelio zur Hoffnung der Menschen, die unter dem gegenwärtigen Stadium einer allgemeinen Barbarei leiden. Stelio steht zwischen zwei Frauen; die eine ist zu Dienst und Unterwerfung bereit und zieht sich zurück, als sie in der Rivalin die wahre Gefährtin des Geliebten erkennt, nämlich «die sieghafte Kraft, die unberührte Frische, die quellreine Gesundheit und die unbeschreibliche Liebesfähigkeit». Sie opfert sich also, und Stelio nimmt dieses Opfer an. Il Fuoco und Turandot: Hier wie da der mit «sieghafter Kraft» begabte Held und die ihm ebenbürtige Frau, hier wie da aus der Masse himmelweit emporgehoben. Die dannunzianischen Übermenschen stehen ausserhalb aller menschlichen Gesetze und Massstäbe. Das Modell des «superuomo» führt den Dichter zu der Idee des «atto puro», der nicht mit bürgerlichen Moralkategorien zu bewertenden «reinen Tat», die «ein unerwartetes Übermass höheren Lebens erschliesst». Was dieses Höhere sei, bleibt in der Gedankenwelt D’Annunzios allerdings vage, der «atto puro» ist mehr pathetische Parole als ein wirkliches Konzept. Kein anderer jedoch als Simoni macht sich zum Fürsprecher des «superuomo», der seine Aufgabe nur mit Hilfe des gewalttätigen «atto puro» lösen kann. «Die Lösung dieses Problems», so kommentiert Simoni eine D’Annunzio-Figur, «zwingt ihn dazu, die Notwendigkeit des Opfers anzuerkennen, und sogar dazu, jene zu opfern, die er am meisten liebt, die ihm schmerzlich ergeben sind, die Wehrlosesten und Unschuldigsten.» Die Beziehung zu Turandot liegt auf der Hand: Calaf opfert den wehrlosen und unschuldigen Vater und die ihm bedenken- und hoffnungslos ergebene Liù.

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Die Getriebe reinigen unsere Augen vom Nebel des Unbestimmten.

FASZINATION FRAGMENT

Giacomo Puccini starb, bevor er «Turandot» zu Ende komponiert hatte. Die Partitur gehört zu den berühmten Fragmenten der Kunstgeschichte. Warum beschäftigen wir uns so gerne mit dem Unfertigen?

Im November 1923 wurden die Halsschmerzen chronisch. Giacomo Puccini war starker Raucher, deshalb mass er ihnen zunächst keine allzu grosse Bedeutung bei. Schon gar nicht deutete er sie als Anzeichen einer Krankheit zum Tode. Dafür war der Komponist viel zu sehr mit seinem nächsten Opernprojekt Turandot beschäftigt. Der Uraufführungstermin rückte näher, der Dirigent Arturo Toscanini studierte bereits die Partitur, aber das Stück war noch nicht zu Ende komponiert. Es fehlte noch das Finale, in dem die Geschichte von der grausamen chinesischen Prinzessin Turandot an ihr glückliches Ende kommen sollte. Alle Männer, die um die Hand der Prinzessin anhalten, werden geköpft, wenn sie die drei Rätsel nicht lösen, die Turandot ihnen stellt. Der Tartarenprinz Calaf jedoch weiss die richtigen Antworten, und so finden der Prinz und die Prinzessin im Finale des dritten Akts in Liebe zueinander. Mit genau dieser Wendung tat sich Puccini schwer. Er fand keine musikalisch plausible Lösung dafür, wie sich die unnahbare, kalte Prinzessin Turandot im letzten Moment der Oper in eine warmherzige Liebende verwandeln könnte. Er war überhaupt in einer Schreibkrise. Das Komponieren ging ihm nicht mehr so leicht von der Hand wie zu den Zeiten seiner Erfolgsopern. Er war nicht mehr zufrieden mit dem, was er bisher geschaffen hatte. Er suchte nach neuen musikalischen Ausdrucksmitteln, die andere Komponisten seiner Zeit wie Arnold Schönberg längst gefunden hatten. Der Schwung war weg. Auch das Alter begann der 65-Jährige zu spüren. Im Oktober 1924 erwiesen sich die Schmerzen im Hals als Kehlkopfkrebs im fortgeschrittenen Stadium.

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Claus Spahn

Puccini, der an die Errungenschaften des technischen Fortschritts glaubte und sie in Form von PS-starken Autos und rasanten Motorbooten immer ausgekostet hatte, begab sich in die Hände eines Brüsseler Arztes, der sein Karzinom mit einer für die damalige Zeit hochmodernen Strahlentherapie zu kurieren versuchte. Die Turandot-Partitur ging ihm auch in diesen Wochen nicht aus dem Kopf. Er hatte die Skizzen zum Finale des dritten Akts bei sich und glaubte, nur noch wenige Wochen für die Fertigstellung zu benötigen. Aber an arbeiten war in Brüssel nicht mehr zu denken, zu stark litt er unter Schmerzen und den Folgen der Behandlung. Nadeln mit Radiumkapseln wurden ihm direkt in den Kehlkopf gestochen. Am 29. November 1924 versagte sein Herz. Turandot blieb unvollendet.

Das

Damit findet auch die letzte Oper Giacomo Puccinis ihren Platz im weitläufigen Fundus berühmter Kunstwerke, die Fragment geblieben sind. Die Kunstgeschichte ist voll von unabgeschlossenen Romanen, Bauwerken, Bildhauerarbeiten, Filmprojekten, Kompositionen – und die beschäftigen uns mehr als viele leichthändig zu Ende gebrachte (und schnell wieder vergessene) Werke. An den Abbruchkanten des Unvollendeten glauben wir etwas ablesen zu können über die Grösse eines Künstlers oder die Nichtbeherrschbarkeit eines Stoffes. Um sie ranken sich Vermutungen, Legendengeschichten, Theorien und Glaubenskriege. Sie öffnen das Werk in die Möglichkeitsform. Das Fehlende muss hinzugedacht werden, es wird den Argumenten und Spekulationen der Betrachtenden übereignet. Ist der Tod der Grund für den offenen Schluss, wird die Abbruchkante auch zur interessanten Schnittstelle, an dem Leben und Werk einer Künstlerin oder eines Künstlers sich treffen, obwohl wir bei der Betrachtung von Kunst doch eigentlich auf der Differenz von Werk und Biografie bestehen. Unvollendete Kunst, so scheint es, hat einen Mehrwert gegenüber der vollendeten.

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Der deutsche Schriftsteller Thomas von Steinaecker hat vor zwei Jahren ein dickes, faszinierendes Buch mit Beispielen unfertiger Kunstwerke veröffentlicht, von Michelangelo, der mehr Torsi hinterlassen hat als jeder andere Bildende Künstler, bis zu den Werken der romantischen Dichter, deren höchster Wunsch es war, im Zustand ewigen Werdens zu verharren und nie an den Punkt der Vollendung zu gelangen, vom Grossmeister des labyrinthisch offenen Romans

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Franz Kafka bis hin zum Filmregisseur Stanley Kubrick und seinem nie realisierten Film über Napoleon, für den er eine Schlacht mit 40’000 Komparsen drehen wollte.

Auch die berühmten Fragmente der Musikgeschichte kommen in dem Buch vor – Mozarts nach acht Takten im Lachrimosa verstummendes Requiem, Franz Schuberts Unvollendete oder der vermeintliche Fluch der neunten Sinfonie, der Beethoven, Bruckner wie Mahler scheitern liess, eine zehnte Sinfonie zu schreiben. Ein Phänomen, für das Arnold Schönberg eine der überschwänglichsten Begründungen für das Nicht-zu Ende-Bringen von Kunst gab: «Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind.»

Die Gründe für einen fehlenden Schluss waren – jenseits plötzlicher Tode – aber oft profaner. Steinaecker beschreibt die verschiedensten Varianten. Manchen Künstlerinnen und Künstlern fehlten schlicht die finanziellen Möglichkeiten, ihre Projekte zu realisieren, oder sie verloren das Interesse und wandten sich der nächsten Arbeit zu, die dann vielleicht auch wieder unfertig zur Seite gelegt wurde. Manche gerieten im Schaffensprozess in eine Endlosschleife immerwährender Umarbeitung wie Marcel Proust oder vermochten eine einmal eingerastete Schreibblockade nicht mehr zu lösen. Grössenwahn und völlig überzogene Ansprüche an ein Projekt gehören zu den Gründen, auch geistige Umnachtung wie bei Hölderlin, unüberwindbare Selbstzweifel oder Zufälle wie die Strassenbahn, die den Architekten Antoni Gaudí überrollte, als er erst vier der geplanten 18 Türme seiner Riesenkirche Sagrada Familia in Barcelona fertiggestellt hatte. Es gibt aber auch ein Scheitern in der Sache, einen Stillstand, der im Gegenstand der Arbeit selbst begründet liegt wie etwa bei Arnold Schönberg und seiner Oper Moses und Aron. Sie thematisiert den Gegensatz zwischen der Unvorstellbarkeit Gottes, die Moses propagiert, und dem Bedürfnis, das Unvorstellbare durch Bilder anschaulich zu machen, dem Aron mit der Erschaffung des Goldenen Kalbs Ausdruck verleiht. Gedanke gegen Bild, Abstraktion gegen Konkretion, künstlerischer Fundamentalismus gegen die Notwendigkeit von Vermittlung – das war der innere Zwiespalt, mit dem sich Schönberg in seinem Wunsch konfrontiert sah, eine Oper zu schreiben und so die Reinheit seiner

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zwölftönigen Kompositionstechnik der unreinen, bildersüchtigen Welt der Oper überantworten zu müssen. An dem Widerspruch arbeitet sich die Handlung des Stücks ab, aber in ihn sah sich auch Schönberg als Künstler selbst verstrickt. Ihm war der Denker Moses zweifellos näher als der Verführer Aron. Seine Oper ist dementsprechend voll von dialektischen Volten zwischen Askese und süffigem Kolorit, mit dem Ergebnis, dass Schönberg sie nicht zu Ende komponiert hat. Es war schlechterdings nicht möglich, sie zu Ende zu bringen, weil die Prinzipien, für die Moses und Aron stehen, unversöhnlich sind. Das Werk blieb Fragment. Die Musik endet mit dem fertig gestellten zweiten Akt und den MosesWorten: «O Wort, du Wort, das mir fehlt.» 19 Jahre lang hat Schönberg am dritten Akt bis zu seinem Tod vergeblich herumgeknobelt. Das Beispiel zeigt, dass ein Opernstoff selbst sich gegen seine Vollendung sperren kann.

Giacomo Puccini geriet mit Turandot in eine ähnliche inhaltliche Zwickmühle. Auch hier war das finale Scheitern bereits in der Anlage des Librettos vorprogrammiert. Je länger der Komponist seine Titelfigur mit grossem Chor, Riesenorchester und für seine Verhältnisse kühnen musikalischen Ausdrucksmitteln in eine männerfeindliche Unnahbarkeit einbetoniert, desto schwieriger wird es für ihn, sie am Ende aus dieser Panzerung wieder zu lösen. Immer wieder kommt er in Briefen an seine Librettisten auf das Problem des SchlussDuetts zu sprechen. Wie eine Bombe soll die Liebesvereinigung einschlagen, aber wie das musikalisch gehen soll, bleibt eine offene Frage. Hinzu kommt, dass das Libretto das Liebesfinale in einer idealistisch heldischen Überhöhe ansiedelt, die nicht leicht anzusteuern ist, schon gar nicht nach dem Tod der Sklavin Liù, mit dem im dritten Akt der von Puccini abgeschlossene und fertig instrumentierte Teil der Oper endet. Liù ist die Frauenfigur, die dem Komponisten viel nähersteht als die heroinenhafte Turandot. Sie gehört zur Familie der empfindsamen, sich für die Liebe aufopfernden und unter den Tränen des Publikums zu Tode kommenden Femmes fragiles, die in Puccinis früheren Opern zentral waren. Der Komponist wusste offenbar nicht so recht, wie er das Interesse auf die Gefühle Turandots lenken könnte, nachdem er die einzig wirklich zu Herzen gehende Figur durch Selbstmord aus dem Stück verabschiedet hatte. 36 Particellseiten gibt es vom Finale, dazu einige Blätter mit Notaten musikalischer Gedanken plus den bis zu diesem Zeitpunkt für gültig befundenen Librettotext.

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Es ist kaum zu glauben, dass ausgerechnet ein Meister des Gelingens wie Puccini plötzlich keine Lösung mehr für ein kniffliges dramaturgisch-kompositorisches Problem fand. Das war ihm bis dahin noch nie passiert. Er kannte sich im Maschinenraum seiner Opernstoffe aus wie die Motorkonstrukteure seiner teuren Sportwagen. Er wusste genau, wie das Zusammenspiel von musiktheatralischen Zylindern, Kolben und Zündkerzen im Orchestergraben und auf der Bühne funktioniert, um die grösstmögliche emotionale Energie auf das Publikum zu übertragen. Nur in Turandot ereilte ihn der Kolbenfresser. Der Grund für das fehlende Finale waren vielleicht doch nicht alleine die inhaltlichen Schwierigkeiten, die der Stoff mit sich brachte. Wäre Puccini im Vollbesitz seiner gesundheitlichen Kräfte gewesen, hätte er es am Ende womöglich doch geschafft, das Heldenpaar zusammenzubringen.

Gerade aber weil man in Puccinis Schaffen sonst keine Brüchigkeit findet, fiel es der Opernwelt schwer, den Fragmentcharakter von Turandot zu akzeptieren. So gross die Faszination ist, die von unvollendeten Werken und ihren offen gebliebenen Fragen ausgeht, so sehr lösen sie vor allem in der an die Zeit gebundenen Kunstform Musik die Sehnsucht aus, das Werk als Ganzes erleben zu dürfen. Deshalb wurden viele bedeutende Kompositionen postum zu Ende geschrieben wie Mozarts Requiem von seinem Schüler Franz Xaver Süssmayr oder Alban Bergs Lulu von Friedrich Cerha.

Auch unmittelbar nach Puccinis Tod setzten die Diskussionen um eine Vervollständigung von Turandot ein. Es gab die Skizzenblätter, deren Materialstand allerdings zu unzureichend war, um eine Ausarbeitung im Sinne von Puccini zu garantieren. Der hatte die Lösung seines Problems eben noch nicht gefunden. Deshalb war die Fertigstellung nur in Form einer in wesentlichen Teilen spekulativen Nachkomposition möglich. Wer ist geeignet für eine solche Aufgabe? Die Frage stellt sich bei allen fragmentarischen Kunstwerken. Sind brave Schüler und unscheinbare Kollegen die Richtigen, oder starke Künstlerpersönlichkeiten, die sich dann aber vielleicht zu wenig in den Dienst des Meisters stellen? Meist schlägt in dieser Situation die Stunde des Mittelmasses. Arturo Toscanini soll zunächst den Komponisten Riccardo Zandonai für die Aufgabe vorgeschlagen haben, der allerdings war dem Puccini-Sohn und Alleinerben Antonio zu bekannt. Deshalb fiel die Wahl auf den unauffälligeren Franco Al-

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fano, der das Finale schliesslich zu Ende schrieb. Aber schon Toscanini war nicht einverstanden mit dem Ergebnis. Er entschied sich, die Uraufführung, die fast eineinhalb Jahre nach Puccinis Tod an der Mailänder Scala stattfand, als Fragment enden zu lassen. An der Stelle, an der Puccinis Arbeit abbrach, nämlich nach dem Selbstmord Liùs und dem Trauerzug, der ihm folgt, legte Toscanini den Taktstock nieder, wandte sich zum Publikum und erklärte, dass die unvollständig gebliebene Oper hier ende, weil der Maestro an dieser Stelle gestorben sei. Bereits in der zweiten Vorstellung jedoch wurde das Finale von Alfano gegeben und hat sich in den nachfolgenden Produktionen durchgesetzt. Es ist eine dröhnende Liebesglücksbeschwörung, die das Heldenpaar mit Jubelgewalt geradezu zusammenzwingt.

Das

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Wäre Giacomo Puccini bereit gewesen, sich auf das kompositorische und dramaturgische Niveau Alfanos zu begeben, hätte er die Oper lange vor seiner tödlichen Krankheit zu Ende gebracht. Der italienische Komponist Luciano Berio wagte 2002 im Auftrag des Ricordi-Verlags eine weitere Nachkomposition des Schlusses, in der die Vereinigung von Turandot und Calaf eher als eine grossbogige Abblende angelegt ist, als lyrische, schwebende Gefühlsannäherung, die auch den Verstörungen in dieser merkwürdigen Beziehung musikalisch Raum gibt. Durchgesetzt hat sie sich freilich auch nicht. So bleibt als wahrhaftigster Schluss nur die Aufführung als Fragment. «Wo ein Werk und die Wirklichkeit enden», schreibt der Fragment-Experte Thomas von Steinaecker, «beginnen unsere Fantasien und der Mythos. Der Möglichkeitsraum gehört den Unfertigen. Das Träumen lassen wir uns nicht nehmen.»

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AUS PUCCINIS BRIEFEN

ZU «TURANDOT»

Sie haben also mit Simoni den Kampfplatz betreten? Nur Mut! Und pressen Sie sich Hirn und Herz aus, um für mich etwas zu schaffen, das die Welt weinen machen soll. Man sagt, Sentimentalität sei ein Zeichen von Schwäche. Aber ich finde es schön, schwach zu sein! Den sogenannten «starken Männern» überlasse ich die Erfolge, die in nichts zergehen: für uns sind die, welche bleiben!

Brief an Giuseppe Adami, Oktober 1919

Wenn ich die Hände aufs Klavier lege, werden sie staubig! Mein Schreibtisch ist ein Meer von Briefen und keine Spur von Musik. Die Musik? Zwecklos. Wenn ich kein Libretto habe, wie soll ich Musik machen? Ich habe den grossen Fehler, nur zu komponieren, wenn sich meine Henker-Marionetten auf der Bühne tummeln. Könnte ich ein reiner (?) Sinfoniker sein, ich würde meine Zeit und mein Publikum täuschen. Aber ich? Ich bin vor vielen Jahren geboren, sehr vielen, zu vielen, fast einem Jahrhundert… und der liebe Gott hat mich mit dem kleinen Finger berührt und gesagt: «Schreib für das Theater, merk es dir gut: Nur für das Theater» – und ich habe den höchsten Rat befolgt. Hätte er mich doch für einen anderen Beruf vorgesehen… vielleicht würde es mir dann nicht so ergehen wie jetzt, dass es mir am Grundmaterial fehlt.

Brief an Adami, undatiert, 1920

Das Päckchen habe ich bekommen. Soviel ich auf den ersten Blick sehen kann, scheint es mir gut zu sein... abgesehen von ein paar Einwänden im zweiten und dritten Akt – im dritten hatte ich mir die Entwicklung anders vorgestellt – ich denke mir ihre (Turandots) Verwandlung müsste augenfälliger sein … ich hätte

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mir gewünscht, dass ihr Liebe coram populo ausbrechen müsste. Und zwar ganz wild und stürmisch, ohne Scheu, wie die Explosion einer Bombe.

Brief an Adami, Juli 1920

Ich habe immer einen grossen Sack von Melancholie getragen. Ich habe keinen Grund dazu, aber so bin ich, und so sind die Menschen, die Herz haben und denen eine kleine Dosis Oberflächlichkeit fehlt. Ich denke, dass «Turandot» nie zu Ende kommen wird. So arbeitet man nicht. Wenn das Fieber nachlässt, endet es, um zu erlöschen, und ohne Fieber gibt es kein Schaffen, weil die empfundene Kunst eine Art Krankheit ist, ein seelischer Ausnahmezustand, Überreizung

jeder Faser, jedes Atoms und so könnte man ad aeternum fortfahren.

Brief an Adami, Oktober 1920

Ich denke Stunde für Stunde, Minute für Minute an «Turandot» und an alle meine bis jetzt geschriebene Musik. Sie scheint mir wie eine Lappalie zu sein und gefällt mir nicht mehr. Wird das ein gutes Zeichen sein? Ich glaube ja.

Brief an Adami, März 1921

«Turandot» macht gute Fortschritte; ich glaube jetzt auf dem richtigen Weg zu sein. Ich arbeite an den Masken, und in Kürze komme ich zu den Rätseln! Ich habe das Gefühl, vorwärts gekommen zu sein. Und der zweite Akt? Und der dritte? Mein Gott, quälen Sie mich nicht, indem Sie mich so lange warten lassen.

Brief an Adami, April 1921

Mir geht es schlecht, schlecht. Ich glaube, ich habe überhaupt kein Selbstvertrauen mehr, ich erschrecke vor der Arbeit, ich finde nichts Gutes. Ich glaube, ich bin ein Wesen, das schon untergegangen ist, und ich werde es bald sein, ich bin alt, das ist wirklich wahr, und das ist traurig, besonders für einen Künstler.

Brief an Sibyl Seligman, April 1921

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Dieser zweite Akt! Ich finde keinen Ausweg, aber vielleicht quäle ich mich deshalb so, weil ich eine fixe Idee habe: «Turandot» müsste in zwei Akten sein, was meinst du dazu? Glaubst du nicht, dass es sich nach der Rätselszene immer dünner dahinzieht, bis man zum Schluss kommt? Man müsste die Ereignisse raffen, andere streichen und zu einer Schlussszene kommen, in der die Liebe explodiert. Ich weiss auch nicht, wie der Aufbau sein müsste, aber ich spüre, dass zwei weitere Akte zu viel sind. «Turandot» in zwei grossen Akten! Und warum nicht? Es ist alles nur eine Frage der Lösung des Finalproblems. Soll man es machen wie im «Parsifal» mit Szenenwechsel im dritten Akt und einer Art chinesischem Gral? Überall rosafarbene Blumen und über allem der Hauch von Liebe? Denk nach, denk nach und sprich auch mit Adami darüber!

Brief an Renato Simoni, September 1921

«Turandot» quält mich. Ich denke immer darüber nach und glaube, dass wir vielleicht mit dem zweiten Akt doch auf dem falschen Weg sind. Das Duett ist der eigentliche Kern. Und das Duett scheint mir, so wie es ist, nicht das zu sein, was wir brauchen. In dem Duett müssen wir, denke ich, ein starkes Pathos erreichen. Und deswegen sage ich, Calaf soll Turandot küssen und so der kühlen Dame seine Liebe zeigen. Und nachdem er sie geküsst hat, mit einem Kuss, der einige lange Sekunden dauert, muss er ausrufen: «Was gilt es mir, wenn ich jetzt sterbe!», und er flüstert ihr seinen Namen auf die Lippen. Hier kann man dann das Pendant zu dem Ruf am Beginn des Aktes einsetzen: «Keiner schlafe.» Die Masken und vielleicht auch die Würdenträger und die Sklavinnen haben im Verborgenen den Namen gehört und schreien ihn jetzt heraus. Dieser Ruf wiederholt sich und pflanzt sich fort, und so ist Turandot blossgestellt. Und im dritten Akt, wo alles wie im ersten vorbereitet ist, mit dem Henker usw., sagt sie zur allgemeinen Überraschung: «Den Namen weiss ich nicht.» Kurz und gut, ich glaube, dass mit diesem Duett das Sujet verbessert würde und dass so eine Bewegung hineinkäme, die wir jetzt nicht haben. Was denken Sie? Sprechen Sie auch mit Simoni darüber.

Brief an Adami, undatiert 1921

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Nein! Nein! Nein! «Turandot» – nein! Ich habe den dritten Akt durchgesehen. Es geht nicht. Vielleicht, und auch ohne vielleicht, bin ich es selbst, mit dem es nicht mehr geht. Aber auch der dritte Akt geht so nicht. Ich will nicht sagen: Nun sterb ich in Verzweiflung, aber es fehlt nicht viel daran. (...) Lieber Adamino, ich bin ein armer Mensch, tieftraurig, entmutigt, alt, überflüssig und heruntergekommen. Was tun? Ich weiss es nicht. Ich gehe schlafen, dann brauche ich nicht nachzudenken und quäle mich nicht.

Brief an Adami, März 1923

Heute fange ich wieder an Briefe zu schreiben. Ich habe schreckliche Krisen durchgemacht – auch wegen meiner Gesundheit. Dieses Halsweh, das mich seit März quält, schien eine ernste Sache. Jetzt geht es mir besser, und dann habe ich auch die Gewissheit, dass es sich um eine arthritische Sache handelt, die sich bei entsprechender Behandlung kurieren lässt. Aber ich habe sehr traurige Tage hinter mir. Deshalb schrieb ich an niemanden mehr, nicht einmal an Dich, das will schon etwas heissen. Gestern kann Clausetti, und ich sagte wegen der Scala zu. Habe ich das richtig gemacht? Ich nehme die Arbeit wieder auf, die ich vor sechs Monaten unterbrochen habe. Und ich hoffe, ich komme mit dieser gebenedeiten Prinzessin bald ans Ende. Jetzt sehe ich wenigstens etwas klarer in vieler Hinsicht.

Brief an Adami, September 1924

Lieber Adamino, bisher ist die Kur nicht schlimm. Äusserliche Behandlung. Aber Gott weiss, was sie am Montag mitmachen werden, um nach innen unter den Kehlkopfdeckel zu kommen! Sie behaupten, ich werde nicht zu leiden haben – und sie sagen auch, ich kann geheilt werden. Jetzt beginne ich zu hoffen. Vor einigen Tagen hatte ich jede Hoffnung auf Heilung verloren. Was für Stunden, was für Tage! Ich bin zu allem bereit. Schreiben Sie mir manchmal.

Puccinis letzter Brief, November 1924 aus Brüssel

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ES LEBE PUCCINI!

Die Uraufführung von «Turandot» am 25. April 1926 in Mailand

Es wurde einer der bewegendsten Abende in der Operngeschichte – unübersehbar die Schar der Musiker, Kritiker, Prominenten aus Kunst, Gesellschaft und Politik, die die Uraufführung von Puccinis letztem Werk miterleben wollten. Die Scala hatte alles aufgeboten, was ihr szenischer Apparat zu leisten in der Lage war. Forzano führte Regie, das opulente Bühnenbild stammte von Galileo Chini, und Puccini wäre mit deren Arbeit vermutlich sehr einverstanden gewesen. Der Erfolg war natürlich gross genug, obwohl die staunende Verblüffung des konservativen Scala-Publikums über Puccinis vergleichsweise schroffe Musik und über die marionettenhafte Dramaturgie des Stücks vielleicht nur wegen des Respekts vor den Pietät gebietenden Umständen dieser Uraufführung nicht zu einer kühlen Reaktion führte. Jedenfalls ist die Zahl der Vorhänge für zeitgenössisehe italienische Verhältnisse eher ein Indikator für eine nur zögernde Zustimmung: je sechs nach dem ersten und dem zweiten Akt, und es gab auch nicht den üblichen Applaus zwischendrin. Nach der Szene von Liùs Tod trat bei offenem Vorhang eine völlige Stille aus Unsicherheit über den Fortgang ein, zögernd wandte Toscanini sich zum Publikum und sagte in sichtbar tiefer Bewegung: «Hier endet die vom Maestro unvollendet gelassene Oper, weil der Maestro an dieser Stelle gestorben ist.»

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Danach fiel der Vorhang, Toscanini verliess das Dirigentenpult, in das Schweigen des riesigen Hauses rief eine Summe: «Es lebe Puccini!» Aufspringend übernahm das ganze Publikum den traurigen Jubelschrei, Tränen flossen in Strömen, wie Franz Lehár sich später gerührt erinnerte, und auch er selbst weinte. Erst vom zweiten Abend an wurde Turandot mit Franco Alfanos Ergänzung des Schlusses gespielt, und in dieser Form erschien die Oper noch im selben Jahr in einigen der wichtigsten Zentren der Puccini-Verehrung: in Buenos Aires, in Dresden, in Wien, In Berlin und in New York (mit Puccinis Gesangs-Traumpaar: Maria Jeritza und Giacomo Lauri Volpi).

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TURANDOT

GIACOMO PUCCINI (1858-1924)

Lyrisches Drama in drei Akten und fünf Bildern

Text von Giuseppe Adami und Renato Simoni nach Carlo Lucio Graf Gozzi

Uraufführung: 25. April 1926, Teatro alla Scala, Mailand

Personen

Die Prinzessin Turandot Sopran

Der Kaiser Altoum Tenor

Timur, entthronter Tatarenkönig Bass

Der unbekannte Prinz (Kalaf), sein Sohn Tenor

Liù, eine junge Sklavin Sopran

Ping, Grosskanzler Bariton

Pang, Grossmarschall Tenor

Pong, oberster Küchenmeister Tenor

Ein Mandarin Bariton

Der Prinz von Persien Tenor

Der Henker

Die kaiserlichen Wachen, die Gehilfen des Henkers, Knaben, Priester, Mandarine, Würdenträger, die acht Weisen, Dienerinnen Turandots, Soldaten, Bannerträger, Musikanten, Schatten der Verstorbenen, Volk

ATTO PRIMO

Le mura della Città Imperiale chiudono quasi tutta la scena in semicerchio. Sugli spalti sono infissi i pali che reggono i teschi dei giustiziati. A sinistra e nel fondo, s’aprono nelle mura tre gigantesche porte. Siamo nell’ora più sfolgorante del tramonto. Il piazzale è pieno di una pittoresca folla cinese.

UN MANDARINO

Popolo di Pekino!

La legge è questa: Turandot la Pura sposa sarà di chi, di sangue regio, spieghi i tre enigmi ch’ella proporrà. Ma chi affronta il cimento e vinto resta, porge alla scure la superba testa!

LA FOLLA Ah! Ah!

IL MANDARINO

Il principe di Persia avversa ebbe fortuna: al sorger della luna, per man del boia muoia!

Il mandarino si ritira e la folla rompe la sua immobilità con crescente tumulto.

LA FOLLA

Muoia! Sì, muoia! Noi vogliamo il carnefice! Presto, presto! Muoia, muoia, al supplizio, muoia, muoia, presto, presto!

Se non appari, noi ti sveglierem!

Pu-Tin-Pao! Pu-Tin-Pao! Pu-Tin-Pao!

Alla reggia! alla reggia! alla reggia! Si slanciano verso la reggia.

LE GUARDIE

respingono la folla; nell’urto molti cadono Indietro, cani!…

Confuso vociare di gente impaurita. Urla. Proteste. Invocazioni.

LA FOLLA

Oh, crudeli! Pel cielo, fermi!

O madre mia!

ERSTER AKT

Die Mauern der Kaiserstadt umschliessen fast die ganze Bühne im Halbkreis. Auf den Zinnen Pfähle mit den Schädeln der Hingerichteten. Links und im Hintergrund drei riesige Tore in den Mauern.

Die Sonne geht leuchtend unter. Der Platz ist voll mit einer malerischen Menge Chinesen.

EIN MANDARIN

Volk von Peking!

So lautet das Gesetz: Turandot die Reine wird den zum Gatten nehmen, von königlichem Blute, der die drei Rätsel löst, die sie ihm stellt. Doch wer die Probe versucht und nicht besteht, der gibt sein stolzes Haupt dem Beil!

DIE MENGE

Ah! Ah!

DER MANDARIN

Dem Prinzen von Persien war das Schicksal nicht hold: Bei Mondaufgang soll er von Hand des Henkers sterben!

Der Mandarin zieht sich zurück. Die Menge löst sich aus ihrer Erstarrung mit wachsendem Tumult.

DIE MENGE

Er sterbe! Ja, er sterbe!… Wir wollen den Henker!

Schnell, schnell! Er sterbe, er soll sterben, zum Richtplatz, er soll sterben, geschwind, geschwind!

Wenn du nicht kommst, so wecken wir dich auf!

Pu-Tin-Pao! Pu-Tin-Pao! Pu-Tin-Pao!

Zum Palast! Zum Palast! Zum Palast! Sie stürmen zum Palast.

DIE WACHEN

stossen die Menge zurück; viele stürzen dabei zu Boden Zurück, ihr Hunde!…

Man hört das wirre Geschrei verängstigter Menschen. Protest- und Hilferufe.

DIE MENGE

Ihr Grausamen! Beim Himmel, hört doch auf!

O meine Mutter!

LE GUARDIE Indietro, cani!

LA FOLLA Ah! i miei bimbi! Crudeli! O madre mia!

Crudeli! Per il cielo, fermi!…

O madre mia!

LE GUARDIE Indietro, cani!

LIÙ disperatamente

Il mio vecchio è caduto!

LA FOLLA Crudeli! Siate umani!

Pel cielo, fermi! Crudeli!

Non fateci male!

DIE WACHEN Zurück, ihr Hunde!

DIE MENGE

Ah! Meine Kinder! Grausame! O meine Mutter!

Ihr Grausamen! Beim Himmel, hört doch auf!…

O meine Mutter!

DIE WACHEN Zurück, ihr Hunde!

LIÙ verzweifelt

Mein greiser Herr ist gestürzt!

DIE MENGE Ihr Grausamen! Seid menschlich!

Beim Himmel, haltet ein! Ihr Grausamen! Tut uns nichts an!

LE GUARDIE Indietro, cani!

LIÙ girando intorno lo sguardo e supplicando Chi m’aiuta a sorreggerlo?

il mio vecchio è caduto… Pietà…

IL PRINCIPE accorre. Riconosce il padre suo. Ha un grido. Padre!… Mio padre!…

LE GUARDIE Indietro!

IL PRINCIPE O padre, sì, ti ritrovo!

LA FOLLA Crudeli!

IL PRINCIPE

Guardami! Non è un sogno!

LA FOLLA

Perché ci battete? ahimè!

LIÙ Mio signore!

LA FOLLA Pietà!…

DIE WACHEN Zurück, ihr Hunde!

LIÙ flehend um sich blickend Wer hilft mir, ihn aufzurichten?

Mein greiser Herr ist gestürzt… Erbarmen…

DER PRINZ eilt herbei, erkennt seinen Vater und schreit auf: Vater!… Mein Vater!…

DIE WACHEN Zurück!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

DER PRINZ O Vater, ja, ich finde dich wieder!

DIE MENGE Ihr Grausamen!

DER PRINZ Sieh mich an! Es ist kein Traum!

DIE MENGE Warum schlagt ihr uns? O weh!

LIÙ Mein Herr!

DIE MENGE Erbarmen!…

Programmheft

TURANDOT

Lyrisches Drama in drei Akten und fünf Bildern von Giacomo Puccini

Premiere am 18. Juni 2023, Spielzeit 2022/2023

Herausgeber Opernhaus Zürich

Intendant Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Claus Spahn

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler

Druck Fineprint AG

oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Textnachweise: Die Handlung, die Interviews und der Essay «Faszination Fragment» sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Das Zitat auf Seite 4 entstammt dem Futuristischen Manifest von Filippo Tommaso Marinetti; das Zitat auf Seite 28 entstammt der Schrift «Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine» von Filippo Tommaso Marinetti; das Zitat auf Seite 40 entstammt der Schrift «Die mechanische Kunst» von Enrico Prampolini und Ivo Pannaggi, alle zitiert nach Hansgeorg Schmidt-Bergmann «Futurismus: Geschichte, Ästhetik, Dokumente» Rowohlt, 1993. – Die Texte «Die Hölle in der Kehle» und «Es lebe Puccini!» entstammen der Puccini-Biografie von Dieter Schickling, Reclam 2007 – Der Essay «Der sieghaf-

te Übermensch» ist die gekürzte Fassung eines Programmheftbeitrags für die Komische Oper Berlin, 1998. – Die Briefe Puccinis sind zitiert nach Mosco Carner: «Puccini», Insel-Verlag 1996; Dieter Schickling: «Puccini», Reclam 2007 und «Giacomo Puccini «Die Briefe des Meisters», Werk-Verlag Frisch und Perneder, Lindau 1948.

Bildnachweise:

Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 9. Juni 2023.

Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Wie toxisch ist das Opernrepertoire?

Die Gesellschaft streitet über Gendergerechtigkeit, Diversität und verdeckte Diskriminierung. Das Opernhaus greift diese Debatte auf und diskutiert mit Expertinnen, Betroffenen und jungen Menschen, ob die Frauenbilder, die Opern vermitteln, noch zeitgemäss sind, wo sie durch Rollenklischees herabsetzend wirken, und wann kulturelle Aneignung zum Problem wird. www.opernhaus.ch/debatte

Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz.

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