EINS 2019 COR
„Aha, also geht es gar nicht um die Sprache“, merke ich weise an. „Sondern um die kulturelle Identität.“ Hätte ich bloß nichts gesagt. Schon geht die Diskussion auf Dialekt wieder los. Ich stehe daneben und denke: Die beiden haben es gut. Sie wissen wohl genau, wohin sie gehören. Sie scheinen intuitiv zu spüren, warum die Frage nach der Sprachgruppe so wichtig ist, und haben eine klare Antwort darauf. Je länger ich nachdenke, desto unsicherer werde ich. Ich höre eine Uhr vorwurfsvoll ticken, oder bilde ich mir das nur ein? Der Besucher in unserem Flur wird zappelig. Ich möchte ihn anschreien: „Ich kann nur Englisch! Ich bin Amerikanerin! Ich bin dabei, Italienisch und Deutsch und Dialekt zu lernen. Von mir aus auch Ladinisch. Aber das ist alles nicht so einfach!“ Stattdessen kapituliere ich und wende mich an Lorenzo. „Na meinetwegen. Du bist mein Mann, ich definiere mich also natürlich über dich“, sage ich augenrollend. „Italienisch, ich wähle Italienisch.“ Zu Ihrer Information: Immer, wenn Sie in Südtirol in ein Hotel einchecken, müssen Sie Ihre Sprachgruppenzugehörigkeit wählen. Deutsch, Italienisch oder Ladinisch. Nein, keine Sorge, das war nur ein kleiner Scherz. Sie müssen sich nicht entscheiden, im Gegenteil: Südtirol-Neulingen rate ich, sich von allen Gruppen inspirieren zu lassen. Genießen Sie das italienische dolce vita! Beobachten Sie die lokalen germanischen Bräuche! Erkunden Sie die Dolomiten, wo die Einwohner noch Ladinisch sprechen, diese antike Sprache, die einst aus Umgangslatein entstanden ist. Drei Kulturen an einem Ort – welche Bereicherung!
SüdtirolLexikon, das Dialekt verständlich gemacht
gluschtn [ˈglʊʃtn̩ ] … sagt man in Südtirol, wenn einem das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn man so richtig Appetit auf ein gutes Gericht bekommt.
Sett’ a Plent! [ˈset:ɐ ˈplɛnt] … sagt man in Südtirol, wenn man sich über etwas aufregt, wenn etwas nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat – oder man jemandes Meinung nicht teilt. „Plent“ leitet sich vom italienischen Wort „polenta“ ab. Das ist ein meist aus Maisgrieß hergestellter fester Brei.
Rutschelen [ˈʁʊt͜ ʃɛlɛn]
Cassandra Han ist in den USA geboren und aufgewachsen. 2008 zog sie mit ihrem Mann Lorenzo in die Heimat seiner Mutter: Südtirol. In dieser Kolumne erzählt sie davon, wie sie die Eigenheiten der Region lieben lernte – und wie sie allmählich selbst zur Südtirolerin wurde.
Auch dieser Südtiroler Begriff ist aus dem Italienischen entlehnt. Das Ursprungswort ist „riccioli“, zu Deutsch: Locken oder krauses Haar.
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