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«Wir wissen zu wenig über sie» Vorurteile und Unwissenheit verhindern, dass man sich auf politischer Ebene für Sans-Papiers einsetzt, sagt Tanja Polli, Autorin von «Die Unsichtbaren». INTERVIEW KLAUS PETRUS

Tanja Polli, wie haben Sie von den Sans-Papiers erfahren? Das war zu Beginn der Corona-Pandemie, als in Städten wie Zürich Leute auf der Strasse für einen Sack Reis anstehen mussten. Die Fotografin Ursula Markus, mit der ich oft zusammenarbeite, und ich wollten wissen, was für Menschen das sind. Da hat sich herausgestellt, es waren viele Sans-Papiers darunter. So sind erste Kontakte entstanden. Hatten diese Leute überhaupt ein Interesse, mit Journalistinnen zu reden? Es war nicht bei allen vorhanden, aber doch bei den meisten: das Bedürfnis, über ihr Leben zu erzählen, über ihre Ängste, die sie nach zehn oder mehr Jahren, in denen sie in der Schweiz leben, immer noch haben. Viele von ihnen arbeiten unter prekären Bedingungen, sie müssen immerzu fürchten, entdeckt und ausgeschafft zu werden. Umso wichtiger war es, Vertrauen aufzubauen. So ergab sich eine Art Zusammenarbeit, wir haben viele Gespräche geführt, sind die Texte mit ihnen durchgegangen, haben gemeinsam die Bilder ausgewählt. Man geht davon aus, dass 100 000 Sans-Papiers in der Schweiz leben, vermutlich sind es mehr. Trotzdem kommen sie politisch kaum vor. Wieso? Ich denke, wir wissen einfach zu wenig über die Situation dieser Leute, das zeigen die Vorurteile, die nach wie vor verbreitet sind: Sans-Papiers hätten es auf unsere Sozialwerke abgesehen, heisst es etwa. Dabei können sie, schon aufgrund ihrer Situation, gar keine Sozialhilfe beziehen. Die Arbeit, die sie leisten, ist für die Schweiz systemrelevant. Das ist kaum jemandem bewusst. Die allermeisten Sans-Papiers haben sehr harte Jobs, die sie für wenig Geld machen müssen. Unwissen gibt es auch unter Politiker*innen, und ich kann mir vorstellen, dass dies mit ein Grund ist, wieso auf dieser Ebene zu wenig passiert. Dabei geht es auch anders.

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FOTO: ZVG

1 Fany, 63, Reinigungsfachfrau und Nanny aus Peru: «Ich wollte auswandern, weg von meinem gewalttätigen Mann und so viel Geld verdienen, dass meine Kinder studieren konnten. Die Ankunft im vermeintlich gelobten Land, der Schweiz, war enttäuschend.» 2 Antonella mit ihren Freundinnen. Sie habe oft Besuch, gerade während der Corona-Pandemie sei das für sie sehr wichtig gewesen.

Woran denken Sie? An das Genfer Projekt «Opération Papyrus» zum Beispiel. Es wurde 2017 mit dem Ziel initiiert, den Aufenthaltsstatus von Sans-Papiers zu legalisieren, die lückenlos über zehn Jahre in Genf gelebt und gearbeitet haben; für Familien mit schulpflichtigen Kindern waren es fünf Jahre. Bis Ende 2018 – so lange dauerte das Projekt — erhielten 2900 Menschen eine Aufenthaltsbewilligung B. Der Kanton Genf zog eine durchweg positive Bilanz und sah in diesem Ansatz unter anderem ein wirksames Mittel gegen Schwarzarbeit. Trotzdem war ein ähnlicher Vorstoss im Kanton Zürich chancenlos; das Problem sei dort zu marginal, hiess es. Dabei leben im Grossraum Zürich mehr Sans-Papiers als im Kanton Genf.

Tanja Polli, 53, lebt und arbeitet als freie Journalistin sowie Kultur- und Reiseveranstalterin in Winterthur. Sie ist Autorin u.a. von «Die Rebellin» (2016) und «Ein Leben für die Kinder Tibets» (2019).

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