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«Was im wahren Leben los ist» Kino Der Film «Ouistreham» beleuchtet den Alltag prekär beschäftigter Reinigungskräfte in

einem Fährhafen. Obwohl ihre Arbeit unentbehrlich ist, bleiben sie weitgehend unsichtbar. TEXT GIULIA BERNARDI

Laternen spiegeln sich im Wasser, hüllen den Hafen in schummriges Licht. Ein neuer Tag bricht an, oder ist womöglich schon vorbei. Fähren legen ab und an; Menschen auf der Durchreise, Lastwagen tummeln sich auf grossen Parkplätzen. Mit dieser Szenerie tauchen wir in «Ouistreham» ein. Der neue Film von Emmanuel Carrère spielt am gleichnamigen Ort, einem Handelshafen an der nordfranzösischen Küste, an dem sich die Lebensrealitäten prekarisierter Arbeiter*innen entfalten. Jeden Morgen kommen sie in Ouistreham an, haben eineinhalb Stunden Zeit, um mehrere hundert Zimmer auf der Fähre nach Portsmouth zu putzen, die Betten neu zu beziehen, die engen Bäder der Kabinen zu reinigen. Bevor die Passagier*innen an Bord steigen, müssen sie wieder verschwunden sein. Ihre Arbeit bleibt unsichtbar, wird nur spürbar, wenn sie nicht gemacht wurde. Obwohl gesellschaftlich unentbehrlich, erhalten sie für ihren Dienst nur den Mindestlohn. Dieser beträgt in Frankreich 7,96 Euro pro Stunde. Eine Kommission entschied, dass 6,84 Euro nicht genug seien, da davon niemand leben könne; 8,46 Euro wären allerdings zu viel. 24

Darüber schreibt Marianne (Juliette Binoche) Notizen in ihr Buch, ihre Gedanken erklingen immer wieder aus dem Off. Sie erscheint als eine der Arbeiter*innen, die täglich auf die Fähre steigt, die leer getrunkenen Flaschen entsorgt, die bedenkenlos liegen gelassenen Chipskrümel sorgfältig wegwischt. Doch sie müsste nicht da sein, ist nicht auf das kleine Einkommen angewiesen. Denn Marianne ist Schriftstellerin, zog von Paris in das nahegelegene Caen, um die prekäre Lage der Arbeiter*innen zu dokumentieren. «Ich habe es satt, von der Krise zu hören. Arbeitslosigkeit, Armut – als wäre das abstrakt», sagt sie zu jener Sozialarbeiterin, die sie als Schriftstellerin erkennt und konfrontiert. «Ich muss wissen, was im wahren Leben los ist.» Wer darf für wen sprechen? Zunächst ist Marianne von ihrem Vorhaben überzeugt. Mit ihrem Buch möchte sie die Öffentlichkeit auf prekarisierte, unsichtbare Arbeit aufmerksam machen, auf den Kampf, den viele Menschen tagtäglich führen. Doch wie legitim ist ihr Vorhaben? Diese Frage stellt sich, weil Marianne ihre wahre Identität nicht preisgibt, den ArbeiSurprise 520/22


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