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Löcher in der Seele Buch Annika Büsing erzählt in ihrem Debutroman «Nordstadt» von einer Liebe gegen jede Wahrscheinlichkeit.

FOTO: ZVG

ter*innen keine Möglichkeit zur aktiven Teilhabe gibt. Sie erzählt von Lebensrealitäten, denen sie selbst sich jederzeit entziehen kann, aus ihrer eigenen Perspektive. Obwohl ihre Selbstzweifel an diesem Vorgehen von Tag zu Tag grösser werden, macht sie weiter. Offenbar ist ihr wichtiger, politisch etwas zu bewegen, als die Strategien zu reflektieren, deren sie sich bedient. Der Film basiert auf dem Buch «Le quai de Ouistreham», das 2010 erschien. Dabei handelt es sich um einen Erfahrungsbericht der Journalistin Florence Aubenas, die, ähnlich wie Marianne, über ihre Zeit als prekär beschäftigte Arbeiterin berichtet. Doch im Gegensatz zu ihr bleibt Marianne nicht anonym. Auf ihrem Weg schliesst sie Freundschaften, lernt beispielsweise Christèle (Hélène Lambert) kennen, mit der sie bald eine enge Beziehung verbindet. Die Lebensrealität der beiden Frauen könnte unterschiedlicher nicht sein. Während existenzielle Ängste zum Alltag von Christèle gehören, kann Marianne punktuell eintauchen, entscheiden, wie lange sie bleiben und wann sie wieder gehen möchte. Christèle ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, sie arbeitet von morgens bis abends, mehrere Schichten am Tag. Da sie kein Auto hat, steht sie früh auf und läuft den langen Weg bis zum Hafen von Ouistreham, damit sie pünktlich um 6 Uhr beginnen kann. Als sie mit Marianne am Strand sitzt, sagt sie zu ihr: «Ich habe dafür keine Zeit.» – «Keine Zeit für was?» – «Nur auf das Meer zu schauen.»

Es ist schon etwas Spezielles, wenn vor Beginn der Lektüre eines Romans davor gewarnt wird, dass dieser «Beschreibungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt» enthält, die «belastend und retraumatisierend» sein könnten. Durchaus berechtigt, wie sich schon bald in Annika Büsings Debutroman «Nordstadt» zeigt, denn was ihren Protagonist*innen alles angetan wird, ist unfassbar. Umso mehr, als es, auch wenn es nur Fiktion ist, nicht undenkbar ist, sondern für viele himmeltraurige Wirklichkeit. Nordstadt, das ist der soziale Brennpunkt einer Stadt im Ruhrgebiet. Hier ist Nene aufgewachsen, die von ihrem trunksüchtigen Vater über viele Jahre grün und blau geschlagen und tagelang eingesperrt wurde. Und, als wäre das alles noch nicht genug, mit siebzehn von einem «Freund» vergewaltigt wird. Jetzt ist sie Anfang zwanzig und übt ihren Wunschberuf als Bademeisterin aus. Schwimmen liebt sie seit ihrer Kindheit, Glück ist für sie, wenn sie ihre Bahnen ziehen kann. Das Hallenbad ist ihr Zuhause, der sichere Ort, den ihr die Familie nie geboten hat. Als sie nach der Vergewaltigung gefragt wird: «Willst du nichts machen?», ist ihre Antwort: «Doch, ich will es vergessen.» Im Hallenbad kann sie das am besten. Hier trifft sie Boris, der Augen hat wie ein Puma. Boris mit den verdrehten Beinen, die er im Schwimmbad trainiert, Folgen einer Kinderlähmung, die auf das Konto seiner Mutter, einer Impfgegnerin, geht. Boris, den sie in der Schule «die Kreatur» nennen. Ein «Freak bis ans Lebensende», der keinen Job kriegt und dem am Monatsende schlecht vor Hunger wird. «Armut frisst Löcher in die Seele und die Würde.» Kein Wunder, dass er nicht glauben kann, dass jemand sich für ihn interessieren könnte. Doch Nene «zeckt sich in sein Herz» und lässt nicht locker, trotz aller Hürden: ihren und seinen Verletzungen, seinen Schmerzen, seiner Erschöpfung, dem schnellen Verfall seines Körpers. Sie toleriert seine Lügen und Rückzüge, er muss mit ihrer Direktheit klarkommen. Doch gerade diese ist auch heilsam, denn das Letzte, was er will, ist Mitleid. Und so bewährt sich ihr gefährdetes Glück, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Annika Büsing erzählt diese Geschichte lakonisch, unverblümt, intensiv und mit ungeschminkter Ehrlichkeit. Das zieht in Bann und überrascht bei aller Härte der Schicksale mit einer Warmherzigkeit und einem Humor, die dem Schrecklichen eine unerwartete Hoffnung entgegensetzen. CHRISTOPHER ZIMMER

Annika Büsing: Nordstadt Roman, Steidl 2022. CHF 31.90

«Ouistreham», Regie: Emmanuel Carrère, F 2021, 106 Min. Läuft ab 3. März im Kino. Surprise 520/22

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