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Surprise-Porträt

«Ich komme aus Eritrea und lebe seit drei Jahren in der Schweiz. Mein Mann Teklu, unser zweijähriger Sohn und ich wohnen in Bolligen. Ich kam wegen meinem Mann hierher. Wir stammen aus dem gleichen Dorf nahe der Hauptstadt Asmara, und hatten als Jugen­d­liche die gleiche Aufgabe: Jeden Morgen mussten Teklu, ich und andere Nachbarskinder vor acht Uhr die Milch unserer Kühe mit dem Velo im zwölf Kilometer entfernten Asmara abliefern. Es war anstrengend, ich hatte meistens so zwanzig Liter dabei, aber weil wir alle zusammen hin- und zurückfuhren, war es auch lustig. Damals, im Alter von fünfzehn, sechzehn waren Teklu und ich nur Freunde. Freunde, die sich sehr gern mochten, könnte man sagen. Nach dem Schulabschluss fand ich in einem grossen Hotel in Asmara eine Stelle als Kellnerin. Das Bedienen der internationalen Gäste gefiel mir sehr. Eigentlich war ich damit schon zufrieden, aber dann schickte mich mein Chef in einen Bildbearbeitungskurs. So kam es, dass ich bei Festen im Hotel, wie Hochzeiten oder Taufen, neben meiner Arbeit als Kellnerin die Fotos für die Gäste auswählte, bearbeitete und zusammenstellte, was mir auch grossen Spass machte. Während ich im Hotel arbeitete, musste Teklu den Militärdienst antreten. Nach eineinhalb Jahren Grundaus­ bildung und einigen Monaten als Soldat hielt er es Ende 2010 nicht mehr aus und floh ins Nachbarland Sudan. Von dort reiste er weiter zu seinem älteren Bruder nach Juba im Südsudan, wo er drei Jahre blieb. Als es im Südsudan zum Bürgerkrieg kam, brach Teklu auf Richtung Europa. Im Sommer 2014 erreichte er die Schweiz und beantragte Asyl. Diese ganze Zeit über blieben Teklu und ich in Kontakt. Er schrieb oder sagte mir immer wieder, wie sehr ich ihm gefalle. Und eigentlich ging es mir mit ihm genau­ ­so. Doch ich konnte nicht einfach zu Teklu in die Schweiz reisen. Ich hätte weder eine Ausreiseerlaubnis von Eritrea noch eine Einreiseerlaubnis der Schweiz erhalten. Wollten wir zusammen sein, mussten wir heiraten, und zwar im Sudan, weil Teklu als Deserteur auch nicht mehr nach Eritrea kommen konnte, da wäre er gleich verhaftet worden. Ende November 2016 wollte ich dann in den Sudan flüchten und in Khartum auf Teklu warten. Doch der Grenzübertritt klappte nicht, ich wurde erwischt und verhaftet. Eine Woche sass ich im Gefängnis, danach musste ich im National Service die Grundaus30

FOTO: RUBEN HOLLINGER

«Freunde, die sich sehr gern mochten»

Ruta Teklezghi, 32, verkauft Surprise in Lyss und hat ihre Heimat Eritrea für die Liebe verlassen.

bildung antreten. Mein Glück war, dass sich das militä­ rische Ausbildungscamp in Tesseney, ganz in der Nähe der sudanesischen Grenze, befindet. So gelang mir im Juli 2017 die Flucht in den Sudan doch noch. Im Januar 2018 war es endlich so weit: Teklu und ich sahen uns nach sieben Jahren endlich in Khartum wieder und für uns beide war klar: Jetzt heiraten wir! Bis alle meine Dokumente und Bewilligungen in Ordnung waren, dauerte es noch einmal ein Jahr. Und im Januar 2019 konnte ich endlich zu Teklu in die Schweiz reisen. Kurz nach der Geburt unseres Sohnes im Oktober 2019 habe ich mit Deutschkursen und dem Verkauf von Surprise angefangen. Weil Teklu vorher in Münchenbuchsee wohnte und sein Verkaufsort deshalb Lyss ist, habe ich auch dort angefangen. Ich verkaufe sehr gern Surprise, weil ich im­mer nette Gespräche mit den Kund*innen habe. Zu­sätzlich putze ich von Montag bis Freitag jeden Morgen von halb sechs bis halb neun ein Fitnesscenter in Bern. Während ich arbeite, bringt mein Mann unseren Sohn in die Kita. Er beginnt dann seine Arbeit am Nachmittag, er ist Teamleiter bei der gleichen Reinigungsfirma, für die ich auch arbeite. Im Sommer erwarten wir unser zweites Kind. Wenn beide Kinder ein bisschen älter sind und ich mein Deutsch noch verbessert habe, könnte ich mir gut vorstellen, wieder als Kellnerin zu arbeiten. Und vielleicht auch Fotobearbeitungsaufträge erledigen, wer weiss.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 520/22


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