FOTO: MAURICE HAAS
«Darf man auch tun, was man tun könnte?» Buch In ihrem ersten Krimi wirft Seraina Kobler die Frage auf, unter welchen Bedingungen die Gesellschaft Eingriffe in das menschliche Erbgut zulassen darf. INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN
«Tiefes, dunkles Blau», nach «Regenschatten» das zweite Buch von Seraina Kobler, bildet den Auftakt einer Krimi-Serie, in deren Mittelpunkt die Zürcher Seepolizistin Rosa Zambrano steht. In ihrem ersten Fall muss sie den Mord an ihrem Frauenarzt aufklären. Kurz nachdem sie sich in seiner Praxis Eizellen einfrieren liess, wird der Fortpflanzungsmediziner tot aus dem See gezogen. Die Ermittlungen führen Rosa zu einem Biotech-Start-up und in die Open-Science-Bewegung, die sich für transparente und zugängliche Forschung einsetzt. Seraina Kobler, 2020 haben Sie mit einem persönlichen Essay über die Genforschung den Essaypreis der Zeitung «Der Bund» gewonnen. Nun handelt auch Ihr erster Kriminalroman davon. Was fasziniert Sie an diesem Thema? Das für den Essay vorgegebene Thema lautete «Erbgut, besser, am besten». Ich habe lange als Journalistin gearbeitet und habe grundsätzlich eine kritische Haltung. Doch ich bin auch Mutter – und als solche zerreisst es mich, denn ich möchte meine Kinder vor Krankheit und Schmerzen beschützen. Eine Erbkrankheit in der Familie meines Mannes brachte meine Welt ins Wanken. Ich erfuhr hautnah, wie sehr die persönliche Betroffenheit die eigene Meinung über die Gentechnik zu beeinflussen vermag. Die näher rückende Möglichkeit, tief in das Erbgut einzugreifen, um den späteren Ausbruch einer bestimmten Krankheit abzuwenden, weckt Hoffnungen. Es liesse sich so viel Leid verhindern. Doch die Vorstellung, dass die künstliche Selektion die natürliche ersetzen könnte, hat auch etwas Dystopisches, zum Beispiel, wenn eine solche Technologie in die falschen Hände geriete. Der Menschheit stellen sich Grundsatzfragen, mit denen ich mich im Essay beschäftigte und zu denen ich die Recherche für «Tiefes, dunkles Blau» ausweiten wollte. 22
Noch bis vor wenigen Jahren galten viele Krankheiten als Schicksal. Ihr Buch konfrontiert die Leserschaft mit den ethischen Herausforderungen, die mit den Möglichkeiten der Genschere, der CRISPR-CasMethode, auf uns zukommen – damit kann gezielt das Erbgut von Lebewesen verändert werden. Stehen wir vor einem unlösbaren Dilemma? Zumindest gibt es keine einfachen Antworten darauf, ob die Möglichkeiten der Gentechnik gut oder schlecht sind. Diese Ambivalenz erschien mir deshalb interessant genug, um sie in einem Kriminalroman auszuloten. Wie weit können wir die Grenzen des Machbaren verschieben? Und darf man auch tun, was man tun könnte? In den nächsten Jahren wird die individualisierte Medizin sicher grosse Fortschritte machen. Wir sind wohl an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr umkehren können. Die Wissenschaft ist heute so weit fortgeschritten, dass sie sagen kann, woran man einmal erkranken könnte. Gleichzeitig kann sie diese Leiden noch nicht alle heilen. Das ist ein Dilemma. Dann doch lieber die Gnade des Nichtwissens wählen? Die Frage ist, ob wir einem Menschen in Zukunft überhaupt noch ein Recht auf Nichtwissen zugestehen. Durch die Verfügbarkeit einer solchen Technologie könnte der Druck auf die Einzelnen steigen. Vielleicht wird man der Krankenkasse sein Erbgut offenlegen müssen. Ob es so weit kommt, müssen wir als Gesellschaft entscheiden. Die Genschere zwingt uns dazu, Abwägungen vorzunehmen. Wir müssen für die Forschung rote Linien definieren, die nicht überschritten werden dürfen. Dabei zeigt sich, wie wichtig stabile Demokratien sind. Denn in ihnen durchlaufen solche Fragen vorgegebene Prozesse, und Unternehmen unterstehen gewissen Regulationen, die ihrem Tun Grenzen setzen. Surprise 523/22