Surprise 509/21

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Strassenmagazin Nr. 509 24.  Sept. bis 7.  Okt. 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Armenien

Ewig in Unsicherheit Lina Sargsyan floh aus Syrien und landete im Kaukasus wieder im Krieg. Seite 8

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BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | L‘Ultimo Bacio | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 | Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth‘s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Marktgasse | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA | Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena | Brasserie Lorraine | Restaurant Dreigänger | Berner Generationenhaus | Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Specht IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LUZERN Jazzkantine zum Graben | Meyer Kulturbeiz | Blend Teehaus | Bistro Quai4 | Quai4-Markt, Baselstrasse & Alpenquai | Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione | Bistro Sein IN ZUG Podium 41 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Quartiertreff Enge | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf Surprise die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. 509/21 Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: LILIT ALEKSANYAN

Editorial

Immer wieder genau hinschauen In diesem Heft nehmen wir Sie wieder einmal mit in den Kaukasus, nach Armenien. Dort hat unsere Autorin Menschen getroffen, die nach 2011 aus Syrien in die Republik im Südkaukasus flüchteten – und nun durch den Konflikt um Bergkarabach am Ort ihrer Zuflucht erneut mit Krieg konfrontiert sind. Weil wir hierzulande seit langem in Frieden leben, können wir kaum noch fühlbar nachvollziehen, was solche multiplen Bedrohungsszenarien mit uns Menschen machen. Was es heisst, immer wieder von vorn anfangen zu müssen, immer neue seelische Narben davonzutragen, beständig ohne Sicherheit zu sein. Als Berichterstatter*innen und Beobachtende bemühen wir uns, langjährige Konflikte wie Armenien/Aserbaidschan zu begleiten, ihre Komplexität sowie ihre tiefe Verwobenheit mit den Biografien der Menschen zu verstehen, die sie durchleben. Da der Fokus in den heissen Phasen der Konflikte oft darauf liegt, möglichst neutral und ausgewogen zu berichten, wird automatisch die Distanz zu den Betroffenen erhöht – Nähe könnte zu schnell als Parteinahme interpretiert werden. 4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …? Xenophobie

8 Armenien Das Zufluchts-

land wird Konflikt gebiet

5 Vor Gericht

Das Geschäft mit den Pillen

7 Moumouni …

... und die Würde

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Bei der Diskussion darum, ob und wie viele Geflüchtete unser Land aufnehmen sollte – jüngst in Bezug auf Afghanistan –, vergessen wir immer wieder, dass die weitaus meisten Menschen aus Kriegsgebieten in die unmittelbare Umgebung fliehen. Syrien und Armenien sind zwar keine Nachbarländer, aber über den historischen Siedlungsraum der Armenier*innen und die Folgen des Genozids 1915 im Osmanischen Reich seit langem miteinander SAR A verbunden. WINTER SAYILIR Redaktorin

16 Corona «Nun kannst du

14 Lehrmittel Rassistische

Schulbücher

26 Veranstaltungen

dich gar nicht mehr darüber freuen»

27 Tour de Suisse

22 Theater Alte schöne Heimat

28 SurPlus Positive Firmen

24 Kino

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

«Réveil sur Mars»

6 Verkäufer*innenkolumne

Mein Einstieg bei Surprise

Umso wichtiger ist es, nach dem Abklingen der unmittelbaren Kampfhandlungen weiter hinzuschauen und sich mehr Zeit für die Grautöne zu nehmen, auf menschliche Schicksale und politische Gemengelagen genauer eingehen. Es ist wichtig, dass wir die Sorgen und Nöte derjenigen, die von den Kriegen ihrer Länder betroffen sind, nicht in berichtenswerte und nicht berichtenswerte Sorgen und Nöte sortieren, je nachdem, auf welcher Seite der Front sich die Betroffenen befinden, sondern in Relation zu Menschlichkeit und Menschenrechten.

25 Buch

Das Navi der Tiere

Pörtner in Oensingen

30 Internationales Verkäufer-Porträt

«Ich bin immer schon hartnäckig gewesen»

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Aufgelesen

FOTO: MA ARTEN KR AMER, NIKOLET TA SKLIVA  /  UNHCR

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Keine Wahlfreiheit Wer arm ist, wählt seltener. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin. Auch bei vielen Hartz-IV-Empfänger*innen sorgt die ökonomische Situation für eine geringere Wahlbeteiligung, wenn der Engpass auf einen Wahltag fällt. Dies reduziert die Wahlbeteiligung der armutsbetroffenen Bevölkerung um 5 Prozentpunkte – bei der anstehenden Bundestagswahl sind das bis zu 500 000 Stimmen.

Tilos ist eine kleine griechische Insel mit rund 800 Bewohner*innen. Vor Kurzem ging ein Bild viral, das die drei Lehrerinnen der Inselschule mit ihren Schüler*innen zeigt: Unter den 39 Kindern an der Schule sind zehn Geflüchtete aus dem Sudan, Syrien und der Demokratischen Republik Kongo. Sie kamen im letzten September über ein Programm der UN-Flüchtlingshilfe auf die Insel. Das Bild löste im Netz viel Hass aus, aber auch Unterstützung. SHEDIA, ATHEN/THESSALONIKI

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BODO, BOCHUM/DORTMUND

Unbefristete Verträge Als erster Lieferdienst will Lieferando seinen rund 10 000 Angestellten in Deutschland unbefristete Arbeitsverträge anbieten. Damit reagiert der Branchenführer auf Kritik am Konkurrenzunternehmen Gorillas. In Berlin protestierten dessen Fahrer*innen gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Laut dem Magazin Capital sinken bei Gorillas bereits die Umsätze. Widerstand lohnt sich.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Xenophobie Für fremdenfeindliche Menschen ist die Anwesenheit von Ausländer*innen ein Problem. Und zwar unabhängig davon, was diese tun: Arbeiten sie, nehmen sie der einheimischen Bevölkerung die Jobs weg. Arbeiten sie nicht, missbrauchen sie das Sozialsystem. Wer xenophob ist, hat Angst vor fremden Menschen und ist ihnen gegenüber feindselig gestimmt. Wer nicht zur eigenen Nation gehört, wird abgelehnt. Fremdenfeindliche Tendenzen gibt es in der Schweiz spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts und dem Aufkommen des Nationalismus. 1917 wurde die «Zentralstelle für Fremdenpolizei» eingerichtet, die gegen ausländische Störenfriede vorging. 1931 wurde der Begriff «Überfremdung» ins Gesetz eingeführt. Ab diesem Zeitpunkt versuchten zahlreiche Initiativen, die Zahl der Ausländer*innen zu reduzieren oder die Zuwanderung zu stoppen. Die bekanntesten waren die (abgelehnte) Schwarzenbach-Initiative 1974 sowie die Initiative gegen Masseneinwanderung der SVP 40 Jahre später. Fremdenfeindlichkeit weist viel Ähnlichkeit mit Rassismus auf. Der Unterschied: Statt auf eingewanderte und ausländische Menschen bezieht sich Rassismus auf ein breiteres Spektrum von Minderheiten. Wissenschaftler*innen sehen Ausländerfeindlichkeit als Nebenerscheinung der Bildung des modernen Staates. Nur wer Teil der Gemeinschaft ist, hat ein Anrecht auf Solidarität und Unterstützung, so die Vorstellung. Die Überfremdungsdiskussion sei darum in Wahrheit ein Kampf um sozialen Schutz und das Eigentum des Staates. EBA

Quellen: Claudio Bolzman: Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie). In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 509/21

Vor Gericht

Das Geschäft mit den Pillen Depressionen sind eine Volkskrankheit. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sollen 2020 weltweit 350 Millionen Menschen davon betroffen gewesen sein. Hierzulande erkranken laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium rund 20 bis 25 Prozent der Menschen mindestens einmal im Leben so schwer an Depressionen, dass sie einer Behandlung bedürfen. Das Geschäft mit Pillen gegen die krankmachende Traurigkeit ist entsprechend riesig. Auf rund 16 Milliarden Euro schätzt das Marktforschungsinstitut IMS Health den weltweiten Markt für Antidepressiva, 3,7 Milliarden Euro entfallen auf Europa. Allerdings brachen die Erträge aus den Präparaten für viele Pharmaunternehmen in den letzten Jahren stark ein. Der Grund: ablaufende Patente. Mitbewerber können günstigere Nachahmerpräparate, sogenannte Generika, auf den Markt bringen – und das Original gerät ins Hintertreffen. Genau dies drohte der dänischen Firma Lundbeck, die seit Ende der 1970er-Jahre mit Citalopram eines der erfolgreichsten Antidepressiva im Portfolio hatte. Um diese Geldquelle noch etwas länger ausschöpfen zu können, machte Lundbeck 2002 mit verschiedenen globalen Generika-Unternehmen, darunter der deutschen Merck, einen Deal: Sie treten nicht in den Citalopram-Markt ein, dafür zahlt ihnen Lundbeck viel Geld. Bereits hergestellte Medikamente kauften die Dänen den GenerikaProduzenten ab, nur um sie zu vernichten.

Nach jahrelangen Ermittlungen verhängte die EU-Kommission im Juni 2013 Geldbussen von insgesamt fast 150 Millionen Euro, allein 93,7 Millionen Euro gegen die «Rädelsführerin» Lundbeck. Der Vorwurf lautete auf Bestechung. Der damalige EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia begründete die hohe Busse damals so: «Solche Vereinbarungen gehen direkt zulasten der Patient*innen und schaden den nationalen Gesundheitssystemen.» Seither lief zwischen den Pharmaunternehmen und der EU-Kommission ein ausufernder Rechtsstreit. Lundbeck und Co. klagten sich durch alle Instanzen. Und behaupteten, die Absprachen seien zulässig gewesen. Der Wettbewerb sei damit nicht eingeschränkt worden. Und die Citalopram-Medikamente seien jederzeit verfügbar gewesen. In diesem März erging nun durch den Europäischen Gerichtshof das letztinstanzliche Urteil. Und dieses stellt fest: Doch, mit den Deals haben die Unternehmen den Markteintritt von billigen CitalopramGenerika verzögert. Statt miteinander in Wettbewerb zu treten, hätten sich die Beteiligten jeweils einen Teil des schon bestehenden Kuchens gesichert – zulasten der Allgemeinheit. Diese Praxis hat sogar einen Namen: «Pay for Delay», Zahlen für den Aufschub. Es dürfte sich für Lundbeck wohl trotz der nun bestätigten Bussen ausgezahlt haben, die Preise jahrelang künstlich hochzuhalten. Nach Freigabe des Marktes für Generika brach der Preis für Citalopram um neunzig Prozent ein. Auch solche Stimmen waren im Nachgang zum Urteil zu vernehmen. Sie klingen allzu vertraut.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Mein Einstieg bei Surprise Ein Eritreer, der in Effretikon verkaufte, hatte mir von Surprise erzählt, und ich dachte, das will ich auch machen, weil ich aus gesundheitlichen Gründen nicht schwer körperlich arbeiten kann. Ich wäre eigentlich gerne Journalistin geworden, deshalb hat mich das zusätzlich interessiert. Ich ging im damaligen Büro von Surprise vorbei. Die Tür war abgeschlossen und ich habe ans Fenster geklopft. Die Frau, die im Büro arbeitete, machte eine Handbewegung, um mich zu verscheuchen. Ich versuchte es darauf noch drei weitere Male, in der Hoffnung, dass sie mit mir rede. Es war jedes Mal dasselbe. Kaum dass ich anklopfte, scheuchte sie mich weg. Ich dachte, dass ich beim fünften Mal nicht wieder umsonst kommen wollte.

ILLUSTRATION: SOPHIA FREYDL

Ich sprach mit meiner Asylbetreuerin, sie fand die Idee gut, dass ich arbeiten wollte, und unterstützte mich. Ich hatte die E-Mail-Adresse von Surprise aufgeschrieben und bat sie, ihnen mein Anliegen zu schildern. Noch während ich bei ihr war, kam die Antwort, ich solle im Büro vorbeikommen. Natürlich wussten sie dort nicht, dass ich die Frau war, die sie schon vier Mal weggeschickt hatten. So ging es mir nun auch beim fünften Mal, aber diesmal liess ich mich nicht vertreiben. Ich hatte die E-Mail ausgedruckt und hielt sie an die Scheibe. Die Frau las die Mail und liess mich herein.

Sie fragte mich, ob ich Deutsch spreche, weil das die Voraussetzung zum Arbeiten sei. Ich sagte, dass ich wenig Deutsch, aber perfekt Italienisch spreche. Sie sprach auch Italienisch. Ich wisse, sagte ich, dass sie misstrauisch sei, weil ich die erste Verkäuferin mit Kopftuch wäre und sie wohl zweifelte, ob die Leute mir das Heft abkaufen würden. Sie sagte, sie habe keinen Platz, nahm mich aber auf die Warteliste. Nach einer Woche hatte sie einen Verkaufsplatz in der Stadt für mich. Nicht allzu gut gelegen, aber ich nahm ihn an. Ich lernte viele Leute kennen und verkaufte gut. Von da an ging ich regelmässig im Büro vorbei. Manchmal brachte ich etwas zum Essen vorbei und wir redeten viel miteinander. Von da an war es gut. Sogar nachdem sie die Stelle gewechselt hat, sind wir in Kontakt geblieben. Unterdessen verkaufen viele Frauen mit Kopftuch Surprise, heute ist es akzeptiert. Der Anfang war aber nicht einfach. SEYNAB ALI ISSE , 49, verkauft Surprise am Bahnhof Winterthur. Sie stammt aus Somalia und ist Muslima. Ihre 18-jährige Tochter hat die BMS abgeschlossen und zwei Jahre lang ein Praktikum als Fachfrau Gesundheit gemacht – die Lehre danach hat sie wegen des Kopftuchs nicht bekommen. Seynab wünscht sich, dass Menschen nicht auf ihr Äusseres reduziert werden.

Anmerkung der Redaktion: Auch wir bei Surprise sind vor rassistischen Reflexen nicht gefeit, aber sehr darauf bedacht, dass so etwas nicht mehr passiert. Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustra­ ­­ tion zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der H ­ ochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

sche Frau, die längst im Badenser Singsang sprach, Knödel kochte und dem Dorfpfarrer jeden Sonntag ein wenig Geld zusteckte, an ihrem Grab noch Flüchtling genannt wurde – dann würde sein mühsam erlangter deutscher Pass ihn wohl nie im Leben davor schützen, wie ein Ausländer behandelt zu werden. Ich muss daran denken, wie wir hier so tun, als wäre alles, was nicht Taliban und Krieg ist, ein Leben in Würde. Und daran, was die wenigen, die es bis hierher schaffen werden, alles über sich ergehen lassen müssen, während von ihnen ewige Dankbarkeit verlangt wird. Ich rede nicht gern über Menschenrechte. Mir ist unwohl, Forderungen so weit unten anzusetzen. Wer von Menschenrechten redet, muss offenbar immer noch beweisen, dass wir (oder die betroffene Gruppe) überhaupt Menschen sind – und das ist so banal, dass es schmerzt. Denn das bedeutet irgendwie auch: X können nicht auf Menschenrechte zählen, weil sie nicht bedingungslos als Menschen gesehen werden.

Moumouni …

… und die Würde Meine Urgrossmutter hatte eine schöne Beerdigung. Das halbe Dorf, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte, war da, auch die Familie, die sich in alle Himmelsrichtungen verstreut hatte. Sogar mein Vater, der sonst kaum an Familienanlässe der Familie meiner Mutter ging, war anwesend. Das Essen war gut, ich erinnere mich noch an den Apfelstreuselkuchen, auch wenn mir der Begriff «Leichenschmaus» äusserst suspekt war.

fanden, das gehöre eben zu ihrem Leben dazu: Sie war nach dem Krieg mit ihrer Familie als Deutsche aus der Tschechoslowakei geflohen. Für ihn jedoch, der Asylheime von innen kannte und ausserdem die deutschen Neunzigerjahre überlebt hatte, war es eine Frage der Würde. «Flüchtling» – das war für ihn despektierlich, nicht aus linguistischer Perspektive, also wegen der Nachsilbe «-ling», sondern aus praktisch-empirischer Perspektive.

Nur meinem Vater blieb ein bitterer Geschmack. Der Pfarrer, der eine ergreifende Rede hielt, hatte zu fest betont, dass sie, die über 50 Jahre in dem Dorf gelebt hatte, ja ein Flüchtling gewesen sei. Und wie warmherzig das Dorf sie aufgenommen hatte! «Wie lang muss man in Deutschland eigentlich zuhause sein, bis einem nicht mehr vorgehalten wird, dass man Flüchtling ist?», fragte er. Die anderen verstanden nicht so recht, was er meinte und

Ich weiss nicht, wie meine Urgrossmutter darüber gedacht hätte. Ob es sie gestört hätte. Ob sie einfach dankbar war. Und wie lang sie sich selbst als Flüchtling sah.

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Heute, wo geflüchtete Menschen aus Afghanistan Tagesthema sind, muss ich manchmal daran denken, wie wütend mein Vater war. Vielleicht war es für ihn so etwas wie eine Prophezeiung für sein eigenes Schicksal. Wenn schon eine deut-

Der Kern der Menschenrechte ist die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Jetzt, wo sich in Afghanistan wieder die würdelosen Seiten der «ewigen Retter» zeigen, muss ich eben doch wieder an die Würde denken. Wie viel davon wird man den «-lingen» wohl lassen? Werden sie hier sicher sein? Vor der Babysprache, mit der man hier Ausländerli anspricht. Vor der Missgunst der misstrauischen Steuerzahlenden? Vor frühzeitigen Abschiebungen? Vor Rassismus? Was bedeutet es, als geflüchtete Person zu hören, wie Flucht als Feigheit diskutiert wird? Am besten kommen nur ein paar Frauen und Kinder, die kann man so schön vor dem orientalischen Mann retten! Was, wenn es nie aufhört? FATIMA MOUMOUNI  glaubt, jetzt, wo die Schuld an Covidfällen in der Schweiz den Albanern zugeschoben wurde, müssen wir uns langsam um neue Sündenböcke für in zwanzig Jahren kümmern. Und um Leute, die dann ohne mit der Wimper zu zucken unsere WCs putzen.

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Auf den Strassen von Armeniens Hauptstadt Yerevan ist nicht viel von der Unruhe zu spüren, die das Land seit Ende der Kampfhandlungen in Atem hält.

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Das Zufluchtsland wird Konfliktgebiet Armenien Der Krieg in Bergkarabach von letztem Herbst lässt Armenien in einer

angespannten Lage zurück. Besonders syrische Armenier*innen, die seit 2011 vor dem Bürgerkrieg aus Syrien flohen, sehen sich erneut existenziell bedroht. TEXT  MANON BOREL FOTOS  LILIT ALEKSANYAN

ARMENIEN

Yerevan

«Ich fühle mich hier nicht sicher», sagt Arek Yeziyan, 27, aus Aleppo. Seitdem es im letzten September erneut zum Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan kam, fühlt sich der Armenier aus Syrien bedroht. Denn auch wenn sich die Konfliktparteien Anfang November auf einen Waffenstillstand geeinigt haben, bleibt der Konflikt ungelöst. Diese Unsicherheit macht Yeziyan und vielen anderen Armenier*innen im Land grosse Angst. «Ich habe keinen Pass, der mich schützt und zu wenig Geld, um mich selbst zu schützen», sagt er. Wie soll er ins Ausland reisen können, falls es zu einem grösseren Krieg im Land kommen sollte, fragt er sich. Yeziyan lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in einer kleinen Wohnung im Zentrum der armenischen Hauptstadt Yerevan. Seit er sein Medizinstudium vor zwei Jahren abgeschlossen hat, arbeitet er unbezahlt im staatlichen Forschungsinstitut für Molekularbiologie und verdient nebenbei Geld in der Administration einer privaten Institution für Sterbebegleitung. Seit Jahren träumt Yeziyan davon, in Europa einen Master in Neuropsychologie zu machen und eines Tages seinen Traumberuf als Musiktherapeut zu verwirklichen. Auch wenn er die Möglichkeit hatte, sich in Armenien einbürgern zu lassen, hat Yeziyan darauf verzichtet. Der armenische Staat bürgert Armenier*innen über ein vereinfachtes Verfahren ein, wenn diese ihre ethnische Zugehörigkeit beispielsweise durch ein Taufzertifikat einer Surprise 509/21

ASERBAIDSCHAN

armenischen Kirche bestätigen können. Für armenischstämmige Syrer*innen hat die Regierung zudem die Möglichkeit geschaffen, sich auch mit einer zehnjährigen Aufenthaltsbewilligung, «Spezialpass» genannt, in Armenien niederzulassen. Der Grund, weshalb sich Yeziyan gegen die armenische Staatsbürgerschaft entschieden hat, ist der obligatorische Militärdienst für Männer bis 27 Jahre, den er als Bürger hätte leisten müssen. «Ich kann mir einfach nicht vorstellen, Teil einer Armee zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, eine Waffe zu halten oder gar jemanden umzubringen», sagt Yeziyan. Yeziyan ist einer von ungefähr 14 000 Armenier*innen, die seit 2011 aus Syrien nach Armenien geflüchtet und geblieben sind. Ganze Familien und Freundeskreise haben ihr Leben in das Land transferiert, das sie ihr historisches Heimatland nennen. Sie haben sich dort ein neues Leben aufgebaut. Anfängliche kulturelle und soziale Differenzen wurden abgebaut, man hat gelernt, miteinander zu leben. Offenbar haben sich die wirtschaftlichen Unterstützungsprogramme von UNHCR und Regierung bewährt: Die meisten Armenier*innen aus Syrien stehen heute auf eigenen Beinen. Die Menschen aus der Levante prägen auch das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben in Armenien spürbar mit. Während die Gastronomie im Land früher beispielsweise weitgehend kaukasisch-russisch geprägt war, gehören heute Falafel und Hummus zur kulinarischen Norm. 9


«Ich habe mich in Armenien nie akzeptiert gefühlt.» AREK YEZIYAN

Was zunächst nach erfolgreicher Integration klingt, ist auf der individuellen Ebene durchaus von Brüchen geprägt. So sagt Yeziyan, sein Leben lang sei ihm zwar beigebracht worden, dass Armenien sein Heimatland sei. Doch als er nach Armenien zog, fühlte er, dass er auch da nicht hingehört. «Ich habe mich in meinem Leben nie als Syrer und nur für einen Teil meines Lebens als Armenier gefühlt.» Heute, kurz nach dem letzten Bergkarabach-Krieg, möchte Yeziyan sich keiner Nation mehr zugehörig fühlen und auch keine solche verteidigen müssen. «Während der Kriegstage ging mir durch den Kopf, dass ich eines Tages vielleicht eine Waffe werde tragen müssen. Aber nicht, weil ich mich als Armenier fühlte oder ich Armenien verteidigen wollte, sondern weil es eine menschlich ungerechte Situation war.» Die Frage, ob er sich während des Krieges für das Land Armenien hätte einsetzen müssen, beantwortet er mit Nein. Dabei spielt das fehlende Zugehörigkeitsgefühl eine grosse Rolle. «Ich habe mich in Armenien nie akzeptiert gefühlt. Aber ich habe jeden Tag dafür gearbeitet.» Unabhängig vom Staat Armenien allerdings fühlt Yeziyan sich in der aktuellen politischen Lage aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit 10

bedroht. Momentan wartet er auf ein Visum, um in Spanien seinen Master in Kognitiver Neuropsychologie beginnen und sich andere Perspektiven für seine Zukunft schaffen zu können. Trügerische Normalität In vielen Geflüchteten hat der Bergkarabach-Krieg (siehe Surprise 483/20) existenzielle Ängste ausgelöst. Dabei ist besonders der obligatorische Militärdienst problematisch. Menschen wie Yeziyan, die erst kürzlich einem Krieg entkommen sind, in den nächsten Konflikt zu schicken, ist aus menschenrechtlicher Sicht unverantwortlich. Doch nicht erst durch Bergkarabach gehören Konflikt und Flucht zur Familiengeschichte nahezu aller Armenier*innen. Das armenische Sprichwort «Vortegh hay, ayntegh vay» bedeutet so viel wie «Wo ein*e Armenier*in ist, dort ist das Leid». Der Genozid von 1915 unter der Regierung der Jungtürken im osmanischen Reich kostete nicht nur 1,5 Millionen Armenier*innen das Leben, sondern zwang auch Tausende zur Flucht. Die meisten liessen sich in der unmittelbaren Umgebung nieder, in den heutigen Ländern Syrien, Libanon, Armenien und Irak, aber auch im Surprise 509/21


Spuren des Krieges: Der Waffenstillstand mit Aserbaidschan vom November 2020 ist brüchig und Armenien politisch gespalten. Die Opposition macht Regierungschef Nikol Paschinjan für den verlorenen Krieg verantwortlich, in dem auf beiden Seiten 6500 Menschen ums Leben kamen.

«Ich bin mein ganzes Leben lang auf der Flucht.» LINA SARGSYAN

Iran, in Griechenland und Frankreich. In Syrien bildete sich eine der grössten und, innerhalb der weltweiten armenischen Community, einflussreichsten Gemeinschaften. Armenische Schulen, Kirchen, Sport- und Musik­ vereine stärkten das dortige Zusammenleben der Armenier*innen. Die meisten lebten vor Ausbruch des Syrien-Krieges 2011 im Raum Aleppo und gehörten als Unternehmer*innen zur besseren Mittelschicht Syriens. Die armenische Gemeinschaft genoss unter dem Assad-Regime einen Spezialstatus. Der Unterricht der armenischen Sprache wurde inoffiziell geduldet und die armenische Gemeinschaft pflegte ein sehr isoliertes, aber intaktes soziales und kulturelles Leben. Der Krieg zerstörte grosse Teile von dem, was Genozidüberlebende und ihre Nachfahren sich aufgebaut hatten. Der Sommer in Armeniens Hauptstadt Yerevan hat trotz der politischen Instabilität auch etwas Alltägliches. Die drückende Sommerhitze reduziert das Treiben in der Stadt auf ein Minimum. Im Schatten der Bäume am Stras­ senrand stellen Händler*innen ihre Plastikkübel mit Aprikosen, Tomaten oder Bohnen zum Verkauf auf. Stumm sitzend warten sie auf Kundschaft für ihre frische Surprise 509/21

Ware aus dem Garten. An den Abenden füllen sich die Strassen; Konzerte, Lichtspiele und die zahlreichen Stras­ sencafés ziehen die Menschen hinaus aus ihren vier Wänden – sobald es die Temperaturen erträglich machen. Wie im Sommer üblich hört man viel Englisch, Französisch und Russisch. Sogar dieses Jahr reist die Diaspora für den all­­­­jährlichen Urlaub in ihr Heimatland. Von der Pandemie ist im sozialen Leben Armeniens kaum etwas zu spüren. Nach Armenien und wieder zurück Lina Sargsyan lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung in einer alten sowjetischen Überbauung ausserhalb von Yerevan. Die 43-Jährige flüchtete mit ihrer Familie 2015 aus Aleppo in die armenische Hauptstadt. Seither arbeitet sie in einer Textilfabrik, die Militärausrüstung für die armenische und die russische Armee produziert. Armenien ist stark von Russland abhängig, militärisch sind sie über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) offiziell Verbündete. Die russische Armee verfügt auch seit der Vereinbarung vom 10. November 2020 über das «Peacekeeping»-Mandat in Bergkarabach und hat dafür 11


RUSSLAND

KASPISCHES

SCHWARZES

MEER

MEER

2

ASERBAIDSCHAN

ARMENIEN

3 1 TÜRKEI

IRAN

ASERBAIDSCHAN

MIT TELMEER

ARMENIEN

SYRIEN LIBANON IRAK

Grenze von Bergkarabach zu SowjetJORDANIEN

ISRAEL

zeiten Gebiet, das nicht

Bergkarabach

von Aserbaidschan

Von Aserbaidschan

kontrolliert wird

zurückgewonnene Gebiete ab 1.12.2020

1

Seit 2011 sind 22 000 ethnische Armenier*innen aus Syrien nach Armenien geflohen, 14 000 davon sind geblieben. Vor dem Syrienkrieg lebten rund 100 000 Armenier*innen in Syrien, mehrheitlich in Aleppo.

2 Laut UNHCR und armenischen Be hörden leben insgesamt rund 90 000 Menschen als Geflüchtete in Arme nien (Stand Dez. 2020). 3 Durch den Krieg im September 2020 wurden laut UNHCR rund 80 000 Aserbaidschaner*innen temporär ver trieben, etwa 30 000 wurden die Häuser zerstört.

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rund 2000 Soldaten in die Region verlegt. Russische Sicherheitskräfte sind zudem seit Jahren an den armenischen Grenzen zur Türkei und zum Iran präsent. Während des Krieges habe es grossen Bedarf an Winterjacken, Schlafsäcken und anderem Material gegeben und die Produktion der Fabrik lief auf Hochtouren, erzählt Sargsyan. Der armenischen Armee fehlte es an allen Ecken und Enden. Neben gut ausgebildeten Soldat*innen mangelte es auch an zeitgemässer militärischer Ausstattung. Beim Versuch, diese Lücken zu schliessen, versammelten sich Mütter in den Schulen ihrer Kinder und produzierten als Freiwillige, was auch immer an der Front gebraucht wurde. Nach der Arbeit in der Fabrik schloss Sargsyan sich den Müttern an. Sie flochten bis spätabends Camou­ flagedecken aus den Stofffetzen alter Kleidungsstücke. Anfang November, kurz vor Kriegsende, wurde die für Bergkarabach strategisch wichtige Stadt Schuschi (aserbaidschanisch Schuscha) von aserbaidschanischen Streitkräften eingenommen. Danach war es für Sargsyan kaum noch auszuhalten, im Fernsehen die Nachrichten zu verfolgen. Denn bevor Sargsyan aus Syrien nach Armenien kam, flüchtete sie schon einmal: aus Aserbaidschan nach Surprise 509/21


Eines der wenigen noch verbliebenen historischen Gebäude, umringt von modernen Hochhäusern, steht in Aschkhens Nachbarschaft im Herzen von Yerevan.

«Ich weiss nicht, ob der Krieg vorbei ist.» ASCHKHEN

Armenien, während der Anfänge des ersten Bergkarabach-Kriegs 1988. Mit 26 heiratete sie ihren Mann, einen Armenier aus Syrien, und zog nach Aleppo. Nun ist sie wieder in Armenien. Seither ist die Angst, Aserbaidschan könnte auch nach Armenien vordringen, wieder Sargsyans ständige Begleiterin. «Ich bin mein ganzes Leben lang auf der Flucht.» Sie lacht, ihr Zynismus wirkt wie der einzige Weg, mit diesem Schicksal umgehen zu können. «Das Schicksal einer Armenierin», ergänzt sie in abgeklärtem Ton. Sargsyans Angst ist nicht unbegründet: Die Waffenstillstandsvereinbarung wurde bereits wiederholt verletzt, ein solider Friedensschluss ist bisher nicht in Sicht. Hoffnung auf Sicherheit Möglicherweise macht die fatalistische Akzeptanz eines «armenischen Schicksals» den aktuellen Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden besser aushaltbar. Oft überwiegt jedoch Angst: «Ich weiss nicht, ob der Krieg vorbei ist. Einige Leute sagen, dass ein weiterer Krieg käme, dass Vorbereitungen getroffen würden», sagt Areks Yeziyans Tante Aschkhen. «In dieser Kriegszeit hat sich für mich Surprise 509/21

etwas verändert», meint sie. Vielleicht wäre es doch besser für sie gewesen, wenn sie aus Syrien nicht nach Armenien, sondern «als Flüchtling nach Europa oder Nordamerika» gegangen wäre. Sie malt sich aus, dass sie dort ein ruhigeres Leben hätte haben können. Gleichzeitig wiederholt sie immer wieder, dass Armenien viele Vorteile hat: Sie spricht die Sprache – wenn auch einen anderen Dialekt –, ihr Vermögen aus Syrien reiche hier zum Leben aus, und zudem habe sie in Armenien mit Familie und Freund*innen quasi ihr soziales Umfeld aus Aleppo behalten. So überzeugt sich Aschkhen immer wieder selbst von der Richtigkeit ihrer Entscheidung – und hofft, dass sich die Unsicherheit bald auflöst und dass sich ihre Angst, Armenien könnte in einen weiteren Krieg mit Aserbaidschan und der Türkei verwickelt werden, nicht bewahrheiten wird.

Hintergründe im Podcast: Simon Berginz im Gespräch mit Manon Borel über ihre Recherche vor Ort. surprise.ngo/talk 13


«Ein umfassendes Verständnis von Rassismus erlernen» Lehrmittel Zusammen mit Rahel El-Maawi veröffentlichte Mandy Abou Shoak 2020 die

Analyse «Einblick: Rassismus in Lehrmitteln». Sie zeigt, wie Schwarze Menschen und People of Color in Schweizer Schulbüchern heute noch abwertend dargestellt werden. INTERVIEW  MICHEL REBOSURA

Mandy Abou Shoak, mit welchem Kinder- oder Schulbuch haben Sie in Ihrer Schulzeit im Deutschunterricht gearbeitet? Ich kann mich noch an das Buch «Welt der Wörter» erinnern, das wir auch analysiert haben. Auch Geschichte habe ich damals mit einem der untersuchten Bücher gelernt, nämlich «Geschichte der Gegenwart». Ich bin 32 Jahre alt und war sehr überrascht, dass 15 Jahre nach meiner Schulzeit immer noch dieselben Lehrmittel in Gebrauch sind – und immer noch die gleichen Geschichten und Perspektiven erzählt werden, die sehr eindimensional sind.

dargestellt werden und Jugendliche anfangen, Affengeräusche zu machen. Das heisst, die Abwertung wird direkt vom Schulbuch auf das Kind übertragen. Das sind gewaltvolle Momente, welche die Lehrpersonen vielleicht mitbekommen, welche sie aber völlig überfordern, weil sie gar nicht verstehen, wie diese Übertragungen stattfinden. Ich selbst hatte damals nicht den Mut, die Unterstützung, das Wissen und das Bewusstsein, um in solchen Momenten irgendwie Position zu beziehen. Heute ist das anders. Ich bin selbst Teil des Hilfssystems.

Vor dem Einschlafen las meine Mutter mit mir immer Globi. Reime, Abenteuergeschichten, Komik. Eigentlich ganz lustig. Erst später erkannte ich, welche Stereotypen da bedient werden. Was die meisten nicht wissen ist, dass Globi erfunden wurde, um Kolonialwaren anzupreisen und die kolonialistische Gewalt zu legitimieren. Das gibt den Büchern eine ganz andere Dimension, die mir selbst nicht bewusst war. Ich habe davon erst in meiner Auseinandersetzung mit Rassismus erfahren.

Was hat Sie dann motiviert, Soziale Arbeit und Soziokultur zu studieren und aktivistisch tätig zu werden? Grundsätzlich hat mich immer die Frage der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit interessiert. Es war recht schnell klar, dass ich Soziale Arbeit studieren werde. Denn schon meine Eltern, die aus politischen Gründen aus dem Sudan in die Schweiz flüchteten, waren und sind politisch engagierte Menschen. Es geht darum, sich als privilegierter Mensch für weniger Privilegierte einzusetzen. So richtig bin ich aber erst mit meinem Masterstudium in die Thematik eingestiegen. In meiner Abschlussarbeit geht es um eine Rassismus-sensible Schule. So war auch mein Beitrag zu den Broschüren, die ich mit Rahel El-Maawi herausgegeben habe, Teil eines meiner Leistungsnachweise im Studium.

Sind Ihnen rassistische Inhalte trotzdem schon als Kind aufgefallen? Man spürt eine Verletzung. Man spürt abwertende Zuschreibungen, die einem übergestülpt werden. Als Mädchen oder Frau reagiert man oft mit Scham, indem man sich einredet, dass etwas mit einem selbst nicht in Ordnung ist. Man fühlt sich fehl am Platz, so: «Shit, ich fühl mich hier nicht wohl». Oder man versucht, diese Erfahrungen zu verdrängen. Ich habe asiatische Wurzeln und habe ähnliche Erfahrungen mit rassistischen Klischees über asiatische Menschen gemacht. Auch bei mir lösten sie Scham aus. Ich begann mich selbst von meiner Herkunft abzugrenzen und verinnerlichte so die Abwertung. Das Problem ist, dass abwertende Bilder im schulischen Raum eine mehrfache Form der Gewalt darstellen. Erstens, dass sie überhaupt in den Büchern drinstehen. Dann, zweitens, wenn ein Kind of Color aufmerkt und sagt: «Aber …», dann wird das Thema tabuisiert, abgewehrt: «Jetzt übertreib mal nicht so!», «Ist doch nicht so schlimm!» Und drittens reagiert auch das Hilfssystem aus Sozialarbeiter*innen, Hortleiter*innen oder Heilpädagog*innen meistens nicht adäquat. Eine Gewalt- und Schweigespirale. Genau. Das ganze System versagt. Der Höhepunkt – oder besser Tiefpunkt – ist erreicht, wenn Schwarze Menschen abwertend 14

Was ist das Fazit Ihrer Analysen – wie viel Rassismus steckt im Schweizer Schulunterricht? Das ist eine grosse Frage. Zunächst muss ein Missverständnis ausgeräumt werden: nämlich das verkürzte Verständnis von Rassismus hierzulande. Dieses engt Rassismus ein auf Menschen am rechten Rand, auf solche, die sich selbst als Rassist*innen definieren oder darauf, dass Rassismus etwas ist, das nur absichtlich passiert. «Rassist*innen sind Nazis» sozusagen. Dieses Verständnis ist unser Mainstream-Verständnis. Wir müssen damit beginnen, gesamtgesellschaftlich ein vollumfassendes Verständnis von Rassismus zu erlernen. Das bedeutet aber auch anzuerkennen, dass wir alle, also auch Schwarze Menschen, People of Color und weisse Menschen, rassistisch sozialisiert werden. Wenn wir aber alle rassistisch sozialisiert worden sind, dann heisst das auch, dass wir alle Rassismus verlernen müssen. Wie erklären Sie sich, dass heute noch Bücher produziert und nachgedruckt werden, die zum Teil klare Rassismen und Diskriminierungen enthalten? Man muss wissen, dass die Schule in unserem föderalen System immer noch den Kantonen untersteht. Das heisst, letzten Endes entscheiden kantonale Parteien darüber, was in den Lehrmitteln Surprise 509/21


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steht und was nicht. Und wenn wir schauen, wie unsere Kantone politisch aufgestellt sind, dann sind die meisten rechts-konservativ. Schulbücher sind ein Politikum. Das heisst, der Inhalt wird nicht nur nach wissenschaftlichen Massstäben bestimmt. Das ist für mich ein Grund, weshalb es nicht schneller vorwärtsgeht. Nun hat die Rassismusexpertin Anja Glover kürzlich eine anti-rassistische Checkliste für Lehrpersonen publik gemacht, die von einem Schweizer Lehrmittelverlag in Auftrag gegeben, dann aber abgelehnt worden ist, weil sie zu viel «politischen Sprengstoff» enthalten würde. Wie beurteilen Sie den Fall? Das ist der klassische Konflikt. Der Schulbuchverlag erwartete das verkürzte Verständnis von Rassismus und was man dagegen machen könne, und zurück erhielt er die umfassende, eigentliche Definition von Rassismus und damit die Büchse der Pandora, wo es auch strukturell sehr viel aufzuräumen gilt. So grundlegend, so ganzheitlich, dass ein Verlag es sich fast nicht leisten kann, ein solches Statement abzugeben. Das politisch «Gefährliche» liegt in der Konsequenz eines solchen Verständnisses: Welche Ressourcen, welche Gelder müssten gesprochen werden, um diese strukturellen Veränderungen voranzutreiben, und wem tritt man damit auf die Füsse?

«Schulbücher sind ein Politikum, der Inhalt wird nicht nur nach wissenschaftlichen Massstäben bestimmt.» MANDY ABOU SHOAK

schliesst gerade ihren Master in Sozialer Arbeit mit Vertiefung Menschenrechte ab und versteht sich als Soziokulturelle Aktivistin. justhis.ch

Sie sprechen hier den «strukturellen Rassismus» an. Ein Begriff, mit dem viele Mühe haben. Was bedeutet er für Sie? Struktureller Rassismus ist, wenn wir Racial Profiling als eine Methode akzeptieren, weil wir Schwarze Männer als eine Bedrohung für unsere Sicherheit imaginieren. Diese Zuschreibung von Gefahr hat mit der kolonialen Vergangenheit der Schweiz zu tun. Hier führen unsere Annahmen, sagen wir unsere Stereotypen, zu realer rassistischer Diskriminierung. Solche rassifizierten Annahmen schleifen sich in Organisationen und Strukturen ein. Sie werden zu selbstverständlichen, unhinterfragten Routinen und Abläufen. In solchen Strukturen reicht dann «Ich bin gegen Rassismus» eben nicht mehr, sondern man muss auch anti-rassistisch handeln und aktiv Rassismus verlernen. Das ist anstrengend. Aber wenn wir uns nicht alle auf den Weg machen, dann wird es schwierig. Die Schule ist dabei nur ein Bereich von ganz vielen. Was für Auswirkungen hat der so verstandene Rassismus in der Schule auf die Kinder? Bewältigungsstrategien wie die Verinnerlichung von Abwertung, die Abspaltung des Selbst oder die Verdrängung von Gewalt können zu Schmerzsymptomen führen, bis hin zu Depressionen und psychisch schwerwiegenden und anhaltenden Problemen. Studien zeigen auch, dass geringe Leistungserwartungen an Schüler*innen of Color und Schwarze Schüler*innen bei gleicher Leistung zu schlechteren Noten führen. So wird der exakt gleiche Diktattext ungleich benotet, je nachdem ob «Murat» drauf steht oder «Max». Damit wird für Schüler*innen of Color letzten Endes der Weg und der Zugang zur Lehre, zum Gymnasium oder zur Uni erschwert. Und die Veränderung beginnt mit dem Kind, das ein Rassismus-sensibles Kinder- oder Schulbuch liest? Genau. Es geht um Sichtbarkeit. Vielfalt in Kinder- und Schulbüchern ist gerade deshalb so wichtig. Denn erst wenn wir sehen, welche Vielfalt und Komplexität es gibt, können wir uns vorstellen, dass wir das selbst auch sein können.

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Corona In loser Folge erinnern wir an Menschen, die ihr Leben an Covid-19 verloren haben. Es sind individuelle Begegnungen mit der Trauer  –  durch die Augen und Erzählungen von Hinterbliebenen.

«Nun kannst du dich gar nicht mehr darüber freuen» Für Angèle war der Tod eine Erlösung. Und doch hadert ihre Tochter Sandra damit. Wegen der Pandemie – und weil das Sterben eines geliebten Menschen uns fundamental erschüttert. TEXT  SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN  SARAH WEISHAUPT

An einem Donnerstag im November bekommt Angèle im Altersheim plötzlich Fieber. Sandra denkt nicht an Corona, macht sich aber Sorgen und bittet darum, informiert zu werden, falls es Angèle schlechter ginge. Noch am Tag zuvor war es überraschend intensiv mit der Mutter gewesen: Deutlich hatte sie sich gewünscht, die Hand der Tochter zu halten, und Sandra hatte sie im Arm gehalten und gestreichelt – trotz Massnahmen. «Mir war es in dem Moment wichtiger, ihr nah zu sein, wenn sie schon einmal von sich aus einen Wunsch äusserte, den ich ihr erfüllen konnte.» Am Freitag wird Angèle einem Corona-Test unterzogen. Als Sandra abends anruft, ist nur noch die Nachtschwester da. Angèle habe weiterhin hohes Fieber, das Testresultat komme aber erst am Montag. Ja, wie hoch ist denn das Fieber? 39,9. «Da hätte man mich meiner Meinung nach tagsüber von sich aus informieren können. Ich hatte doch explizit darum gebeten – und das ist ja kein tiefer Wert.» Am nächsten Morgen ist das Fieber weiterhin hoch, immerhin trinke Angèle, teilt man Surprise 509/21

der Tochter mit. Auch die Sauerstoffsättigung sei ok. «In diesem Moment wollte ich doch gern einen Arzt zuziehen – es hätte ja auch sein können, dass es ein bakterieller Infekt ist und man etwas tun könnte. Und sollte!» Sandra will verhindern, dass ihre Mutter irgendwelche Hilfe nicht bekommt, nur weil sie nicht mehr explizit darum bitten kann. Doch der Heimarzt ist im Wochenende. Und der Notfallarzt, den die Heimleitung verständigt, bedient das Altersheim zuletzt. «Das ganze System war natürlich überlastet und unter hohem Druck – ich will das auch niemandem zum Vorwurf machen, aber man muss sich einfach bewusst sein, dass dies eine abartige Situation ist mit Corona.» Am Samstagabend um 20 Uhr ruft der Arzt Sandra an. Es gehe der Mutter tatsächlich nicht gut, das Fieber sinke trotz Medikamenten nicht und die Sauerstoffsättigung sei auch nicht mehr gut. Sie schlafe aber ruhig. Zehn Minuten Zeit hat Sandra, um sich zu entscheiden, ob man die Mutter wecken, womöglich vollkommen verunsichern und

verängstigen und ins Spital verlegen soll. In Sandra streiten sich Pro und Contra: Im Spital könnte sie ihre Mutter aufgrund der Pandemieregeln nicht mehr besuchen. Sollte sich herausstellen, dass sie kein Covid-19 hat, wäre das Ansteckungsrisiko im Spital viel höher als im Altersheim. Zudem würde im Spital wahrscheinlich auch nicht viel mehr passieren als jetzt, da Angèles lange Krankengeschichte und ihr Zustand eine Aufnahme in die Intensivversorgung auch aus ärztlicher Sicht unwahrscheinlich machen. Darf ein Mensch irgendwann einmal auch gehen, oder möchte man um jeden Preis das Leben erhalten? Sandra hat sichtlich zu kämpfen mit der Trauer. Diese Szene ist kein halbes Jahr her. Immer wieder weint sie während des Gesprächs, ihre Stimme klingt brüchig. Irgendwie ist sie zwar mit sich im Reinen damit, dass ihre Mutter Angèle mit 78 Jahren «das Leben verlassen durfte». Schliesslich mochte sie nicht mehr wirklich leben. Aber sie hatte auch grosse Angst vorm Sterben. Und die Pandemie hat alles so kompliziert und schwierig gemacht. «Meine 17


Mutter ist ein sehr lieber Mensch gewesen», sagt Sandra. Sie wirkt erschöpft. «Wir hatten eine grosse emotionale Nähe. In den letzten Jahren ging es ihr immer schlechter, das war schwer auszuhalten als Tochter.» Nun einigt sich Sandra mit dem Arzt zunächst auf einen Mittelweg: Er legt Angèle eine Sauerstoffbrille an, gibt ihr ein Antibiotikum für den Fall, dass es nicht Covid-19 ist, und auch als Schutz gegen eine Superinfektion. Und er erwirkt eine Ausnahmebesuchsgenehmigung für Sandra bei der Heimleitung. Sandra behält sich vor, am nächsten Tag erneut über eine Spitaleinweisung zu entscheiden. «Sie schafft das» Die Heimleiterin bestärkt Sandra und sagt: Die meisten infizierten Bewohner*innen hätten es gut überstanden. Und es sei halt so, dass Menschen im Altersheim irgendwann sterben. Das Nachdenken über den Tod jedoch bleibt bei Sandra seltsam losgelöst von ihrer Mutter, der Gedanke, es könnte nun wirklich bald so weit sein, dringt nicht richtig zu ihr durch. Sie glaubt noch, dass ihre Mutter den Infekt übersteht. «Sie hat starke Gene, sie kommt aus 18

dem Wallis, sie schafft das.» Auch ihr Vater und Angèles Lebenspartner sind dafür, dass sie in ihrem gewohnten Umfeld im Altersheim bleibt, als Sandra nacheinander mit beiden telefoniert. Zu dritt hatten sie Angèle regelmässig im Altersheim besucht, Montag und Freitag Sandras Vater – das Ehepaar war geschieden, bewahrte aber ein herzliches Verhältnis –, die restlichen Tage Angèles neuer Lebenspartner und alle zwei Wochen Sandra. Manchmal empfand sich Sandra dabei als sehr hilflos, von der Mutter kam immer weniger zurück. «Sie hat zu sehr vielen Versuchen, ihr zu helfen, Nein gesagt.» Eine Unterhaltung zu führen, fiel Angèle schwer. «Am Schluss war das Einzige, von dem ich merkte, dass es ihr was bringt, sie in den Arm zu nehmen. Auch wenn es mich jedes Mal sehr mitgenommen hat.» Als dann die ersten Einschränkungen wegen der Pandemie begannen, durften sie Angèle nur noch in einem Raum hinter einer Glasscheibe sehen, «so wie am Postschalter». Eine Katastrophe. Sandras Vater setzte schliesslich bei der Heimleitung durch, dass sie abwechselnd einmal pro Woche mit Maske und Abstand Angèle im Zimmer besuchen durften.

«Wir hatten eine grosse emotionale Nähe. In den letzten Jahren ging es ihr immer schlechter, das war schwer auszuhalten als Tochter.» SANDR A

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«Sie lag fast regungslos da, das Fieber war wieder hoch. Ich hatte überhaupt nicht ans Sterben gedacht.» SANDR A

Am Sonntag erfahren sie das Testresultat: Angèle hat Covid-19. «Kann ich sie nun trotzdem noch besuchen?», fragt Sandra. Zu ihrer Erleichterung bleibt die Heimleitung bei der Ausnahmegenehmigung – in voller Schutzmontur natürlich: eine Haube mit Plastikscheibe für Kopf und Gesicht, ein blauer OP-Mantel über der Kleidung, eine FFP2-Maske plus eine normale Schutzmaske darüber, doppelte Gummihandschuhe und Überzieher für die Schuhe. «Nach einer Stunde in dieser Schutzausrüstung wünscht man sich schon wieder raus.» Sandra braucht Hilfe von einer Mitarbeiterin des Altenheims für das An- und Ablegen der Schutzkleidung, mal eben zwischendurch auf die Toilette wird zu einem grösseren Akt. Angèles Fieber ist weiterhin hoch, aber sie ist ansprechbar und antwortet auch. Sandra ruft Angèles Lebenspartner an und hält ihr den Hörer ans Ohr, damit er mit ihr sprechen kann, und macht dann dasselbe mit ihrem Vater noch einmal. Am Montag möchte Sandra arbeiten gehen, hält es aber für angebracht, ihrem Team zu erzählen, dass sie Kontakt mit ihrer positiv getesteten Mutter hatte. Die Kolleg*innen verlangen einen Test – «vollSurprise 509/21

kommen verständlich», sagt Sandra, auch wenn sie ihre eigene Gefährdung angesichts der Krise der Mutter kaum wahrnimmt. Das Testzentrum schickt Sandra aufgrund des letzten Kontaktes am Mittwoch – ohne vollständige Schutzausrüstung – in Quarantäne. Bis Ende der Woche soll sie nun isoliert zuhause sitzen, obwohl sie doch lieber öfter zur Mutter ginge. Bouillon in der Schnabeltasse Am Dienstagnachmittag erfährt Sandra, dass sie negativ ist. Sie nimmt das kaum als gute Nachricht wahr, nur als Freigabe, sich wieder bewegen zu können. Die eigentliche Nachricht für sie: Angèles Fieber ist gesunken, ihr Zustand einigermassen stabil. Sandra überlegt hin und her: «Ich bin negativ, sie hat schon Corona, kann ich es verantworten, sie zu besuchen?» Sie beschliesst: Ja, sie kann. Und meldet sich für den Mittwoch bei der Heimleitung an für einen zweiten Besuch in Schutzmontur. Die Heimleitung stimmt zu. Sandra nimmt sich vor, im Altersheim auch ein paar bürokratische Sachen zu regeln, wenn sie schon mal dort ist, und die Bürosachen der Mutter mit nach Hause zu nehmen – jeden Ordner einzeln desin-

fiziert –, um den Papierkram nicht in Schutzkleidung vor Ort machen zu müssen. Zuhause füllt sie noch ein paar Palliativformulare aus und nimmt diese ebenfalls am nächsten Tag mit zum Besuch. Bevor sie Angèles Zimmer betritt, sie hat die Mutter nun schon drei Tage nicht gesehen, fragt sie die zuständige Pflegekraft: Wie geht es ihr denn? Immer etwas schlechter, ist die Antwort. So deutlich hört Sandra dies hier zum ersten Mal. Vorher hiess es immer nur: stabil. Was ja auch nicht heisst, ob gut oder schlecht – nur unverändert. «Und dann bin ich total erschrocken, als ich sie gesehen habe. Sie lag fast regungslos da, das Fieber war wieder hoch. Ich hatte überhaupt nicht ans Sterben gedacht.» Sandra hat selbstgemachte Bouillon dabei. Wenn sie als Kind krank war, hatte Angèle ihr immer Bouillon gegeben. Sie erzählt ihrer Mutter, was sie ihr mitgebracht hat, füllt die extra abgeseihte und abgekühlte Flüssigkeit in eine Schnabeltasse und lässt Angèle daraus trinken. Angèle verzieht extrem das Gesicht, plötzlich verschlechtert sich ihre Atmung. Sandra fühlt sich schuldig: Hat sie sich verschluckt? War es zu viel? Hat der Geschmack sie irritiert? Sandra ruft ihren Vater an, in der Hoffnung, Angèle fände seine Stimme beruhigend und die Atmung würde sich wieder normalisieren. Als der gewünschte Effekt aber ausbleibt, legt sie auf und ruft stattdessen eine Mitarbeiterin des Heimes. Diese beruhigt die Tochter, die Bouillon sei nicht der Grund für die Verschlechterung gewesen. Die Atmung stabilisiert sich wieder. Sandra weiss nun immerhin, dass Angèle reagiert, wenn ihr unwohl ist, und schliesst daraus, dann habe sie wohl auch keine Schmerzen, solange sie schlafe oder 19


ruhig daliege. Gar nicht so einfach herauszufinden, wenn man nicht mehr mit Worten kommunizieren kann. Angèle ist immer ein wenig wach, dann dämmert sie wieder weg. Das Fieber ist weiterhin hoch, die Sauerstoffsättigung nicht so gut. Zärtlich massiert Sandra ihr ein wenig den Nacken und spürt: Das tut der Mutter gut. In Absprache mit der Pflege bekommt Angèle erstmals drei Morphiumtröpfchen. Sandra findet das verantwortbar: «Ich wollte, dass sie nicht leidet – sie hat schon genug gelitten.» Immer wieder wird Angèle von leichten Zuckungen geschüttelt. Nun denkt Sandra doch an das Ende. Es scheint ihr, «als würde sie so hinüberrütteln in die andere Welt». Jemand soll ihre Hand halten In Sandras Kopf gehen die Gedanken durcheinander: Sie muss auf die Toilette, dazu braucht sie Hilfe einer Pflegerin wegen der Schutzmontur, gleich ist aber Essensausgabe, dann sind alle beschäftigt und keiner kann ihr helfen ... Sie nimmt sich vor, zuhause für die Mutter zu beten, während sie überlegt, vielleicht lieber über Nacht im Heim zu bleiben. Aber was sollte sie dann essen: Sie hatte ja noch gar keinen Znacht! Den Erdbeerquark aus dem Kühlschrank ihrer Mutter – das wäre vielleicht eine Lösung. Erdbeerquark. Die Morphiumtröpfchen beginnen zu wirken. Angèle schläft ein, die Pflegerin kommt ins Zimmer zurück. Sandra ist seit drei Stunden dort und muss nun dringend zur Toilette. Sie sagt der schlafenden Angèle, sie ginge jetzt und komme wieder. Draussen, nachdem man ihr mühsam aus der Schutzkleidung geholfen hat und nach kurzem Durchatmen auf der Toilette, bespricht sie mit dem Personal, dass es ihr doch sehr fest nach Sterben aussähe. Eine der Pflegerinnen entgegnet, man wisse es nicht mit Corona, sie könne auch wieder gesund werden. Sterben könne gut ein paar Wochen dauern, doch es könne auch jeden Tag passieren. Übrigens sei am Nachmittag der Arzt da gewesen und habe das Antibiotikum abgesetzt. Sandra ist irritiert. Warum hat er das vorgängig nicht mit ihr besprochen? Das war doch so vereinbart! Dann geht es noch um Angèles Patientenverfügung und anderes Administratives. Es ist alles ganz schon viel auf einmal für eine einzelne Angehörige. Sandra schreibt explizit auf, wie sehr die Mutter sich wünscht, dass ihr jemand die Hand halte, wenn sie stirbt. Ob sie wohl schrei20

ben müsste, dass sie selbst ihr die Hand halten soll, überlegt sie und entscheidet sich dagegen. Die Mutter hatte die Bitte nicht explizit an sie gerichtet, sie wollte einfach nicht ganz allein sein, wenn es dann «irgendwann mal» so weit ist. Und anstatt noch einmal reinzugehen zu ihrer Mutter, denn das hätte ja wieder einen erneuten Durchgang Hilfe mit der Schutzkleidung bedeutet, geht Sandra fix und fertig nach Hause. Der Gedanke, die Nacht über dort zu bleiben, ist weggedriftet. Sie ist durcheinander und erschöpft. Zuhause liest sie noch stundenlang im Internet, was man tun könnte, um das Leiden der Mutter zu lindern. Immer noch hat sie Angst, sie könnte etwas übersehen, was Angèle unnötig weitere Qualen aufbürdet. Künstliche Flüssigkeitszufuhr: Ja oder Nein? Im Altersheim geben sie nur subkutan Flüssigkeit, das sind Spritzen unter die Haut. Jedes Mal ein Piks – muss das sein? Es ist schwierig, richtige Antworten zu finden, es bleibt ein Abwägen. In der Nacht um vier Uhr schreckt Sandra plötzlich hoch und denkt: «Was mache ich denn, wenn meine Mutter jetzt wirklich stirbt?» Es fällt ihr nicht ein, dass sie im Altersheim anrufen könnte und fragen, wie es der Mutter gehe. Sie nimmt sich stattdessen vor, am Morgen anzurufen. Ihre Handynummer ist ja im Altersheim hinterlegt, denkt sie, wenn wirklich etwas ist, ruft man sie ja wohl an? Um halb sechs dann klingelt tatsächlich das Telefon. Es täte ihnen sehr leid, sagt die Schwester am anderen Ende der Leitung, aber ihre Mutter sei soeben verstorben. Im Moment ihres Todes war sie allein. Niemand hat ihre Hand gehalten. Als Sandra eine halbe Stunde später im Altersheim ankommt, erscheint ihr die Atmosphäre formal, fast bürokratisch. Die Nachtschwester, die als Letzte bei Angèle war, versichert ihr, sie sei eine halbe Stunde vor dem Tod noch drin gewesen, alles habe sehr ruhig ausgesehen, sie habe noch gedacht, vielleicht gehe sie jetzt bald, doch dann sei sie angepiepst worden und habe das Zimmer verlassen müssen. Als sie dann zurückgekommen sei, war Angèle tot. Eine andere Mitarbeiterin hilft Sandra in die Schutzmontur, will aber wegen des Schutzanzugs nicht mehr mit ins Zimmer kommen. Also ist Sandra allein mit ihrer toten Mutter. Es ist der erste Leichnam, den sie sieht. Angèle ist bereits hergerichtet worden, man hat sie in die Horizontale gelegt,

ihr die Hände gefaltet und eine Kinnstütze angebracht. «Sie sah sehr verändert aus.» Sandra kann nicht mehr entschlüsseln, ob sie mit einem entspannten Gesichtsausdruck gestorben ist. Sie gibt der toten Mutter einen letzten Kuss durch die Maske und sagt ihr, dass sie nun nie wieder leiden müsse. «Es ist so gemein, dass du dich darüber nun gar nicht mehr freuen kannst.» Fünf Minuten bleibt sie im Zimmer. Als sie geht, nimmt sie zwei private Bilder mit: eines von Angèle mit ihr als Baby und eines vom Lebenspartner. Ein rosa Haarband der Mutter packt sie ebenfalls ein. Als sie ein Stockwerk höher zum Personalraum kommt, wird dort gelacht. Geht dem Personal der Tod einer langjährigen Bewohnerin denn gar nicht nahe? Oder ist es Zufall? Eine Pflegerin, mit der sich Angèle gut verstanden hatte, kommt auf Sandra zu. Ein paar tröstende Worte

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«Ich hatte so viele Fragen zu den letzten Stunden meiner Mutter, aber ich war wie blockiert, ich wusste nicht mehr, was sagen.» SANDR A

und viele Informationen zu den anstehenden Formalitäten. «Ich hatte so viele Fragen zu den letzten Stunden meiner Mutter, aber ich war wie blockiert, ich wusste nicht mehr, was sagen.» Sie schaut der Nachtschwester, die als Letzte bei Angèle war, noch einmal in die Augen. Warum ist niemand bei Angèle gewesen, als es so weit war? Hat sie den Sterbeprozess nicht wahrgenommen? Oder konnte die Mutter vielleicht nur deshalb überhaupt sterben, weil sie allein war? Warum hat ihr niemand die Hand gehalten, obwohl sie es doch so explizit gewünscht hatte? Als sie heraustritt aus dem Altersheim, steht ein grosser Regenbogen am Himmel. Ein magischer Moment. «Meine Mutter hat immer gesagt, dass wir nicht in Schwarz um ihr Grab herumstehen sollen. Und prompt steht da in diesem Moment der Regenbogen voller Farben am Himmel.»

Einen Monat später denkt Sandra am Grab ihrer Mutter noch einmal an die Nachtschwester. Jetzt würde sie ihr gern die Hand drücken. Sandra ruft im Altersheim an. Die betreffende Person ist krankgeschrieben, sagt man ihr. Also schreibt sie eine Karte, bedankt sich noch einmal und schreibt, sie würde sich freuen, sie bei Gelegenheit persönlich zu treffen. Das Altersheim verspricht die Karte weiterzuleiten. Sie hört nie wieder etwas.

* Die Nachnamen der Personen sind der Redaktion bekannt, wurden aber auf Wunsch der Betroffenen weggelassen.


FOTO: MAJLINDA HOXHA

Jeton Neziraj, 44, war künstlerischer Leiter des Nationaltheaters Kosovos und ist derzeit Direktor des Multimediazentrums in Prishtina. Er hat über 20 Theaterstücke geschrieben, die im Kosovo und im Ausland aufgeführt und in über 15 weiteren Sprachen übersetzt und veröffentlicht wurden.

Alte schöne Heimat Theater Das Theater Winkelwiese zeigt «Swiss Connection». Der Autor Jeton Neziraj

thematisiert in seinem Stück die Dynamik von Diaspora-Bewegungen und die Instrumentalisierung der Heimatnostalgie für den Befreiungskampf des Kosovo. TEXT  SHQIPE SYLEJMANI

«Eine Krimikomödie, die kaum denkbar scheint, doch näher an der Realität ist, als erwartet», erzählt mir der Autor Jeton Neziraj über sein Theaterstück «Swiss Connection», welches die Befreiungsbewegung der Kosovar*innen in der Schweiz der 90er-Jahre auf schmerzhafte, jedoch amüsante Art porträtiert. Der Kosovo und die Schweiz, zwei Welten, die aufeinandertreffen, denke ich im Dialog mit dem Kosovaren. Auch ich selbst setze mich als Buchautorin und Schweiz-Kosovarin mit dem Thema auseinander. Wir sind zwei Kulturschaffende, haben eine gemeinsame Herkunft und je unsere eigenen – und doch sich überlagernden – Erfahrungen mit der albanischen Kultur und Identität. Jeton Nezirajs «Swiss Connection» beleuchtet eine Zeit, in der ich mich noch in der Schweiz einlebte. Wie gern ich mich an die Demonstrationen erinnere, die uns oft erst einen Abend vorher per Telefon kommuniziert wurden. Meine Geschwister und ich malten stundenlang Bilder der albanischen Fahne, die wir am nächsten Tag in den Strassen von Bern, Genf oder Zürich stolz präsentieren würden, während wir mit zwei ausgestreckten Fingern «Demokraci» schrien und uns nach Freiheit für unser Herkunftsland sehnten. 22

Dass ein Stück wie «Swiss Connection» jemals auf Interesse in der Schweiz stossen würde, war damals noch undenkbar. Das angeschlagene Image der Albaner*innen im Land, das zum Teil herrschende Unwissen über Menschen und Kultur aus dem albanischen Raum oder auch die Dis­tanz, die zwischen Schweizer*innen und Kosovar*innen in der Luft lag, waren allzu präsent. «Auch aus Deutschland kenne ich dieses Phänomen», erklärt mir Neziraj. Er habe bei Recherchen festgestellt, dass sich die Annäherung zwischen den Kulturen als schwieriger herausstellt, als man sich dies im Kosovo je ausgemalt hatte. «Die Menschen in der Heimat hatten eine Idealvorstellung von der Diaspora. Es schien uns die Situation im Kosovo zu erleichtern, weil man wusste, irgendwo, weit weg von diesen Grenzen, gibt es Albaner*innen, die in Freiheit, Frieden und Glück leben.» Eine Geschichte habe ihn dabei besonders fasziniert. «Ein Mann erklärte mir, er habe vierzig Jahre lang in einer Fabrik in Deutschland gearbeitet.» In dieser Zeit habe er nicht einmal einen Kaffee mit einem Deutschen getrunken. Als ich ihn fragte, weshalb, erklärte er mir, dass er vom Deutschen nie nach Hause eingeladen worden war, also habe er auch keinen engeren Kontakt gesucht. Er sei Surprise 509/21


Das Stück: «Swiss Connection» Es ist eine Geschichte, die in der schönen, liberalen und neutralen Schweiz undenkbar zu sein scheint: Eine Untergrundorganisation aus kosovarischen Migrant*innen hat sich gebildet und kämpft für die Freiheit ihres Herkunftslands. Unter ihnen ist Këmbshpejti. Der junge Mann arbeitet als Bäcker in Zürich, ist mit der Schweizerin Sara verheiratet und führt ein scheinbar normales Leben. Nachts mobilisiert er jedoch seine Landsleute für die «nationale Sache» – einen Befreiungsschlag Kosovos von Serbien. Als seine Ehefrau Wind bekommt von seinem Doppelleben, droht dieses gänzlich aus den Fugen zu geraten. Das Projekt entstand im Rahmen der von Pro Helvetia geförderten Zusammenarbeit «The Albanians, the Hungarians, the Serbs, the Swiss and some other little details Or WHERE IS HOME?» zwischen vier koproduzierenden Theatern aus Serbien, Kosovo und der Schweiz.

ja schliesslich der Gast im Land, der höflichkeitshalber hätte integriert werden sollen. «‹Swiss Connection› ist nun also ein Stück über diese Mentalität, die viele aus ihrer alten Heimat mitgenommen hatten: mit all den alten Gepflogenheiten und Regeln. Doch diese sind selbst im Kosovo schon längst ausgestorben», erklärt Neziraj. Er spüre dies vor allem, wenn er im Ausland auf Albaner*innen treffe. «Im Kosovo sind wir auf der Überholspur: Kaum ein Land hat eine solch junge und dynamische Bevölkerung, die hungrig nach Wissen und Erfolgen ist. Die Menschen haben sich weiterentwickelt und werden nun endlich für die Welt sichtbar, indem sie ihre Kenntnisse, ihre Fähigkeiten oder auch ihre Kunst teilen. Im Ausland dagegen fühlt es sich so an, als ob die Albaner*innen ihre damalige Kultur noch aufrechterhalten würden, obwohl sich ihre Heimat bereits weiterentwickelt hat.» Das Doppelleben als Sinnbild für die Identität Ein Punkt, in dem ich Jeton Neziraj rechtgeben muss. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich in der Schweiz mit der albanischen Kultur und schrieb dazu das Buch «Bürde & Segen», welches ein Spiegel dieser Integrationsphase ist und vom Bezug zu den eigenen Wurzeln handelt. Dass der Roman in der Schweizer Medienlandschaft eine solche Präsenz erhalten würde, war für mich ein Geschenk sondergleichen. Nicht weil ich erfolgreich sein könnte. Sondern weil es schien, als hätte die albanische Kultur einen Platz in der Schweiz gefunden. «Es ist genau diese Treue und Liebe, welche die Diaspora der Heimat gegenüber empfindet und die Këmbshpejti in meinem Stück sein Doppelleben aufrechterhalten lässt. Der Wunsch, seine Familie im Kosovo in Freiheit zu wissen, treibt ihn an seine physischen und psychischen Grenzen. Leider setzen wir diese Art Menschen heute unwillkürlich mit Figuren wie dem ehemaligen Ministerpräsidenten Hashim Thaçi und dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Kadri Veseli in Relation, die in Surprise 509/21

Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen und Vetternwirtschaft mehr als nur in Verruf geraten sind. Nichtsdestotrotz haben sie und die albanische Diaspora einen immensen Beitrag zur Freiheit des Kosovo beigetragen», sagt Neziraj. Letztens war ich im Kosovo und kam mit einem Taxifahrer ins Gespräch. Ich könne nicht verstehen, weshalb es so viel Abfall auf den Strassen gebe, sagte ich. Für dieses Land hätten doch Menschen ihr Leben im Krieg riskiert, die Familie verloren und Opfer erbracht. Der Taxifahrer hielt augenblicklich an und holte ein Foto aus seiner Brieftasche hervor. Darauf waren er und ein anderer Mann zu sehen, beide in der Militäruniform der kosovarischen Befreiungsarmee UCK. «Ich habe für dieses Land gekämpft. Und mein Bruder ist für dieses Land gefallen.» Ich dankte ihm für seine Dienste für unser Land, doch er winkte ab. «Wir haben zu danken. Wäre die Diaspora nicht gewesen, die selbst bei ihren eigenen Kindern sparte, nur um so viel Geld wie möglich in die Heimat zu senden, für Essen, Kleider oder Waffen, hätten wir es nie geschafft. Wir haben die Freiheit gemeinsam errungen.» Neziraj lächelt betrübt, als ich ihm diese Anekdote erzähle. Auch wenn sich vieles zwischen den Albaner*innen in der Heimat und denen im Ausland verändert hat, so bleibt zumindest noch diese Verbundenheit, die uns durch die schweren Jahre getragen hat. «Nun – Këmbshpejti wird irgendwann die Freiheit seines geliebten Kosovos feiern. Was denken Sie, wie er heute handeln würde? Wäre er zufrieden damit, wie die albanische Diaspora sein Erbe weitergetragen hat?», frage ich Neziraj. Ich denke dabei auch daran, dass sich die Sicht auf die Dinge unterdessen etwas geändert hat. Die Kosovar*innen in der Heimat wissen die Hilfe ihrer Landsleute im Ausland während der Kriegszeit zu schätzen. Heute werden die Diaspora-Albaner*innen allerdings eher als arrogant wahrgenommen und haben auch im Kosovo einen schlechten Ruf als Raser und Protzerinnen – genauso wie oft in der Schweiz. «Nun, das sind Themen, die ich in meinem nächsten Stück behandeln möchte – ‹King Lori›. Es spielt auf die schweizerisch-albanische Musikerin Loredana an, die das gleichnamige Album herausgegeben hat, sowie auch auf die Politikerin Ylfete Fanaj. Es passt, dass dieses Projekt anschliessend an ‹Swiss Connection› folgt. So haben wir die Vergangenheit verhandelt und wagen nun auch einen Blick in die Zukunft.» Wie diese denn aussehe, frage ich. Neziraj schmunzelt und sagt: «Mit neuen Helden des Alltags.» SHQIPE SYLEJMANI wurde 1988 in Prishtina, Kosovo, geboren und lebt seit ihrem vierten Lebensjahr in der Schweiz. Sie studierte Journalismus und Kommunikation in Zürich und engagiert sich im Bereich Kulturförderung. In ihrem ersten Roman «Bürde & Segen» blickt sie auf ihre Migrationserfahrung zurück.

«Swiss Connection» von Jeton Neziraj, Regie: Manuel Bürgin, Vorstellungen vom 25. September bis 9. Oktober, Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4, Zürich. winkelwiese.ch 23


Aus der Welt gefallen Kino In «Réveil sur Mars» porträtiert Dea

Gjinovci eine geflüchteten RomaFamilie. Und zeigt, wie Kinder resignieren. TEXT  GIULIA BERNARDI

Bewusstlos vor Angst Gjinovcis Film zeigt die psychischen und physischen Folgen, die durchlebte Traumata oder die Angst einer bevorstehenden Ausschaffung haben können. Wie tief sich diese Erfahrungen in den Körper einschreiben, wird anhand der beiden Töchter offenbar: Sie befinden sich seit mehreren Jahren in einem komaähnlichen Zustand, der in den frühen Nullerjahren als «Resignationssyndrom» diagnostiziert wurde. Tochter Djeneta wurde nach einem traumatischen Erlebnis bereits im Kosovo bewusstlos, ihre Schwester Ibadeta dann in Schweden, als der Asylantrag ihrer Familie abgelehnt wurde. Dass das Syndrom als Form des Selbstschutzes bezeichnet wird und davon mehrheitlich Kinder aus geflüchteten Familien betroffen sind, legt nahe, dass es sich nicht um ein rein medizinisches Problem handelt. Sondern um ein gesellschaftliches und politisches. So beschrieb es auch Elisabeth Hultcrantz, eine jener Ärzt*innen, die geflüchtete Familien in Schweden betreuen. In «The Trauma of Facing Deportation», einer umfangreichen Reportage, die 2017 im Magazin New Yorker veröffentlicht wurde, schilderte sie die Situation verschiedener Familien, deren Kinder am Resignationssyndrom leiden. Darunter jene von Djeneta und Ibadeta. Als Dea Gjinovci den Artikel las, kontaktierte sie Elisabeth Hultcrantz, die sie schliesslich an die Familie vermittelte. «Ich 24

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FOTOS: FIRSTHANDFILMS

Die beiden Mädchen liegen auf dem Bett, in rötlich warmes Licht gehüllt. «Ich glaube, dass sie mich hören», sagt ihr jüngerer Bruder Furkan. Er klingt kindlich und hoffnungsvoll, während ein Lichtspiel aus grünen und violetten Farben über die regungslosen Gesichter schweift. «Ich bin nicht sicher, aber ich denke schon.» In ihrem Dokumentarfilm führt uns Dea Gjinovci die Lebensrealität der Familie Demiri vor Augen. 2007 flüchtete das Ehepaar mit ihren vier Kindern nach Schweden; Im Kosovo gehören Roma zu einer verfolgten und diskriminierten gesellschaftlichen Minderheit. Drei Jahre später wurde die Familie ausgeschafft, was eine strukturelle Problematik des Migrationsregimes offenbart: In vielen europäischen Ländern wird der Kosovo als sicheres Herkunftsland deklariert, auch für Roma. 2014 flüchteten die Demiris erneut nach Schweden. Als die Regisseurin Dea Gjinovci sie zum ersten Mal traf, war der Antrag auf Asyl schon zweimal abgelehnt worden, ein letzter Versuch stand noch aus.


Das Navi der Tiere

habe mich gleich mit der Familie verbunden gefühlt», erinnert sich Dea Gjinovci an ihr erstes Treffen. «Mein Vater flüchtete in den 1970er-Jahren aus dem Kosovo in die Schweiz, da er als studentischer Aktivist für die Unabhängigkeit des Landes demonstriert hatte. Meine Mutter verliess Albanien in jungen Jahren.» Dass sie selbst aus einer Familie mit Migrationsgeschichte kommt und mit den Demiris Albanisch sprechen konnte, machte den Austausch sehr persönlich.

Buch David Barrie erzählt in «Unglaubliche Reisen» von den erstaunlichen Navigationsleistungen der Tiere Wer heute von A nach B kommen will, verlässt sich in der Regel auf technische Geräte. Sei es das Navi im Auto oder die Kartenfunktion des Smartphones. Die wenigsten nutzen zur Orientierung noch Karten auf Papier oder vertrauen ihrem Gefühl oder Gedächtnis. Selbst Wandernde verlassen sich zunehmend auf ihr GPS. Die Fähigkeit der frühen Jäger und Sammler, der ersten Seefahrer oder etwa der australischen Aborigines, sich anhand von Sonne, Sternen oder Landmarken zu orientieren, gerät in Vergessenheit. Stellt man dann noch den Vergleich mit den Navigationsfähigkeiten der Tiere an, erweisen sich diese als weit überlegen. Wie erstaunlich sie sind, zeigt der Autor David Barrie mit einer Fülle von Beispielen aus der Wunderwelt der Natur. Dabei spannt er den Bogen von den kleinsten Lebewesen, von Bakterien, Plankton und Würmern, über Ameisen, Bienen und Käfer, Schmetterlinge oder Vögel bis zu den grössten Meeressäugern. So verschieden all diese Tiere sind, so vielfältig sind ihre Möglichkeiten, sich zu orientieren, sei es nun bei der Nahrungssuche oder den Wanderungen zu ihren Geburts-, Brutund Laichplätzen. Ihre Methoden gehen weit über das übliche Sehen, Hören und Riechen hinaus bzw. heben selbst diese auf ein unerwartetes Level. Oder wer hätte gedacht, dass Mistkäfer das Licht der Milchstrasse nutzen, dass Seehunde nach Leitsternen navigieren oder manche Vögel eventuell sogar Magnetfelder sehen können? Und wer weiss schon, dass Lachse Geruchsbilder ihrer Geburtsflüsse in sich tragen oder dass Nachtpfauenaugen stereoriechen? Und das ist noch nicht alles. Fledermäuse oder Delphine etwa nutzen ein Echolot, Haie und Aale elektrische Felder, Fische den Druck der Wasserbewegung. Manche Tiere haben einen Sonnen- und Mondkompass inklusive Zeitausgleich. Auch Magnetismus oder Gravitation spielen bei der Tiernavigation eine Rolle. Schon bei den Bakterien finden sich mikroskopisch kleine Magnetpartikel – eine Urform des Navis der Tiere. Noch vieles bleibt ein Rätsel, selbst in diesem «goldenen Zeitalter» der Tiernavigations-Forschung, der immer mehr Hilfsmittel aus der Neurowissenschaft oder Anatomie bis hin zur Molekularbiologie oder Robotik zur Verfügung stehen. Die Zeit aber, die den Forscher*innen zur Lösung dieser Rätsel bleibt, wird knapp. Denn mit dem fortschreitenden Artensterben verschwinden auch unwiederbringliche Wunder der Natur, die unsere Achtung verdienen.

Wünsche in der Vergangenheitsform Eineinhalb Jahre lang reiste Dea Gjinovci immer wieder ins schwedische Horndal, um die Familie zu besuchen. Daraus entstand der Dokumentarfilm, in dem sanft und einfühlsam ein Alltag spürbar wird, der sich nur schwer beschreiben lässt. Zwischen dem einen Asylantrag und dem nächsten, in einer Hoffnung, die einmal unmittelbar greifbar ist und dann wieder verfliegt. Ein Alltag, der einem luftleeren Raum gleicht, in dem der Atem vor der ungewissen Zukunft stockt. «Ich frage mich, wie Traumata an einem Ort verarbeitet werden können, an dem sie nicht anerkannt werden», sagt Dea Gjinovci. «Wie kann zwischen abgelehnten und ausstehenden Asylanträgen eine Erinnerung ihren Platz finden, die eigene Kultur weitergegeben werden?» Dass in einem so fragilen Zustand die Hoffnung auf eine mögliche Zukunft immer weiter in die Ferne rückt, wird in den Dialogen deutlich. Die Mutter erzählt, dass Ibadeta Ärztin werden wollte, dass Furkan gerne Fussballer werden würde. Wünsche gab es in der Vergangenheit, als die Töchter noch wach waren, oder sie verschieben sich in den Konjunktiv. Im Präsens werden sie nie formuliert. Inmitten dieses Alltags vermag Dea Gjinovci auch Momente voller Liebe und Zärtlichkeit festzuhalten. «Furkan, ohne Essen wirst du nicht stark», sagt der Vater und tippt seinem Sohn liebevoll auf den Oberarm. «Lass mich deine Muskeln sehen …» Furkan spannt lachend seinen Bizeps an. In der Welt des Jungen vermengen sich Trauma und Hoffnung. Er geht durch die ruhige Landschaft, die so windstill ist, als ob auch die Zeit stillstehen würde; die dünnen Bäume ragen in den klaren Himmel, als nähmen sie kein Ende. In diese Wälder schreit Furkan hinein, seine Stimme hallt nach, um dann ganz zu verschwinden. Manchmal dringt eine Erinnerung aus dem Kosovo an die Oberfläche. Er erzählt kurz davon, immer aus dem Off, um sogleich wieder zu schweigen. Aus einem alten Ford baut Furkan eine Rakete. «Ich werde auf den Mars fliegen», er springt vom erdigen Hügel herunter – und befindet sich sogleich auf dem fernen Planeten. Die rötliche Erde rinnt zwischen seinen Fingern hindurch.

FOTO: ZVG

CHRISTOPHER ZIMMER

David Barrie: Unglaubliche Reisen. Vom inneren Kompass der Tiere. Mare 2020. CHF 39.90

«Réveil sur Mars», Regie: Dea Gjinovci, Dokumentarfilm, CH/FR 2020, 74 Min. Läuft zurzeit im Kino. Surprise 509/21

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Bern «OH BODY! – Feministische Theater- und Performancetage», Mo, 27. Sept. bis Mo, 11. Okt., Schlachthaus Theater Bern, Rathausgasse 20/22. schlachthaus.ch

Zum zweiten Mal veranstaltet das Schlachthaus Theater Bern die Feminis­ tischen Performance- und Theatertage «OH BODY!». Dabei geht es um Gleich­ berechtigung und Selbstbestimmung. Alle Produktionen thematisieren auf eigene Art und Weise die Frage nach der Freiheit, sich nicht festlegen zu müssen, nicht einfach lesbar sein zu dürfen und Etikettierungen, Klassifi­ zierungen, Bewertungen und Diskriminierungen aller Art zu hinterfragen: «Wir sprechen über Körper, aber im Grunde sprechen wir über Zuschreibun­ gen. Über das Nicht-Ich. Die Künstler*innen bei OH BODY! sprechen darüber, wie man diesen Berg von Nicht-Ich, der uns allerorts übergepfropft wird, wieder los wird und das Ich vom Nicht-Ich trennt. Mal lustvoll, mal schmerz­ lich», sagt die Regisseurin, Performerin und Autorin Antje Schupp. DIF

Basel «Posy Simmonds. Close Up», bis So, 24. Oktober, Di bis So, 11  bis 17 Uhr, Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch

Fast gleichzeitig mit dem 1971 in der Schweiz endlich eingeführten Frauenstimmrecht nimmt Posy Simmonds beim Londoner links­ liberalen The Guardian – für den sie bis heute arbeitet – ihren Job als

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Zeichnerin und Cartoonistin auf. Der Ursprung ihrer Arbeit und beis­ senden Gesellschaftskritik ist ein vielschichtiges Engagement für die Frauenrechte. Einige ihrer Gra­ phic Novels sind auf raffinierte Weise mit literarischen Vorlagen verwoben; auch Bezüge zu Klassikern wie Gustave Flaubert, Tho­ mas Hardy und Charles Dickens sind immer wieder erkennbar. Posy Simmonds ist eine Beobachterin der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse: «Ich laufe viel in Lon­ don herum, und in den vergangenen zehn Jahren ist der Unterschied zwischen reichen und armen Ge­ genden immer offensichtlicher ge­ worden. Es gibt mehr Obdachlose, mehr städtische Essensausgaben. Gleichzeitig sind die Häuser in Knightsbridge, Chelsea und Ken­ sington Abermillionen wert. Diese Kluft erinnerte mich an das viktorianische London.» Neben präzisen psychologischen Porträts ih­ rer Protagonistinnen verspottet Simmonds die Eitelkeiten und Unzulänglichkeiten der Mittel­ schicht und der Kulturszene, karikiert biedere Denkweisen und kritisiert aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in der Metropole London. DIF

Online «Demokratzer – Der Podcast des Polit-Forum Bern», alle Episoden auf der Webseite, Spotify und Apple Podcast und Google Podcast. polit-forum-bern.ch/demokratzer Demokratie bedeutet Austausch von Erfahrungen, Perspektiven und Argumenten. Die Gesprächs­ formate am Polit-Forum Bern gel­ ten politischen Themen am Puls der Zeit, es kommen dabei regelmässig Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen, Expert*innen und Politiker*innen zu Wort. Jetzt auch im Podcast Demokratzer. Der corona­bedingte Ausnahmezustand führte zu einer starken Zunahme von psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwach­ senen. Darüber sprechen nun Michael Kaess, Chefarzt der Uni­ versitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, und Frank Ma­ rohn, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. DIF Zürich «Pfahlbaufest», Sa/So, 25./ 26. September, 10 bis 18 Uhr, Naturstation Silberweide, Mönchaltdorf, und «Wassergeschichten im Staatsarchiv Zürich», Do, 7. Oktober, 15 bis 16 Uhr, Di, 12. und Mo, 18. Oktober, je 18 bis 20 Uhr, Staatsarchiv des Kantons Zürich (Eintritt frei), Anmeldung: staatsarchivzh@ji.zh. ch, einfachzuerich.ch Einfach Zürich (ein Verein, der Kul­ turgeschichte vermittelt) und die Naturstation Silberweide lassen

das jungsteinzeitliche Leben am Greifensee auferstehen: Es kann mit Pfeilbogen gejagt, mit Silex geschnitzt und Feuer gemacht so­ wie auf heissen Steinen Brot geba­ cken werden. Später im September kann man an Spezialführungen im Staatsarchiv die Abwassersysteme der Stadt kennenlernen. Ausser­ dem erzählen zahlreiche Original­ dokumente vom Umgang mit dem Wasser. Es geht um Überschwem­ mungen, Flusskorrekturen, um gebrannte Wasser und, weniger feuchtfröhlich, um den Tod durch Ertrinken. DIF

Zürich

«Madama Butterfly», Fr/Sa, 1. und 2. Okt., Di/Mi, 5. und 6. Okt., Fr/Sa, 8. und 9. Okt., Theater Neumarkt, Neumarkt 5. theaterneumarkt.ch Warum Liebe weh tut, ist Thema von «Madama Butterfly». Die junge japanische Regisseurin Satoko Ichihara zeigt, wie stark das Begehren von sozialen Verhältnissen, Normen und Stereotypen geprägt ist. Sie definiert mit messerschar­ fem Blick Puccinis gleichnamige Oper neu: Eine junge Geisha wird mit einem amerikanischen Offizier verheiratet. Dieser schwängert sie – und verschwindet kurz danach. Die Frau begeht Suizid. Ichihara dreht nun den Spiess um und erzählt die Geschichte aus Sicht der alleinste­ henden Mutter. DIF

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BILD(1): STUDIO ATTILA JANES, BENEDICTROHRER, BILD(2): YOSHIKOKUSANO, BILD(3): POSY SIMMONDS, «CASSANDRA DARKE», 2018, BILD(4): PHILIP FROWEIN

Veranstaltungen


sen kaum unterwegs. Die Zone­-30Schilder sind mit dem Logo der Gemeinde «gebrandet». Eine solche Tafel befindet sich an der Siedlungsstrasse. Diese führt in ein Viertel mit kleinen, bunten Einfamilienhäusern. Etwas weiter vorne befindet sich ein dem Notfalltraining gewidmetes Haus. Das Trottoir überquert einen lauschigen, plätschernden Bach, im Hintergrund ist eine gedeckte Holzbrücke zu sehen. Als nächstes ist es eine Schnellstrasse, die überquert wird. Bald weisen die Schilder nach «Gewerbe Ost», «Gewerbe West» und «Indus­trie Süd». Eine kleine Herz-Jesu-Kirche säumt den Weg, der vorbei am Bienken-Saal mit seinen 700 Sitzplätzen, in dem wahrscheinlich auch bald wieder Veranstaltungen stattfinden können, zum Einkaufszentrum Mühlefeld führt.

Tour de Suisse

Pörtner in Oensingen Surprise-Standort: Zentrum Mühlefeld Einwohner*innen: 6  469 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 36,4 Sozialhilfequote in Prozent: 3,5 Anzahl Schweine: 180

Oensingen ist Industrie. Auf der einen Seite der Geleise erstrecken sich Areale und Flachbauten, so weit das Auge reicht. Firmen, die man kennt und solche, von denen man noch nie gehört hat. In der Bahnhofsunterführung wird in einem Schaukasten dem Lehrling zur bestandenen Abschlussprüfung gratuliert. Eine Bahnhofsgaststätte gibt es nicht, nur einen Kiosk mit Stehtischchen. Postkarten fehlen im Sortiment, dafür kann ein Kleinkredit für ein Elektrovelo aufgenommen werden. Der Wegweiser mit der Aufschrift «Dorf» zeigt in Richtung der schroffen Ausläufer der Jurakette. Vor dem Bahnhof fährt ein Zug nach Irgendwo. Der Weg zum Einkaufszentrum führt durch eine klassische Blocksiedlung. Es sind noch Wohnungen zu mieten, es werden aber bereits neue gebaut. Die Surprise 509/21

Von Roll-Strasse führt denn auch nicht zum riesigen Von Roll-Hydro-Areal – an dessen Eingang ein schmuckes Pavillonzelt steht und ein Schild mit richterlichem Verbot, das Unbefugten den Zutritt untersagt –, sondern in eine aufgeräumte Siedlung mit dem Namen «Leuenfeld», das gemäss Übersichtsplan über einen eigenen Park, ein Ärztezentrum inkl. Psychiatrie und psychologischer Beratung sowie einen Kinderhort und Quartierraum verfügt. Auch hier werden neue Wohnungen gebaut. Die an der Hauptstrasse angebrachte Infotafel klärt die unbedarften Besucher*innen darüber auf, dass es sich bei der Burg um das Schloss Neu-Bechburg handelt, das 1215 erbaut wurde und genauso aussieht, wie man sich eine Burg eben vorstellt. Zudem gibt es Wander- und Radwege, Fussgänger*innen sind indes-

Dort hockt ein Jugendlicher ganz frei von Ironie und Retroschick auf einem PuchMaxi-Mofa. Überhaupt sammeln sich hier die Menschen, von denen bis dahin so wenig zu sehen war. Kinder sitzen am Rand des grossen Platzes, der von einer Plakatwand des lokalen Gewerbevereins dominiert wird. An der gegenüberliegenden Bushaltestelle verkehrt die Linie 125, Montag bis Freitag um 07.35 und 13.35 Uhr, Samstag und Sonntag gar nicht. Man trifft sich im Café und freut sich über die Gesundheit, obwohl man einen Rollator braucht, oder auf das Singen, das nach langer Zeit endlich wieder einmal stattfindet. Ausser den beiden Grossverteilern gibt es eine Dance Art ­Academy und – etwas unerwartet – ein Kino, in dem abwechselnd Blockbuster und Kinderfilme gezeigt werden. Vielleicht benutzt dann auch jemand das winzige Münzkarussell, das vor der Bäckerei angekettet ist.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

engler.design, Grafikdesign, Baden

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Coop Genossenschaft, Basel

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbank, Zürich

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Omanut. Forum für jüdische Kunst & Kultur

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

07

hervorragend.ch | Grusskartenshop

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Irma Kohli, Sozialarbeiterin, Bern

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Anwaltskanzlei Fraefel, Zürich

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

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Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Cantienica AG, Zürich

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Echtzeit Verlag, Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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artune ag - Architektur und Kunst

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Nachhaltig programmiert, ZimaTech GmbH

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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AdaptIT GmbH, Rapperswil-Jona

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Brockenstube Au-Wädenswil

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Rentabus.ch

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 48-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor über 10 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise BILD: ZVG

#Strassenmagazin

Da wird die Zeitschrift einer Institution, die sich um die Schwächsten unserer Gesellschaft kümmert, als «linkstrendig» beschimpft. (Donald lässt grüssen.) Dabei hat einer vor langer Zeit gesagt: «Was ihr einem dieser Geringsten tut, das habt ihr mir getan.» War es ein Linker? A . BRÜGGER, Thun

#507: Schuldenserie – Und jetzt?

#500, #502, #505: Schuldenserie

«Rechtswidrig»

«Leute, die selber schuld sind»

Ihr Vorschlag «Anders Steuern zahlen» erwähnt leider nicht, dass Abgaben, Gebühren, direkte und indirekte Steuern auf Existenzeinkommen eine Verletzung elementarer Menschenrechte darstellen. Der Grundfreibetrag in Steuertarifen fast aller CH-Kantone ist heute um 50 bis 100% zu tief entsprechend der Lebenshaltungskosten.

Ja, das ist schon so: Die Armut wird ja eigentlich gefördert. Und die Menschen werden klassifiziert. Etwas habe ich aber nirgends gelesen. Zwar können die meisten nichts dafür, dass sie plötzlich in Schulden stecken (und dann nicht mehr herausfinden). Doch es gibt sehr wohl Leute, die wie nichts in Schulden geraten, die wirklich selber schuld dran sind. Leute, die auf grossem Fuss leben. Die kommen nicht in die Statistiken.

A . FLURI, Neftenbach

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 509/21

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Lilit Aleksanyan, Seynab Ali Isse, Giulia Bernardi, Manon Borel, Sophia Freydl, Michel Rebosura, Shqipe Sylejmani, Vanja Velisavljev, Sarah Weishaupt Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 300 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Klar, logisch. Diese Leute finden nämlich jederzeit eine Person (oder mehrere), die ihnen ihr Leben sponsern. Und wenn immer möglich sorgen sie dafür, dass der/die Geldgeber/in nichts dagegen tun kann. Es ist im Übrigen falsch zu sagen, dass Ihr Magazin ultra-links sei. Meistens – finde ich – sind die Artikel sachlich geschildert. Sachlich = neutral, kann man sagen.

C. STUBER, Olten

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 509/21

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: VANJA VELISAVLJEV

Internationales Verkäufer-Porträt

«Ich bin immer schon hartnäckig gewesen» «Ich bin in einer schönen Umgebung in der serbischen Provinz Vojvodina aufgewachsen. Meine Kindheit war aufgrund der familiären Situation zwar kompliziert, doch es gab auch viel Schönes: der Wald, der Fluss, die Wiesen, die Brombeeren – alles wie bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Dieses Kapitel meines Lebens war sehr wertvoll. Aber da waren auch dunkle Zeiten. Meine Mutter wurde schon früh Witwe und musste sich ganz alleine um meinen Bruder und mich kümmern. Dann zogen wir zu meinen Grosseltern. Mein Grossvater war ein starker Trinker, das war für uns Kinder alles andere als schön. In der Grundschule war ich ein hervorragender Schüler, aufgeweckt und sensibel. Danach besuchte ich das Gymnasium in Novi Sad. Doch ich merkte bald, dass mir diese akademische Welt nicht sonderlich liegt und ich eher der freidenkende, künstlerische Typ bin. Also brach ich das Gymnasium ab und machte ein Diplom als Elektriker.

Žarko Erdelji verkauft das serbische Strassenmagazin Liceulice in Novi Sad, er erinnert sich gern an seine Jugend und schreibt Gedichte.

Alles nahm seinen Lauf – Ausbildung, Arbeit und Familie –, und doch fand ich irgendwie nie so richtig den Tritt. Mir fehlte der Sinn des Lebens. Also ging ich in ein Kloster, um meine Gedanken zu ordnen. Der Glaube ist etwas Wunderbares, aber Sie wissen ja selbst, wie das ist: Menschen sind auch nur Menschen, und das Kloster ist da keine Ausnahme. Ich habe dort einige wirklich aussergewöhnliche Menschen getroffen, doch mit anderen kam ich einfach nicht zurecht.

Ich war schon mein ganzes Leben lang hartnäckig. Bevor ich das Strassenmagazin Liceulice verkaufte, las ich im Studentenviertel der Stadt Poesie vor, und schrieb auch selbst einige Gedichte. Die Student*innen gaben mir dafür ein wenig Geld. Was ich vortrug, hat sie offenbar berührt. Das hat mich sehr gefreut.

Ich habe dann mal hier, mal dort gearbeitet. Das war in den 1990ern, damals ging es mir schlecht. Ich habe sogar einen Suizidversuch unternommen. Aber selbst in diesen schweren Zeiten habe ich immer versucht, etwas aus meinem Leben zu machen. Ich verkaufte Socken, Kirschen und Pralinen, und das selbst bei Minusgraden. Dann starb meine Mutter. Ihr Tod hat mich sehr getroffen, denn wir lebten zusammen. Da ich kaum Geld hatte, konnte ich die Miete nicht weiterbezahlen und landete auf der Strasse. Es gab damals niemanden, der mir half. So war ich einige Zeit obdachlos, bis Sozialarbeiter mir halfen, wieder eine Wohnung zu finden. 30

Dann kam Corona und ich begann, das Strassenmagazin zu verkaufen. Am Anfang war das nicht einfach, doch inzwischen bin ich froh, dass ich zu Liceulice gehöre. Wir sind wie eine Familie. Ich komme mit vielen Leuten ins Gespräch, auch auf der Strasse. Dann reden wir über das Leben, über unsere Sorgen und Freuden – und natürlich darüber, wer wie viele Hefte verkauft hat. Mir ist wichtig, dass ich auch hinter den Inhalten des Magazins stehen kann. Vielleicht fange ich wieder an, Gedichte zu schreiben – und wer weiss, womöglich werden sie dann auch im Strassenmagazin Liceulice zu lesen sein.»

Aufgezeichnet von VANJA VELISAVLJEV Übersetzt von KL AUS PETRUS Mit freundlicher Genehmigung von LICEULICE  /  INSP.NGO Surprise 509/21


So schützen wir uns beim Magazinkauf Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Wo nötig tragen wir Masken.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desinfek­ tionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


EINLADUNG ZUM SCHULDEN-TAG

Zum Podium mit Apéro und zum Sozialen Stadtrundgang sind Sie herzlich eingeladen:

NTER U M A / TRE LIVES RPRISE.NGO .SU WWW HULDEN SC

28. OKTOBER, 18 UHR GARE DU NORD, BASEL Lilian Senn (Betroffene und Surprise-Stadtführerin) Olivia Nyffeler (Berner Schuldenberatung) Christoph Mattes (FHNW) Yvonne Feri (Nationalrätin) Die Veranstaltung ist kostenlos, die Plätze sind jedoch beschränkt. Anmeldung bis am 15. Oktober unter www.surprise.ngo/schulden oder mit dem Talon an: Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel

ANMELDUNG ZUM PODIUM UND ZUM SOZIALEN STADTRUNDGANG Ja, ich melde mich für das Podium vom 28.10.2021 vor Ort an (für den Live-Stream ist keine Anmeldung erforderlich)

Anrede

Vorname, Name:

Ja, ich melde mich für den neu lancierten Sozialen Stadtrundgang «Wege aus der Schuldenspirale» in Basel an: Stadtrundgang vom 28.10.2021 um 11 Uhr Stadtrundgang vom 28.10.2021 um 16 Uhr Die Teilnahme ist kostenlos. Die Tour dauert ca. 1h, das Podium ca. 1.5h.

Email:

Ich melde neben mir noch weitere Personen an. Anzahl:

Illustration: Marcel Bamert

In einer vierteiligen Serie berichtete Surprise über Schulden. Nun diskutieren wir mit Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft und Praxis sowie mit Direktbetroffenen über das Thema.


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Tour de Suisse

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SurPlus Positive Firmen

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Veranstaltungen

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Corona

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Lehrmittel

6min
pages 14-15

Kino

1min
page 24

Theater

6min
pages 22-23

Armenien

9min
pages 8-13

Aufgelesen

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Moumouni

2min
page 7

Verkäufer*innenkolumne

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page 6
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