Konzerthaus Nachrichten · April 2022

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PHILIPPE HERREWEGHE

Mit der Passion auf dem Lebensweg Er hat Bachs »Matthäuspassion« unter Harnoncourts Leitung gesungen. Bald wurde Philippe Herreweghe selbst zu einem ihrer bedeutendsten Interpreten. Er hat sie so oft wie kein anderes Werk dirigiert.

sondern auch die Stimmungen, Ornamente und Rhetorik der historischen Aufführungspraxis an. Herreweghe achtete zudem darauf, dass er bei Bach Frauenstimmen einsetzte, deren Klang Knabenstimmen nahekam, sodass es eine Entsprechung zu den Sopranund Alt-Bubenstimmen im Leipziger Thomanerchor gibt. Damit sang das Collegium Vocale als eines der ersten Ensembles in Europa Bachs geistliche Vokalwerke in einer Besetzung und Weise, wie sie der Zeit und Praxis des Thomaskantors entsprachen.

Jedes Jahr liegt die Partitur der »Matthäus-Passion« vor Herreweghe auf dem Dirigentenpult. Meist – wie auch nun im Wiener Konzerthaus – widmet er sich der Passion der Passionen mit dem Collegium Vocale, jenem Ensemble, das der heuer ­75. Geburtstag feiernde Musiker 1970 in seiner Heimatstadt Gent mit Studierenden der Universität und des Konservatoriums gegründet hat. Bei der mittlerweile mehr als 50-jährigen Dirigentenlaufbahn des Belgiers gehen die Aufführungen der »Matthäus-Passion« in die Hunderte, man hat aufgehört zu zählen.

Bald wurde aus dem Laienchor ein professionelles, vielgefragtes Vokalensemble. Nach einem Bach-Konzert des Collegium Vocale in Amsterdam kam Gustav Leonhardt zu Herreweghe ins Künstlerzimmer und lud ihn ein, an der Gesamtaufnahme der BachKantaten mitzuwirken. Damit begab sich Herreweghe auf seinen Weg zu Bach und schließlich zu dessen Opus magnum, der »Matthäus-Passion«, die er zunächst als Kind im Chor der Jesuitenschule in Gent und dann als junger, umfassend in Gesang sowie an Orgel, Cembalo und Klavier ausgebildeter Musikstudent unter der Leitung Harnoncourts gesungen hat.

Seinen Zugang zu Bach fand Herreweghe vor allem durch zwei Pioniere der historischen Aufführungspraxis, Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt. Deren Herangehensweise an Barockmusik wurde zum Schlüsselerlebnis für den jungen Musiker. »Wie die Bach spielen, so müsste man Bach singen«, dachte er sich und reduzierte als erstes im Collegium Vocale die Besetzung von etwa 80 Mitgliedern auf ein Dutzend Sänger:innen. Er passte aber nicht nur die Besetzung,

In all den Jahrzehnten, in denen Herreweghe seither Aufführungen der »Matthäus-Passion« leitet, konnte er ein vielseitiges, von geistigen und aufführungspraktischen Erfahrungen durchzogenes Verständnis für die Passion entwickeln, das von emotionaler Tiefe ebenso durchdrungen ist wie von religiösen, philosophischen und psychologischen Aspekten. Bis heute horcht Herreweghe immer wieder aufs Neue in die Passion hinein. Sie ist

das Fundament seines musikalischen Wirkens, in dem er sich nach eigenem Bekenntnis der Musik des deutschsprachigen Raums von Schütz und Bach über Beethoven und ­Schumann bis Bruckner am nächsten fühlt. Durch den überzeugten Lutheraner Bach hat der in Gent im katholischen Glauben aufgewachsene Herreweghe zudem einen Zugang zum Protestantismus und zu Martin Luther gefunden, dessen Übersetzung des 26. und 27. Kapitels des Evangeliums nach Matthäus den Text der dramatischen Erzählung in den Rezitativen und der Bibelwortchöre in Bachs Passion bildet. · RAINER LEPUSCHITZ

KONZERTTIPP

07/04/22 Do, 19.00 Uhr · Großer Saal

Bach: Matthäuspassion Collegium Vocale Gent Reinoud Van Mechelen

Evangelist (Tenor) Florian Boesch Christus (Bass) Dorothee Mields Sopran I Grace Davidson Sopran II Tim Mead Alt I (Countertenor) James Hall Alt II (Countertenor) Samuel Boden Tenor I Guy Cutting Tenor II Jonathon Adams Bass I (Bariton) Tobias Berndt Bass II (Bass) Philippe Herreweghe Dirigent

Johann Sebastian Bach

Matthäuspassion BWV 244

17.30 Uhr · Schubert-Saal

Musik im Gespräch Renata Schmidtkunz im Gespräch mit Erwin Barta: Bach, die Thomaskirche, meine Mutter und ich. Eine protestantische Prägung


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