wundersam - über sehen

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über sehen gewahren vergessener freundschaft eine wundersam publikation

wundersam

Wirkstatt zur Erforschung und Vermittlung der Sprachen der Natur Wahrnehmen und Verstehen der Geschöpfe unserer Heimat Erde

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Blätter im Wind | Zeichnung, Barbara Kastura

Inhalt

Einführung 8

Freundschaft mit dem Leben

Können wir uns sehen lassen? 12

Zur Bedeutung des Wundersamen im Anthropozän

Landschaflicher Seinszustand der Sprache 18

Die Entstehung der Klangschrift

Anders denken und fühlen 20 Texte und Sprache aus dem Video Der Lebensgarten in Klangschrift

Der Lebensgarten 28 Eine performative Klang-Kunst-Video-Produktion

Künstlerische wundersam Forschung 37 Einfühlsames. panpsychistisches Erkunden

Erleben zaghaften Entgegenkommens 40 Erzählungen über Begegnungen mit der Natur

Raum für Wünsche und Träume des Menschen und der Erde 54 Der Projektraum wundersam

Kopfunter am Himmel laufen 58 Nature Writing

Mehr Bildung für nachhaltige Entwicklung 68

Über die Forschungsarbeit des Instituts für Nachhaltigkeit

alpin – lumen – waldfreundschaft 74 Natur-Poesie

Zukunftsphilo-sophia 78 Ein Weitblick in der Jetztwelt

Ehrfurcht vor dem Wunder Leben 84 Methodische Überlegungen

Autor*innen 88 Lese-Anregungen 91 Impressum und Dank 92

Freundschaft

mit dem Leben

Wie hört sich der Wind gerade an und wie zeigt sich mir die Blüte, das Gewässer, der Himmel, die Landschaft? Was ist das Bewusstsein eines Gewitters, eines Flusses, eines Augenblicks? Wie entdecke ich die inneren Gärten und wo stehen sie?

Diese Publikation eröffnet unterschiedliche Anschauungsweisen des Gewahrens* vergessener Freundschaft mit dem Leben. wundersam Expeditionen erkunden kreativ, schöpferisch und experimentell Begegnungen von Bewusstseins-Feldern des Lebens. Wir alle leben und schreiten auf göttlichem Grund: Die Verwobenheit alles Lebendigen; der klingende Planet Erde mit all seinen evolutionären Wesenszügen als Tier, Pflanze, Mensch, Element, Atmosphäre, Kristall, Jahreszeit. Samt verborgener, dem Menschen kognitiv kaum zugänglicher Wesenheiten. Auf wundersame Weise klingt und schwingt das Leben in uns und um uns herum.

Lassen Sie sich dazu anregen, Ihr schöpferisches Dasein und Ihre Lebensweisen in der Natur und mit der Natur in jedem Augenblick selbst neu zu entdecken und zu entfalten. Sehen und gesehen werden. Leben begegnet Leben.

Für diese Publikation haben wir Autorinnen und Autoren gewinnen können, die sich jeweils mit ihrem eigenen Blick auf die Wahrnehmung des Menschen, der lebendigen Natur und den damit verbundenen Verstehens- und Verarbeitungsprozessen befassen – sensibel, philosophisch, erzählend, visionär, poetisch, konkret. Allen Mitwirkenden danken wir von Herzen für ihr Engagement und für ihr Vertrauen in das Projekt wundersam.

Möge das Leben selbst uns Menschen und die nichtmenschlichen Lebewesen der Mutter Erde in dieser momentan ablaufenden Zeit zutiefst trösten und beschützen.

* gewahren: (unvermutet) jemanden, etwas, was sich aus etwas Ungeordnetem herauslöst, sehen

Barbara Kastura und Michael Schels
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Gegenüberliegende Seite: Neunblüter | Blatt-Gouache-Schellack, Barbara Kastura
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Blatt-Gouache-Schellack, Barbara Kastura

Die Wunden heilen Bemerken – Ghadso und Klangschrift

Gespräche Das Lächeln 11

Können wir uns sehen lassen?

Zur Bedeutung des Wundersamen im Anthropozän

Gefühlte Wunder geschehen, indem sie unsere alltägliche Erfahrung und die damit verbundenen Erwartungen mächtig durchbrechen, und zwar, wie der alltägliche Sprachgebrauch nahelegt, auf verschiedene Weisen: Das Wundervolle als Steigerungsform des Wunderbaren ist so viel reicher als unsere alltägliche Erfahrung, dass es all unsere Erwartungen übertrumpft und dadurch unsere Bewunderung heischt. Das Wunderliche dagegen bleibt so weit hinter unserer alltäglichen Erfahrung zurück und ist zugleich so eigenartig, dass es unsere Erwartungen auf eine beschämende und zugleich irritierende Weise enttäuscht. Das Wunderliche verwundert uns. Zwischen dem Wundervollen und dem Wunderlichen schwebt nicht nur alphabetisch das Wundersame. Auch das Wundersame durchbricht unsere alltägliche Erfahrung unerwartet mächtig, aber wir wissen nicht genau, wie das geschieht und was uns da geschieht; wir haben es nicht erwartet und es ist uns nicht klar, ob und wie wir es in unsere bisherigen Erwartungen einordnen können. So lädt es uns dazu ein, es und damit auch uns selbst besser kennenzulernen.

Zwischen dem Wundervollen und dem Wunderlichen liegt oft nur ein Schritt, etwa aus dem Moonwalk heraus auf eine Balkonbrüstung, und in der Mitte dieses Schrittes ist offenbar das Wundersame situiert. Für den Zustand, den das Wundersame provoziert, müsste es daher „Wunderung“ als ein neutrales Wort zwischen „Bewunderung“ und „Verwunderung“ geben; sagen wir lieber: Sich-Wundern.

Wie andere Erfahrungskategorien, so liegen das Wundervolle, Wundersame und Wunderliche immer auch im Auge der betrachtenden Instanz. Sie unterscheiden sich nämlich anhand dieser Frage: Kann es sich sehen lassen?2 Das Wundervolle kann sich uneingeschränkt sehen lassen; wir freuen uns, wenn es sich sehen lässt; und wer sich selbst als wundervoll empfindet, mag alles daransetzen, sich möglichst ausgiebig sehen zu lassen. Das Wunderliche kann sich demgegenüber nicht sehen lassen, da sein Anblick stört; wenn sich Wunderliches nichtsdestotrotz sehen lässt, vielleicht sogar sehen lassen will, dann steigert dies seine Wunderlichkeit nur noch – Beispiele gefallener Stars, die Popularität durch bizarres Auftreten wiederzugewinnen suchen, dürften allgemein geläufig sein.

Auch hier hält sich das Wundersame in der Mitte: Es lässt sich sehen mit dem ihm und uns eigenen je ne sais quoi (S. Voigt 2012) – wir wissen nicht, was soll das bedeuten, gerade weil es am Kipppunkt zwischen dem Wundervollen und dem Wunderlichen steht, und da wir es nicht wissen, wissen wir auch nicht, ob wir hinschauen sollten oder nicht – und daher schauen wir selbstverständlich erst recht hin. Das Wundersame erweist sich so als ein erfahrbares, weltliches Mysterium, von dem es noch nicht klar ist, ob es uns faszinieren oder erzittern lassen wird (Otto 2004).

Diese Erfahrungskategorien lassen sich auch auf das Anthropozän anwenden, also auf das nach verbreiteter Überzeugung herrschende geologische Zeitalter, in dem das Erdsystem markant von menschlichen Einwirkungen geprägt ist (Heichele 2020). Diese menschlichen Einwirkungen verdanken sich nicht zuletzt dem Zuwachs unserer wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten, die es uns auch ermöglicht haben, das Erdsystem auf verschiedenen Ebenen auf neue Weise zu betrachten. Dabei zeigt sich die Erde vor einem kalten, dunklen, leblosen Hintergrund als die berühmte „blaue Murmel“, die auf ihrer Oberfläche ein im bekannten Universum einzigartiges chemisches Ungleichgewicht erhält, was sich als Leistung eines planetenumspannenden Superorganismus auffassen lässt, der den Namen „Gaia“ erhalten hat (Lovelock 2016). Das durch Disziplinen wie Mikrobiologie und Ökologie erschlossene Zusammenwirken unterschiedlichster Organismen und ihrer Umwelten, in und vielleicht auch über dem Gaia besteht, durchbricht die herkömmlichen Erwartungen rein mechanischer Zusammenhänge. Dies lässt sich als Ausdruck einer unverdienten und in ihrer Erfahrung erhebenden, befreienden Anmut erfahren, für die es im Englischen den Ausdruck grace gibt (Bateson 1972; ders. 1979). Hier bewegen wir uns offenbar in der Erfahrungskategorie des Wundervollen.

1 Dies beruht in leichter Kompression auf dem Wunderbegriff, der seit David Hume der neueren Debatte zugrunde liegt (Basinger/Basinger 1986). In vorliegendem Beitrag geht es nicht um den nach wie vor strittigen Punkt, ob derartige Wunder möglich sind, sondern um die ästhetische Erfahrung dessen, was als ein Wunder erscheinen kann – also von „gefühlten“ Wundern.

2 Zum „Sehen-Lassen“ als einer ästhetischen Praxis vgl. Wiesing (2013).

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Eben die wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, das wundervolle Erdsystem auf eine neue Weise zu erfassen, benutzen wir allerdings auch dazu, es auf eine Art zu beeinflussen, die sich bei distanzierter Betrachtung als wunderlich darstellen könnte. Zwar versprach uns das neuzeitliche Fortschrittsdenken von der maximalen Ausübung jener Fähigkeiten die Herrschaft über die Natur (Böhme 1993), doch was kam, war das Anthropozän mit seinen „Golden Spikes“, exponentiell in die Höhe schnellenden Werten von menschlichen Einflüssen auf unsere Umwelt (Renn/Scherer 22015). Wie wir heute wissen, gefährden diese Einflüsse das empfindliche Ungleichgewicht auf diesem Planeten und führen zu immer extremeren Zuständen, denen zahlreiche Lebewesen, eventuell auch wir selbst, nicht mehr hinreichend angepasst sind. Wer erwartet hätte, dass eine so fähige Spezies ihre eigenen Lebensgrundlagen und diejenigen vieler anderer Wesen bewahren oder zumindest nicht in hohem Grad gefährden würde, müsste sich angesichts dessen verwundern. Wären wir es selbst, die so etwas hilflos aus der Entfernung beobachteten, so ließe es sich leicht vorstellen, dass wir uns entsetzt abwendeten oder dieser Katastrophe nur widerwillig zuschauten. Nun erleben wir all dies inmitten des Anthropozäns. Wenn uns dabei unsere eigene Wunderlichkeit nicht überwältigt, so mag dies daran liegen, dass ihre Manifestationen in ihrer Gesamtheit als „Hyperobjekte“ (Morton 2013) jenseits unserer unmittelbaren Wahrnehmungsfähigkeit liegen. Es mag auch damit zu tun haben, dass wir uns an die bizarren Nebenfolgen unseres Handelns gewöhnen und aufgrund weiterer Gewöhnungseffekte selbst diesen Umstand vergessen (MacKinnon 2013). Auch mögen wir uns inmitten einer technisch scheinbar zu unseren eigenen Zwecken überformten – und gerade dadurch destabilisierten – Umwelt vom trügerischen Gefühl menschlicher Überlegenheit hinreißen lassen (U. Voigt 2018). Sobald wir die Auswirkungen jener Umstände am eigenen Leib erfahren, merken wir allerdings, dass die Falltiefe vom Wunderlichen zum Schrecklichen nicht allzu groß ist (Dufresnse 2019). Auf Nietzsches letzte Menschen, die sich die Erde als ein behagliches und scheinbar sicheres Haus eingerichtet haben, könnten die allerletzten Menschen folgen, die miterleben müssen, wie dieses Haus im Vollbrand zusammenstürzt. Wenn vom Zaun dieses schon glimmenden Hauses nach wie vor Kriege gebrochen werden, so empfinden das die dafür verantwortlichen Häupter offenbar selbst als so wunderlich, dass sie ihrem Unterfangen lieber gleich andere Namen geben.

An dieser Stelle könnte der Einwand erfolgen: All das mag ästhetisch unangenehm sein – aber ist es nicht vorrangig, diese Vorgänge technisch unter Kontrolle zu bringen, etwa durch global angewandte Ingenieurskunst (Lovelock 2019; kritisch dazu Rathmann/Voigt 2021), gegebenenfalls abgesichert von neuen politischen wie militärischen Architekturen? Darauf lässt sich antworten: Das träfe zu, wenn Menschen einfach so funktionieren würden. Dann könnten wir ohne Rücksicht auf ihr ästhetisches Empfinden technische Lösungen suchen und implementieren. Doch funktionieren Menschen nicht „einfach so“; wenn sie handeln, dann deshalb, weil ihnen etwas und weil sie sich selbst und untereinander etwas bedeuten. Und in diese Motivation ist ästhetische Erfahrung untrennbar verstrickt, weil sie das Erleben von Bedeutsamkeit vermittelt (S. Voigt 2021).

Um das Wundervolle auf diesem Planeten vor unserer Wunderlichkeit zu retten, brauchen wir daher immer auch – das Wundersame in der Gestalt, von der diese Publikation handelt: als Erfahrungen, die wir auf neuen Wegen machen können, die uns zu einer unerwarteten, unerschöpflich reichhaltigen und zu neuen Ausdrucksweisen inspirierende Resonanz mit unserer Umwelt führen können; die uns dazu veranlassen können, diese Umwelt und auch uns selbst als darin eingebettet auf eine nachhaltige, sie und uns selbst erhaltende Weise zu behandeln. Wenn dies glückt, dann können wir uns selbst im Anthropozän vor Beobachtern, die wir auf diesen wundersamen Wegen für uns selbst sind – allerdings nicht länger auf distanzierte, sondern auf engagierte Weise – durchaus sehen lassen.

Uwe Voigt

Literaturhinweise

• Basinger, David / Basinger, Randall (1986): Philosophy and Miracles: The Contemporary Debate , Lewiston

• Bateson, Gregory (1972): Steps to an Ecology of Mind , San Francisco-New York

• — (1979): Mind and Nature: A Necessary Unity , New York

• Böhme, Gernot (1993): Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung , Frankfurt am Main

• Dufresne, Todd (2019): The Democracy of Suffering. Life on the Edge of Catastrophe, Philosophy in the Anthropocene , Montreal

• Heichele, Thomas, Hg. (2020): Mensch – Natur – Technik. Philosophie für das Anthropozän , Münster

• Lovelock, James (2016): Gaia. A New Look at Life on Earth , Oxford

• — (2019): Novacene. The Coming Age of Hyperintelligence , London

• McKinnon, J.B. (2013): The Once and Future World. Nature as it was, as it is, and as it could be, Toronto

• Morton, Timothy (2013): Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World , Minneapolis-London

• Otto, Rudolf (2004): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen , München

• Renn, Jürgen / Scherer, Bernd, Hgg. (22015): Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge , Berlin

• Voigt, Stefanie (2012): „Unsagbar, interessant und zentral – Über die Kunst, Geheimnisvolles zu umschreiben, oder: Das nescio quid“, in: dies., Cultura. Sieben kulturwissenschaftliche Aufsätze über sieben verborgene Künste , Berlin 2012, S. 19-33

• — (2021): Angewandte Ästhetik für Einsteiger. Über „Smart Humanities“ und den neuen (oder alten) Anspruch an die Führung der Industrie von morgen , Deggendorf

• Voigt, Uwe (2018): „Inside the Anthropocene“, in: Analecta Hermeneutica (10), online unter: https://journals.library.mun.ca/ojs/index.php/analecta/article/view/2057

• Voigt, Uwe / Rathmann, Joachim, Hgg. (2021): Natürliche und Künstliche Intelligenz im Anthropozän , Darmstadt

• Wiesing, Lambert (2013): Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens , Frankfurt am Main

Folgeseiten: Das Grundalphabet | Zeichnungen, Barbara Kastura

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Landschaftlicher Seinszustand der Sprache

Eine Erzählung zur Entstehung der Klangschrift

So wird es wohl einmal gewesen sein: Es erschien eine Fee und sprach: »Eine Frau wird kommen, die in ungehörten Klängen spricht und singt. Schon als Mädchen wird sie viel über die Natur nachdenken, Geschichten darüber erfinden, mit beiden Händen schreiben wollen, den Geschöpfen der Natur gemalte Bilder vorspielen und viele Fragen stellen und Antworten finden.«

Inmitten musikalischer Projekte und Aufführungen mit auch deutschsprachiger Lyrik-Vertonung, klassisch angehauchten Jazzimprovisationen und freier Liedformen tauchte für mich solch feenhaftes Umblättern unerwartet unvermittelt auf. Als Stimmkünstlerin wurde es mir im progressiven und doch gewohnten Musikraum bald zu eng und ich begann in einer Sprache zu singen, zu klingen und zu erzählen, die unerkannt erschien, mir aber von irgendwoher sehr vertraut war. Eine faszinierende Klangwelt mit interpretatorischen Qualitäten tat sich auf, die bis heute Strukturen und Räume schafft – gleichermaßen Musik, Geste und Bild. Ein bewegender Gesang, die Musik kann reden und manch Zuhörer*in hat den Eindruck, sie sogar sehen zu können. In musikalischen, klanglichen und phonetischen Improvisationen werden beide Ufer des Geschehens Leben begegnet Leben augenblicklich wahrgenommen und in klangliche Ereignisse übersetzt.

Dazu die malerische Umsetzung. In Verbindung mit Natur- und Tierbeobachtungen entstand die freie Klangschrift samt Sprach- und Bewegungsstudien und -formen. Als Sängerin, die auch Malerei studierte, musizierte ich mit dem Pinsel, entwickelte freie Kompositionen, leitete Klangbilder aus Vogelflügen ab, zeichnete Wortlandschaften und neumenhaft anmutende Klangschriften, die auch als Regieanweisungen für Suchende gelesen werden können. Ich erkundete neue Wege des Ausdrucks und wechselte wie beim Gesang Perspektiven. Mein Blick ging über das lineare Denken hinaus. Eine alphabetisierte Klangschrift entstand, mit Lese- und Schreibweise von rechts nach links. Die Schrift erhielt auf diese Weise Raum und der ursprüngliche, landschaftliche Seinszustand der Sprache kam zum Ausdruck. Die Körperhaftigkeit der Sprache wurde sichtbar.

Die Klangschrift ist bis heute ein Work-in-Progress – ein sanftes, langsames Voranschreiten und Betrachten eines Entwicklungsprozesses der Einfachheit, des Entstehens und Gewahrens. Wie den Gesang setzte ich Klangschrift in freiem Ausdruck vielfältig um: als bildnerisches Mittel bei szenischen Ausdrucksformen und Installationen, als Notation für Sprachformen, Bewegungsbilder und Gesang, als musikalische Instrumentenübersetzung, als Geräusche und choreographisch als großformatige Bewegungs-Bodenbilder auf der Bühne.

Dies alles galt und gilt es zu entdecken und für gemeinsames kreatives Entwickeln fruchtbar werden zu lassen. MIt der Wirkstatt und dem Begegnungsraum Der Goldene SchRitt* werden improvisatorische, naturverbundene Ausdrucks- und Sichtweisen mit interdisziplinärer Kunst und Naturpädagogik kombiniert. Die Wirkstatt ist Treffpunkt, Forschungs- und Entwicklungsort bildnerischer, sprachlicher, musikalischer und experimenteller Ausdrucksweisen. Hier entstehen langfristig angelegte Netzwerke, Konzepte und Projekte wie ein multiperspektivischer Chor, naturpädagogische Exkursionen und Betrachtungsweisen der Stille.

Dieser Andersweg ist für mich eine Rückbindung an unsere Heimat Erde, die in einer vergessenen und unerhörten Sprache zu uns spricht. Dieser Sprache schenke ich in Ehrfurcht vor der Schöpfung mein Gehör und meine Stimme. In der Begegnung mit der Natur, der Kunst, dem Menschen und dem Wunder wagen sich viele Möglichkeiten heraus. Lasst uns gemeinsam die Klänge und Wege der Weltgeschöpfe hüten und pflegen.

* Als Goldener Schnitt (lateinisch: secio aurea, proportio divina) wird das Teilungsverhältnis einer Strecke oder anderen Größen bezeichnet, bei dem das Verhältnis des Ganzen zu seinem größeren Teil (auch Major genannt) dem Verhältnis des größerem zum kleineren Teil (dem Minor) gleich ist. Der Goldene SchRitt ist eine kasturaesk´sche Wortschöpfung, die in Abgrenzung zur rational-mathematischen und auch ästhetischen Formulierung von Proportionen eine intuitive und leiblich-performative Arbeitsweise der Künstlerin andeutet – nämlich die Prozesse und Sprachen der Natur wahrzunehmen und durch Sprache, Klang, Bild und Bewegung zu würdigen. Das Bewegen aus der Stille und Briefe an meine Heimat.

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Die Gewahrsamsknospe öffnet sich

Anders denken und fühlen

Texte von Barbara Kastura in Klangschrift aus dem Video Der Lebensgarten

Sehen und gesehen werden Leben begegnet Leben Fühlen

Verstehen der Geschöpfe dieser oft vergessenen großartigen Schöpfungswesen unserer Heimat Erde

Ihre Kraft und Sprache Das Entgegenkommen

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Das Nun erscheint verweilt sich in Allbereitschaft fast nah unbemerkt

Nirgendwo liegt dieser Ort es sei denn daneben nie fast zugänglich jederzeit

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Einfachheit

So wie wir vermeintlich denken und fühlen ist die Welt nicht Aber im Grunde ist es ganz einfach in der Welt zu sein Anders denken und fühlen

Von Augenblick zu Augenblick atmet sich das Leben

Bing
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Feldversuch: Der Lebensgarten

Sehen und gesehen werden – über das Entdecken und Entgegenkommen der Wesen und der Sprachen der Natur

Der Lebensgarten ist eine performative Klang-Kunst-Video-Produktion von wundersam. In einem abgelegenen, verwilderten Garten entstand aus gemeinsamem Erforschen und Entwickeln die erzählerische Aufführung Sehen und gesehen werden . Ein Feldversuch, um Möglichkeiten eines vergessenen, verwunderten Zusammenspiels von Mensch und Natur zu erkunden und darzustellen. Im gemeinsamen Dreiklang erwachen einzelne Partitur-Räume zum Leben. Die drei Aufführenden stellen folgende Akteure als eine Erzählung in Miniaturen dar: Akteur Aura, Akteur Wahrnehmung, Akteur Naturraum, Akteur Stimmungen, Akteur Verstehen, Akteur Gegenwart.

Die menschlichen Akteure betreten die Atmosphäre eines wahrnehmenden Naturraums und öffnen sich dabei der Berührung und dem Entgegenkommen der Wesen der Schöpfung –Pflanzen, Tiere, Licht, Himmel, Erde, Wasser, Wind. Das Erscheinen des Akteurs Naturraum ist die Begegnung der Geschöpfe in ihrer Kraft und Sprache. Sehen und gesehen werden. Leben begegnet Leben. Fühlen. Verstehen der Geschöpfe dieser oft vergessenen großartigen Schöpfungswesen unserer Heimat Erde. Auch deren Wahrnehmung, Lebensgestalt und ihre Distanz zum Menschen.

Eine Produktion der Einfachheit

So wie wir vermeintlich denken und fühlen, ist die Welt nicht. Aber im Grunde ist es ganz einfach, in der Welt zu sein. Anders denken und fühlen. Der Mut zu spüren, dass der Wind Wesen berührt und die Atmosphäre sich bewegt, wenn fruma [fr(a)u/ma(nn)] dem lebendigen Raum Aufmerksamkeit schenkt. Erfahren, dass ein Baum einem Lebewesen sich gutmütig blätterrauschend zuneigt. Entdecken, dass die Bewusstseinsenergien der Erde harmonisierend und aufbauend in Körpern schwingen und klingen. Beobachten, dass die atmende Luft flirrend und freudig mit dem Leben korrespondiert. Staunen darüber, dass eine Fliege Menschen anders an-sieht. Den Augenblick erkennen, wenn eine Blüte grüßt. Glücklich sein, wenn wehendes Gras die Seele zum Schwingen bringt. Ahnen, inmitten und voller lebendiger Weltintelligenz zu sein, die implizit alles Wissbare verkörpert, von dem sich explizit aber nur annäherungsweise Substanzielles sagen lässt. Freudig Sonnenlicht auch in der Nacht atmen und der Welt (wieder-)schenken.

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Durchführung und Ablauf

Zwei Tage Aufenthalt mit kreativen Forscher*innen in einem Garten auf wundersame Art und Weise: Eine Naturforscherin und Stimm-Akrobatin, ein Bassist, ein Pantomime und ein filmender Journalist. Die Vorbereitung der Proben und der Aufführung lief über mehrere Monate – sich künstlerisch und forschend kennenlernen, herausarbeiten der Charaktere und der Möglichkeiten einer noch zu entwickelnden erzählerischen Begegnung, Austausch über die verschiedenen perspektivischen Arten und Weisen Natur wahrzunehmen, sich ihr zuzuwenden und mit ihr zu korrespondieren. Gemeinsame Studien und Übungen der Bewegung, des Hörens, Atmens und Improvisierens. Strukturierende Vorüberlegungen zur Entwicklung eines roten Fadens. Übungen mit Barbaras Klangschrift durch Bewegung, Musikalität, Klang und Zeichnen. Strukturierung und Visualisierung der Inspirationen und Gedanken und deren Übertragung in eine Improvisationspartitur. Der Verlauf einzelner Miniatur- und NaturraumStadien blieb experimentell offen und erhielt parallel einen in sich stimmigen, nachvollziehbaren und strukturierten Ablauf. Gemeinsames Interpretieren und Verinnerlichen der Partitur, um dann von Augenblick zu Augenblick wieder neu zu beginnen.

Die Proben und die Aufführung der Improvisations-Komposition wurden per Video aufgezeichnet und in einem herausfordernden Prozess vom wundersam-Team zu einer Video-Dokumentations-Collage herausgearbeitet. Es entstand ein einfaches Video in Schwarz-Weiß mit Tonmitschnitten sowie Text- und Spracheinblendungen – eine künstlerische Collage aus Dokumentation, Skizze und Erzählung. Das Video dokumentiert hoch konzentriertes und achtsames Suchen, Improvisieren und kreatives Spiel. Es verdichtet Ton- und Filmaufnahmen zu einer Collage, die den delfinischen Geist dieser schöpferischen Begegnung von Menschen in und mit der Natur aufscheinen lässt. Die Stimmungen und Weisen der Begegnungen werden im dargestellten Dreiklang wahrnehmbar. Sie scheinen wie ein Hauch der Schönheit auf und sprechen uns zärtlich an. Diesen wertvollen kathartischen Raum einer Begegnung von Leben möchten wir mit diesem wundersam-Projekt Sehen und gesehen werden aufzeigen.

Dieses Projekt ist als Work-in-Progress angelegt. Es erforscht und erprobt kreative Ausdrucksformen im Zusammenspiel mit den Lebensweisen und Sprachstrukturen der Natur und deren Geschöpfen.

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Diese künstlerisch-filmische Dokumentation mit suboptimaler Ausstattung umgesetzt zu haben, ist ein großes Glück.

Der Link zum Video ist abrufbar unter linktr.ee/wundersam . Lassen Sie die elektrischen Fäden Ihres Denksystems gerne beim Betrachten des Videos mittanzen.

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Grundbauplan der Improvisations-Partitur / Roter Faden:

Aura Naturaufnahmen: Eindrücke vor Ort _ Geräusch-Frequenz / Hochton

Phasenwechsler Übergang zwischen den einzelnen Sequenzen

Miniatur 1 Mensch in der Natur _ drei separate Charaktere (forschend, suchend, wahrnehmende Bewegungen und Gesten) _ die Langsamkeit des Zeitgeschehens

Naturraum A verdichtete Naturstimmungen, Natur-Geräusche, das Gewahrsein und Fühlen

Miniatur 2 Berührung Mensch-Natur (Pantomime, Stimme, Bewegung, Bass) –auch Nahaufnahme der Akteure

Naturraum B Atmosphäre, die Natur öffnet sich (Naturaufnahmen mit Naturklängen)

Miniatur 3 (paradoxe) Steigerung der Entwicklung der drei separaten Charaktere _ die Andersweltberührung ist spürbar _ die Natur sieht in einem anderen Licht _ Nahaufnahmen der Akteure einschließlich Pflanzen, Wolken, Boden

Durchbruch Am Ende der Miniatur 3: Entwicklungs-Wachstumsschübe der Gewahrseins-Knospe der drei Charaktere

Blüte Die blühende Stille der Gegenwart von Leben _ Gewahrseins-Knospe geöffnet

Aura Das Verstehen, das Nachklingen Wirkweisen

Barbara Kastura Stimme, Klang, Bewegung, Idee und Regie, Improvisations-Partitur

Alex Bayer Kontrabass, Klangbild-Kompositionen

Philippe Dhaussy Pantomime, Körpersprach-Kompositionen

Michael Schels Kamera, Videobearbeitung, Koordination

wundersam-Team Konzeption, Organisation, Dokumentation, Redaktion, Schnitt

TausendundeineAcht Dank an:

Alex Bayer und Philippe Dhaussy für ihre begeisterte schöpferische Experimentierfreude Harald Kienle für die Möglichkeit des Aufenthalts in seinem wilden Garten Veilchenfee und Floribundus hin und von Dannen für ihre Zuversicht und für den gemeinsam begangenen Weg des Roten Fadens mit beglückenden und erkenntnisreichen Stolpersteinen und für die Entdeckung der Einfachheit dieses Weges.

Michel Tauziède für seinen Text Lilith und Adam aus Les Dits de Silence à des fragments du chaos mêlés , 2021; Übersetzung: M. Schels, B. Kastura, P. Dhaussy – online mit freundlicher Genehmigung des Autors unter www.barbarakastura.de/wundersam

Die Geschöpfe der Natur für ihre Freundschaft und Verbundenheit zur Menschheit

Das Kulturreferat der Stadt Nürnberg und die Rudolf und Eberhard Bauer Stiftung Nürnberg für die Förderung der wundersam Videoproduktion und dieser Publikation.

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Künstlerische wundersam-Forschung

Im einfühlsamen, panpsychistisch inspirierten Erkunden lassen wir uns als wundersam-Forschende auf ein Feld ein, das sich in immer bewusster werdender Verwobenheit mit allem Lebendigen – auch und gerade mit der Mehr-als-menschlichen Mitwelt – entfaltet. Dieses Feld trägt und erzeugt Bewusstsein und durchschwingt Raum und Zeit im Hier und Jetzt. Egal, ob Welle oder Teilchen ... im Augenblick formieren sich Gefühle und Gedanken und (willentliche) Strebungen, lösen sich auf und bilden sich neu aus dem undenkbaren, ungedachten Geschehen reinen Bewusstseins, das sich selbst im kleinsten Organismus ereignet und trilliardenfach im Boden, in der Luft, im Licht, im Feuer, in den Pflanzen, Tieren und auch in uns Menschen enthalten ist und in unserem und durch unseren leiblich getragenen, sinnlichen Geist erblüht. Was wir davon sagen und zeigen können, entsteht aus unserer Zeugenschaft im verwobenen Aufgehobensein.

Auf wundersame Weise klingt und schwingt das Leben in uns und um uns und durch uns drängt nach Ausdruck, Verstehen, Liebe. Dank offener, hingebungsvoller Haltung gebiert solch kontemplative Schau ein transpersonales Ereignis, in dem alles Da-Seiende sich in einem gemeinsamen Geschehen feiert. Solche Momente sind magisch: Die Wolken, der Himmel, die Pflanzen, Tiere, Böden und Gewässer, ja selbst scheinbar leblose Gegenstände erscheinen angesichts menschlich-liebender Aufmerksamkeit in neuem Licht und unerhörtem Klang, in einer ungeahnten Aura, und geben als großer Gesang und Tanz ihre göttliche Herkunft preis, die sie dankbar und freudig im und durch das Bewusstsein des aufmerksamen Menschen erst eigentlich erfahren. Durch den Menschen, der sich in der Natur als Teil der Natur erfährt, kommt die Welt als geistiges Geschehen zu sich. Aus diesem Anfang, der ein ewiger Ur-Sprung ist, entsteht jede Sekunde neu die Welt.

Floribundus hin und von Dannen

Folgeseiten: Bewegungsformen | Zeichnung, Barbara Kastura

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Erleben zaghaften Entgegenkommens der Natur

Im Grenzbereich von Wahrnehmung, Begriff und Intuition entfaltet sich ein überraschendes, gegenwärtiges Weltbegegnen. Noch bevor etwas zur Sprache kommt, zeigt sich das Leben in all seiner Bedeutsamkeit. Das Denken will gezügelt werden und zur Stille kommen, damit das wahrgenommen werden kann, was von jeher sich zeigen will. In der Natur kommt etwas zum Ausdruck und will sich im Wahrgenommen-Werden entfalten. Das Leben des Menschen ist Begegnung mit dem Leben der Schöpfung. Was sich in dieser Begegnung zeigt, entsteht in dem Moment, ab dem wir uns darauf begriffslos einlassen. Plötzlich öffnet sich der Himmel, der Wind atmet auf, die Landschaft lächelt, die Pflanzen tanzen und die Tiere blicken uns an.

Das Leben entfaltet sich kosmisch verwoben in Raum und Zeit und an diesem gewaltigen Geschehen nehmen wir Teil als sich entwickelnde fühlende, denkende und handelnde Wesen. Sobald wir unsere rationalen Fähigkeiten strategisch einsetzen und das Leben bloß vernutzen, zerstören wir es und uns. Wenn wir das Leben wundernd und staunend auch mit dem Herzen betrachten, zeigt es sich als kosmisches Ereignis – die kleinste Bewegung kann für einen Augenblick eine wundersame Berührung sein.

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Gegenüberliegende Seite: Innenwelten / eh wobol o | Zeichnung aus der Serie Ghadso , Barbara Kastura
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Schöpferische Himmelsschnüre

Hoch über dem Pegnitzgrund schweben schwingende, klingende, turmhohe Himmelsschnüre. Fliegenschwärme immensen Ausmaßes. Diese faszinierenden Fäden stehen einfach turmhoch still in der Luft, als wir dem Sonnenuntergeng entgegen über die Wiesen laufen. Es sind luftige Gesamtwesen, die sich mit vielfältigen Sinnen des Sehens, Hörens, Fühlens auf atmosphärische Frequenzen ihres Lebensfeldes synästhetisch einschwingen.

Durch ihr künstlerisches Erforschen der Natursprachen und im Erleben zaghaften Entgegenkommens der Natur kreiert Barbara häufig sehr eigensinnige Dialoge mit der mehr-als-menschlichen Mitwelt. Hier auf dem Pegnitzgrund singt und kommuniziert sie routiniert mit den ihr begegnenden Wesen in ihrem großen stimmlichen Spektrum. Bald wendet der Schwarm sich ihr zu, hält sich senkrecht über ihr und bewegt sich wie tanzend zu ihren Klängen. Ein beiderseitig großes Erstaunen beginnt. Eine kleine Schwarm-Vorhut umschwirrt Barbaras Kopf und scheint über das menschliche Wesen zu staunen, das ihr gerade begegnet. Bewusstsein trifft Bewusstsein. Es ist wie ein Wunder.

Die Begegnung mit der klingenden, wesenhaften Himmelsschnur dauert unvermutet beinahe eine halbe Stunde. Der Schwarm begleitet Barbara über hunderte von Metern, selbst beim tänzerischen Lauf über die Wiese bleibt der Schwarm hautnah bei ihr. Barbara wirkt wie eine Marionette an einem lebendigen Faden. Wer bewegt sich hier mit wem durch diesen göttlichen Lebensgrund?

Video zu dieser Begegnung: https://youtu.be/NxbWPcqtvhY

»Vor langer Zeit begegneten mir auf einem Weg an einem See im Gegenlicht der Abendsonne die Flugzeichnungen und Klangbilder dieser Wesen.

Fasziniert und erstaunt beobachtete ich die luftigen Klangschriften dieser sonnenuntergangsbeschienenen, schwingenden Begegnung mit- und zueinander. Die vielseitigen Frequenzen und Wegspuren ihrer Flügelschläge glichen einem lichtdurchfluteten Konzert. Diese freie, schöpferische Partitur nachahmend sang ich mutig und gelassen – trotz irritierter Blicke von Spaziergängern und Radfahrern – verschiedene Töne in unterschiedlichen Oktaven zum Flügelschwarm hinauf. Kaum fand sich der richtige Ton, umhüllte mich der Schwarm plötzlich wie eine Wolke. Hörte ich auf zu singen, stieg die beflügelte Wolke wieder nach oben. Eine kleine Natur-Performance.

Den entdeckten Schlüssel dieses wunderlichen Entgegenkommens, einen gesungenen, resonierenden Flügelklang, prägte ich mir ein und lief, diesen Flügelklang summend, den langen Weg durch die laute Stadt zu meiner daheim verweilenden Flöte. Es war das Fis. Später kamen weitere Töne und die Klangsprache beim Wiedersehen der fliegenden Geschöpfe hinzu. Ein Lebensgeschenk.«

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Geflügeltes himmelblaues Geschöpf

Sternschnuppen wollen wieder vom Himmel fallen und die August´sche Begegnung findet als nächtlicher Lichter-Regen auf einem Hügelrücken mit Blick auf die Milchstraße statt. Kurz vor Sonnenuntergang zieht eine pechschwarze, kilometerlange Horizontwolkenwand von Regen, Blitz und Donner nördlich und zum Greifen nah sehr langsam übers Land.

Wir haben alle sehr großes Glück auf der Wiese am Steilhang, denn in der schwülen Dämmerung fallen am Rande des Walberla nur einige dicke Wassertropfen herunter. Eine feine Atmosphäre der Erleichterung und Freude ist spürbar. Bei aufgehendem Mond bleibt es sonnenuntergangswarm und trocken.

Das Warten auf die Nacht des Wünschens erweckt den Mut zur Kreativität. Tänzerisches Finger-Luftzeichnen der Landschaften und spontanes experimentelles Nachzeichnen von Himmelskompositionen aus sonnenbeschienenen Wolkenfäden und Vogelfluglinien beginnt. Ein himmelblauer Schmetterling landet plötzlich auf meiner Finger-Kuppel und ruht dort unglaublich lange geduldig in stillem Erstauntsein mit einer einzigartigen Geduld und Neugier.

Zwei Mädchen nähern sich zögernd und verwundert über meine hauchzarten Bewegungen auf diesem großflächigen Hügelrücken und entdecken erstaunt das mitschwingende himmelblaue Geschöpf in der Abendsonne. Die Freundschaft mit der Natur beginnt sich weiter zu entfalten. Der kleine Schmetterling läuft über unsere improvisierte Fingerbrücke zum Zeigefinger eines der Mädchen hinüber. Beide Mädchen gehen sanft und hocherfreut mit dem Schmetterling auf dem Hügel spazieren und kehren nach einiger Zeit mit ihrem Gefährten aus der Anderswelt zurück. Welch freudestrahlenden Augen und welch Erstaunen angesichts dieser zauberhaften Begegnung von Wesen zu Wesen. Noch einmal bilden wir eine Fingerbrücke. Der Schmetterling nähert sich nun dem Fingerzeig des zweiten freudestrahlenden Mädchens. Gemeinsam spazieren alle drei wieder über den Hügelrücken vor der untergehenden Sonne und dem aufsteigenden Mond.

Nach ihrer Wiederkehr erneuter hauchzarter Brückenbau. Das geflügelte Wunderwesen berührt kurz meinen Finger wie zum Abschied und fliegt mit sich davon. Was bleibt, ist die Berührung und Erinnerung in unseren Herzen.

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Sonnwenden

Die Sommersonnwende als kürzeste Nacht trägt wie der kürzeste Tag, die Wintersonnwende, einen kostbaren Schlüssel in sich. Es herrscht ein tief ruhender Stillstand und eine blühende Stille höchster Wachsamkeit, denn tags darauf beginnt das Umblättern der Jahreszeiten.

Die zwei Tage im Jahr, an denen der Lichtraum der nördlichen Sphäre sich jeweils beginnt zu vergrößern oder zu verkleinern, sind besonders intensive Zeiträume, an denen die Natur aufhorcht und dem fortwährenden stellar-planetaren Geschehen, in das sie eingewoben ist, auf besondere Weise huldigt.

Wer zu Sonnwenden der Natur seine Aufmerksamkeit schenkt, darf teilhaben an feierlichen Stunden des In-sich-Ruhens. Es ist, als ob die Zeit für einen Tag-Moment stehen bliebe und sich eine große innere Sammlung ereigne. Es heißt, dass Bäume an diesen Tagen, vor allem zur Wintersonnwende, alle Kraft in sich versammeln und das Holz besonders widerstandsfähig sei. Barbara ist wohl nicht zufällig zur Wintersonnwende in die Landschaft eines gewaltigen urzeitlichen Meteoriteneinschlags, dem Nördlinger Ries, hineingeboren. Kindern der Sterne und der Erde sind die Sonnwendtage und Begegnungen mit den Geschöpfen der Heimat Erde immer eine große Freude.

wundersam Sonnwenden wurden in den letzten Jahren mit Naturbegegnungen und künstlerischen Interventionen gefeiert, z.B. in einer verlassenen Industriehalle, in einer Kulturkirche, mit einer Eiche auf einem Steilhang im Nördlinger Ries und im Auwald nahe eines Tiergartens.

Im Laufe der Zeit haben sich besondere Tage entwickelt, die gemeinsam mit anderen Initiativen gestaltet werden. Eingeladen und eingebunden sind Menschen unterschiedlicher Herkunft und Profession. Wertvolle Netzwerke werden gewoben und Kontakte gepflegt wie zum Initiativkreis der von Hildegard Kurt und Andreas Weber gegründeten Erdfest Initiative. Der freundschaftliche Austausch mit dem Zentrifuge e.V. und dem Projekt ENGINEERING 2050 ermöglicht interdisziplinäre Projekte mit vielfältigen Perspektiven.

Möge die schöpferische Kraft und Stille der Sonnwendtage das kreative, naturverbundene Wirken aller Menschen fördern, stärken und begleiten.

Installation zum Erdfest Auf AEG

Folgeseiten: Installation und Klangschrift-Projektion zum Erdfest in der Egidien Kulturkirche Nürnberg

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Raum für Wünsche und Träume der Menschen und der Erde

Der Projektraum wundersam ist eine kreativ erforschende, transkulturelle Begegnungsstätte für Wahrnehmungen, künstlerischen Ausdruck, Veranstaltungen, Workshops, Vorträge, Coachings, Expeditionen und Gesprächsrunden des Sich selbst in die Frage Stellens . Naturpädagogische Exkursionen der Stille sind mit experimentellen kreativen Weisen durchflochten.

wundersam Expeditionen sind sanfte und wagemutige Erkundungen der Stille mitten im Leben. Sie bahnen Entdeckungs-Wege und -Haltungen kreativer Verwunderung, Aufmerksamkeit, Sensibilität und erweitern die Möglichkeiten der Ausdrucks- und Sprachformen des Mit- und Zueinanders der fühlenden Geschöpfe der Erde. Hin zu einem gegenwärtigen und leidenschaftlichen Verstehen, welches tief verwurzelte Qualitäten wachzurufen vermag.

Um die Daseinsformen unserer Heimat Erde wieder zu entdecken und zu verstehen, wurde der Projektraum wundersam ins Leben gerufen: Hier werden auf experimentell-kreative Art Realitäten, Möglichkeiten und Wege hin zum Raum des Augenblicks erforscht: Leben begegnet Leben. Es entstehen Handlungs-Ideen und Impulse für Begegnungen des Menschen mit der oft unerhörten, lebendigen, schöpferischen Mitwelt.

Die Natur wendet sich an die Menschen. Diesem Ruf der verwundeten Erde und ihrer Geschöpfe gewahr zu sein und die Verbundenheit zur Natur wiederzugewinnen, bedarf es großer Stille und Ehrfurcht. Jetzt. Veränderung hin zu einer mitfühlenden Welt braucht ein starkes Gefühl und eine bewegende Vorstellung davon, was es heißt, als Mensch ein Teil der lebendigen Natur zu sein. Jeden Augenblick im Alltag. Als Menschen tragen wir schöpferische Potenziale in uns, die darauf warten, in diesem Leben entdeckt zu werden. wundersam-Forschende erkunden diese sanften Dimensionen der Wahrnehmung, des Fühlens, Sehens, Handelns, Denkens und des Bewusstseins der Verbundenheit von Leben Mensch und Leben Erde.

Die Wirkstatt wundersam erforscht, entwickelt und initiiert ästhetisch-dialogische Gedanken-, Fühl- und Raumerfahrungen sowie Vernetzungslinien – in Begegnungsformen wie kreativer Workshop, kontemplative Exkursion, temporärer urbaner Projektraum oder experimentelle Improvisationsstätte. Diese Erfahrungs- und Austauschmöglickeiten sind auch impulsgebend für Institutionen und Initiativen ebenso wie für Gemeinschaften. Mögen die Wünsche der Menschen und die Träume der Erde einander begegnen und die Berührung der Schöpfung darin erkennen.

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Performance: Barbara Kastura, Michael Ammann zu einer Vernissage im Kulturort Badstraße, Fürth 57

Kopfunter am Himmel

... schau, mit denkendem Auge, auf eine stille Wasserfläche, die dich nicht erkennt ... und denke dir eine Welt ohne dich und ohne die andern.

Während meiner Turmschreiberschaft in Abenberg residierte ich, sofern ich nicht im Ostturm arbeitete oder die Umgebung erkundete, in einem schmucken Häuschen mit Garten im Schatten der Burg. Das geduckte Wohnzimmer, die angrenzende Küche und den ersten Stock heizte ich mit einem kleinen Kaminofen in der Stube. Dafür musste ich Holz hacken.

Das Holz hackte ich in einem Anbau, in dem früher Ziegen lebten. Zu Beginn fiel es mir schwer, mit der Klinge des kleinen Beils den richtigen Winkel zu treffen. Was meiner Meinung nach weniger an meiner Kraft als an meiner Technik lag. Jeder Axthieb und der damit einhergehende Schlag auf den Hackstock hallte von den Wänden wider. Noch durchdringender schrillten die Schläge des Schmiedehammers auf die flache Seite des Beils, wenn es sich verklemmt hatte. Irgendwann flogen die gespaltenen Scheite nur so um mich herum, verteilten sich um den Hackstock: Rinde, Spreißel, Späne, zerfaserte Äste, rankes und eckiges Feuerholz.

Ein besonders dickes Scheit hob ich mir bis zum Schluss auf. Ich holte aus, die Klinge fuhr in den Klotz, verklemmte sich. Ich hob Beil und Klotz an. Donnerte Beil und Scheit auf den Bock; das Holz knackte und splitterte. Aber der Hieb reichte nicht aus, um es gänzlich zu teilen. Also nahm ich den Schmiedehammer, schlug auf das flache Ende der Axt und trieb die Klinge weiter in den Spalt; die Schläge klirrten grell von den engen Wänden wider. Beim dritten Schlag zerbarst das Scheit, die Schwarte löste sich und krachte zu Boden. Zu meinem Erstaunen hatte ich einen dunkelbraunen Ast freigelegt, dessen Ende auseinanderklaffte. Er war dem verbliebenen Holz entwachsen und hob sich von den Fasern des hellen Scheits ab. Um ihn herum bog sich kreisförmig das hellbraune Holz. Er entsprang mit seinen weißen Pilzzeichnungen entlang der Faserung dem Kernholz, dem er seine Härte verdankte. Freudig erregt präsentiere ich ihn meinen Kindern; wir spannen Fantasiefiguren von Fischmaul bis Feuersalamander.

Später schürte ich Feuer an. Auch mit der Holzschwarte, in die der Ast eingedrungen war. Die Wärme schlich aus der Stube, durch den Türstock, in die Küche und weiter die Holztreppe hinauf. Den Ast, der gleich einem Kunstwerk im großen Ganzen verborgen gewesen war und erst enthüllt werden musste, stellte ich auf das Fensterbrett.

Zu Beginn wissen wir nicht, was wir da vor uns haben, was entstehen wird. Erst durch eine intensive, nicht selten auch schweißtreibende Beschäftigung mit uns, unseren Gedanken, die sich in Sprache vollziehen, unserer Umwelt und dem Gegenstand entsteht unser späteres Werk. Wenn wir es zulassen, kann sich unsere Kreativität wie die Wärme des Feuers, wie ein „Denken ohne Geländer“ (Hannah Arendt) in uns und in unserer Welt ausbreiten, uns neue Sichtweisen eröffnen. Wenn wir bewusst hinsehen, können wir die belebte Natur erkennen, erkennen, dass sie mehr ist als ein Wirtschaftsfaktor, bestenfalls die Trennung zwischen Mensch und Natur aufheben; selbst im Anthropozän, das sich vermeintlich oder offensichtlich durch die Herrschaft des Menschen über die Natur auszeichnet.

Eine Frage der Haltung

Als die Tage wärmer wurden, saß ich vor Sonnenuntergang barfuß, in Shirt und kurzer Hose, auf einer Bank im Garten, zwischen Pfingstrosen und Thymian, umgeben von Amselgezwitscher und Grillenzirpen. Die breitgefächerte Buche und die Apfelbäume des Nachbarn verdeckten die Sicht auf das Hauptgebäude der Burg zur Hälfte, Schatten hatte sich über den Garten gelegt. Mein Blick wanderte in den Himmel, zu den segelnden Schwalben und kreisenden Mauerseglern. Ich legte meinen Kopf weiter zurück in den Nacken, eine auch körperlich spürbare, ungewöhnliche Kopf- und Sehhaltung. Ich fühlte mich wie ein Kind, das in der Wiese liegt und in den Himmel schaut, ohne dabei auf die Zeit zu achten. Und da entdeckte ich es: Die Sonne strahlte auf die Flügel der Schwalben und Mauersegler, wenn sie in ihrem Flug, in einem gewissen Winkel schwenkten; obwohl hier unten bereits Schatten herrschte. Ein Wohlgefühl durchströmte mich jedes Mal, wenn sie ihre langen, schmalen Flügel im Gleitflug derart lenkten und in der Sonne erstrahlten. Als die letzten Strahlen des Tages, samt ihrer Wärme, ihrer Helligkeit und ihrem Schein, ihren Weg zu mir fanden. Später gesellte sich mein Sohn zu mir, entdeckte das Naturschauspiel, ohne, dass ich ihn darauf hinwies und sagte: „Die Flügel der Mauersegler leuchten golden.“ Darauf erzählte ich ihm, dass Mauersegler fliegend schlafen und sich sogar fliegend paaren.

Wir saßen also kopfhinterrücks auf der Gartenbank. Und die Schwalben und Mauersegler trugen die Sonne zu uns herunter, obgleich sie uns nicht mehr schien. Dass wir sie sehen konnten; eine Frage der Haltung, im wahrsten Sinne des Wortes. Würden wir beide einen Regenbogen betrachten, wären Haltung und Standpunkt von noch größerer Bedeutung. Obwohl wir nebeneinanderstünden, sähen wir aufgrund des unterschiedlichen Lichteinfalls zwei verschiedene Regenbögen. Stünden wir weiter voneinander entfernt, bliebe einem von uns sein Anblick vielleicht sogar gänzlich verwehrt.

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In Pilger am Tinker Creek , einem Standardwerk des Nature Writing, berichtet Annie Dillard über ihre Zeit in den Virginia Blue Mountains. Auch über den Winter und die verschneite Landschaft. An einem Tag hängen »die Wolken so tief und schwer ... als wollten sie alle gleich mit einem dumpfen Schlag runterfallen.

Das Licht ist schummrig und farblos wie das Licht auf einem Stück Papier in einer Zinnschale. Der Schnee wirkt hell und der Himmel dunkel, aber in Wirklichkeit ist der Himmel heller als der Schnee.« Daraufhin legt sie einen Spiegel flach auf den Schnee. Natürlich ist die Reflektion des Himmels heller als die des Schnees, trotzdem wirkt die Illusion auf sie und uns genau andersherum. »Das Dunkel ist über mir und das Licht zu meinen Füßen; ich laufe kopfunter am Himmel.«

Nan Shepherd schreibt in Der lebende Berg : »Man lasse seinen Kopf zur Ruhe – oder besser: zur Stille – kommen, wende sich ab von dem, was man anschaut, und beuge sich vornüber mit gespreizten Beinen, bis man die Welt auf dem Kopf stehen sieht. Wie neu sie geworden ist!«

Eigentum Natur

Mein Sohn und ich saßen oft nebeneinander auf der Bank. Die Hühner gackerten, der Hahn krähte aus dem Nachbargarten und eine fette Hornisse brummte um mich herum. Mein Sohn hielt in seinen kleinen Händen den großen Bildband Mythos Baum .

Einige Tage zuvor hatten wir die Leiterin des Abenberger Klöppelmuseums, Kerstin Bienert, kennengelernt, die mich in die Geschichte des Klöppelns einführte. Da entdeckte mein Sohn in dem Wälzer, dass früher Menschen namens Bienert in den Wäldern die Bäume bewachten, auf denen sich Bienenstöcke befanden, auch Bienenwart genannt. Wir schlugen nach und lasen über die sogenannte Zeidelweide, das Recht, Wildbienen zu nutzen , das ab dem 8. Jahrhundert ein weitverbreitetes Geschäft in Österreich wie in Bayern war.

Die Bienenwarte betrachteten die Wildbienen und insbesondere ihre Stöcke und deren Produkt , also als ihr Eigentum. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass Menschen die Natur oder zumindest Teile von ihr als Eigentum betrachteten?

Die patriarchale Familie ist der Ursprung der gängigen Vorstellung der menschlichen Herrschaft über die Natur. Patriarchat und Naturbeherrschung sind aneinander gekoppelt, weisen eine ähnliche Struktur auf. Wenn der Vater auf den Tisch haut, erzittern Frau und Kinder und sie tun, was von ihm verlangt wird. Dieser Faustschlag kommt einem Erdbeben gleich, einer Erschütterung der Erde, wenn sich die Kontinentalplatten verschieben. Durch diesen subtilen Gewaltakt wird die Beziehung zwischen den Familienmitgliedern verschoben, der Vater festigt seine Macht. Untermauert von der christlichen Lehre eines patriarchalen Gottes, der Mensch

sei die Krone der Schöpfung und müsse sich die Erde untertan machen. Die Herrschsucht wurde weiter gefördert durch den Bruch zwischen Körper und Geist in der antiken Welt. Wenn das Außen mit dem Innen nichts zu tun hat, warum sollen wir es dann beschützen?

Beschützt wird dagegen die reine, unverdorbene Natur, die Natur der Nationalparks und Umweltschutzgebiete, die aus dem christlichen Verständnis von Sünde und Unschuld heraus entstanden sind. Die Nationalparks, eine wichtige Errungenschaft, die mit dem Yellowstone Nationalpark 1872 in den USA institutionalisiert wurde. In Deutschland dagegen musste erst ein ganzes Jahrhundert vergehen, bis im Bayerischen Wald 1970 ein Nationalpark gegründet wurde. Österreich hinkte 1981 mit dem Kärntner Teil der Hohen Tauern hinterher.

Leider wurden auch seit der Gründung der ersten Naturschutzgebiete im 19. Jahrhundert ... lokale Bevölkerungsgruppen teils gewaltsam vertrieben, nur damit einige meist weiße Eliten die „unberührte“ Natur bestaunen können. Beispielsweise im Nationalpark Pendjari, einem Biosphärenreservat im Nordosten von Benin.

Tragisch auch, dass die unreine, sündhafte Natur außerhalb der Nationalparks schamlos ausgebeutet und untertan gemacht werden darf, wie die klaffenden Wunden der Tagebauten und pestizidschluckenden Maismonokulturen uns schmerzlich vor Augen führen. Naturparks dagegen, wie der Naturpark Frankenhöhe, bilden Wege des mittleren Pfades, die sowohl die Bedürfnisse der Menschen als auch die der Natur im Auge behalten.

Historisch betrachtet, wurde die Erde erst zu einer ausbeutbaren Rohstoffquelle, als sich die organische Beziehung zwischen den bäuerlichen Gemeinden in Marktbeziehungen auflöste ... , die der Kapitalismus pervertierte. Wo sich nicht nur die Menschen einander feindlich gegenüber stellten, es stellte sich auch die Masse der Menschheit feindlich der Natur gegenüber. So wie Menschen in Waren verwandelt werden, so wird auch jeder Teil der Natur zur Ware und damit zu einer Rohstoffquelle, die man nach Belieben bearbeiten und verkaufen kann.

Darauf folgte die Glorifizerung der Lohnarbeit im Neoliberalismus, deren Prämissen in alle Lebensbereiche sickerte: Effizienz, Nutzen, Geben und Nehmen, Verwertbarkeit. Nun kann es jeder zu etwas bringen, das Streben nach Glück , das Glücksversprechen vom Tellerwäscher zum Millionär hat es mit dem Pursuit of happiness sogar in die US-amerikanische Verfassung geschafft. Wer trotzdem versagt, ist faul oder dumm und wird meist mit Verachtung gestraft.

Wie sehr Faulheit oder Müßiggang gestraft wird, beschrieb Henry David Thoreau bereits vor 150 Jahren in Walden: Wenn ein Mann die Hälfte eines Tages in den Wäldern aus Liebe zu ihnen umhergeht, so ist er in Gefahr, als Bummler angesehen zu werden; aber wenn er seinen ganzen Tag als Spekulant ausnützt, jene Wälder abschert und die Erde vor der Zeit kahl macht, so wird er als fleißiger und unternehmender Bürger geschätzt. Als wenn eine Gemeinde kein anderes Interesse an ihren Wäldern hätte, als sie abzuhauen!

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Letztlich hielt er dadurch treffend fest, dass Fürsorge oder Liebe geringer geschätzt wird als Lohnarbeit und die damit nicht selten einhergehende Ausbeutung der Natur. Mit Liebe meine ich keineswegs eine unkritische, romantische Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen jeglichen Geschlechts. Ich meine hier solidarische Liebe, die die Fürsorgearbeit für unsere Kinder oder Verwandten bedingt. Fürsorge sollte keineswegs romantisch verklärt werden, sind doch nicht wenige Frauen aufgrund der immer noch vorhandenen klassischen Rollenverteilung schlichtweg dazu gezwungen.

Mütterlicher Imperativ

Für uns Menschen ist es eine Notwendigkeit, die Natur zu bewahren, was jedem und jeder spätestens seit der jüngsten Flutkatastrophe klar sein dürfte. Genauso wie eine Notwendigkeit darin besteht, für unsere Kinder und greisen Eltern zu sorgen.

Nachdem im Sommer 2021 die durch den Menschen hausgemachte Flut in Deutschland gewütet hatte, wie es seit Jahrzehnten die Menschen im globalen Süden ähnlich erfahren, zeigten sich viele Nachbarn solidarisch. Wenn man eine Notwendigkeit wirklich erkennt, hat man sofort Lust, zu arbeiten , so die Feministin und Philosophin Antje Schrupp. So ähnlich, wie man Lust hat, aufs Klo zu gehen, wenn man ganz dringend muss. Nicht, weil es auf dem Klo so schön ist. Sondern weil Not zu wenden einfach ein Hammer-Gefühl ist. Vielleicht ist dieses Gefühl auch so schön , weil es bei der Tat um die Notwendigkeit geht, erfülltes Leben zu bewahren und nicht, es zu beherrschen .

Nach Hannah Arendt ist das Böse kulturell (an)gewachsen. So auch die Ausbeutung der Natur durch den Menschen, weil er über sie herrscht. Es ist also an der Zeit, ein fürsorgliches Denken, eine Care-Ethik für die Natur zu entwickeln und zwar nicht, weil wir müssen, wie eine patriarchale Gesellschaft einer Frau vorschreibt Du musst dich um deine Kinder kümmern, sonst bist du eine Rabenmutter Sondern, weil wir es aus unserer Freiheit der Notwendigkeit heraus tun. Vielleicht auch aufgrund eines hedonistischen Moments, weil unsere Körpererinnerung ein Glücksgefühl erfährt, wenn wir mit dem Fahrrad anstelle des Autos fahren. Endorphine durch Sport, aber auch durch das Bewusstsein, dass wir uns gerade fürsorglich gegenüber der Erde und damit auch unseren Kindern und den nachfolgenden Generationen verhalten. Allem Status zum Trotz, den gerade die deutsche Mehrheitsgesellschaft dem Auto zubilligt. Allem Genuss und positiven Gefühlen zum Trotz, die der Konsum des Gänsebratens an Weihnachten, der unsere Gefühle an so viele heimelige Weihnachten im Umkreis unserer Liebsten evoziert.

Unser Handeln sollte nicht der Herrschaftslogik eines Müssens , der Verwertungslogik folgen: maximaler Profit aus unserem Handeln, für jedes Geben ein Nehmen. Wir sollten uns aktiv aus dieser vermeintlichen Kausalität befreien, wie auch aus dem Gedanken, die Erde zu beherrschen zu müssen. Vielmehr sollten wir die Notwendigkeit erkennen und Fürsorge für die Erde betreiben.

Schrupp spricht hier vom Mütterlichen Imperativ und bezieht sich auf die Philosophin Diana Sartori, die in ihrem Aufsatz Du sollst. Ein mütterliches Gebot eine Alternative zur Kant’schen Ethik entwirft. Sartori wählt die Figur der Mutter, ihr kategorischer Imperativ lautet, dass man stets so handeln solle, dass die eigene Mutter davon erfahren könne. Was nicht bedeutet soll, immer das zu tun, was die eigene Mutter will, sondern dass man es vor der eigenen Mutter vertreten könne, dass es den Konflikt mit ihr wert wäre.

Und nun stellen wir uns vor, wir würden nur noch so handeln, dass wir es auch Mutter Erde erzählen könnten. Aus einer Notwendigkeit heraus, um unsere Lebensgrundlage zu erhalten und nicht, weil wir müssen. Würden wir dann noch einen SUV fahren?

Revolution der Kultur durch Nature Writing

Auch Nature Writing entzieht sich der Verwertungslogik von Geben und Nehmen. Es dürfte schwerlich möglich sein, sich vorzunehmen in die Natur zu gehen und dort über ein grandioses Erlebnis zu schreiben. Es mag möglich sein, das Gesehene, Erfahrene, Gehörte, Gerochene, Gefühlte so präzise als möglich zu beschreiben, ästhetisch ansprechend, es vielleicht mittels gezielter Informationsvergabe, Rückblende und Vorschau, spannend zu gestalten und darin naturwissenschaftliche und historische Erkenntnisse zu verweben. Aber es ist auch (Ergebnis-) Offenheit notwendig, die sich nicht durch ein Ziel, eine Ausbeutung, eine Maximierung des Erlebens auszeichnet. Denn Erleben lässt sich nicht maximieren. Es lässt sich nur vertiefen, um den neoliberal verbrauchten Begriff der Achtsamkeit zu vermeiden. Bestenfalls kann Nature Writing eine Kulturrevolution anstoßen oder begleiten, im Sinne einer Avantgarde, die eine Vermittlerfunktion zwischen Natur und Gesellschaft einnimmt, welche dadurch hoffentlich wieder lernt, sich als Teil der Natur zu begreifen.

Nature Writing ist ein Aus-den-Quellen-der-Natur-Schöpfen ... kein passives Empfangen von Natureindrücken. Vielmehr ist es ein gegenseitiges Resonanzverhältnis. Es geschieht durch Zeit in und mit der Natur, durch aktives Beobachten mit allen Sinneseindrücken, gedanklichem Kombinieren und schriftlichem Reflektieren. Es setzt unsere Selbstentäußerung voraus als kultivierte Wahrnehmungskunst der Ergebnisoffenheit ... (die) unsere Verblüffungsresistenz abbaut. Es negiert jeglichen Herrschaftsanspruch, da Sprache und Denken unauflösbar miteinander verbunden sind. So können wir zu uns und der Natur vordringen.

Dieses aktive Beobachten und vor allem das Kombinieren und Reflektieren darüber ist immer verbunden mit unserem Wissen über die Natur. Und dieses Wissen, diese Haltung zur Natur ist geprägt von unserer Kultur und von unserer Haltung zu Herrschaft. Denn die Vorstellung, dass der Mensch die Natur beherrschen müsse, steht in einem engen Verhältnis zur Beherrschung des Menschen durch den Menschen selbst.

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Welt ohne Menschen

Für viele Menschen kommt die Vorstellung einer herrschaftsfreien Welt der Vorstellung einer Erde ohne Menschen gleich. Selbst Schriftstellern fallen diese Betrachtungsweisen schwer. Herbert Rosendorfer beschrieb dies in seinem Roman Großes Solo für Anton , und kommt doch nicht ohne den Ich-Erzähler Anton aus, der eines Morgens in einer Welt ohne Menschen erwacht; die er irgendwann auch wieder vermisst, obwohl er ein Eigenbrötler ist. Marlene Haushofer hat in ihrem grandiosen feministischen Roman Die Wand ein ähnliches Szenario beschrieben, ebenfalls nicht ohne menschliches Personal , eingangs und gegen Ende des Romans: Dort trifft die Ich-Erzählerin, Vorsicht Spoiler!, am Schluss auf einen weiteren Überlebenden, der sich die noch verbliebenen Geschöpfe brutal-patriarchal untertan macht.

An dieser Stelle wollte ich eigentlich eine Geschichte über einen Mann erzählen, der alles versucht, um die Klimakrise nicht weiter zu befeuern. Er lebt vegan, verzichtet auf Auto, Fernreisen und neue Kleider. Als er erkennt, dass dies alles nichts nützt, dass sein ökologischer Fußabdruck trotzdem noch eine Spur der Verwüstung auf der Erde hinterlässt, zieht er letztlich die radikale Konsequenz, sich im Nachbau der Thoreau-Hütte im Wildniscamp am Falkenstein zu Tode zu hungern, um der Erde nicht weiter zur Last zu fallen. Davon profitieren dann sogar Maden, Fliegen und der Humus, mit denen er schlussendlich eins wird. Allerdings brachte ich es nicht über mich, diese Hütte im Nationalpark Bayerischer Wald zu besudeln, diesen Raum für geistige Freiheit, ganz im Sinne des Rebellen Thoreaus, eines Vordenkers des dieser Tage so dringend benötigten zivilen Ungehorsams.

Eine herausragende Fähigkeit der Menschen ist, über ihre Existenz und deren Grundlagen zu reflektieren. Oder um es mit den libertären Worten meines damals sechsjährigen Sohnes zu sagen: Wenn Gott alles kann, warum kann er dann nicht machen, dass ich an ihn glaube?

Zwar gibt es durchaus Tiere, die vorausschauend denken können, Raben zum Beispiel. Doch ist vor allem der menschliche Geist durch Abstraktionsprozesse in der Lage die Fundamente seinen Lebens – Gesellschaft, Natur und Kultur, sofern man diese Dichotomie eröffnen möchte – im wahrsten Sinne auf den Kopf zu stellen. Denn wenn diese elementare Umkehrung des evolutionären Prozesses anhält, ist es keineswegs übertrieben, wenn angenommen wird, dass die Voraussetzungen für ... Leben in irreparabler Weise zerstört werden und die Erde letztlich auch nicht mehr fähig sein wird, menschliches Leben zuzulassen. Falls wir nicht endlich damit anfangen, kopfunter am Himmel zu laufen , und eine radikale Fürsorge der Natur verfolgen. Nicht, weil wir müssen, sondern weil wir wollen und es als eine Notwendigkeit erachten.

Leonhard F. Seidl

Literatur

• Annie Dillard: Pilger am Tinker Creek, Matthes & Seitz, Berlin 2016

• Milo Probst: Für einen Umweltschutz der 99 %, Edition Nautilus, Hamburg 2021

• Jean-Christophe Servant: Naturschutz mit Sturmgewehr, in: Le Monde Diplomatique, 13.02.2020.

• Jürgen Goldstein: Naturerscheinungen – Die Sprachlandschaften des Nature Writings. Matthes & Seitz, Berlin 2019

• Murray Bookchin: Politische Ökologie.

• Antje Schrupp: Freiheit und Notwendigkeit. Vortrag am 15.8.2021 beim KongressA in Münster

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Mehr Bildung für Nachhaltige Entwicklung

Dieser Beitrag vermittelt wesentliche Inhalte aus mehrjähriger Forschungsarbeit des Instituts für Nachhaltigkeit zu einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE). Unser Institut trägt durch Publikationen, betreute studentische Arbeiten sowie durch Projekte mit Unternehmen zu einer kontinuierlichen Bildung für Nachhaltige Entwicklung bei. wundersam als Wirkstatt zur Erforschung und Vermittlung der Sprachen der Natur und als urbanes Entwicklungslabor bietet für die Arbeit des Instituts wertvolle Synergien und Impulse. Künstlerische und experimentelle Projekte wie wundersam erforschen und vermitteln Nachhaltigkeit auf besondere Art und Weise und eröffnen innovative Felder auch aus naturpädagogischer Sicht. Als Kommunikationsplattform bietet wundersam mit dieser Publikation die Gelegenheit, den theoretischen Hintergrund nachhaltiger Entwicklung und deren Potenziale aufzuzeigen. Mit Freude hat das Institut für Nachhaltigkeit daran mitgewirkt.

Der Begriff Bildung für Nachhaltige Entwicklung wurde auf der UN-Umweltkonferenz von Rio de Janeiro 1992 geprägt. Dabei soll auf die drei Dimensionen Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft in ihrer Komplexität und gegenseitigen Abhängigkeit sowohl national als auch global fokussiert werden. Die Konferenz über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED) in Rio de Janeiro hat einen besonderen historischen Stellenwert, denn seitdem ist BNE international bekannt. Die Umweltkonferenz hat zudem zwei völkerrechtlich verbindliche Konventionen hervorgebracht, welche von mehr als 150 Staaten unterzeichnet wurden. Diese sind die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt (Biodiversitätskonvention) und die Klima-Rahmenkonvention. Es sind drei weitere Dokumente erarbeitet worden, die keinen bindenden Charakter haben. Darunter die Agenda 21, welche in ihren 115 Programmpunkten einen Rahmen für das 21. Jahrhundert für den Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung bildet. Die Agenda 21 enthält in 40 Kapiteln wesentliche Handlungsfelder für eine nachhaltige Entwicklung. Die Handlungsfelder sind in vier Hauptteile gegliedert:

1. Soziale und wirtschaftliche Aspekte (Bekämpfung der Armut, Änderung der Konsumgewohnheiten),

2. Umweltaspekte (Schutz der Atmosphäre, Erhalt der Artenvielfalt),

3. Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen und nicht-staatlicher Organisationen an der Umwelt- und Entwicklungspolitik und

4. Instrumente zur Umsetzung (Fragen der Finanzierung, Technologietransfer).

Erstmals wurde durch die Agenda 21 die Existenz ökologischer Grenzen für die ökonomische und soziale Entwicklung anerkannt.

Noch immer sind wir weit entfernt von einer nachhaltigen Entwicklung, denn nach wie vor leben Menschen in absoluter Armut, haben keinen Zugang zu sauberem Wasser oder zu Bildung und Gesundheitsversorgung, oder müssen wegen politischer oder umweltbedingter Krisen ihr Land verlassen. Das ist ein Grund dafür, dass das Institut für Nachhaltigkeit insbesondere in Entwicklungsländern aktiv werden wollte, um dort die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.

So entstand im Jahr 2012 eine enge Zusammenarbeit mit dem Nürnberger Verein Fi Bassar e.V. , der in Bassar (Togo) aktiv ist und laut Satzung die Entwicklungszusammenarbeit, Gesundheitspflege sowie Bildung und Erziehung, insbesondere von Frauen und Kindern, fördert. Darüber hinaus geht es dem Verein um langfristige Partnerschaften, was auch in der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung mit verankert ist. Im Jahr 2017 bekam der Verein Fi Bassar e. V. unter Beteiligung des Instituts für Nachhaltigkeit den Zuschlag, um mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Else Kröner-Fresenius-Stiftung eine Klinikpartnerschaft zwischen dem Klinikum Nürnberg und dem Hospital C. H. P. in Bassar aufzubauen. Mittlerweile befindet sich das von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH durchgeführte und betreute Klinikpartnerschaftsprojekt in der dritten Förderphase. Das Ziel ist die langfristige und nachhaltige Stärkung von Gesundheitssystemen in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen. Einmal jährlich fliegt ein Team des Klinikums Nürnberg nach Bassar, um mit modernen medizinischen Geräten und Instrumenten sowie Schulungen die Gesundheitsversorgung im Hospital in Bassar zu verbessern. Es werden unter anderem auch kostenlose Operationen für besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen angeboten.

Im Bereich Bildung unterstützt das Institut für Nachhaltigkeit die Errichtung eines Bildungscampus für 600 junge Menschen in Bassar. Das gesamte Bauvorhaben ist in sieben Abschnitte eingeteilt. Der erste Bauabschnitt mit einem Gebäude für die Ausbildungszweige Elektriker und Maurer ist abgeschlossen. Dieses zukunftsweisende Projekt hat die Vision, Perspektiven für die Menschen in und um Bassar zu bieten. Neben den bereits angebotenen Ausbildungszweigen sollen in den nächsten Jahren weitere Berufsausbildungsmöglichkeiten hinzukommen. Bei der Energieversorgung soll eine autarke Stromversorgung durch Solarenergie realisiert werden. In Planung ist eine Pflanzenkläranlage für anfallende Abwässer sowie eine ökologisch ausgerichtete, landwirtschaftliche Eigenproduktion zur Selbstversorgung.

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Weltdekade Bildung für nachhaltige Entwicklung

Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2005 bis 2014 zur Weltdekade Bildung für nachhaltige Entwicklung ausgerufen. Ziel der Dekade war es, das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung in allen Bereichen der Bildung zu verankern. Dies ist bisher noch nicht umfassend geschehen. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein Querschnittsthema und sollte in jedem Fach in jeder Schule, am besten schon beginnend bei den Kleinsten, gelehrt werden. So können Kinder und Jugendliche aktiv zur Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Ziel sollte sein, dass jeder seinen Einfluss auf die Umwelt versteht und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen kann, um ein gutes Leben im Einklang mit der Natur für alle Menschen zu gewährleisten. Diesen Anspruch verfolgt das Institut für Nachhaltigkeit in der Lehre und bei der Betreuung von studentischen Arbeiten. Das Institut hat dazu bereits im Jahr 2011 zum Teil inhaltlich selbst konzipierte Vorlesungen sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache entwickelt. Dies sind die Lehrveranstaltungen Sustainable Development & National Strategies und Digitalisierung & Nachhaltigkeit . Die Vorlesungen wurden an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, auch im europäischen Ausland gehalten.

17 Ziele bis 2030

Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen auf einer Generalversammlung die Agenda 2030 (auch: SDGs, Sustainable Development Goals, 17 Ziele, Nachhaltigkeitsziele) beschlossen. 193 Länder bekannten sich zu den 17 Zielen mit den 169 Unterzielen und haben seitdem nationale Entwicklungspläne erstellt. Die Agenda 2030 gilt für alle Länder der Welt – Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer gleichermaßen – und soll bis zum Jahr 2030 umgesetzt werden. Darin sind die sogenannten fünf P’s (People, Planet, Prosperity, Peace, Partnerships) enthalten. Der Leitspruch lautet leave no one behind (niemanden zurücklassen bzw. alle mitnehmen ). Der Fokus liegt damit eindeutig beim Menschen mit allen seinen Bedürfnissen. Unsere Umwelt, der Wohlstand aller, Frieden und globale Partnerschaften zur Erreichung der Ziele spielen ebenfalls eine Rolle.

Unter dem Hashtag #17ziele oder auch unter 17ziele.de sind diese Nachhaltigkeitsziele ausführlich dargestellt. Viele beispielhafte Projekte sind dort dokumentiert.

Die 17 Ziele mit den 169 Unterzielen lassen sich in Nachhaltigkeitsreports sowohl für Unternehmen als auch für Kommunen abbilden. Das Institut für Nachhaltigkeit hat im Jahr 2020 den Nachhaltigkeitsbericht der Stadt Erlangen nach den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen ausgerichtet. Alle Aktivitäten und Ergebnisse der Erlanger Stadtentwicklungspolitik sowie relevante Nachhaltigkeitsdaten der Jahre 2016 bis 2018 wurden übersichtlich in einem Report analysiert und dargestellt.

Auch wenn die 17 Ziele bereits im Jahr 2015 beschlossen wurden, so sind diese nach wie vor wenig bekannt. Viele dieser Ziele beziehen sich explizit auf unsere Natur und zeigen die Wichtigkeit einer intakten Umwelt für das Überleben der Menschheit. Vor allem der Boden als wichtigste lebenspendende Grundlage für den Anbau von Lebensmitteln, aber auch als Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten, braucht unseren besonderen Schutz. Aber auch das Wasser und die Luft sowie die wichtige Ozonschicht, die uns vor den krebserregenden UV-B-Strahlen der Sonne schützt, sind natürliche Grundlagen, die überhaupt Leben auf der Erde möglich machen. Seit etwa 200 Jahren, dem Beginn der Industrialisierung, merkt der Mensch, dass dieser die Natur ausbeutet. Er ist zwar im Verhältnis zum Erdalter erst eine verhältnismäßig kurze Zeit auf der Erde, jedoch ist sein zerstörerischer Einfluss dagegen überproportional groß.

Die Entwicklung von Leben und der Vegetation ist ein dynamischer Prozess, in dessen Verlauf diverse Pflanzen- und Tierarten entstanden, sich anpassten, auf Veränderungen reagierten oder wieder ausstarben. Der Mensch ist die einzige Spezies, die sich mit der Hilfe von Kultur, Medizin und technischen Entwicklungen vom Naturgeschehen abkoppeln konnte. Er greift allerdings so stark in ökologische Systeme ein, was wiederum Einfluss auf seine eigenen Lebensbedingungen und das der zukünftigen Generationen hat.

Wie kann der Mensch zurück zur Natur finden, die biologische Vielfalt schützen und zur Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen? Auch wenn die Zerstörung der Umwelt und eine vom Menschen verursachte Klimaveränderung bereits fortgeschritten ist, so sind mehr denn je Menschen über Umweltbelange sensibilisiert. Gerade unter den jungen Menschen formiert sich eine umweltbewusste Gemeinschaft, die den Klima- und Naturschutz einfordert. Es bleibt abzuwarten, inwiefern in den nächsten Jahren eine sozialökologische Transformation gelingt, die merklich zu einer Eindämmung der CO2-Emissionen beiträgt sowie eine zunehmende Umweltzerstörung und einen weiteren globalen Anstieg der Durchschnittstemperatur vermeidet.

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Nachhaltige Entwicklungen in der Metropolregion Nürnberg

Es gibt bereits viele positive Beispiele aus der Metropolregion Nürnberg , die zeigen, dass ein Leben und Wirtschaften im Einklang mit der Natur möglich ist. So steigen die Zahlen der Unternehmen und Initiativen, die den Zero-Waste-Ansatz verfolgen. Dies sind Unternehmen, die Müllvermeidungsstrategien bzw. einen kompletten Müllverzicht umsetzen. In Nürnberg sind unter anderem die Eisdiele Eis im Glück und die Nusseckenmanufaktur Meister Küfner zu nennen. Im Jahr 2017 eröffnete der erste Unverpackt-Laden Zero Hero in Nürnberg. Dieser verzichtet komplett auf Verpackungen und verkauft unverpackte Lebensmittel und DrogerieArtikel.

Ebenfalls in Nürnberg ist das Projekt SDGs go local angesiedelt, welches vom Umweltbundesamt und dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit gefördert wird. In diesem Projekt sind die 17 Ziele fest verankert. Durch Bildung für Nachhaltige Entwicklung im Stadtviertel St. Johannis entstehen neue Ideen und Initiativen, um auf lokaler Ebene die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung umzusetzen. So gibt es ein Lasten-Fahrrad für eine nachhaltige städtische Mobilität und liebevoll gepflegte Hochbeete mit Obst und Gemüse für die regionale und saisonale Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln.

All diese Beispiele zeigen, wie wert- und sinnvoll die Umsetzung von Bildung für Nachhaltige Entwicklung ist. Die BNE lässt sich somit auch als eine weltweite Bewusstseinsarbeit verstehen, die dazu beiträgt, das Leben auf unserer Erde gemeinsam zu schützen, zu fördern und zu bewahren.

1 Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity/CBD) ist das erste völkerrechtlich verbindliche, internationale Abkommen, das Biodiversität global und umfassend behandelt. Darin geht es in erster Linie um den Schutz der biologischen Vielfalt der Ökosysteme, der Arten und deren genetische Differenzierung. In dieser Konvention zum Artenschutz wird der Schutz der gesamten biologischen Vielfalt und eine nachhaltige Entwicklung angestrebt.

2 Das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (engl. United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) hat zum Ziel, die globale Erwärmung einzudämmen sowie ihre Folgen abzumildern.

3 Mehr Informationen sind auf der Vereins-Webseite zu finden: www.fibassar.de

4 Der Nachhaltigkeitsbericht der Stadt Erlangen kann unter diesem Link heruntergeladen und eingesehen werden: https://erlangen.de/uwao-api/faila/files/bypath/Dokumente/PDF-Formulare/31_Umweltamt/31klima_Nachhaltigkeitsbericht_ interaktiv_Nov.2021.pdf

5 Noch mehr Beispiele sind zu finden unter: www.zero-waste-helden.de/zero-waste-helden

Dina Barbian
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Natur-Poesie

alpin am kieselweg liegt eine leichtigkeit, weist in die hänge, die alle mimik von jeher beherbergte und eine karwanne zwischen aufragenden grauzinnen kennt keine wege, nur orgelwinde in der höhe die gleichsam fällt wie im nebelmeer die spitzkegel mahnend wachend standhaft steinerne monumentalwände steigen dohlen über dunstwiesen latschenkiefernduft dahinter steilschlucht noch schneeflecke unter überhängen glitzernde tautropfen auf blütenkelchen sonnengebannte geröllwüste bis zum horizont verschluckt die hochebene hinter jochpässen ein see so frischkühl-klar wie der morgen im tal in der weite thront weiśsgewandete erdkönigin

lumen am horizont schweben gelbweisse strahlen flickern durch die tagtore zwischen blättern zu tausenden tanzen mit den schleiern spitzrund gebogen und laufen lodernd aus

innerlich bleibend ein hoher frühlingsabend kobaltblaues leuchten für ein paar stunden wärmendes glimmen in orange danach fliesst pink rührend über umgebende umrisse der landrücken

im außen treibend hält mich deine mitte golden-fluides gleißen vergangene jahre gelegt in lichterhände

waldfreundschaft über den feldern und wiesen lebt deine schönheit in den horizont hinein grüssen diese sanftmütigen wächter weisen mit ihren kronkränzen still in die himmelsweiten treiben ihre wasserarme netzend in den grund der göttin süssbäche atmen grünfüllig senden leises flüstern in die wattigen untergründe wo die treuen tränen des sommers sich verschwenden und zergehen dann wieder ungezählte triebe keimen spriessen ranken sonnenspiele kleiden die häute deiner wunderwesen die über lichtungen springen oder im schattigen weilen eine klärende stille zwischen deinen freien säulen seelenkathedrale

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Roland Grünwald
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Zukunftsphilo-sophia

Ein Weitblick in der Jetztwelt

Als mich Barbara für diese wundersam -Publikation anfragte, für die Natur mit der Natur zu sprechen, brach in mir zunächst eine Quelle der Unkenntnis auf. Etwas für den Verstand Ungreifbares wollte sich zu den üblichen Konditionierungen des durchökonomisierten Mentalkörpers gesellen. Mit österlicher Muße durchdrang mich schließlich der folgende Text auf intensive Art und Weise mitten in der Flusslandschaft Nordbrandenburgs:

»In-time Innwendung, ein emotionales Ver-antworten und kräftige urweibliche Archetypenergien braucht das Jetzt. Eine Gesellschaft, darf eine Gesellschaft sein, die sich Zeit nimmt Fragen zu stellen und diesen Metakreativprozess als einen urlebendigen Kulturimpuls erfährt.

Klare Kommunikation ins Innen halten und sich dem Lebendigen im Entfaltungsraum öffnen. So ist ein jedes Lebewesen der Welt aufgerufen sich im Ausdruck des Werdens einer lichteren Zukunft neu zu finden und gleichsam die Stille des Vergehens alter Werte, wie Konkurrenzdrill, Geschlossenherzigkeit und Engstirnigkeit zu bezeugen.

Die ausgiebige und mutige Zuwendung zum höchsten Gemeinwohl schafft sukzessive immer weiter Themenfelder und -synergien des neuen Wir, die wir bisher für unmöglich hielten. Genossenschaften sprießen als graduelle Antwort auf erkaltende Kapitalstrukturen, regionale Politverantwortung nimmt teilweise die Angst vor der global politischen Ohnmacht und ein neues Beziehungsbewusstsein fußt auf authentischerem Umgehen mit sich und der Welt. Augmentiertes Bewusstsein entsteht. Alte Angst weist dabei die Wege in das Vertrauenswachstum und macht uns deutlicher, wo sich Wandel noch erlebbarer machen möchte. Alles nach außen Gerichtete braucht im Geburtsmoment einer neuen Gleichwertigkeitskultur einen inneren Fokus, um sich gleichsam zentriert zu bereiten und für eine kosmologische Transzendenz offen zu halten. Gefühle und Gedanken der Hoffnungsenge sind dabei selbst die Wegweiser für Aktivierung der eigenen Lebenskräfte. Wie eine Vogelschar, die sich in vermeintlicher Nichtsynchronizität einer Melodie des Ungleichklangs hingibt.

Eine Mag-lichkeit: sich selbst an die Passivität adressieren, die jeder Aktivität innewohnt. Die feminine Qualität von Handlungen wertschätzen in einer Zeit der Hyperkompetivität und langfristig drohenden Dehumanisierung.

Die wahren Wurzeln der Krisen in Zeiten der kulturellen Regression und omnipräsenten Spaltung mit Rast betrachten und sich der inneren Landschaften sowie all ihrer Verwüstung bewusst werden. Patriachale Strukturen überformten einst gleichwertige Kulturaspekte. Wie finden wir als westliche Gesellschaften zu alter Stärke zurück? Indem wir den friedvollen Ausgleich der weiblichen und männlichen Attribute vor allen Dingen in uns nivellieren.«

Linda Loreen Loose
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Unteres Odertal, Brandenburg (Foto: Linda Loreen Loose)

Zur Öffnung für den tiefenheilsamen Prozes ein Gedicht als Hymne an alle Botschaften, die der Singularität unseres Verstandes bis jetzt immer noch unerschlossen waren:

Meta-Harmonia

Ein verdorrtes Innen kommt zu Sinnen, wenn dann die Kraft der Andersebene erschafft.

Fließen blaues Wunder und grüner Zauber zusammen, steht der evolutionäre Schritt Richtung Zukunftstanz in gelbgolden gesalbten Flammen.

Gönnt sich die vergangene Natur unserer Selbste eine Auszeit, lebt die Vergangenheit auch für die Zukunft und die Gegenwart automatisch verzeiht.

Nehmen wir uns die Voll-endung des Moments zu Herzen, richtet sich die feurige Anmut des Wandels auf echte Kreationskerzen.

Liebkosen wir die zarten Knospen der Zukünfte durch viele hoffnungsreiche Gedanken, lassen sich die SEElen der Mitwelt wieder mit Heilemotion betanken.

Gedicht in Lichtsprache (Meta-Harmonia; Zeichnung von Linda Loreen Loose, April 2022)

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Gegenläufig | gespiegelte Zeichnung, Barbara Kastura

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Ehrfurcht vor dem Wunder Leben

Die von wundersam betriebene künstlerische Forschung ist eine Mischung aus neugieriger, flanierender, phänomenologischer und kontemplativer (Natur-)Erkundung, sensibler, vorsichtiger, tastender Wahrnehmung über alle Sinne (einschließlich des Denkens und Fühlens und des siebten Sinns), schöpferischem Ausdruck und einfühlsam-verinnerlichender Lektüre exemplarischer natur- und geisteswissenschaftlicher Texte vorwiegend philosophischer, psychologischer, literarischer, künstlerischer oder spiritueller Art.

Eine von fragendem, möglichst unvoreingenommenem Bewusstsein begleitete Wahrnehmung (von Stimmungen, Atmosphären, Landschaften, Bildern, Texten, Projekten, Ereignissen, Gefühlen, Gedanken etc.) ist bei der wundersam-Forschung zentral – erkundet werden äußere und innere (Bewusstseins-)Räume und seelisch-leibliche Zonen, Prozesse und Muster. wundersam-Forschende versuchen bei ihren Erkundungen und schöpferischen Entwicklungen eine vor-reflexive, intuitive Haltung einzunehmen, bei der Phänomene in ihrer gegenwärtigen, ursprünglichen, unmittelbaren, vielfältig verflochtenen Beziehungskraft erscheinen bzw. wahrgenommen werden und dabei eine ungeahnte Bedeutsamkeit entfalten können – die Forschenden werden sich selbst staunend als betrachtende und erkundende Wesen fragwürdig. Natürlich bleibt es nicht beim bloßen Staunen – nach dem und oft auch schon im Zuge des intuitiven Warhnehmens wird auch gedanklich erfasst und zu verstehen und in Begriffe zu fassen versucht, was sich im jeweiligen Augenblick überwiegend außerhalb des Verstandes wortlos ereignet(e) und was in solch kontemplativer Schau auf spürendem, fühlendem, tastendem Wege zutraulich und zugänglich wird bzw. wurde. Das Bewusstsein bzw. Erkennen von etwas erscheint in solcher Erkundung über-individuell, es entfaltet sich im sinnlichen Wahrnehmen, das sich im Grunde als ein Geistiges ereignet und wird nicht von bzw. aus einem bloß theoretisch konstruierten, transzendentalen Ich rein aus dem bzw. im Verstand geschaffen. Das Gesuchte (oder ist es das Sich-zeigen-Wollende?) scheint auf im Zuge der Schau - im Wahrnehmungs- und Ereignis-Raum (oder -Feld) zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten – einem Bereich, der zugleich ein geistiger wie leiblicher wie gegenständlicher ist, changierend zwischen konkret erscheinend, persönlich wahrnehmbar und begrifflich abstrahierend.

Diese spürbar relevante, begriffslose wie begriffliche Wahrnehmungs- und Erkenntnis-Methode wurde und wird weiterhin im Zuge der künstlerischen wundersam-Forschung entwickelt und ausgebaut, um einen möglichst sensiblen, fühlenden, unvoreingenommenen Blick in einen unbestimmten, unverfügbaren und geradezu heilig zu nennenden Gegenwarts-Raum zu eröffnen, der seinerseits ein wahrnehmender, sehender Perspektiven-Ermöglichungsraum ist – die lebendige Welt mit all ihren zugänglichen geistigen, feinstofflichen und materiellen

Bestandteilen und Zusammenhängen offenbart sich so als ein unendlich komplexes, multiperspektivisches, verwobenes und von Geist durchdrungenes Geschehen, das trotz oder gerade wegen seiner erotischen bis schmerzhaften Widerständigkeit liebend Leben gebiert, empfängt, umfängt und bewahrt.

Es ist ein gegenseitiges Erkennen und Durchdringen, ein beiderseitiges Sehen und GesehenWerden . Sehen als Gestalt-Wahrnehmen im weitesten Sinne: eine Figur, eine Stimmung, ein Gefühl, ein Windhauch, eine Berührung, eine Landschaft, eine Absicht, eine Frage etc. wollen sich im Wahrgenommen-Werden zeigen – und diese im Phänomen enthaltene Neigung (ab wann ist es eine Absicht?) zeigt sich der forschenden Betrachtung zumeist nur geahnt am Rande (des jeweiligen Bewusstseins) – da, wo das sich Zeigende (nicht das in der Wissenschaft ja zumeist gewaltsam Analysierte und Zurechtgebogene) in seiner Ganzheit und Würde am reinsten (nämlich eigentlich intim) gegeben ist.

wundersam Forschende suchen naturnahe Situationen auf (das kann eine Landschaft sein oder auch die Betrachtung einer Blume oder eines Kristalls) und lassen – wenn vielleicht auch nur für einen Augenblick – in der Begegnung mit gemeinhin als alltäglich empfundenen Erscheinungen eingeprägte Muster und Denkgewohnheiten hinter sich. Sie vollziehen in stiller Betrachtung einen mutig-gewagten, vertrauensvollen Bewusstseinssprung in das Zwischen-denDingen und huldigen in Ehrfurcht das namenlose Wunder, das sich im Jetzt ereignet und das weit über sie als Forschende wie als Menschen hinausweist. Dieses Wunder gilt es erfahrbar, wirklich und wahr werden zu lassen. Lasst uns das Staunen und das Leben (wieder) lernen.

Um ihre Untersuchungen nicht ins Leere laufen zu lassen oder sich in womöglich unhaltbaren oder gar unteilbaren Ansichten zu verlieren, suchen wundersam-Forschende immer auch den kritisch-konstruktiven Austausch über das Erfahrene und Erkannte bzw. das zu Erfahrende und das zu Erkennende. Solche Begegnungen bergen auch wertvolle Potenziale für zukunftsorientierte, wandlungsfähige Gemeinschaften, Organisationen und Unternehmen, da sie tragende Veränderungsprozesse anstoßen und begleiten können. Die fragenden, wahrnehmungs- und bewusstseinsbezogenen Erkundungen, wie wundersam sie praktiziert, wirken als Impulse, die im Dialog ganzheitliche, gemeinsam geprüfte und geteilte Sichtweisen und Verstehens-Horizonte und damit lebendige Handlungsspielräume eröffnen. Man kann diese Spielräume auch nachhaltig nennen, zumal nachhaltig als Begriff überhaupt erst Sinn macht, wenn man ihn über rein technische, wirtschaftliche oder politische Interessen und Verwertungen hinaus versteht.

Da der Gegenstand der wundersam-Untersuchungen im Grunde das Leben selbst ist und dieses sich nicht rein begrifflich oder rational fixieren oder zur Darstellung bringen lässt, setzt wundersam auf kreative Ausdrucks- und Präsentationsformen und interdisziplinäre Austauschformate. Diese Publikation mit allen in ihr und durch sie sich ereignenden Begegnungen, Korrespondenzen und Freundschaften ist ein Beispiel dafür.

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Sprach- und Bewegungsstudien | Zeichnungen, Barbara Kastura

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Dina Barbian ist Diplom-Wirtschaftsingenieurin. Sie hat in Nachhaltigkeitsökonomie promoviert und leitet das von ihr gegründete Institut für Nachhaltigkeit in Nürnberg. Ihre Forschungsgebiete sind interdisziplinär und umfassen mit dem Fokus auf Nachhaltigkeit ein breites Spektrum an Themen und Perspektiven – von Digitalisierung, Technologie, Management und Strategieentwicklung über Klimaneutralität, Sharing Economy, Energie- und Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft bis hin zu Resilienzforschung oder cyber-physikalische Systeme.

// www.nachhaltigkeit2050.de

Roland Grünwald ist Lyriker, Musiker und vielseitig interessierter Weltenbeobachter. Sein Schwerpunkt ist die Suche nach tiefergehendem sprachlichen Ausdruck und dem dazugehörigen rhythmischen Momentum. Die Natur erfährt er als unerschöpfliche Inspirationsquelle.

Barbara Kastura ist interdisziplinäre Künstlerin in den Bereichen Bildende und Darstellende Kunst und Gesang. Stimm-Akrobatin und künstlerisch forschende Naturpädagogin. Initiatorin und Leiterin des Projekts „wundersam“. Gründerin der Wirkstatt „Der Goldene SchRitt“. Ausdrucks- und Kreativitäts-Coach.

Als freiberuflichen Dozentin für Experimentellen Gesang, Stimmbildung und Sprecherziehung an der Hochschule für Musik Nürnberg entwickelte sie ihre Klangschrift weiter zu einem didaktischen Werkzeug für Komposition, Choreografie und Musikalität in der Sprache. Zahlreiche szenische Aufführungen, Performances und spartenübergreifende Projekte. Kunststudium an der Kunstschule Zürich, Gründungsmitglied Weiss Kunstbewegung Berlin.

// www.barbarakastura.de

Linda Loreen Loose ist Moderatorin, Autorin, soziale Innovatorin, regenerative Nomadin und Meta-Entrepreneurin. Ausgebildet in Wirtschaftspsychologie und Alternativökonomik strebt sie einen PhD in der anthropologischen Transformationsforschung an. Schwerpunkte: Systemisches Vernetzen, Reframing und Co-Creation. Neu-Gestaltung diverser Subsystemdesigns u.a. in den Bereichen Lerndesign, NeoBusiness und Creative Degrowth. Kontinuierliche Weiterbildung in synergetischen Kontexten wie keltische Mythologie, schamanische Praktiken und Gemeinschaftsbildung.

// www.instagram.com/loreenloves

Autor*innen

Michael Schels ist tätig im Bereich Presse und pädagogische Mitarbeit bei der Gemeinnützigen Gesellschaft für Soziale Dienste (GGSD). Studium der Germanistik, Journalistik und Philosophie. Freiberuflicher Texter, Kurator, Moderator und Kulturprojekte-Macher mit den Schwerpunkten Ideen-Entwicklung, Netzwerke, künstlerische Impulse, soziale und kulturelle Innovationen. Gründer von Zentrifuge e.V., Nürnberg. Mitinitiator von „ENGINEERING 2050“, „Forschende Kunst“ und „wundersam“. Künstlerische Forschung: Entwicklung einer „Dialogischen Ästhetik im Anthropozän“.

// www.dialogische-aesthetik.weebly.com

Leonhard F. Seidl ist Schriftsteller, Journalist, Herausgeber und Dozent für Kreatives Schreiben. Zahlreiche Preise und Stipendien, u.a. Austria Nationalpark Medienstipendium 2020, Hermann-Kesten-Stipendium 2021, Artist in Residence Nature Writing Thayatal / Podyjí und Kulturpreis Fürth 2022. Seidl hat u.a. sechs Romane geschrieben, zuletzt Vom Untergang (Edition Nautilus 2022). Zahlreiche Kurzgeschichten, Kommentare und Essays u. a. für taz und Süddeutsche Zeitung. 2021 organisierte er das Symposium Literatur und ökologische Praxis in Fürth und ist Mit-Herausgeber des gleichnamigen Tagungsbands, der 2023 erscheint.

// www.textartelier.de

Uwe Voigt leitet den Lehrstuhl Philosophie mit Schwerpunkt analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg und ist dort Mitglied im neu gegründeten Zentrum für Klimaresilienz. Er ist Adjunct Professor am Department of Philosophy der Memorial University of Newfoundland und vorsitzendes Mitglied der Deutschen Comenius-Gesellschaft.

Forschungsschwerpunkte: Subjektivität in den Sichtweisen der Phänomenologie und des Panpsychismus; Innenseite des Erdsystems in der Perspektive der Naturphilosophie, der Philosophie des Geistes und der Bildungsphilosophie; Verhältnis von Natur, Sprache und Wissenschaft im Rahmen der Environmental Humanities.

// www.uni-augsburg.de/de/fakultaet/philsoz/fakultat/analytische-philosophie/team/uwe-voigt

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Manchmal warteten sie tagelang auf eine Antwort | Zeichnung aus der Serie

Ghadso , Barbara Kastura

Lese-Anregungen

David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur

Martin Buber: Ich und Du

Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik

Christoph Demmerling, Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle

John O´Donohue: Echo der Seele

Reinhard Falter: Natur neu denken

Thomas Fuchs: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie

Isabella Guanzini: Zärtlichkeit - Eine Philosophie der sanften Macht

Thomas Heichele: Mensch-Natur-Technik. Philosophie für das Anthropozän

Claus Leggewie u.a.: Planetar denken

Jochen Kirchhoff: Der Kosmos

Jiddu Krishnamurti: Schöpferische Freiheit

Hildegard Kurt: Die neue Muse. Versuch über die Zukunftsfähigkeit

Bruno Latour: Kampf um Gaia

Jeremy Lent: The Web of Meaning

Joanna Macy: Geliebte Erde, gereiftes Selbst

Burkhard Meyer-Sickendiek: Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie

Andreas Reckwitz u.a. (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft

Joachim Rathmann / Uwe Voigt (Hg.): Natürliche und Künstliche Intelligenz im Anthropozän

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung

Herrmann Schmitz: Der Leib

Jens Soentgen: Ökologie der Angst

Daniel Christian Wahl: Designing Regenerative Cultures

Andreas Weber: Alles fühlt

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Impressum

Konzeption / Redaktion / V.i.S.d.P. Barbara Kastura, Michael Schels // www.barbarakastura.de/wundersam

Texte Dina Barbian, Roland Grünwald, Barbara Kastura, Linda Loreen Loose, Michael Schels, Leonhard F. Seidl, Uwe Voigt

Zeichnungen / Klangschrift / Malerei Barbara Kastura // www.barbarakastura.de

Gestaltung und Illustration Nina Metz // www.ninametz.de Fotografie Floribundus hin und von Dannen // www.instagram.com/michael.schels

Reprofotografie Olaf Gross // www.schwarzwerk.de

Druck osterchrist druck und medien GmbH

Auflage 100

© 2022 wundersam – Wirkstatt zur Erforschung und Vermittlung der Sprachen der Natur Urheberrechte: Barbara Kastura (Malerei, Zeichnungen, Installationen), Michael Schels (Fotografie), Nina Metz (Illustrationen) und Autor*innen

Mit freundlicher Unterstützung durch die Rudolf und Eberhard Bauer Stiftung in Zusammenarbeit mit der Stiftungsverwaltung der Stadt Nürnberg und das Institut für Nachhaltigkeit Nürnberg.

Elektrischer Lichtungsfaden linktr.ee/wundersam - www.facebook.com/barbarakastura - www.instagram.com/wundersam_wirkstattwww.youtube.com/hashtag/wundersam_wirkstatt

Einen herzlichen und sonnigen Dank an alle Mitwirkenden dieser wundersam-Expedition in das Reich über sehen – gewahren vergessener freundschaft

Diese Publikation ist in großer Dankbarkeit und Ehrfurcht den Geschöpfen unserer Heimat Erde gewidmet.

Verwunderung

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