Mein schicksalhafter Vierzeiler Leonhard Lutzke
Es war im Januar 1942 mitten in der Geschichtsstunde, in welcher unser Lehrer den Führer über alles lobte. Er hatte sich vom Gefreiten selbst zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht ernannt. Diese Lobreden hatte er die ganzen Kriegsjahre gehalten, wenn Sondermeldungen im Rundfunk zu hören waren. An solchen Tagen brach der Unterricht, welcher für diese Stunde vorgesehen war, total zusammen. Ihn hatte die Zeitgeschichte voll mitgerissen Während unser Lehrer seine Lobrede noch hielt, schrieb ich in mein Geschichtsmerkheft folgende Zeilen: Der Führer denkt in jedem Falle, Er denkt für mich, für dich, für alle. Dann kann ich mir mein vieles Denken Für heut und alle Zukunft schenken. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass plötzlich mein Lehrer neben mir stand und mir mein Geschichtsmerkheft wegnahm. Er blickte kurz hinein und legte es auf seinen Schreibtisch. Danach meinte er: ,,Du meldest dich nach Schulschluss bei mir." Dann ging der Unterricht weiter, ohne Lobreden auf den Führer. In meinem Kopf war nur noch Angst, was würde er mich wohl fragen? Ich hatte nur noch zwei Stunden Zeit zum Nachdenken. Er war Ortsgruppenleiter und sprach oft von 'Konzertlagern', was musikalisch klang. Am Schulschluss stand ich an seinem Schreibtisch und meldete mich. Seine erste Frage: ,,Was willst du mit diesen Zeilen sagen?" „Herr Lehrer, so wie ich es geschrieben habe, meine ich es auch. In unserem Zeugnis heißt die erste Note 'Beteiligung am Unterricht'. Das heißt, mit Ihnen denken und selber denken. Als wir vor einem Jahr über Emanuel Kant sprachen, mussten wir uns folgenden Spruch von ihm notieren. Er ist in meinem Merkheft zu finden. Er lautete: Jeder habe den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.' Dazu, Herr Lehrer, wurde ich auch von meinen Eltern angeleitet." Er sah mich kurz böse an und brüllte wie noch nie in der Schule. ,,Raus!" Fluchtartig verließ ich den Klassenraum. Als ich die Eisentür zum Schulgebäude schloss, ja, zuschlug, blieb ich eine Weile vor ihr stehen, den Rauswurf noch im Ohr. Meine Schritte nach Hause wurden immer langsamer, so irre waren meine Gedanken. Ich überlegte: Sollte ich das meiner Mutter erzählen? Ich sah sie so oft still weinen, wenn sie Feldpost bekommen hatte. Ich habe ihr nichts davon erzählt. Am anderen Tag bekam ich mein Merkheft wortlos auf die Schulbank 114
Altheider Weihnachtsbrief 2017