ERKER 09 2016

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INTERVIEW

„Pferde zeigen dir, was in dir steckt“ Interview: Susanne Strickner Das Pferd gilt in vielen Kulturen als edelstes aller Tiere. Es fasziniert durch seine Größe und Schnelligkeit, seine Kraft und Ästhetik. Pferde haben aber auch andere, einzigartige Fähigkeiten, die im therapeutischen und pädagogischen Bereich ihren Einsatz finden. Damaris Crepaz, Heilpädagogin mit Fachspezialisierung im heilpädagogischen Voltigieren und Reiten, schafft im Reitstall „Thumburg“ bei Sterzing heilende Begegnungen zwischen Mensch und Pferd. Der Erker hat sie zum Gespräch getroffen.

Erker: Frau Crepaz, gibt es im Reitstall „Thumburg“ schon länger das Therapieangebot mit Pferden? Damaris Crepaz: Ja, seit mittlerweile 16 Jahren bin ich hier in Sterzing im Bereich des Therapeutischen Reitens tätig. Ich habe Pädagogik und Heilpädagogik studiert und fühle mich im Reitstall „Thumburg“ mit meinen Klienten sehr wohl. Im familiären Ambiente und durch die freundliche Reithalle haben wir hier den nötigen Schutzraum, die nötige Ruhe, damit sich Mensch und Tier geborgen fühlen. Angeboten wird das der Pädagogik und Psychologie zuzuordnende heilpädagogische Voltigieren/ Reiten, das neben der Hippotherapie (medizinisch indiziert) und dem Behinderten-Reiten (Sport und Freizeit) zu den drei Säulen des Therapeutischen Reitens gehört. An wen richtet sich ihr Angebot? Neben geistigen und körperlichen Behinderungen, Autismus und Wahrnehmungsstörungen können durch heilpädagogisches Voltigieren/ Reiten auch sehr positive Effekte bei Entwicklungsverzö-

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Damaris Crepaz: „Beim heilpädagogischen Voltigieren/ Reiten herrscht kein Druck, es geht nicht um die sportliche Leistung, sondern um die persönliche Weiterentwicklung.“

gerungen, Verhaltensauffälligkeiten, Teilleistungs- und Lernschwächen, bei Problemen im emotionalen Bereich wie Ängsten oder wenig Selbstvertrauen, bei Störungen des Sozialverhaltens sowie beim Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS/ ADHS) erzielt werden. Vor allem zum heilpädagogischen Voltigieren/ Reiten kommen neben Menschen mit offensichtlichen Auffälligkeiten auch solche, bei denen man erst bei genauerem Hinsehen merkt, dass diese Klienten versteckte Schwachpunkte, wie u. a. persönliche Verunsicherungen, Kontaktschwierigkeiten oder niedrige Frustrationstoleranz, aufweisen. Diese Personen würden in einem normalen Reitbetrieb nicht bestehen, da es für sie zu schnell geht oder zu hohe Anforderungen bzw. Leistungserwartungen an sie gestellt werden. Beim heilpädagogischen Voltigieren/ Reiten herrscht kein Druck, es geht nicht um die sportliche Leistung, sondern um die persönliche Weiterentwicklung. Jeder Klient kann sich nach seinem Tempo entfalten. Was bewirkt die Begegnung mit dem Pferd?

In der heilpädagogischen Arbeit mit Pferden gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, wodurch die Klienten in vielfacher Hinsicht gefördert werden. Als ganzheitliches Verfahren wird auf körperlicher, geistiger, sozialer und emotionaler Ebene gearbeitet. So werden etwa die Gleichgewichtsorgane stimuliert, ein gesundes Gangmuster in der Hüfte erzeugt und die Haltung sowie die Koordination geschult. Zudem werden Ausdauer und Konzentration sowie die Feinund Grobmotorik gestärkt. Die Klienten erfahren Regeln und Grenzen, bauen Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen auf sowie Ängste und Aggressionen ab. Man erhält die Möglichkeit, Freundschaften zu schließen, Erfolgserlebnisse und Freude zu erleben und dadurch Selbstbewusstsein aufzubauen. Warum sind gerade Pferde für die Therapiearbeit gut geeignet? Pferde haben ein sehr feines Gespür für die Absichten und die psychische Verfassung von Menschen, mit denen sie in Kontakt treten. Sie ermöglichen dem Klienten durch unvoreingenommene Reaktionen bzw. durch ehrliches Feedback, die eigene Wirkung auf

die Umwelt zu begreifen und eigene Verhaltensmuster zu erkennen. Dadurch wird eine Weiterentwicklung möglich. Das Tier erzeugt einen hohen Motivationsaspekt, das gilt vor allem auch für „therapiemüde“ Klienten, also Personen, die bei anderen Therapien bereits resignieren oder sich nicht mehr so leicht stimulieren lassen. Welche Aufgabe übernehmen Sie dabei? Nach ersten Gesprächen lege ich die Therapieziele fest und erstelle das Therapieprogramm. Ich habe aber keine fixen Erwartungen an den Klienten. Meine Aufgabe besteht vor allem darin, den Kontakt zwischen Mensch und Pferd herzustellen, Lernprozesse einzuleiten, dem Klienten Angebote zu machen – ihn aber zu nichts zu drängen, mögliche Entwicklungen zu lenken und zu kanalisieren. Zu unterscheiden ist zwischen dem Pädagogischen Voltigieren/ Reiten in Kleingruppen bis zu vier Personen, wo es vor allem um Lernprozesse mit verschiedenen Schwerpunkten geht, und dem Therapeutischen Reiten, das hauptsächlich im Einzelkontakt bzw. mit maximal zwei Klienten stattfindet und wo die persönliche Weiterentwicklung und Entfaltung im Vordergrund stehen. Die Therapiearbeit mit Pferden erfordert viel Sensibilität und Geduld, ist aber einzigartig und wertvoll. Wie verläuft eine solche Therapie? Bei den meisten Klienten wende ich die Methode des heilpädagogischen Voltigierens an. Das Pferd ist mit einer Decke und dem Therapiegurt ausgestattet. Die Decke ermöglicht einen sehr engen Kontakt zum Pferd, der den Klienten besser die Wärme und Weichheit des Tieres sowie dessen Bewegungsstimulation erspüren lässt. Der Therapiegurt hat Griffe, an denen sich der Klient fest-


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