Grosseltern-Magazin 02/2021

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« Gut ist, was dir gefällt » Markus Tschannen erzieht seine Kinder geschlechtsoffen. Im Interview erklärt er, was das bedeutet, wie die Grosseltern damit umgehen und warum er dafür auch schon eine Haarschleife getragen hat. Brecht (7) hüpft den Weg zum Spielplatz, die rote Mütze fest auf dem Kopf, und plaudert. Beebers (1,5) schweigt, beobachtet alles und lässt sich tragen. Die beiden sind die Kinder von Markus Tschannen (40), Brecht und Beebers ihre Spitznamen. Sehr oft sprechen Tschannen und seine Frau aber auch einfach vom grossen Kind und vom Baby. Sie sagen dann zum Beispiel: «Kind, weisst du, wo sich das Baby versteckt?» Markus Tschannen schaut das blonde Kleinkind auf dem Arm an und sagt: «Also, eigentlich ist es ja kein Baby mehr.» Doch bei unserem Treffen geht’s nicht um die Frage, wie lange ein Baby ein Baby ist. Es geht darum, warum die Tschannen-Kinder hier nicht als Mädchen oder Buben vorgestellt werden, warum stattdessen mit verschiedenen Pronomen gespielt wird: Der Kommunikationsberater und seine Frau (31) erziehen ihre beiden Kinder geschlechtsoffen, auch als geschlechtsneutrale Erziehung bekannt. «Bei geschlechtsneutral dachten jedoch viele, man wolle aus Kindern ‹Neutren› machen», sagt Tschannen, «ihnen jedes Geschlecht absprechen und sie nur in graue Kleidung hüllen.» Diese Vorstellung wird dem Konzept nicht gerecht. Denn es sei ja gerade die Vielfalt, die ihnen wichtig sei. Mittlerweile sind wir auf dem Spielplatz angekommen, das grosse Kind hüpft los. Das Baby bleibt, wo es ist, der Vater erzählt.

Von GERALDINE CAPAUL (Interview) und TIBOR NAD (Fotos)

Markus Tschannen, was antworten Sie, wenn Sie gefragt werden, ob Ihre Kinder Mädchen oder Buben sind? Wenn die Kinder dabei sind, treffen die Leute meist von sich aus Annah­ men. Die korrigiere ich nie. Werde ich gefragt, kommt es auf die Situation an. Manchmal erkläre ich dann, dass wir zwei Kinder haben, die wir ge­ schlechtsoffen erziehen. Geschlechtsoffen – was heisst das? Über das Geschlecht schränkt die Gesellschaft Kinder ein. Sie weist ihnen bei der Geburt ein Geschlecht zu, das vielleicht nicht mit der Geschlechts­ identität übereinstimmt, die sich mit 4 bis 5 Jahren entwickelt. Vor allem aber konfrontiert sie Kinder ständig mit Erwartungen, wie Mädchen oder Buben zu sein haben. Wir möchten das nicht. Unsere Kinder sollen sich frei von Ge­ schlechtserwartungen entwickeln.

Das klingt jetzt etwas abstrakt. Wir versuchen, Geschlechterklischees nicht ständig auf unsere Kinder ein­ prasseln zu lassen. Geschlechtsoffene Erziehung wird oft an Kleidung und Spielsachen festgemacht. Persönlich finde ich die Sprache und den Medien­ konsum wichtiger. Wie leben Sie das im Alltag? Wir reden zum Beispiel bei Berufsbe­ zeichnungen auch von Pilotinnen und Krankenpflegern. Aber es fängt viel frü­ her an, indem wir Fremde nicht ständig als Frau, Mann, Mädchen oder Junge bezeichnen und damit dem Geschlecht Wichtigkeit beimessen. Wir vermeiden typische Fallen: Jungs für Aktivität zu loben und Mädchen fürs Hübschsein. Weiter haben wir unseren Kindern von Anfang an Vielfalt vermittelt. Dass nichtbinäre Menschen existieren, dass ein Penis nicht unbedingt Mann # 02 ~ 2021

Blogger, Twitterer und Vater von Brecht (links) und Beebers: Der Berner Markus Tschannen erklärt gern und geduldig, sehr oft auch sehr witzig das Konzept der geschlechtsoffenen Erziehung.


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