Der Gesellschafter 05/22

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Herausgegeben von Nikolaus Arnold und Susanne Kalss GesRZ 51. Jahrgang / Oktober 2022 / Nr. 5 Lea Zieger/Walter Doralt Notariatsakt und materielle Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts Hanspeter Hanreich Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik und Nachhaltigkeit Gernot Ehgartner Die Richtlinie über Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen Florian Ebner Die neue EU-Pilotregelung für DLT-Marktinfrastrukturen Aus der aktuellen Rechtsprechung OGH-Entscheidungen zu Personen- und Kapitalgesellschaften Unternehmensrecht aktuell Europäische Finanzmarktaufsicht

Ein Streifzug durch das

Steuern. Wirtschaft. Recht.

Am Punkt.

GesRZ-Spezial Festheft für Günther Horvath REIDLINGER | FISCHER | BURTSCHER (HRSG.) 2022 96 Seiten, geh. 978-3-7073-4697-8 digital erhältlich

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Mit Beiträgen von namhaften Autorinnen und Autoren
Unternehmens- und Schiedsverfahrensrecht

Wertsicherung am erbrechtlichen Praxisprüfstand

Das österreichische Erbrecht kennt die Anrechnung sowohl beim Erbteil (§§752ff ABGB) als auch beim Pflichtteil (§§780ff ABGB). Die größte praktische Bedeutung hat die Anrechnung (iVm der Hinzurechnung) sicherlich im Bereich des Pflichtteilsrechts. Schenkungen, die der Pflichtteilsberechtigte oder auch ein Dritter vom Verstorbenen zu dessen Lebzeiten oder auf den Todesfall erhalten hat, sind der Verlassenschaft hinzuzurechnen und auf einen allfälligen Geldpflichtteil des Geschenknehmers anzurechnen. Für eine zeitlich unbefristete Anrechnung von Schenkungen an Pflichtteilsberechtigte ist es nach §783 ABGB idF des ErbRÄG 2015, BGBl I 2015/87, ausreichend, dass die die Zuwendung empfangende Person zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehört (zur Reichweite Zankl, Hinzu- und Anrechnung von Altschenkungen nach dem ErbRÄG 2015, NZ2022, 261). Gerade bei Schenkungen unter Lebenden kommt damit der Rechenmethode, dh insb auch dem Zeitpunkt, auf den die Bewertung zu erfolgen hat, sowie der Art der Hochrechnung auf den Todeszeitpunkt, ganz entscheidende Bedeutung zu.

Nach §794 ABGB idF vor dem ErbRÄG 2015 waren unbewegliche Sachen nach dem Zeitpunkt des Empfangs, bewegliche Sachen nach dem Zeitpunkt des Erbfalls zu bewerten. Auch bei unbeweglichen Sachen (insb Liegenschaften und Unternehmen) wurde von der Judikatur und Lehre der Geldentwertung durchaus Rechnung getragen. Wertsteigerungen, die auf die Tätigkeit des Empfängers zurückgingen, waren nicht zu berücksichtigen. Sonderkonstellationen wurde von der Judikatur immer wieder Rechnung getragen. Der früheren Rechtslage (dh jener vor dem ErbRÄG 2015) wurde dennoch konstatiert, dass sie zu unbilligen Ergebnissen führen konnte (ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 35, unter Verweis auf Welser, Die Reform des österreichischen Erbrechts [2009] 144). Bei der Neuregelung im Zuge des ErbRÄG 2015 hat der Gesetzgeber daher eine andere Art der Berechnung gewählt. Nach §755 Abs1 ABGB (idF des ErbRÄG 2015) ist das bei der Anrechnung zu berücksichtigende Vermögen auf den Zeitpunkt zu bewerten, in dem die Schenkung wirklich gemacht wurde. Dieser Wert ist sodann auf den Todeszeitpunkt nach einem von der Statistik Austria verlautbarten Verbraucherpreisindex (VPI) aufzuwerten. Im Bereich des Pflichtteilsrechts sieht §788 ABGB im Wesentlichen eine idente Berechnung vor; warum §755 ABGB von „aufzuwerten“, §788 ABGB aber von „anzupassen“ spricht, ist aus den Gesetzesmaterialien nicht ableitbar; eine Differenzierung wäre auch nicht sachgerecht. Beide Bestimmungen sehen vor, dass Ausgangspunkt der Bewertung der Zeitpunkt ist, zu dem die Schenkung wirklich gemacht wurde. Maßgeblich ist ausschließlich der VPI; andere Indizes (etwa ein Baukostenindex oder der Immobilienpreisindex) sind irrelevant; ebenso konkrete Wertänderungen der geschenkten Sache (Musger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB6 [2020] §788 Rz4).

Die Anpassung nach dem VPI gilt für sämtliche Schenkungen, gleich, ob es sich um bewegliches oder unbewegliches Vermögen oder um Geldbeträge handelt. Wertverändernde Umstände, die zwischen dem Zuwendungs- und dem Todeszeitpunkt eintreten (seien sie vom Zuwendungsempfänger zu vertreten oder nicht), wie etwa eine Änderung der Flächenwidmung, Schadensereignisse etc oder Preisänderungen infolge erhöhter oder gesunkener Nachfrage, sollen allerdings außer Betracht bleiben. Durch diese Bewertungsmethode solle nach den Gesetzesmaterialien erreicht werden, dass die zu Lebzeiten vom Verstorbenen zugewendeten Werte möglichst gleichmäßig an die Verhältnisse im Todeszeitpunkt herangeführt werden. Aus Sicht des Verfügenden bedeute dies ein höheres Maß an Planungs- und Rechtssicherheit, da er keine massiven Wertschwankungen mehr befürchten müsse (Nemeth/Niedermayr in Schwimann/Neumayr, ABGB-Taschenkommentar5 [2021] §788 Rz2).

Bereits im Gesetzeswerdungsprozess wurden zu dieser Neuregelung sehr unterschiedliche Positionen bezogen. Die Stellungnahme des Österreichischen Haus- und Grundbesitzerbundes (34/SN-100/ME 25. GP, online abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/ XXV/SNME/SNME_03393/index.shtml) wies bspw darauf hin, dass sich die Bewertung einer geschenkten Sache auf den Zeitpunkt einer Schenkung bereits bisher als problematisch darstellte. Diesen Wert entsprechend dem VPI zu indexieren, könne sich im Einzelfall als nicht adäquate Lösung darstellen. Die Österreichische Notariatskammer wiederum sah die Indexierung für Unternehmen als passend an, wies aber darauf hin, dass bei der Bewertung von Liegenschaften dadurch willkürliche, ja geradezu unverständliche Ergebnisse herbeigeführt werden könnten (8/SN-100/ME 25. GP, online abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/SNME/SNME_03281/index.shtml).

Bei einer Stagflation, wie sie aktuell zu erwarten ist, stagniert die Wirtschaft und die Währung verliert gleichzeitig an Wert. Der VPI 2020 stieg im Jahr 2021 (Vergleichswerte Jänner zu Dezember 2021) um rund 5,1%. Für das heurige Jahr werden teilweise bis zu zweistellige Inflationsraten prognostiziert; für 2023 sei gleichfalls von einer hohen Inflation auszugehen. Gleichzeitig stagnieren Immobilienpreise und fallen Unternehmensbewertungen. Die Wertentwicklung bestimmter Vermögenswerte, vor allem auch jener, die im betreffenden Warenkorb nicht direkt abgebildet sind, entkoppelt sich daher auch vom VPI. Es ist zu befürchten, dass die im Rahmen des ErbRÄG 2015 gewählte Anknüpfung die vom Gesetzgeber beabsichtigte Gleichbehandlung gerade nicht gewährleistet.

Bei der Nachfolgeplanung sollte daher aktuell umso mehr geprüft werden, ob eine Schenkung (etwa zur Übertragung des Unternehmens auf nachfolgende Generationen) auch erbrechtlich der richtige Weg ist. Werden wesentliche Vermögensübertragungen ohne Einbindung sämtlicher Pflichtteilsberechtigter zu Lebzeiten getroffen, können sich dadurch unliebsame Überraschungen bei der Hinzu- und Anrechnung ergeben. Ein möglicher Ausweg wäre es, im Rahmen der Strukturierung den Zeitpunkt des Vermögensopfers hinauszuschieben.

Der VfGH hat die Behandlung eines Individualantrags auf Aufhebung von §788 und §1503 Abs7 ABGB betreffend die Anpassung der Bewertung von Schenkungen auf den Todeszeitpunkt abgelehnt. Dies bedeutet aber nicht, dass nicht ein Gericht in einem konkreten Streitfall einen entsprechenden Normprüfungsantrag stellen kann. Zu Recht kritisiert ein Teil der Lehre, dass die Heranziehung des VPI nicht für alle Zuwendungen geeignet ist, insb nicht für jene, die besonderen Wertschwankungen unterworfen sind (so etwa Aktien oder Liegenschaften; vgl Nemeth/Niedermayr in Schwimann/Neumayr, ABGB-Taschenkommentar5, §788 Rz2). Der Gesetzgeber sollte daher rechtzeitig evaluieren, ob die von ihm 2015 getroffene Annahme, mit dem VPI könne die Wertentwicklung sämtlicher Arten von Vermögen (insb auch von Liegenschaften und Unternehmen) gleichermaßen gerecht abgebildet werden, immer noch zutrifft.

Denkbar wäre es, sich vom VPI zu lösen und eine unterschiedliche Indexierung je nach Vermögensart vorzusehen; alternativ könnte auch eine Art Billigkeitsklausel aufgenommen werden. Nach §767 Abs2 ABGB kann das Gericht den Pflichtteilsanspruch auf höchstens fünf Jahre nach dem Tod des Verstorbenen stunden oder die Zahlung in Teilbeträgen innerhalb dieses Zeitraums bewilligen. Warum soll das Gericht die Bewertung (Aufwertung bzw Anpassung) dann, wenn sie zu unsachgemäßen Ergebnissen führt, nicht auch in sachgerechter Weise anpassen können? Es ist sicherlich richtig, dass eine möglichst einfache und Diskussionen vermeidende Art der Berechnung auch Vorteile hat. Aber sie rechtfertigt nicht unsachliche Ergebnisse und vermeidet auch nicht jeden Streit. Wenn Pflichtteilsberechtigte oder Erben über Bewertungen streiten wollen oder (etwa auch aufgrund von unsachlichen Ergebnissen) müssen, werden sie dies tun. Ob sie dann über die Bewertung per se oder zusätzlich über die Art der Anpassung auf den Todeszeitpunkt diskutieren, ist von den Auswirkungen her aber kein so wesentlicher Unterschied. Wien, im Oktober 2022

5/2022 245 Editorial

Inhalt

NIKOLAUS ARNOLD

Wertsicherung am erbrechtlichen Praxisprüfstand .... 245

THOMAS BARTH / SOPHIE NATLACEN

Unternehmensrecht aktuell .......................................... 247

LEA ZIEGER / WALTER DORALT

Notariatsakt und materielle Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts auf dem Prüfstand ............... 250

HANSPETER HANREICH

Privates Wirtschaften im Interesse von Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik und Nachhaltigkeit ................ 258

GERNOT EHGARTNER

Der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie über Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen .............. 261

FLORIAN EBNER

Die neue EU-Pilotregelung für DLT-Marktinfrastrukturen (zB Blockchain) ................................. 271

OGH

Zum Zeitpunkt des Erlöschens einer eingetragenen Personengesellschaft iZm § 142 UGB (HGB)....................................................282

Unzulässigkeit von Feststellungsbegehren über Rechtsverhältnisse und von Leistungsbegehren über Verhaltensweisen jeweils in der Generalversammlung zwischen GmbH-Gesellschaftern............284

Zu den Erfordernissen eines gültigen Notariatsaktes als öffentlicher Urkunde (GmbH-Abtretungsvertrag)..................................................288

Zu Treuepflichten zwischen GmbH-Gesellschaftern............................291

Zur Ersatzerwerbernominierung nach § 62 Abs 3 letzter Satz AktG.....303 Zum Erfordernis eines Kollisionskurators bei gemeinsamer Gesellschafterstellung von Obsorgeberechtigtem und Schutzbedürftigem...313

Impressum

Herstellung Inhalt

Periodisches Medienwerk: Der Gesellschafter – Zeitschrift für Gesellschafts- und Unternehmensercht. „Der Gesellschafter“ ist zu zitieren: GesRZ Kalenderjahr, Seite. Grundlegende Richtung: Diese Fachzeitschrift befasst sich mit Problemen auf allen Gebieten des Gesellschaftsund Unternehmensrechts anhand von Theorie und Praxis. Sie erscheint sechsmal jährlich, und zwar im Februar, April, Juni, August, Oktober und Dezember. Jahresabonnement 2022 (6 Hefte) zum Preis von € 210,– (Print) bzw. € 238,– (Print & Digital) – jeweils inkl. MwSt., exkl. Versandspesen. Einzelheft 2022: € 49,40 (inkl. MwSt., exkl. Versandspesen). Unterbleibt die Abbestellung, so läuft das Abonnement um jeweils ein Jahr zu den jeweils gültigen Konditionen weiter. Abbestellungen sind nur zum Ende eines Jahrganges möglich und müssen bis spätestens 30. November schriftlich erfolgen. Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher Bewilligung des Verlages gestattet. Es wird darauf verwiesen, dass alle Angaben in dieser Fachzeitschrift trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr erfolgen und eine Haftung des Verlages, der Herausgeber oder der Autoren ausgeschlossen ist.

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ISSN 0250-6440

Herausgeber und Redaktion: Rechtsanwalt Dr. Nikolaus Arnold, 1010 Wien, Wipplingerstraße 10 Univ.-Prof. DDr. h.c. Susanne Kalss, LL.M., 1020 Wien, Institut für Unternehmensrecht, WU, Welthandelsplatz 1

E-Mail: gesrz@lindeverlag.at

Medieninhaber und Medienunternemen: Linde Verlag Ges.m.b.H., A-1210 Wien, Scheydgasse 24 Telefon: +43 1 24 630 Telefax: +43 1 24 630-723

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Rechtsform der Gesellschaft: Ges.m.b.H. Sitz: Wien, Firmenbuchnummer 102235x Firmenbuchgericht: Handelsgericht Wien, ARA-Lizenz-Nr.: 3991

Gesellschafter: Anna Jentzsch (35 %) und Jentzsch Holding GmbH (65 %)

Geschäftsführer: Mag. Klaus Kornherr Benjamin Jentzsch P. b. b. – Verlagspostamt 1210 Wien –Erscheinungsort Wien

Anzeigenverkauf und -beratung: Gabriele Hladik, Tel.: +43 1 24 630-719 E-Mail: gabriele.hladik@lindeverlag.at Sonja Grobauer, Tel.: +43 664 787 333 76 E-Mail: sonja.grobauer@lindeverlag.at

Druckerei Hans Jentzsch & Co GmbH 1210 Wien, Scheydgasse 31, Tel.: 01/278 42 16-0; E-Mail: office@jentzsch.at; mehrfach umweltzertifiziert (https://www.jentzsch.at) 246 5/2022

Unternehmensrecht aktuell

Update: Nachhaltigkeit am Kapitalmarkt

* Mehrere Neuerungen und Änderungen gab es auch diesmal zum Thema „Nachhaltigkeit am Kapitalmarkt“:  Am 23.9.2022 veröffentlichte die ESMA einen Bericht über die Richtlinien zu den Nachhaltigkeitskriterien des MiFID II-Regimes.1 Der Bericht präsentiert die wichtigsten Neuerungen durch die Delegierte Verordnung (EU) 2021/1253.2

Hintergrund ist die zentrale Bedeutung der Beurteilung der Nachhaltigkeit von Investitionen für einen wirksamen Anlegerschutz. In Zukunft wird der Aspekt der „Nachhaltigkeitspräferenzen“ der Kunden neben die bisherigen Anlageziele „Anlagezweck“, „Anlagedauer“ und „Risikotoleranz“ treten. Dabei werden die Nachhaltigkeitspräferenzen in drei Kategorien unterteilt: 1.) in ökologisch nachhaltige Investitionen iSd TaxonomieVerordnung,3 2.) in nachhaltige Investitionen iSd Offenlegungsverordnung4 und 3.) in Finanzinstrumente, bei denen die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit berücksichtigt werden sollen.5 Wertpapierdienstleister müssen ihre Kunden künftig über diese Nachhaltigkeitspräferenzen informieren. Die Information muss klar und verständlich – ohne technische Begriffe – präsentiert werden und die Unterschiede zwischen Produkten mit und ohne Nachhaltigkeitskriterien erklären. Darüber hinaus sind die konkreten Präferenzen der Kunden zum Thema „Nachhaltigkeit“ einzuholen und zu bewerten. Schließlich sind die Mitarbeiter der Wertpapierdienstleister zum Thema „Nachhaltigkeit“ zu schulen. Es muss sichergestellt sein, dass die Mitarbeiter die jeweiligen Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden kennen.

Zu diesen neuen Pflichten enthalten die fünf Anhänge des ESMA-Berichts eine Kosten-Nutzen-Analyse, Empfehlungen zur Interessengruppe Wertpapiersektor, eine Reaktion auf die durchgeführte öffentliche Konsultation, die Richtlinien sowie eine Liste über gute und schlechte Praktiken zu den MiFID II-Nachhaltigkeitskriterien.

 Die ESMA6 und die EBA7 veröffentlichten zudem jeweils ihre – koordinierten – Rückmeldungen zur Konsultation

* Dr. Thomas Barth ist Leiter der Geschäftsstelle der ÜbK. Dr. Sophie Natlacen war Universitätsassistentin am Institut für Unternehmensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien und ist zurzeit als Rechtspraktikantin am BGHS Wien tätig.

1 ESMA35-43-3172, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/file/125194/ download?token=HMI8MwKz

2 Delegierte Verordnung (EU) 2021/1253 der Kommission vom 21.4.2021 zur Änderung der Delegierten Verordnung (EU) 2017/565 im Hinblick auf die Einbeziehung von Nachhaltigkeitsfaktoren, -risiken und -präferenzen in bestimmte organisatorische Anforderungen und Bedingungen für die Ausübung der Tätigkeit von Wertpapierfirmen, ABl L 277 vom 2.8.2021, S1.

3 Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.6.2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088, ABl L 198 vom 22.6.2020; S13.

4 Verordnung (EU) 2019/2088 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.11.2019 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor, ABl L 317 vom 9.12.2019; S1.

5 Siehe dazu auch https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Meldung/ 2022/meldung_2022_08_02_nachhaltigkeit.html

zum ersten Entwurf über Europäische NachhaltigkeitsReporting-Standards (European Sustainability Reporting Standards – ESRS) der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG).8 Diese sind ein zentrales Element der geplanten Richtlinie hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive – CSRD)9 und bezwecken die Schaffung einer relevanten, verlässlichen, vergleichbaren und verständlichen Berichterstattung über Nachhaltigkeitsfaktoren.

Die ESMA spricht sich insb für eine gute Zusammenarbeit der EFRAG mit dem International Sustainability Standards Board (ISSB) aus, um eine Harmonisierung zwischen den ESRS- und den IFRS-Nachhaltigkeitsstandards zu erreichen. Inhaltlich unterstütze die ESMA zwar den Fokus auf eine Wesentlichkeitsbewertung, sie äußerte jedoch Bedenken gegen den vorgeschlagenen Ansatz der widerlegbaren Vermutung. Darüber hinaus enthielt die Rückmeldung der ESMA technische Anmerkungen zu den vorgeschlagenen Standards.

Auch die EBA betonte die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen der EFRAG und dem ISSB, um einheitliche Reporting-Standards zu gewährleisten. Besonders wichtig sei dabei die Vergleichbarkeit der Berichterstattung von Unternehmen innerhalb und außerhalb der EU. Außerdem sollte ein besonderer Fokus auf der Berichterstattung über die Übergangspläne der Unternehmen sowie auf den klimawandelrelevanten Daten liegen.

Am 5.9.2022 veröffentlichte die BaFin Fragen und Antworten zur Offenlegungsverordnung.10 Das Dokument enthält Antworten zum Anwendungsbereich der Offenlegungsverordnung (Frage 1), zum zentralen Begriff „promote“ bzw „bewerben“ (Frage 2), zum Verhältnis zur Taxonomie-Verordnung (Frage 3) und zu Bestandsverträgen (Frage 4).

Ferner haben die drei europäischen Aufsichtsbehörden EBA, EIOPA und ESMA am 30.9.2022 ihren Bericht zum Entwurf über die technischen Regulierungsstandards zur Offenlegungsverordnung betreffend die Offenlegung von Informationen iZm fossilem Gas und nuklearer Energie veröffentlicht.11 Der Entwurf sieht in Bezug auf Art6, 8, 9,

6 ESMA32-334-549, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/file/124740/ download?token=h48uebCp

7 Online abrufbar unter https://www.eba.europa.eu/sites/default/documents/files/ document_library/Publications/Other%20publications/2022/Comment%20letters% 20to%20ISSB%20and%20EFRAG/1037498/EBA%20responses%20to%20EFRAG% 20consultations.pdf

8 Online abrufbar unter https://www.efrag.org/Activities/2105191406363055/Sustai nability-reporting-standards-interim-draft

9 KOM (2021) 189 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021PC0189&from=DE; siehe dazu Th. Barth/Natlacen, GesRZ2022, 170.

10 Online abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Anlage/ dl_Anlage_Fragen_und_Antworten_OffenlegungsVO.html;jsessionid=8B70936F2 F151C60E0A59C319A144E33.1_cid501?nn=9021442

11 JC 2022 42, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/sites/default/files/ library/jc_2022_42_-_final_report_on_sfdr_amendments_for_nuclear_and_gas_ activities.pdf

5/2022 247 Unternehmensrecht aktuell

Unternehmensrecht aktuell

10 und 11 der Offenlegungsverordnung die Bereitstellung spezifischer Informationen bei Investments iZm fossilem Gas oder nuklearer Energie vor. 

Schließlich ist nun die Delegierte Verordnung (EU) 2022/ 128812 im Amtsblatt der EU veröffentlicht worden und mit 14.8.2022 in Kraft getreten. Wie in dieser Rubrik berichtet wurde, sollten die komplexen technischen Regulierungsstandards zur Offenlegungsverordnung in einem delegierten Rechtsakt gebündelt werden und ab dem 1.1.2023 zur Anwendung kommen.13

ESMA-Bericht über das DLT-Pilotregime

Am 27.9.2022 veröffentlichte die ESMA ihren Bericht über das DLT-Pilotregime.14 Die Verordnung (EU) 2022/85815 dient der Förderung von digitalen Finanzleistungen und der Bekämpfung der damit verbundenen Risiken. Sie ist neben dem Vorschlag für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte (MiCA)16 und dem Vorschlag für eine Verordnung über die Betriebsstabilität digitaler Systeme des Finanzsektors (DORA)17 Teil des „Digital Finance Package“ der Europäischen Kommission.18

Die Verordnung (EU) 2022/858 wird ab dem 23.3.2023 zur Anwendung kommen. Ziel ist die Entwicklung des Handels und der Abwicklung von „tokenisierten“ Wertpapieren. Im Bericht widmet sich die ESMA der Anwendung der unter der MiFIR19 entwickelten technischen Regulierungsstandards auf über DLT abgewickelte Wertpapiere. Danach müssten die technischen Regulierungsstandards über Transparenz und Datenberichterstattung nicht geändert werden. Dennoch plane die ESMA einen Leitfaden, um eine einheitliche Anwendung der Verordnung (EU) 2022/858 zu erleichtern. Im Bericht informiert die ESMA zudem über Ausgleichsmaßnahmen durch die nationalen Aufsichtsbehörden, um die Integrität, die Vollständigkeit, die Einheitlichkeit, die Nutzbarkeit und die Vergleichbarkeit von Aufsichtsdaten zu fördern.

Der Bericht enthält die wesentlichen Eckpunkte der Verordnung (EU) 2022/858 (Kap 3), die Rückmeldungen der Stakeholder zu Handel und Abwicklung über DLT (Kap 4) sowie deren Diskussion durch die ESMA (Kap 5). Kap 6 widmet sich abschließend den Rückmeldungen zu einem möglichen direkten Zugang der Aufsichtsbehörden auf die DLT.

12 Delegierte Verordnung (EU) 2022/1288 der Kommission vom 6.4.2022 zur Ergänzung der Verordnung (EU) 2019/2088 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf technische Regulierungsstandards zur Festlegung der Einzelheiten des Inhalts und der Darstellung von Informationen in Zusammenhang mit dem Grundsatz der Vermeidung erheblicher Beeinträchtigungen, des Inhalts, der Methoden und der Darstellung von Informationen in Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsindikatoren und nachteiligen Nachhaltigkeitsauswirkungen sowie des Inhalts und der Darstellung von Informationen in Zusammenhang mit der Bewerbung ökologischer oder sozialer Merkmale und nachhaltiger Investitionsziele in vorvertraglichen Dokumenten, auf Internetseiten und in regelmäßigen Berichten, ABl L 196 vom 25.7.2022, S1.

13 Vgl Th. Barth/Natlacen, GesRZ2021, 342; dies, GesRZ2022, 170.

14 ESMA70-460-111, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/sites/default/ files/library/esma70-460-111_report_on_the_dlt_pilot_regime.pdf

15 Verordnung (EU) 2022/858 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2022 über eine Pilotregelung für auf Distributed-Ledger-Technologie basierende Marktinfrastrukturen und zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr600/ 2014 und (EU) Nr909/2014 sowie der Richtlinie 2014/65/EU, ABl L 151 vom 2.6.2022, S1.

16 KOM (2020) 593 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/TXT/?uri=CELEX%3A52020PC0593

17 KOM (2020) 595 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0595&from=DE

18 Siehe dazu Th. Barth/Natlacen, GesRZ2020, 299.

19 Verordnung (EU) Nr600/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr648/2012, ABl L 173 vom 12.6.2014, S84.

Stellungnahme der ESMA zur Inflation und zu den daraus resultierenden Risiken

Am 27.9.2022 veröffentlichte die ESMA eine Stellungnahme zur Inflation und den daraus resultierenden Risiken für den Finanzmarkt.20 Die Inflation ist in den letzten Monat durch eine Vielzahl von Faktoren, insb den Russland-Ukraine-Krieg, deutlich gestiegen. Dies berge Risiken für Haushalte, nicht nur für Güter des täglichen Lebens, sondern auch für Investments und Investmententscheidungen. Anleger seien sich mitunter der – auch langfristigen – Auswirkungen der Inflation nicht bewusst.

Die ESMA ruft daher dazu auf, bei der Beratung besonders auf diese Risiken hinzuweisen. Es sei darüber aufzuklären, dass die Inflation einen erheblichen Einfluss auf die Performance eines Finanzprodukts und die spätere Kaufkraft hat. Aufklärungsbedarf sieht die ESMA auch bei Finanzinstrumenten mit einer Kapitalgarantie oder einem Kapitalschutz. Anlegern sei häufig nicht bewusst, dass dies nicht vor der Inflation schützt.

Ferner warnt die EMSA davor, eine hohe Inflation durch ertragreichere Veranlagungen abzudecken. Anleger sowie Anbieter von Finanzprodukten müssen sich über das Verhältnis zwischen Ertrag und Risiko im Klaren sein. Die nationalen Aufsichtsbehörden seien aufgerufen, dies künftig verstärkt zu prüfen.

Arbeitsprogramm der EBA für das Jahr 2023 Am 29.9.2022 veröffentlichte die EBA ihr Arbeitsprogramm für das Jahr 2023.21 Im kommenden Jahr möchte sie den Fokus auf die folgenden Schwerpunkte legen:  Abschluss der Implementierung der Basel III-Vorschriften;  Abhaltung eines EU-weiten Stresstestes;

Zurverfügungstellung relevanter Daten;

Adressierung der Herausforderungen durch die Digitalisierung am Finanzmarkt;

Verstärkung der Bekämpfu ng von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.

Die Implementierung der Basel III-Vorschriften sei schon vorangeschritten. Um die aktuellen Herausforderungen bewältigen zu können und die Stabilität des Finanzsystems für künftigen Risiken sicherzustellen, soll die Umsetzung der noch ausstehenden Rechtsakte (technische Standards, Guidelines und Berichte) im Jahr 2023 abgeschlossen werden.

Außerdem soll ein EU-weiter Stresstest abgehalten werden. Auf Basis der Daten der bisherigen Stresstests beabsichtigt die EBA, vor dem Hintergrund der aktuellen makroökonomischen und geopolitischen Entwicklungen einen erweiterten Stresstest abzuhalten.

Ferner möchte die EBA die Zurverfügungstellung der relevanten Daten für alle Stakeholder weiter ausbauen. Der Fokus liege dabei auf der Platform „European Centralised Infrastructure for Supervisory Data“ (EUCLID). Diese soll eine Vielzahl von Informationen über den Bank- und Finanz-

20 ESMA35-43-3328, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/sites/default/ files/library/esma35-43-3328_public_statement_inflation.pdf

21 EBA/REP/2022/20, online abrufbar unter https://www.eba.europa.eu/sites/default/ documents/files/document_library/Publications/Reports/2022/1039834/2023%20 EBA%20Work%20Programme.pdf

248 5/2022

sektor zur Verfügung stellen, um allen Stakeholdern eine umfangreiche Datenanalyse zu ermöglichen.

Unter der Adressierung der Herausforderungen durch die Digitalisierung am Finanzmarkt versteht die EBA die notwendigen Schritte zur Einführung der Rechtsakte über Märkte für Kryptowerte (MiCA)22 sowie über die Betriebsstabilität digitaler Systeme des Finanzsektors (DORA).23 Wie in dieser Rubrik berichtet wurde, arbeitet die Europäische Kommission an einem „Digital Finance Package“. 24 Dieses beinhaltet mehrere Rechtsakte zur Digitalisierung des europäischen Finanzmarktes. Die EBA geht von der Implementierung der MiCA und der DORA im Jahr 2023 aus und möchte die entsprechenden Vorkehrungen treffen.

Darüber hinaus beabsichtige die EBA, auch künftig einen Fokus auf die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu legen. Sie möchte die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Aufsichtsbehörden verstärken und die entsprechenden Vorbereitungen für die Übertragung der Kompe-

tenzen auf die neu geschaffene Aufsichtsbehörde zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (AntiMoney Laundering Authority – AMLA)25 treffen.

Neues von der ESMA

Die ESMA hat folgende Q&A veröffentlicht bzw aktualisiert:

Zu „MiFID II and MiFIR commodity derivatives topics“: https://www.esma.europa.eu/sites/default/files/library/ esma70-872942901-36_qas_commodity_derivatives.pdf.

Zu „MiFID II and MiFIR market structures topics“: https:// www.esma.europa.eu/sites/default/files/library/esma70872942901-38_qas_markets_structures_issues.pdf

Zur Crowdfunding-Verordnung: https://www.esma. europa.eu/sites/default/fi les/library/esma35-42-1088_ qas_crowdfunding_ecspr.pdf.

Zur Marktmissbrauchsverordnung: https://www.esma. europa.eu/sites/default/fi les/library/esma70-145-111_ qa_on_mar.pdf

5/2022 249 Unternehmensrecht aktuell
22 Siehe FN 16. 23 Siehe FN 17. 24 Th. Barth/Natlacen, GesRZ2020, 299.
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25 KOM (2021) 421 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/TXT/?uri=CELEX:52021PC0421

Notariatsakt und materielle Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts auf dem Prüfstand

Empirische Grundlagen für die Reform des Gesellschaftsrechts

LEA ZIEGER / WALTER DORALT*

Der vorliegende Beitrag enthält die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Frage, wie sich Notariatsaktspflicht und materielle Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts zueinander verhalten und ob diese Doppelung des Rechtsschutzes wirklich notwendig ist.1

*1

I.Neue Kapitalgesellschaft, Hybridlösung oder Reform der GmbH und AG?

An dieser Stelle soll nicht allgemein die bereits bekannte Diskussion zu den Reformüberlegungen neu aufgerollt werden.2 Weitgehend anerkannt ist ein erheblicher Reformstau im österreichischen Kapitalgesellschaftsrecht. Dazu gehören etwa die Themenbereiche der Gestaltungsfreiräume, insb im Aktienrecht (Satzungsstrenge), Fragen der Gründung, des Mindestkapitals und der Kapitalerhaltung, die Flexibilisierung der Anteilsklassen und Mitarbeiterbeteiligungsprogramme mit unterschiedlichen oder ohne Stimmrechte uam. Ob die ursprünglich geplante Einführung einer neuen Gesellschaftsform oder aber eine Reform des GmbH- und Aktienrechts umgesetzt werden oder doch alles beim Status quo bleibt, ist nicht absehbar. Gesichert scheint nur, dass eine teilweise polarisierende rechtspolitische Debatte zu einzelnen der angesprochenen Fragen und zur Grundsatzentscheidung der Reform überhaupt entstanden ist. Die – legitimen oder zumindest nachvollziehbaren – Sonderinteressen einzelner Gruppen haben sich in diesem Prozess intensiv Gehör verschafft. Bisherige Positionen teilen dabei aber meist einen gemeinsamen Schwachpunkt: die nicht hinreichende empirische Basis für manche der in den Diskurs eingebrachten Behauptungen und für einige der rechtspolitischen Argumente. Diesen lückenhaften Bereich soll der folgende Beitrag ergän-

* Maga Lea Zieger, BA hat an der Universität Graz Rechtswissenschaften studiert und ist juristische Mitarbeiterin in einer Grazer Rechtsanwaltskanzlei. Univ.-Prof. Dr. Walter Doralt lehrt am Institut für Zivilrecht, Ausländisches und Internationales Privatrecht der Universität Graz.

1 Diesem Beitrag liegt eine Recherche zugrunde, die die Erstautorin als Exkurs im Rahmen ihrer Diplomarbeit (Universität Graz 2022) erstellt hat.

2 Vgl Adler/Klaffner, Zur Schaffung einer neuen Rechtsform: Erwägungen und ausgewählte Diskussionslinien, ecolex 2022, 101; N. Arnold, Austria Limited oder echte Reform? GesRZ2020, 297; Artmann, Austrian Limited oder die Reform des Gesellschaftsrechts, SWK 2021, 722; Auer, Reform des Gesellschaftsrechts: Formpflicht bei der GmbH, NZ2021, 522; Auer/Harrer/Rüffler, GmbH Neu, NZ2021, 521; Drobnik, 9. Wiener Unternehmensrechtstag. Diskussion zu den Vorträgen von Sonja Bydlinski und Chris Thomale, in Kalss/U. Torggler, Reform des Gesellschaftsrechts (2022) 43; Walter Doralt/Keyvan Rastegar/Gelter/Conac/Katharina Rastegar/ Edmund Schuster, Austrian Limited: Die Pläne zur flexiblen Kapitalgesellschaft und die Reform des Gesellschaftsrechts, GesRZ2021, 120; Kalss, Das Firmenbuch – wichtige Infrastruktur für eine Marktwirtschaft, GesRZ2020, 365; Reich-Rohrwig/Kinsky/ Kraus, Austrian Limited (2021); Riss/Winner/Wolfbauer, Starthilfe für Start-ups oder bessere Finanzierung für alle? ZFR 2021, 477; Rüffler, Austrian (un)Limited, GES2020, 349; ders, Reform des Gesellschaftsrechts: Firmenbuch und Gläubigerschutz, NZ2021, 526; ders, Flexible Kapitalgesellschaft und GmbH-Novelle, in Kalss/U. Torggler, Reform des Gesellschaftsrechts (2022) 113; Thomale, Rechtsvergleichende Anmerkungen zur Austrian Limited, in Kalss/U. Torggler, Reform des Gesellschaftsrechts (2022) 9; U. Torggler, Brauchen wir eine Austrian Limited? RdW 2021, 1; Werdnik, Die Austrian Limited – Regelungskonzept einer neuen Kapitalgesellschaftsform, Aufsichtsrat aktuell 2021, 90.

zen; es ist ein Anfang, keine finale Antwort. Dennoch lassen sich bereits auf Grundlage der hier veröffentlichten Analyse manche rechtspolitischen Schlüsse ziehen. Im Folgenden soll es von den vielen angesprochenen Bereichen um den wohl umstrittensten gehen, nämlich um die Gründung und konkret um die Fragen der notariellen Formpflichten vor der materiellen Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts.

II.Streitstand (bisher weitgehend) ohne empirische Grundlagen 1.Einleitung

In der Literatur wurden besonders die Vor- und Nachteile der Notariatsaktspflicht in der jüngeren Vergangenheit iZm den Reformüberlegungen erneut intensiv und kontrovers diskutiert. Das Problem scheint fast zur Glaubensfrage mutiert zu sein; verständlich ist das für den betroffenen Berufsstand der Notare,3 ebenso allenfalls noch für die Rechtspfleger und Richter der Firmenbuchgerichte, vielleicht nicht in gleicher Weise für die Stimmen aus der Wissenschaft.

Zu bedenken ist dabei allgemein, dass nicht nur aufgrund von nachvollziehbaren Wünschen von Gründern die Rechtslage entsprechend einfacher für die Gründungsprozesse geordnet werden soll; vielmehr sind einfachere Gründungsvorschriften ein wesentlicher Schlüssel zur Erleichterung unternehmerischer Tätigkeiten.4

2.Notariatsakt als umstrittene Pflicht bei der Gesellschaftsgründung

2.1.Ziele

Das Erfordernis der Notariatsaktspflicht und die Frage der Entbürokratisierung wurden immer wieder diskutiert. Befürworter des Notariatsaktes sehen ihn im Hinblick auf seine Warnfunktion5 sowie die den Notaren auferlegte Beratungsund Belehrungspflicht6 als unabdingbar an. Außerdem ist er ein Instrument, das rechtswidrige Satzungsbestimmungen sowohl im Interesse der Gesellschafter als auch Dritter elimi-

3 Personenbezogene Bezeichnungen in diesem Beitrag beziehen sich immer auf Angehörige aller Geschlechter. Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet.

4 Siehe dazu die Nachweise bei Walter Doralt ua, GesRZ2021, 124 FN 46.

5 Ch. Nowotny, Zweck und Sinnhaftigkeit des Notariatsakts bei der GmbH-Gründung, AnwBl 2002, 255; Rüffler, GES2020, 350.

6 Ch. Nowotny, AnwBl 2002, 255ff; Auer, NZ2021, 522.

250 5/2022 Gesellschaftsrechtsreform

nieren soll. Die Formpflicht ist somit streitvermeidend und schützt Individuen sowie die Allgemeinheit. Weiters gewährleistet der Notariatsakt Rechtssicherheit und wahrt die Richtigkeit des Firmenbuchs; er dient damit auch dem öffentlichen Interesse.7

2.2.Digitalisierung und Online-Gründung

Mit §69b Abs4 und §90a NO bringt die digitale Gründung glücklicherweise die Möglichkeit einer Beschleunigung und Flexibilisierung bei der Gründung,8 weil die physische Anwesenheitspflicht der Gründer nicht mehr zwingend erforderlich ist. Damit kommt die NO nun auch im 21. Jahrhundert an. Auch bei nicht digitaler Gründung war aber eine persönliche Anwesenheit der Gründer keine absolute Voraussetzung für die Errichtung des Notariatsaktes: Sie können und konnten sich auch durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen (Spezialvollmacht; §4 Abs3 Satz 2 GmbHG),9 wodurch allerdings weitere Kosten für den Vertreter bzw Rechtsanwalt anfallen.

2.3.Kosten

Betont wird auch, die Kosten des Notariatsaktes seien überhaupt zu vernachlässigen und ihre Abschaffung würde außerdem einen erhöhten Beratungsbedarf durch Rechtsanwälte auslösen.10 Dem mag man allerdings entgegenhalten, dass die Kosten des Notariatsaktes eine Gründung immer belasten, der erhöhte Beratungsbedarf hingegen wohl nur einzelne kompliziertere Fälle treffen würde.

2.4.Geldwäscheprävention

Die Notariatsaktspflicht soll außerdem helfen, Geldwäsche hintanzuhalten; in Umsetzung der 4. Geldwäsche-Richtlinie11 sind Notare gem §36a Abs1 Z3 NO verpflichtet, ua bei Gesellschaftsgründungen alle Geschäfte besonders sorgfältig zu prüfen. Hat ein Notar einen Verdacht, Kenntnis oder eine berechtigte Annahme, dass Geldmittel ua aus Geldwäscherei stammen oder dieser dienen, muss er gem §36c Abs1 NO den BMI informieren.12

2.5.Bewertung

Kritiker der Notariatsaktspflicht zeigen sich diesen Argumenten gegenüber skeptisch, vor allem hinsichtlich des Schutzes der Gesellschafter. Zum einen, weil die Parteien den Vertragstext meist selbst mit Unterstützung von Rechtsanwälten vorbereiten; zum anderen, weil die persönliche Anwesenheit aufgrund der bereits erwähnten Möglichkeit, bevollmächtigte Vertreter bei der Errichtung des Notariatsaktes einzusetzen, nicht notwendig ist.13 Aus diesen beiden Punkten ergibt sich,

7 Artmann, SWK 2021, 724.

8 Rüffler, GES2020, 350.

9 Feltl/Aicher in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §4 Rz59.

10 Rüffler, GES2020, 350.

11 Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission, ABl L 141 vom 5.6.2015, S73.

12 Glaser, Checkliste zur Verdachtsmeldung an die Geldwäschemeldestelle für Rechtsanwälte und Notare, ZWF 2021, 224; vgl auch Artmann, SWK 2021, 724.

13 Feltl/Aicher in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §4 Rz59.

dass Notare die von §52 NO bezweckten Aufklärungspflichten im Falle der Abwesenheit der Gründer diesen gegenüber gar nicht erfüllen können:14 Der bevollmächtigte Rechtsanwalt benötigt hingegen die persönliche Aufklärung idR wohl nicht. Außerdem hat das Firmenbuchgericht eine formelle und materielle Prüfpflicht, die die Notwendigkeit des Notariatsaktes per se infrage stellt. Vorgeschlagen wurde daher, dass der Notariatsakt zumindest bei Gründungen, für die Standardformulare als Grundlage zum Einsatz kommen, wegfallen könnte. Denn bei solchen Gründungen dürfte eine Kontrolle der Notare verzichtbar sein.15

Gegen die Formpflicht spricht allgemein, dass sie Zeit in Anspruch nimmt und die Gründer jedenfalls mit Kosten belastet.16 Der gelegentlich diesem Standpunkt entgegengehaltene Hinweis, die Kosten seien überschaubar, oder etwa jener, ohne Notariat fielen andere (Beratungs-)Kosten an, geht am Problem vorbei: Einerseits fehlen empirische Hinweise auch für solche Bewertungen und die Qualifikation als „überschaubar“ mag von Person zu Person unterschiedlich sein. Jedenfalls aber sind unnötige Kosten, selbst wenn sie gering sein sollten, rechtspolitisch fragwürdig und zu vermeiden. Wo also mit standardisierten Formularen etwa eine gesetzeskonforme Gründung erfolgt, muss die Frage nach dem Bedarf der Notariatsaktspflicht für die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit gestellt werden. Sie ist dann nicht mehr zu begründen. Ob Notariate in dem Kontext günstig oder teuer agieren, kann dann nicht entscheidend sein. Auch das Argument, die notarielle Formpflicht sei zur Vermeidung späterer Streitigkeiten und Beratungsbedürfnisse zwingend erforderlich, kann nur beschränkt überzeugen: Jeder Vertrag, der formfrei geschlossen werden darf, würde vielleicht durch zwingende rechtliche Beratung noch verbessert; das verlangt die Rechtsordnung gerade nicht allgemein. Es ist eine Abwägung der Parteien zwischen Ex-ante- und Ex-post-Kosten, wie sie in der ökonomischen Literatur seit Langem untersucht und diskutiert wird.17 Wenn also eine Notariatsaktspflicht begründet werden soll, müssen erhebliche Interessen vorliegen, idR auch öffentliche Interessen oder solche, wo es um Nachteile für Dritte geht und nicht nur für die Parteien selbst.

Ein derartiges Interesse, auf das regelmäßig verwiesen wird, ist die Prävention von Geldwäsche. Auch dieses Argument steht indes auf dünnem Eis: Rechtsvergleichend fällt auf, dass in anderen europäischen Rechtsordnungen (wie etwa Dänemark oder Frankreich) keine Notariatsaktspflicht besteht; dennoch sind diese Länder nicht als Geldwäscheparadiese bekannt. Auch innerhalb der österreichischen Rechtsordnung und im Rahmen der geltenden Rechtslage leisten aber die Notariate bei der Gesellschaftsgründung (oder sonst) kaum je einen Beitrag zur Geldwäscheprävention. Das sollte den Notariaten nicht unbedingt zum Vorwurf gemacht werden, aber es ist eine empirische Tatsache, die man nicht ohne Weiteres wegdiskutieren kann: Geldwäsche wird in der Praxis ganz vorrangig von Banken verhindert. Aufgrund der Rege-

14 Walter Doralt ua, GesRZ2021, 121.

15 Adler/Klaffner, ecolex 2022, 104; vgl auch Pflügl, Streit um Start-up-Gründung ohne Notar, Der Standard vom 10.1.2022, online abrufbar unter https://www.derstandard.at/ story/2000132406178/streit-um-start-up-gruendung-ohne-notar (mit Verweis auf Kalss).

16 Walter Doralt ua, GesRZ2021, 126; weiters §5 Abs8 NTG; aA Umfahrer in https:// www.youtube.com/watch?v=F37C3tbq_s8, ab 11:20.

17 Dazu näher Walter Doralt, Langzeitverträge (2018) 142.

5/2022 251 Gesellschaftsrechtsreform

lungen bei der Kontoerrichtung prüfen Banken auch für neue Konten einer neuen Gesellschaft mittlerweile völlig routinemäßig, ob Geldwäscheverdacht besteht. Konkret gingen im Jahr 2020 exakt 4.356 Verdachtsmeldungen zu Geldwäsche beim Bundeskriminalamt ein. Davon kamen 4.106 von Banken, 21 von Notaren und 14 von Rechtsanwälten. Die Bedeutung der von Banken durchgeführten Geldwäscheprüfung deckt damit über 94% der Fälle ab und die übrigen 6% gehen teils noch auf Meldungen aus der Anwaltschaft zurück.18 Darin muss kein Versagen der rechtsberatenden Berufe gesehen werden. Naheliegend erscheint als Erklärung, dass Banken für die Geldwäscheprävention eine deutlich bessere Position haben. Wie sollte ein Notar bei einem Grundstückskaufvertrag oder einer Gesellschaftsgründung im Einzelnen konkret prüfen, ob Geldwäsche im Raum steht? Nur bei evidenten Fällen wird das für einen Notar naheliegen. In der Tat ist es daher nicht verwunderlich, dass praktisch idR im Notariat zusätzliche Formulare zur Abfrage und Dokumentation zwar berücksichtigt werden, eine eigene vertiefte Prüfung von Geldflüssen, Kontoständen und Ursprüngen der Finanzmittel aber vom Notariat kaum in gleicher Weise wie von einer Bank erwartet werden kann. Nur bei relativ klaren bzw offensichtlichen Problemfällen wird sich dem Notariat oder der Rechtsanwaltskanzlei ein Verdacht aufdrängen (müssen).

III.Empirische Analyse der Verbesserungsaufträge 1.Zielsetzung

Ziel war es, für die Frage, wie sich Notariatsaktspflicht und materielle Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts zueinander verhalten und ob diese Doppelung des Rechtsschutzes notwendig ist, eine erste empirische Grundlage zu erschließen.19 Für die rechtspolitische Diskussion ist zu evaluieren, ob die materielle Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts gerechtfertigt und erforderlich ist, nachdem Notare rechtswidrige Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag schon zuvor eliminieren sollten und im Rahmen der Notariatsaktspflicht für die Gesetzesmäßigkeit der Anmeldung sorgen.

2.Sample der Verbesserungsaufträge

Konkret wurden Verbesserungsaufträge des LGZ Graz analysiert. Ausgewertet wurden 129 Verbesserungsaufträge aus den Monaten Jänner (56 Verbesserungsaufträge), August (33 Verbesserungsaufträge) und Oktober 2021 (40 Verbesserungsaufträge), erlassen von vier Abteilungen im Rahmen von GmbH-Eintragungen.20 Die Auswahl der Monate erfolgte nach Hinweisen des Firmenbuchgerichts, wonach üblicherweise Jänner und Oktober als besonders intensive Monate zu verzeichnen sind; zusätzlich wurde ein Monat mit typischerweise etwas geringerer Aktivität dazugenommen (August).21

Aus den Verbesserungsaufträgen war nicht immer klar ableitbar, ob sich diese auf vereinfachte Gründungen iSd §9a

18 BMI, Lagebricht Geldwäscherei 2020 (2021) 27, online abrufbar unter https:// www.bundeskriminalamt.at/308/files/Lagebericht_Geldwaescherei_2020_WEB_ 20211028.pdf

19 Zur Kritik an der Doppelung des Rechtsschutzes siehe Adler/Klaffner, ecolex 2022, 104; Walter Doralt ua, GesRZ2021, 126.

20 Anzumerken ist dazu, dass es 18 weitere Verbesserungsaufträge des Gerichts gab, diese aber den Autoren nicht vorliegen und diese 18 folglich auch nicht berücksichtigt sind.

GmbHG oder Gründungen, für welche die Notariatsaktspflicht einzuhalten war, beziehen.

Der Inhalt von 31 Verbesserungsaufträgen bezog sich allerdings auf einen Gesellschaftsvertrag und auf die Notariatsaktspflicht nach §4 Abs3 GmbHG. Die im Folgenden präsentierten Ergebnisse resultieren nur aus der Untersuchung solcher Gründungen. Außerdem ist anzumerken, dass bei den 31 Verbesserungsaufträgen insgesamt 67 Verbesserungsgründe vorlagen; es ist also in vielen Fällen ein Verbesserungsauftrag aus mehreren Gründen erteilt worden (durchschnittlich knapp über zwei Gründe pro Verbesserungsauftrag).

Dieses hier ausgewertete Sample ist geografisch und zeitlich beschränkt. Insoweit können daraus folgend nicht zuverlässig Schlüsse mit einem Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit erhoben werden. Eine Ausweitung der empirischen Grundlagen auch auf andere Gerichte und größere Zeiträume wäre dafür sinnvoll. Allerdings bringt die hier vorgelegte Erhebung – trotz ihren Beschränkungen – immerhin eine –soweit ersichtlich – neue empirische Dimension in die laufende Diskussion ein.22

3.Gründe der Verbesserungsaufträge

Um die Analyse zu erleichtern, wurden die Inhalte der Verbesserungsaufträge in folgende Kategorien zusammengefasst:

Firmenwortlaut;

Sitz der Gesellschaft bzw deren Anschrift;

Verstöße gegen §10 GmbHG;

Nichteinhaltung der in §50 GmbHG verankerten Mehrheitserfordernisse;

Informationen zu Gesellschaftern oder Geschäftsführern;  fehlende Nachweise über eine österreichische oder EUStaatsbürgerschaft, eine Aufenthaltsbewilligung, eine Beschäftigungsbewilligung, einen Befreiungsschein oder einen Feststellungsbescheid gem §2 Abs4 Z2 AuslBG;  Verstöße gegen sonstige Gesetzesbestimmungen;  zu hoch angesetzter Ersatz für Gründungskosten im Gesellschaftsvertrag;  Einreichung einer Erklärung über die Errichtung der Gesellschaft;

21 Im Jahr 2021 gab es insgesamt 1.502 GmbH-Gründungen, die beim LGZ Graz zur Eintragung angemeldet wurden. Leider liegen den Autoren für die hier als Sample zugrunde gelegten Monate die jeweiligen Zahlen der in dem Monat erfolgten Eintragungen nicht vor. Folglich kann das Verhältnis der Verbesserungsaufträge zu den eingebrachten Anträgen überhaupt nicht genannt werden. Im Durchschnitt bedeutet die Gesamtzahl der eingetragenen Gründungen aus 2021 monatlich zirka 125 Eintragungen. Die in der Literatur gelegentlich genannte Quote von zirka einem Drittel Verbesserungsaufträge (im Verhältnis zu den Anträgen) scheint aber plausibel: Nimmt man auf Grundlage des Durchschnitts von 125 Anträgen pro Monat für einen „schwachen“ Monat nur 100 Anträge an, für einen „starken“ Monat hingegen etwa 150 bis 160, so ergeben die Verbesserungsaufträge der drei ausgewerteten Monate eine Quote zwischen zirka 25 und 37%. Gewiss sollte dieser Aspekt, also das Verhältnis Anträge insgesamt zu Verbesserungsaufträgen, aber in weiteren Untersuchungen aufgearbeitet werden.

22 Siehe auch bereits mit früheren Daten KMU Forschung Austria/RPCK | Rastegar Panchal, Analyse der Rahmenbedingungen, Hemmnisse und Hindernisse für innovative Unternehmensgründungen in Österreich (2017), online abrufbar unter https://www.rat-fte.at/files/rat-fte-pdf/publikationen/2017/1803_Rahmenbedingungen %20Innovative%20Gruendungen.pdf. In dieser Studie wird auf S32 für GmbHs auf eine Eintragungsdauer nach der Firmenbuchanmeldung von drei bis 47 Werktagen, im Durchschnitt 16 Werktage, verwiesen. Die Grundlage dafür bildet eine Befragung von Experten; zur Frage der Dauer bis zur Eintragung auch bereits Kalss, GesRZ2020, 365 (unter Berufung auf die Auskunft der Präsidentin des HG Wien; dies ist also eine Selbsteinschätzung dieses Gerichts). Auf eine Dauer von zirka fünf Tagen verweist auch Umfahrer, Das österreichische Firmenbuch – ein Vorzeigeprojekt, in S. Bydlinski/Wittmann-Tiwald, 300 Jahre staatliche Handelsgerichtsbarkeit (2018) 69 (70), allerdings ohne empirische Nachweise.

252 5/2022 Gesellschaftsrechtsreform

 fehlerhafte Beurkundungen durch Notare nach §51 GmbHG;  die Generalversammlung betreffende Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag;  Widersprüche innerhalb des Gesellschaftsvertrages oder sinnlose Bestimmungen;

andere Formfehler (wie die falsche Datierung des Notariatsaktes oder die fehlende Angabe des Tages, an dem der Gesellschaftsvertrag abgeschlossen wurde);  Nichtübereinstimmung zwischen dem Eintragungsbegehren und dem Gesellschaftsvertrag;  Unternehmensgegenstand und Sittenwidrigkeit eines Bestandteils des Gesellschaftsvertrages.

4.Gründe für die 31 Verbesserungsaufträge und Zuordnung zu den einzelnen Kategorien

4.1.Firmenwortlaut (sieben Verbesserungsaufträge) Hinsichtlich des Firmenwortlauts war die Erwartung, dass wenige Verbesserungsaufträge ergehen. Insgesamt wurde dies aber siebenmal bemängelt. Gründe dafür waren ua eine fehlende Unterscheidungsfähigkeit, ein irreführender Firmenwortlaut oder die Nichterfüllung der geforderten Kennzeichnungsfunktion. Dies ist überraschend, da der Notar die Gründer hinsichtlich der einzelnen Erfordernisse berät und die Bemängelung so im Vorhinein vermieden werden sollte. Hinsichtlich der Unterscheidungsfähigkeit des Firmenwortlauts muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass Notare nur begrenzt für diese Verbesserungsaufträge verantwortlich gemacht werden können.

4.2.Sitz der Gesellschaft, Anschrift (drei Verbesserungsaufträge)

Der Sitz der Gesellschaft bzw deren Anschrift wurde dreimal Inhalt von Verbesserungsaufträgen. Die Hintergründe waren, dass die Zustellanschrift zwei unterschiedliche Ortschaften enthielt, die Geschäftsanschrift falsch war oder überhaupt ein falscher Sitz angegeben wurde. Auch das ist überraschend. Allerdings muss beachtet werden, dass hier unter Umständen die Gründer falsche Angaben machen und die Richtigkeit nicht immer in der Hand des Notars liegt.

4.3.Stammkapital, Stammeinlage gemäß §10 GmbHG (vier Verbesserungsaufträge)

Verstöße gegen §10 GmbHG wurden viermal bemängelt. Auch dies ist überraschend, denn man würde erwarten, dass die Dokumente bzw Angaben zum Stammkapital oder zur Stammeinlage nicht verbesserungsbedürftig sind. Das Fehlen einer Bankbestätigung, eine Bezugnahme auf nicht vorliegende Bankbestätigungen, die Nichtübereinstimmung zwischen den zur Eintragung angemeldeten Stammeinlagen mit den im Gesellschaftsvertrag genannten sowie der Verstoß gegen §10 Abs1 GmbHG müssten Notaren auffallen.

Die Nichteinhaltung der 14-tätigen Maximalfrist bei der §10 Abs3 GmbHG-Erklärung23 ist hingegen wohl nicht notwendigerweise dem Notar anzulasten.

4.4.Mehrheitserfordernisse gemäß §50 GmbHG (drei Verbesserungsaufträge)

Gegen in §50 GmbHG verankerte Mehrheitserfordernisse wurde dreimal verstoßen. Zu erwarten wäre gewesen, dass kein derartiger Verbesserungsbedarf besteht, weil diese Fehler vom Notar als Rechtsberater beseitigt werden müssten. Konkret gab es Verbesserungsbedarf in Bezug auf §50 Abs1 GmbHG, der die Mehrheitserfordernisse bei der Abänderung des Gesellschaftsvertrages regelt, und §50 Abs3 GmbHG, der sich auf die Abänderung des Unternehmensgegenstands bezieht.

4.5.Angaben zu Gesellschafte rn und Geschäftsführern (10 Verbesserungsaufträge)

Hinsichtlich der Informationen zu Gesellschaftern oder Geschäftsführern wurde erwartet, dass – wenn überhaupt –ausschließlich Tippfehler zu verbessern sind. 10-mal wurden aber unrichtige oder fehlende Angaben Inhalt der Verbesserungsaufträge.

Falsche Geburtsdaten oder Anschriften liegen zwar vermutlich vorrangig in der Verantwortung der Gründer, allerdings haben auch Nachweise von akademischen Graden gefehlt oder die Geschäftsführer wurden zweimal (einmal im Gesellschaftsvertrag und einmal durch Beschluss) bestellt. In diesen Fällen hätte der Notar die Fehler erkennen müssen und so Verbesserungsaufträge vermeiden können.

4.6.Staatsbürgerschaft, Aufenthaltsbewilligung, Beschäftigungsbewilligung (zwei Verbesserungsaufträge)

Die Aufforderung, Nachweise über eine österreichische oder EU-Staatsbürgerschaft, eine Aufenthaltsbewilligung, eine Beschäftigungsbewilligung, einen Befreiungsschein oder einen Feststellungsbescheid gem §2 Abs4 Z2 AuslBG vorzulegen, war zweimal Inhalt von Verbesserungsaufträgen.

Das ist überraschend, denn der Notar müsste seine Mandanten über die Notwendigkeit dieser Nachweise aufklären.

4.7.Gesetzesverstöße (11 Verbesserungsaufträge) Verstöße gegen verschiedenste Gesetzesbestimmungen wurden 11-mal bemängelt. Auch hinsichtlich dieser Kategorie ist erstaunlich, dass es bei den Verbesserungsaufträgen teils um ganz offenkundige Fehler ging. Dazu zählte etwa der Verstoß gegen §82 GmbHG (Einlagenrückgewähr) oder gegen die Möglichkeit, im Gesellschaftsvertrag weitere Auflösungsgründe der Gesellschaft festzulegen (§84 Abs2 GmbHG). Die Problempunkte hätten von einem Notar erkannt werden sollen.

4.8.Zu hoch angesetzte Gründungskosten (fünf Verbesserungsaufträge)

Fünf Verbesserungsaufträge haben den im Gesellschaftsvertrag zu hoch angesetzten gewünschten Ersatz für Gründungskosten moniert. Die Erwartung war, dass es diesbezüglich keinen Verbesserungsbedarf geben würde, da die Kriterien vom OGH geklärt sind.24

24

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23 U. Torggler in U. Torggler, GmbHG (2014) §10 Rz29 (mit Verweis auf Szöky, Die Neueintragung der GmbH – häufige Fehler, NZ2006, 87 [89]); vgl auch RIS-Justiz RS0059543. Vgl OGH 11.9.2003, 6 Ob 103/03w.

4.9.Errichtungserklärung statt Gesellschaftsvertrag (zwei Verbesserungsaufträge)

Zwei an das Firmenbuchgericht gerichtete Anträge haben die Erklärung über die Errichtung der Gesellschaft betroffen, obwohl ein Gesellschaftsvertrag notwendig gewesen wäre. Hier kann Notaren kein Vorwurf gemacht werden, da diese Anträge mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Gründern selbst eingereicht wurden.

4.10.Fehlerhafte Beurkundung gemäß §51 GmbHG (zwei Verbesserungsaufträge)

Fehlerhafte Beurkundungen durch Notare nach §51 GmbHG wurden zweimal Inhalt von Verbesserungsaufträgen. Dies ist einigermaßen überraschend, da zu erwarten war, dass die durch den Notar durchgeführte Beurkundung keinen Verbesserungsbedarf in dieser Hinsicht aufweisen würde.

Konkret war eine zum ergänzenden Antrag eingereichte Beurkundung fehlerhaft und eine andere stimmte nicht mit dem Gesellschaftsvertrag überein.

4.11.Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages zur Generalversammlung (vier Verbesserungsaufträge)

Hinsichtlich der Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages, die die Beschlussgegenstände der Generalversammlung, den Zeitpunkt der Beschlussfassung und die Anwesenheitserfordernisse betrafen, gab es vier Verbesserungsaufträge. Auch hier sind die Mängel überraschend. Die Kategorie ist elementar für die GmbH und Notare müssten insoweit besonderes Augenmerk auf die Richtigkeit der Bestimmungen legen.

4.12.Widersprüche innerhalb des Gesellschaftsvertrages, sinnlose Bestimmungen (sieben Verbesserungsaufträge)

Besonders interessant sind Verbesserungsaufträge, die aufgrund von Widersprüchen innerhalb des Gesellschaftsvertrages oder sinnlosen Bestimmungen ergangen sind. Diesbezüglich gab es die Erwartung, dass auf die Widerspruchslosigkeit und Sinnhaftigkeit der Gesellschaftsverträge besonderer Wert gelegt wird. Dennoch wurde dies siebenmal bemängelt, wobei in der Satzung sogar auf Gesetze, die seit Jahren nicht mehr in Kraft sind, Bezug genommen wurde und der Gesellschaftsvertrag intern auf Bestimmungen verwiesen hat, die er nicht enthielt.

4.13.Formfehler, Datierung (zwei Verbesserungsaufträge)

Formfehler wurden zweimal bemängelt: wegen der falschen Datierung des Notariatsaktes und des Fehlens des Abschlusstages des Gesellschaftsvertrages. Diese Fehler sind zwar leicht zu vermeiden und fallen in die Verantwortung des Notars, sie können aber ohne großen Aufwand bereinigt werden und sind daher von untergeordneter Bedeutung.

4.14.Nichtübereinstimmung des Eintragungsbegehrens mit dem Gesellschaftsvertrag (drei Verbesserungsaufträge)

Drei Verbesserungsaufträge hatten die Nichtübereinstimmung zwischen dem Eintragungsbegehren und dem Gesell-

schaftsvertrag zum Inhalt, so bspw Widersprüche im Hinblick auf die Gesellschafterstellung oder die Vertretungsbefugnis. Nachdem das Eintragungsbegehren nicht notwendigerweise vom Notar eingereicht werden muss, kann aus diesen Verbesserungsaufträgen kein Fehlverhalten der Notare abgeleitet werden.

4.15.Unternehmensgegenstand (ein Verbesserungsauftrag)

Der Unternehmensgegenstand wurde nur einmal bemängelt, weil dieser den Handel mit Finanzprodukten betraf. Dafür war eine – in diesem Fall nicht vorliegende – Zustimmung der FMA erforderlich. Die Erwartung war, dass der Unternehmensgegenstand nicht Inhalt der Verbesserungsaufträge ist, da er als Kerninhalt des Gesellschaftsvertrages gilt und die Notare daher besonderen Wert auf dessen Richtigkeit legen müssten. Die Tatsache, dass nur ein Verbesserungsauftrag einen fehlerhaften Unternehmensgegenstand zum Inhalt hatte, spricht dafür, dass dies idR auch gründlich und zuverlässig gemacht wird.

4.16.Sittenwidrigkeit des Gesellschaftsvertrages (ein Verbesserungsauftrag)

Ein Verbesserungsauftrag hat die Sittenwidrigkeit eines Bestandteils des Gesellschaftsvertrages betroffen. Dies war wiederum überraschend, denn solche Mängel sollten durch die Beiziehung eines Notars verhindert werden.

IV.Grafische Darstellung

In einem ersten Schritt werden hier die Verbesserungsaufträge insgesamt angeführt. Dabei sind sowohl Verbesserungsaufträge für Eintragungsbegehren aufgrund vereinfachter Gründungen und von Gründungen unter Mitwirkung von Notaren erfasst (siehe Abbildung 1).

Für diesen Teil ist (aus den Verbesserungsaufträgen) nicht klar ableitbar, ob die Gründungen mit oder ohne Notar erfolgten; denn es ist zu bedenken, dass die vereinfachte Gründung ohne Notar erfolgen kann, aber nicht muss. Teilweise werden Gründer möglicherweise auch bei vereinfachten Gründungen Notare beigezogen haben. Die Gesamtzahl der hier zuerst erfassten Verbesserungsaufträge beläuft sich auf 129. Demnach sind die mit Abstand häufigsten Problembereiche die Folgenden: 1.) Stammkapital und Stammeinlage, 2.) Gesellschafter bzw Geschäftsführer bzw Prokuristinnen (zB fehlende Unterschriften, Zustelladressen, Titel bzw Nachweis akademischer Grade, fehlerhafte Angaben), 3.) Verstoß beim Firmenwortlaut, 4.) Verstoß gegen Gesetzesbestimmungen (zB Verstoß gegen §82 GmbHG, nicht eintragungsfähige Schiedsklausel [§582 Abs1 ZPO], Geschäftsjahr mit 24 Monaten im Gesellschaftsvertrag vorgesehen, fehlende Angabe zum Geschäftszweig) und 5.) Begehren einer falschen Rechtssache zur Eintragung.

Nachdem Abbildung 1 alle analysierten Verbesserungsaufträge darstellt, bereitet Abbildung 2 jene auf, bei denen sicher ist, dass ein Notar mitgewirkt hat: Für diese 31 Fälle belegt der Verbesserungsauftrag eindeutig die Mitwirkung der Notariate.

254 5/2022 Gesellschaftsrechtsreform

Abbildung 1

Gesamtheit der Gründe für Verbesserungsaufträge

Bezugnahme auf einen Gesellschaftsvertrag

Abbildung 2

5/2022 255 Gesellschaftsrechtsreform 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45
0 2 4 6 8 10 12

Zur vereinfachten optischen Erfassung der einzelnen Gründe sind diese in beiden Abbildungen in gleicher Reihenfolge angeordnet (nicht also strikt ab- bzw aufsteigenden nach Häufigkeit).

V.Zusammenfassende Thesen

1. Die Analyse dieses – zugegebenermaßen kleinen – Samples von 31 Verbesserungsaufträgen, bei denen jedenfalls Notariate im Vorfeld mitgewirkt haben, belegt empirisch, dass das Firmenbuchgericht eine wichtige Prüfinstanz ist.

2. Insgesamt wurden trotz Notariatsaktspflicht 67 Verbesserungsgründe aus 16 verschiedenen Kategorien bemängelt. Wären im Rahmen der materiellen Prüfpflicht keine Verbesserungsaufträge ergangen, blieben diese Fehler unentdeckt.

3. Relevant ist die Nichtbereinigung dieser Fehler jedenfalls dann, wenn aus ihnen negative Auswirkungen auf den Rechtsverkehr resultieren:

3.1. Dies ist nicht immer der Fall: Fehler aus zwei Kategorien sind für Dritte wohl unproblematisch, nämlich Formfehler (zweimal Inhalt von Verbesserungsaufträgen) und die Anmeldung einer falschen Rechtssache zur Eintragung (zweimal Inhalt von Verbesserungsaufträgen).

3.2. Bei einer dritten Kategorie sind Auswirkungen auf den Rechtsverkehr teilweise möglich, nämlich bei widersprüchlichen Bestimmungen zwischen Eintragungsbegehren und Satzung (dreimal Inhalt von Verbesserungsaufträgen); problematisch kann das zB mit Blick auf die konkreten Vertretungsregelungen sein.

3.3. Alle anderen Kategorien sind für den Schutz von Gläubigern und Gesellschaftern durchaus relevant. Sie umfassen insgesamt 60 Verbesserungsgründe.

4. Die Analyse bietet somit eine klare Antwort auf die Frage der Notwendigkeit der materiellen Prüfpflicht: Im derzeitigen Regelungssystem ist diese erforderlich.

5. Dieser Befund ändert sich auch dann zumindest im Grundsatz nicht, wenn davon ausgegangen wird, dass einzelne Firmenbuchrichter und Diplomrechtspfleger besonders streng beim Erlassen von Verbesserungsaufträgen vorgehen.

6. Aus dem Ergebnis der Analyse lässt sich darüber hinaus empirisch ableiten, dass Notare in einem erheblichen Ausmaß weniger sorgfältig als vom Gesetzgeber erwartet gearbeitet haben.

7. Im Rahmen zukünftiger Reformen muss daher erwogen werden, bei der Notariatsaktspflicht anzusetzen. Jedenfalls stellt der Befund die geltende Rechtslage zur Notariatsaktspflicht infrage.

8. Auch der Berufsstand kann – ohne Reformen im Gesellschaftsrecht – die Fehlerquote möglicherweise noch weiter reduzieren.

9. Für die Gestaltung der Rechtslage (de lege ferenda) ist auch zu überlegen, wie die Kosten für den Notariatsakt gesenkt werden könnten. Das gilt insb mit Blick auf den aktuell erkennbaren qualitativen Verbesserungsbedarf.

10. Eine vollkommene Abschaffung der Notariatsaktspflicht könnte zur Überlastung der Firmenbuchgerichte führen, da voraussichtlich noch mehr fehlerhafte Gesellschaftsverträge bei den Gerichten eingereicht würden.

11. Außerdem übernehmen Notare im Rahmen der Gründung Aufgaben, von denen Gründer gewiss auch profitieren. Zu denken ist hier vor allem an die unparteiliche Beratung. Soweit allerdings darin ein für die Gründer relevanter Vorteil gesehen wird, spricht natürlich auch in Zukunft nichts dagegen, dass die Gründer diese Beratung kostenpflichtig in Anspruch nehmen.

12. Eine Lösung für das Dilemma könnte die bereits erwähnte Einführung von Standardverträgen sein:25

12.1. Soll die Kostenbelastung im Gründungsstadium gesenkt werden, ohne die Rechtssicherheit zu gefährden, ist zu überlegen, für einfache Gründungen von der Notariatsaktspflicht abzugehen.

12.2. Stattdessen könnten Standardverträge zur Verfügung gestellt und Gründern könnte Einsicht in Datenbanken hinsichtlich bestehender und damit nicht zur Verfügung stehender Firmennamen gewährt werden.

12.3. Die Prüfung durch das Firmenbuch würde die Rechtssicherheit garantieren.

13. Allgemein gibt es immer wieder von Notaren und Rechtsanwälten den Hinweis, dass die Praxis der Firmenbuchgerichte bei den Firmenbezeichnungen oft regional erhebliche Unterschiede aufweist. Dieses Problem könnte und sollte entschärft werden:

13.1. In Betracht kommen eine weitere Liberalisierung der Rechtslage zum Firmenrecht.

13.2. Eine Konzentration der Zuständigkeit auf ein Firmenbuchgericht ist zu erwägen.

13.3. Alternativ könnte eine Eintragung auch vorbehaltlich der Prüfung der Firma vorläufig erfolgen.

13.4. Bedacht werden sollte dabei, dass allgemein die Leistungen der Firmenbuchgerichte – internationalen Standards entsprechend – noch stärker in die Richtung von Dienstleistungen weiterentwickelt werden.26

13.5. Um dem Risiko der Überlastung der Firmenbuchgerichte entgegenzuwirken, wäre auch eine Anpassung der Gebührenstruktur zu erwägen: Deutlich erhöhte Gebühren für Verbesserungsaufträge könnten Anreize zu sorgfältiger Vorbereitung stärken und die Kostenbelastung auch zielgerichtet jenen Gründern zuweisen, deren Eingaben mehr Aufwand beim Firmenbuchgericht (Verbesserungsauftrag) auslösen.

13.6. Damit sollten deutliche, klare und für nicht juristisch ausgebildete Gründer verständliche Informationen einher-

25 So bspw Pflügl, Der Standard vom 10.1.2022 (unter Berufung auf Kalss); Adler/ Klaffner, ecolex 2022, 104.

26 Siehe dazu insb OECD, Supporting businesses through better access to justice (im Erscheinen), Briefing 29 und 36, demnächst online abrufbar unter https:// www.oecd.org/governance/global-roundtables-access-to-justice. Von der OECD ist dieses Dokument im Status eines „Briefings“ eingeordnet, insoweit also besonders relevant und nicht lediglich als „Report“ vorgesehen.

256 5/2022 Gesellschaftsrechtsreform

gehen, welche Schritte im Rahmen der Gründung exakt zu beachten sind. Vorbildlich ist diesbezüglich England.27

13.7. Bei anspruchsvollen Gründungen ohne Musterverwendung könnte der Notariatsakt dennoch beibehalten werden. In diesen Fällen bleibt eine mögliche Rechtfertigung die Warn- und Aufklärungsfunktion. Zwar mag fraglich sein, ob diese mit zwingendem Recht aufgedrängt werden muss, jedenfalls aber wird ein Zwang bei komplexeren Vorgängen etwas leichter begründbar bleiben als für Standardgründungen mittels Muster.

27 So veröffentlichte das UK Companies House etwa sogar eine „customer charter“; siehe https://www.gov.uk/government/publications/companies-house-customer-charter/ companies-house-customer-charter. Es werden dort auch eine Reihe an Services zu Daten und sogar Webinare zur Information und Schulung angeboten.

VI.Fazit und Ausblick

Für die Frage der Reform bleibt zu wünschen, dass neben dem oft direkten Einfluss beteiligter Berufsgruppen mit Sonderinteressen auch die empirischen Grundlagen und rechtsvergleichende Befunde angemessen berücksichtigt werden. Beides sollte normalerweise am Anfang einer Reformdiskussion und nicht im Anschluss an die Ausarbeitung von Entwürfen erschlossen und genutzt werden: Die Reihenfolge der Arbeitsschritte ist im Interesse einer methodisch sinnvoll strukturierten und effizienten Reformdiskussion keine Nebensächlichkeit. Denn eine Reise erst nachträglich mit dem Kompass auf ihre Effizienz hin zu bewerten, birgt das Risiko, unnötige, aber bereits gemachte Umwege oder Hindernisse erst (zu) spät erkennbar zu machen; auch sinnvolle alternative Routen werden dann unter Umständen übersehen. Insoweit ist die bislang ausgebliebene Umsetzung der Reformüberlungen vielleicht auch eine Chance zur nochmaligen Überprüfung des Kurses.

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5/2022 257 Gesellschaftsrechtsreform

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Privates Wirtschaften im Interesse von Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik und Nachhaltigkeit

Der vorliegende Beitrag stellt grundsätzliche Überlegungen zur Wirtschaftspolitik und Unternehmensführung im öffentlichen Interesse (insb Umweltschutz und nachhaltiges Wirtschaften) an.

I.Einleitung

Entsprechend dem Handlungsprogramm der EU für das 21. Jahrhundert „Der europäische Grüne Deal“ 1 hat die Europäische Kommission einen Richtlinienentwurf über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit ihres Wirtschaftens vorgelegt.2 Nach diesem Entwurf sollen auch Umweltschutz, die Achtung von Menschenrechten und nachhaltiges Wirtschaften in der Wertschöpfungskette durch die Schaffung neuer Sorgfaltspflichten von Geschäftsführungsorganen von Unternehmen gefördert werden.

Die internationale politische Diskussion zu Inflation und verstörenden Preisentwicklungen (besonders am Energiemarkt) beschäftigt sich in den letzten Monaten ua intensiv mit dem ökonomischen Problem der Preisfestsetzung auf unvollständigen Märkten. Die Staaten und/oder die EU werden von vielen aufgefordert, diese Probleme mithilfe wirtschaftspolitischer und/oder rechtlicher Maßnahmen zu lösen.3 Die politischen Forderungen verschiedener Gruppen zu diesen Themen stoßen bei manchen auf Unverständnis, gehen manchen zu weit, für andere sind sie viel zu zurückhaltend.

Eine solche Situation ist für Zeiten, in denen sich die internationale und die nationale Wirtschaftspolitik wesentlich verändern, typisch. Wirtschaftsrechtliche Vorschriften müssen dann an neue wirtschaftspolitische Vorgaben angepasst werden. In der Diskussion über derartige Maßnahmen tauchen immer wieder bekannte Argumentationsmuster auf.

II.Wirtschaftspolitik

und öffentliches Interesse

Kalss hat vor Kurzem in dieser Zeitschrift überzeugend dargelegt, dass nachhaltiges Wirtschaften immer im öffentlichen Interesse liegt und dass Geschäftsführungsorgane bereits nach geltendem österreichischem Gesellschaftsrecht im Rahmen ihrer unternehmerischen Entscheidungen auch das öffent-

* Univ.-Prof. Dr. Hanspeter Hanreich ist an der Universität Wien für Wirtschaftsrecht habilitiert und Consultant am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien.

1 KOM (2019) 640 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/TXT/?uri=COM%3A2019%3A640%3AFIN

2 KOM (2022) 71 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:52022PC0071&from=EN; dazu in diesem Heft Ehgartner, Der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie über Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen, GesRZ2022, 261.

3 Siehe https://www.sn.at/politik/innenpolitik/politik-im-ewigen-preiskampf-amtlicheregelungen-im-historischen-rueckblick-118826458; https://www.arbeiterkammer.at/ interessenvertretung/wirtschaft/energiepolitik/Factsheet_Preisgesetz_Heizoel-undTreibstoffe.pdf; https://orf.at/stories/3286242; https://www.sn.at/wirtschaft/oester reich/sprit-preiskommission-hat-arbeit-aufgenommen-127378441

liche Interesse berücksichtigen müssen. Nach Umsetzung einer europäischen „Nachhaltigkeitsrichtlinie“ in Österreich wären die Geschäftsführungsorgane daher auch dazu verpflichtet, bei betrieblichen Entscheidungen diese Komponente des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen.4

Die Bestimmung des Inhalts eines umfassenden öffentlichen Interesses in allen seinen Teilen ist jedoch die eigentliche Herausforderung sowohl bei konkreten Unternehmensentscheidungen als auch bei der behördlichen Vollziehung wirtschaftsrechtlicher Normen.

Vor Jahrzehnten habe ich den vielfältigen Zusammenhang zwischen wirtschaftspolitischen Aufgabenstellungen und wirtschaftsrechtlichen Normen anhand des Beispiels des österreichischen Wettbewerbsrechts und der österreichischen Wettbewerbspolitik zwischen zirka 1870 und 1990 dargestellt und analysiert.5 Diese Arbeit ist nun elektronisch im IHS Repository wieder zugänglich.6 Die umfangreiche Untersuchung erfolgte jedoch nicht primär aus historischem Interesse, sondern vor allem deshalb, um neue Ansätze zur Interpretation und Vollziehung von Wettbewerbsrecht anzubieten, aber auch deshalb, um die Begrenztheit mancher Lösungsansätze zu demonstrieren.

Im Rahmen dieser Arbeit habe ich versucht, eine Methode zur Auslegung unbestimmter wirtschaftsrechtlicher Gesetzesbegriffe (wie die damals rechtlich zulässige „volkswirtschaftliche Rechtfertigung“ von Wettbewerbsbeschränkungen) zu entwickeln. Kurz zusammengefasst kam ich zum Ergebnis, dass eventuell zulässige Wettbewerbsbeschränkungen im Hinblick auf die jeweils politisch anerkannten wirtschaftspolitischen Ziele, die aus öffentlichem Interesse erreicht werden sollen, beurteilt werden müssen. Die wirtschaftspolitischen Elemente des öffentlichen Interesses sollten dazu, wie ich ausführlich darstellte, aus der juristischen und wirtschaftlichen Analyse einer Palette von Vorschriften einschlägiger Gesetze und Verordnungen gewonnen werden.

Diese Methode kann besonders dann angewandt werden, wenn grundsätzliche Veränderungen der Wirtschaftspolitik eine Änderung wirtschaftsrechtlicher Vorschriften verursachen. Der politische Prozess, der mit dem Beitritt Österreichs zur

4 Kalss, Nachhaltigkeit: Die präziser werdenden Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, GesRZ2022, 49.

5 Im Habilitationsverfahren 1989 unter dem Titel „Wertewandel im Wettbewerbsrecht“ vorgelegt.

6 Hanreich, Die „volkswirtschaftliche Rechtfertigung“ von Wettbewerbsbeschränkungen im österreichischen Wirtschaftsrecht 1870 – 1990 (1989, Neuauflage 2021), online abrufbar unter https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/5935/1/hanreich-2021-wettbwerbs beschraenkungen-im-oesterreichischen-wirtschaftsrecht.pdf

258 5/2022 Nachhaltigkeit

EU zum 1.1.1995 seinen Abschluss fand, führte zB auch zu einer Änderung der österreichischen Wirtschaftspolitik. Im Zentrum der österreichischen Wirtschaftspolitik stand damals die Vorbereitung der Wirtschaft auf den Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt. Infolge der geänderten Wirtschaftspolitik kam es zu signifikanten wirtschaftsrechtlichen Reformen. Ein Paket neuer Gesetze, von denen hier das Kartellgesetz 1988, das Preisgesetz 1992 und das WettbewerbsDeregulierungsgesetz, BGBl 1992/147, hervorgehoben werden sollen, wurde erlassen. Alle Erläuterungen zu diesen Gesetzen enthielten ausführliche Hinweise auf die im Hinblick auf einen EU-Beitritt veränderte österreichische Wirtschaftspolitik.7

Die europäische und die österreichische Politik und Wirtschaft haben sich in den letzten Jahren wiederum schnell verändert. Eine neue europäische Wirtschaftspolitik erfordert auch neue unionsrechtliche Regeln. Diese Veränderungen müssen in die mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften und Rechtssysteme eingepasst und in den nationalen Rechtsordnungen umgesetzt werden. Rechtsvergleichung und die Kenntnis historischer Rechtsvorschriften können solche Transformationsprozesse erleichtern und verbessern. Die umfassende und systematische Kenntnis der jeweiligen nationalen Rechtsordnung ist selbstverständlich die Basis, neue rechtspolitische Aufgaben zu bewältigen.

III.Unternehmensführung und öffentliches Interesse

Der Vorstand einer AG ist durch das Gesetz ausdrücklich verpflichtet, bei seinen unternehmerischen Entscheidungen auch dem öffentlichen Interesse zu dienen. Der Geschäftsführer einer GmbH muss bei seinen betrieblichen Entscheidungen im öffentlichen Interesse stehende Gesetzesvorschriften einhalten. In welchem Umfang einzelne Elemente des öffentlichen Interesses aber konkrete Geschäftsführungsentscheidungen bestimmen müssen, ist abstrakt kaum darzustellen. Beispiele können dazu beitragen, einen Eindruck von Art und Umfang dieser Verpflichtung näherzubringen.

Kalss hat zB zum Begriff der „Nachhaltigkeit“ des Wirtschaftens ein Beispiel aus der historischen österreichischen Wirtschafts- bzw Forstwirtschaftspolitik und aus dem historischen Forstrecht gewählt, um eine Verbindung zu besonderen Sorgfaltspflichten, die in einer europäischen „Nachhaltigkeitsrichtlinie“ normiert werden sollen, herzustellen.8

Weitere Beispiele können mit einem Blick auf das historische österreichische Wettbewerbsrecht und das Unionsrecht zu Wettbewerbsbeschränkungen gefunden werden: Vor der Übernahme des EU-Wettbewerbsrechts in das österreichische Recht konnte ein Unternehmer eine Beschränkung des Wettbewerbs zwischen ihm und einem oder mehreren anderen Unternehmen in Erwägung ziehen, wenn er überzeugt war, dass sie volkswirtschaftlich zu rechtfertigen wäre. Die beabsichtigten Beschränkungen des Wettbewerbs mussten angemeldet und vom Kartellgericht genehmigt werden.

7 Eine Zusammenfassung dieses Reformvorgangs und weiter gehende Verweise bietet meine Artikelserie in der ÖZW: Hanreich, Das neue österreichische Wettbewerbsund Preisrecht (Teil I), ÖZW 1992, 33; ders, Das neue österreichische Wettbewerbsund Preisrecht (Teil II), ÖZW 1994, 33; ders, Das neue österreichische Wettbewerbs- und Preisrecht (Teil III), ÖZW 1994, 65.

8 Kalss, GesRZ2022, 49; dies, Forstrecht (1990) 32.

Die Sozialpartner sprachen als Paritätischer Ausschuss im Kartellverfahren in einem Gutachten aus, ob eine geplante Maßnahme volkswirtschaftlich zu rechtfertigen wäre.9 Die Durchführung einer genehmigten Wettbewerbsbeschränkung durch die Unternehmen war dann im öffentlichen Interesse.

Die Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Interessen, um Beschränkungen des Wettbewerbs zwischen Unternehmen zu rechtfertigen, ist unter Geltung des Unionsrechts nicht zulässig. Im Interesse der EU sind jedoch begrenzte und durch Normen genau bestimmte Ausnahmen vom Verbot der Beschränkung des Wettbewerbs schon seit Schaffung des EWGV möglich.10 Adressaten dieser Normen sind primär die in der EU tätigen Unternehmen. Unternehmen, die das Wettbewerbsrecht der EU respektieren, dienen mit ihren Geschäftsführungsmaßnahmen auch dem Funktionieren des europäischen Binnenmarkts und damit dem europäischen öffentlichen Interesse.

Sowohl das historische Beispiel aus Österreich als auch das Beispiel aus dem geltenden Unionsrecht sind aus einem weiteren Gesichtspunkt interessant. Beide Möglichkeiten zulässiger Wettbewerbsbeschränkungen konnten bzw können in einem gewissen Umfang verhandelt werden – historisch in Österreich mit den Sozialpartnern, aktuell unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Durchführungsvorschriften und Leitlinien mit der Europäischen Kommission. Wirtschaftspolitische Ziele können eben auf verschiedenen Wegen erreicht werden; auch dafür muss das Wirtschaftsrecht Möglichkeiten bereithalten.

Ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang zwischen Wirtschaftspolitik und Unternehmensführung stellen staatliche Preisregelungsmaßnahmen dar. Jede behördliche Preisregelung setzt bestimmte Märkte außer Kraft und ist somit das letzte Mittel, um die Wirtschaft direkt zu beeinflussen.11 In Krisenzeiten werden von Politikern mit durchaus unterschiedlichem ideologischem Hintergrund Eingriffe des Staates in den Wettbewerb und in die unternehmerische Preisfestsetzung gefordert.12 Die Kriegswirtschaft machte zB staatliche Preiseingriffe notwendig. Solche Regelungen gehen regelmäßig mit Bewirtschaftungsmaßnahmen einher, da meist auch die für die Nachfrage bereitzuhaltende Menge einer Ware oder Dienstleistung bestimmt werden muss, wenn deren Preis behördlich festgelegt wird.

Viele Probleme, die bei der behördlichen Preisbestimmung selbst oder in deren Folge auftauchen, können anhand historischer Beispiele analysiert werden.13 Behördliche Preis-

9 Hanreich, Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen in K. Wenger, Grundriß des österreichischen Wirtschaftsrechts II (1990) 67 (77 und 82); ders, „Volkswirtschaftliche Rechtfertigung“, 178ff.

10 Von Anfang an wurde in Art85 Abs3 EWGV eine begrenzte Freistellungsmöglichkeit vom Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen vorgesehen. Die detaillierten Vorschriften, die diese Ausnahmemöglichkeit determinieren, und die kaum überschaubare Literatur und Rspr dazu brauchen hier nicht zitiert zu werden.

11 Hanreich, „Volkswirtschaftliche Rechtfertigung“, 285; ders, ÖZW 1994, 33ff.

12 Jüngst wurde auch in den Medien auf diese Tatsache hingewiesen; siehe zB https:// www.sn.at/politik/innenpolitik/politik-im-ewigen-preiskampf-amtliche-regelungenim-historischen-rueckblick-118826458

13 Bereits Pribram, Preisbildung und Recht, ZStR 1916, 199. Beachte den zeitlosen Hinweis Pribrams auf den „in der Überzeugung des Volkes“ tief verwurzelten naiven Glauben „an die Möglichkeit einer fast unbeschränkten Beherrschung des Wirtschaftslebens durch Verbot und Strafe“. Demgegenüber sei man sich aber klar geworden, „wie eng im Grunde die Grenzen sind, innerhalb derer sich ein Eingriff des Staates in das Wirtschaftsleben bewegen kann.“; vgl auch Hanreich, Die „Volkswirtschaftliche Rechtfertigung“, 285.

5/2022 259 Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit

regelungen oder andere Eingriffe in die unternehmerische Preissetzung werden von den Betroffenen letztlich immer angefochten.14 Dabei kann es um die rechtskonforme Vollziehung einfachgesetzlicher Normen oder um die Einhaltung von Verfassungs- bzw Grundrechten in einfachen preisregelnden Gesetzen und Verordnungen gehen.

Staatliche Preisregelungen greifen auch in die gesellschaftsrechtlichen Pflichten von Geschäftsführern ein. Die Entscheidung über die Höhe des von einem Vertragspartner verlangten Preises einer Ware oder Dienstleistung ist unbestritten eine der wichtigsten betriebswirtschaftlichen Aufgaben der Geschäftsführung. Sie entscheidet über geschäftlichen Erfolg oder Insolvenz eines Unternehmens. Daher müssen Eingriffe des Staates in diese Entscheidungen auch zu gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen führen. Das Ver-

14 Beispiel zur Rspr des VwGH: VwGH 16.6.1981, 1407/80, VwSlg 10.491 A/1981 = ÖZW 1981, 122 (Bernard); Beispiele zur Rspr des VfGH: VfGH 25.3.1954, G1/54, V 3/54 ua, VfSlg 2660/1954; 14.3.1964, G22/63, V 21/63, VfSlg 4662/1964; 17.3.1964, G18/63, V 16/63, VfSlg 4669/1964; 5.12.1973, V 14/73 ua, VfSlg 7220/ 1973 = ÖZW 1974, 124 (Bernard/Korinek); 12.12.1984, V 46/82, VfSlg 10.313/1984 = JBl 1985, 736 (Morscher).

hältnis von im öffentlichen Interesse wahrgenommenen Geschäftsführungspflichten zu den Rechten und Ansprüchen der Aktionäre und Gesellschafter steht dann auf dem Prüfstand.

IV.Ergebnis

Aus vielen Beispielen lässt sich somit als Ergebnis ableiten: Die Erfahrung zeigt, dass nur solche wirtschaftsrechtlichen Normen den gewünschten Erfolg herbeiführen können, die im Einklang mit der Verfassung und mit jeweils aktuellen wirtschaftspolitischen Vorgaben stehen. Maßgebliche Wirtschaftspolitik wird heute international bzw europäisch betrieben. Das bedeutet, dass nationales Wirtschaftsrecht auf dem Unions- und Völkerrecht aufgebaut werden muss. Beim sinnvollen Einbau solcher Normen in das nationale Recht kann, wie viele Beispiele zeigen, oft auch auf historische Erfahrungen zurückgegriffen werden, um passende Umsetzungslösungen zu finden bzw rechtspolitische Misserfolge zu vermeiden.

Der Rückzug von der Börse und seine Folgen

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Der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie über Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen

Seit geraumer Zeit wird auf nationaler und internationaler Ebene über die Verantwortlichkeit von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße entlang ihrer Lieferkette diskutiert. Die Europäische Kommission hat dieses Thema ebenfalls aufgegriffen und veröffentlichte im Februar 2022 einen Vorschlag für eine Lieferketten-Richtlinie, die umfangreiche Sorgfaltspflichten für große Unternehmen zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt vorsieht. Der folgende Beitrag stellt die wesentlichen Inhalte des Richtlinienvorschlags dar und identifiziert zugleich mögliche Risiken für die betroffenen Unternehmen.1

*1

I.Einleitung

Am 23.2.2022 veröffentlichte die Europäische Kommission den lang erwarteten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937 (Corporate Sustainability Due Diligence Directive),2 im Folgenden kurz: Richtlinienvorschlag. Sie schafft einen Rahmen, um den Beitrag der im Binnenmarkt tätigen Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte und der Umwelt in ihrer eigenen Geschäftstätigkeit und entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu fördern. Unternehmen sollen verpflichtet werden, die durch ihre Tätigkeit verursachten negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt zu ermitteln, zu verhindern, zu vermindern oder gänzlich abzustellen.3 Flankiert werden diese Sorgfaltspflichten durch ein umfangreiches Sanktionsregime, das auch eine zivilrechtliche Haftung vorsieht. Bemerkenswert ist, dass das Projekt zuvor zweimal vom Ausschuss für Regulierungskontrolle gestoppt worden war, ehe die Europäische Kommission den Richtlinienvorschlag publizierte.4

Bereits auf nationaler Ebene5 haben einige EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren Rechtsvorschriften zu Sorgfalts-

* Mag. Gernot Ehgartner ist Universitätsassistent am Institut für Zivilrecht der Universität Wien.

1 Der Beitrag ist im Rahmen des Forschungsprojekts „Kontinuität und Bestandsicherung von Familienunternehmen“ entstanden, das von der B&C Privatstiftung gefördert wird. Besonderer Dank gilt Univ.-Prof. Dr. Martin Schauer für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

2 KOM (2022) 71 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/resource.html? uri=cellar:bc4dcea4-9584-11ec-b4e4-01aa75ed71a1.0007.02/DOC_1&format=PDF; zur Entstehungsgeschichte vgl Birkholz, CSDD-E: Konkrete Sorgfaltspflichten für Unternehmen statt Vorgaben zur Sustainable Corporate Governance? DB 2022, 1306 (1307); Nietsch/Wiedmann, Der Vorschlag zu einer europäischen SorgfaltspflichtenRichtlinie im Unternehmbereich (Corporate Sustainability Due Diligence Directive), CCZ2022, 125 (125f).

3 Ausdrücklich KOM (2022) 71 endg, S3f.

4 Siehe KOM (2022) 71 endg, S25ff. Nicht zu verwechseln ist der hier besprochene Richtlinienvorschlag mit dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2013/34/EU, 2004/109/EG und 2006/43/EG und der Verordnung (EU) Nr537/2014 hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive), KOM (2021) 189 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021PC0189&from=DE; vgl dazu Baumüller, Vorbereitet für die Erstanwendung der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), DJA 2022, 25.

5 Zu den internationalen Bemühungen siehe Erwägungsgründe 5 bis 8 des Richtlinienvorschlags; P. Jung, Wertschöpfung in der Liefer- und Absatzkette? GPR 2022, 109 (109f); zu den Bemühungen auf EU-Ebene KOM (2022) 71 endg, S4ff; Spindler, Der Vorschlag einer EU-Lieferketten-Richtlinie, ZIP 2022, 765 (765f).

pflichten iZm Menschenrechten und Umweltschutz erlassen.6 Jüngstes Beispiel ist das in Deutschland beschlossene LkSG,7 das mit 1.1.2023 in Kraft tritt und deutsche Unternehmen dazu verpflichtet, in ihren Lieferketten menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten zu beachten.8 Andere EU-Mitgliedstaaten wiederum zeigten bisher keinerlei Bestrebungen, gleichwertige legislative Maßnahmen zu ergreifen. Mit der vorgeschlagenen Richtlinie soll die fragmentierte Rechtslage in der EU nun vereinheitlicht werden.9

In Österreich wird der Richtlinienvorschlag – anders als in Deutschland10 – vergleichsweise noch wenig diskutiert.11 Der nachstehende Beitrag versucht, diesen Umstand zu ändern, und gibt einen Überblick über den Inhalt des Richtlinienvorschlags mitsamt einer kritischen Würdigung.

II.Der Richtlinienvorschlag 1.Persönlicher Anwendungsbereich 1.1.Vorbemerkung

Art2 des Richtlinienvorschlags regelt den persönlichen Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags. Erfasst sind 1.) EU- und Drittstaatsunternehmen, 2.) die bestimmte Schwellenwerte erfüllen.

6 So etwa Frankreich (Loi relative au devoir vigilance des sociétés méres et des entreprises donneuses d’ordre, online abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr/jorf/id/ JORFTEXT000034290626) oder Niederlande (Wet zorgpflicht kinderarbeid, online abrufbar unter https://zoek.officielebekendmakingen.nl/stb-2019-401.html). Auf EUEbene wurden Sorgfaltspflichten in der Lieferkette bislang nur für kritische Sektoren verankert; vgl zB Verordnung (EU) Nr995/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über die Verpflichtungen von Marktteilnehmern, die Holz und Holzerzeugnisse in Verkehr bringen, ABl L 295 vom 12.11.2010, S23.

7 Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – LkSG), dBGBl I 2021, 2959.

8 Für einen Überblick siehe zB Thiede, Das deutsche LieferkettensorgfaltspflichtenG, ecolex 2021, 903; Heil, Menschenrechte in Lieferketten: Trend zur Verrechtlichung, WBl 2022, 438; ausführlich zum deutschen LkSG und zum Richtlinienvorschlag auch Spindler, ZIP 2022, 765ff.

9 Zu den Zielen des Richtlinienvorschlags vgl im Detail KOM (2022) 71 endg, S1ff, insb S4.

10 Siehe dazu die zahlreichen Nachweise in J. Schmidt, BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport zum Europäischen Unternehmensrecht 2021/22, BB 2022, 1859 (FN 10).

11 Siehe etwa Parsché, EU-Kommission: Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit, NR 2022, 225; Dünser-Rausch, Der Vorschlag der Kommission über Sorgfaltspflichten in der Lieferkette, DJA 2022, 64; im Überblick Heil, WBl 2022, 443f; allgemein zur zivilrechtlichen Haftung für Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferkette Murko, Die Haftung österreichischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten, ÖJZ2022, 877.

5/2022 261 Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit

1.2.Unternehmensbegriff

Der Begriff „Unternehmen“ ist in Art3 lita des Richtlinienvorschlags näher erörtert und stellt primär auf die Rechtsform ab. Betroffen sind jene juristische Personen, die in Anhang I und II der Bilanzrichtlinie12 aufgelistet sind. Auch juristische Personen, die nach dem Recht eines Drittstaates gegründet wurden, sind erfasst, sofern sie mit den in Anhang I und II der Bilanzrichtlinie ausgeführten Rechtsformen vergleichbar sind. In Österreich unterliegen AGs, GmbHs und eingetragene Personengesellschaften iSd §189 Abs1 Z2 lita UGB dem Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags. Unabhängig von der Rechtsform sind auch bestimmte beaufsichtigte Finanzunternehmen erfasst, für die zum Teil besondere Regelungen gelten.

1.3.Größenklassen

Als zweites kumulativ zu erfüllendes Kriterium ist das Erreichen von bestimmten Schwellenwerten erforderlich. Der Richtlinienvorschlag unterscheidet zwischen vier Gruppen:  Gruppe 1: EU-Unternehmen, die im letzten Geschäftsjahr, für das ein Jahresabschluss erstellt wurde, im Durchschnitt mehr als 500 Beschäftigte hatten und einen weltweiten Nettoumsatz von mehr als 150Mio€ erzielten.  Gruppe 2: EU-Unternehmen, die im letzten Geschäftsjahr, für das ein Jahresabschluss erstellt wurde, im Durchschnitt mehr als 250 Beschäftigte hatten und einen weltweiten Nettoumsatz von mehr als 40Mio€ erzielten. Mindestens 50% dieses Nettoumsatzes müssen jedoch in bestimmten High-impact-Sektoren erwirtschaftet worden sein.13

Bei den High-impact-Sektoren handelt es sich um Branchen mit besonders hohem Schadenspotenzial.14 Welche Sektoren im Einzelnen erfasst sind, regelt Art2 Abs1 litb des Richtlinienvorschlags. Genannt werden etwa die Herstellung und der Großhandel mit Textilien, die Landund Forstwirtschaft, die Herstellung von Lebensmittelprodukten oder die Gewinnung und der Großhandel mit mineralischen Rohstoffen. Es zeigt sich, dass sich der Richtlinienvorschlag bei der Auswahl der High-impactSektoren daran orientiert, für welche Branchen die OECD bereits gesonderte Leitfäden für die Erfüllung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten veröffentlicht hat.15

Im Unterschied zu den EU-Unternehmen wird bei den Drittstaatsunternehmen auf einen Schwellenwert für die Anzahl der Beschäftigten verzichtet. Begründet wird dies damit, dass der Begriff „Beschäftigter“ auf dem Unionsrecht beruht und nicht ohne Weiteres außerhalb der EU umgesetzt werden könne. Andererseits fehlt es an einer klaren Methodik zur Ermittlung der Beschäftigten in Drittstaatsunternehmen.17 Die Sorgfaltspflichten sind für Drittstaatsunternehmen, die aufgrund ihres Umsatzes in den Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags fallen, nicht auf ihre Tätigkeit in der EU beschränkt.18

Klein- und Mittelunternehmen (KMU) sind zwar keine unmittelbaren Adressaten des Richtlinienvorschlags, können aber mittelbar durch sog Weitergabeklauseln ebenfalls zur Einhaltung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten verpflichtet werden.19

2.Regelungsgegenstand und Schutzgüter 2.1.Regelungsgegenstand und Reichweite der Sorgfaltsverpflichtungen Unternehmen sollen dazu verpflichtet werden, bei sich selbst und entlang ihrer Wertschöpfungskette (instruktiver: Lieferkette) menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten einzuhalten. Im Detail sind die Unternehmen sorgfaltspflichtig für

die eigene Geschäftstätigkeit;

die Geschäftstätigkeit ihrer Tochterunternehmen;  die Geschäftstätigkeit von Unternehmen, die Teil der Wertschöpfungskette sind und mit denen eine etablierte Geschäftsbeziehung unterhalten wird.

Gruppe 3: Drittstaatsunternehmen,16 die im vorletzten Geschäftsjahr einen Nettoumsatz von mehr als 150Mio€ erzielten.

Gruppe 4: Drittstaatsunternehmen, die im vorletzten Geschäftsjahr zwischen 40 und 150Mio€ erzielten sofern mindestens 50% des weltweiten Nettoumsatzes in High-impact-Sektoren erwirtschaftet wurden.

12 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, ABl L 182 vom 29.6.2013, S19.

13 Kritisch zu diesen Schwellenwerten L. Hübner/Habrich/Weller, Corporate Sustainability Due Diligence, NZG 2022, 644 (645f).

14 Erwägungsgrund 22 des Richtlinienvorschlags.

15 KOM (2022) 71 endg, S19; vgl auch Erwägungsgrund 22 des Richtlinienvorschlags. Die Liste der branchenspezifischen Leitfäden ist online abrufbar unter https://mne guidelines.oecd.org/sectors

16 Zur Rechtfertigung der Einbeziehung von Drittstaatsunternehmen siehe KOM (2022) 71 endg, S19f.

Der letzte Punkt bedarf einer näheren Betrachtung. Die Wertschöpfungskette erfasst gem der Legaldefinition in Art3 litg des Richtlinienvorschlags Tätigkeiten iZm der Produktion von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch ein Unternehmen, einschließlich der Entwicklung des Produkts oder der Dienstleistung und der Verwendung und Entsorgung des Produkts sowie der damit verbundenen Tätigkeiten im Rahmen vor- und nachgelagerter etablierter Geschäftsbeziehungen des Unternehmens. Der Begriff der Wertschöpfungskette ist denkbar weit ausgestaltet. Anders als das deutsche LkSG erfasst der Richtlinienvorschlag nicht nur die vorgelagerte Lieferkette bis zum Unternehmen (upstream),20 sondern er findet auch auf die nachgelagerte Wertschöpfungskette (downstream)21 Anwendung.22 Somit sind nicht nur

17 Vgl Erwägungsgrund 24 des Richtlinienvorschlags.

18 Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, Nachhaltigkeitsbezogene Sorgfaltspflichten in Geschäftsbeziehungen – zum Entwurf der EU-Kommission für eine „Lieferkettenrichtlinie“, BB 2022, 835 (836f); Hembach, Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen, CB 2022, 191 (194).

19 Siehe Pkt III.3.

20 Siehe Erwägungsgrund 18 des Richtlinienvorschlags: Gemeint sind der Entwurf, die Gewinnung, die Herstellung, die Beförderung, die Lagerung und die Lieferung von Rohstoffen, Produkten, Teilen von Produkten oder Dienstleistungen für das Unternehmen, die für die Ausübung der Tätigkeiten des Unternehmens erforderlich sind.

21 Siehe Erwägungsgrund 18 des Richtlinienvorschlags: Dazu zählt der Vertrieb des Produkts an Einzelhändler, der Transport und die Lagerung, die Demontage des Produkts sowie dessen Recycling, Kompostierung oder Deponierung; kritisch zur Erstreckung der Sorgfaltspflichten auf die Downstream-Lieferkette Bomsdorf/Blatecki-Burgert, Lieferketten-Richtlinie und Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, ZRP 2022, 141 (142).

22 J. Schmidt, BB 2022, 1860; Nietsch/Wiedmann, CCZ2022, 127; siehe zum deutschen LkSG Charnitzky/Weigel, Die Krux mit der Sorgfalt (Teil I), RIW 2022, 12 (13f); Heil, WBl 2022, 440.

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Zulieferer, sondern auch die Kunden des Unternehmens Teil seiner Wertschöpfungskette.

Die Sorgfaltspflichten innerhalb der Wertschöpfungskette sind jedoch auf die Geschäftstätigkeiten von Unternehmen (Zulieferern und Kunden) beschränkt, mit denen eine etablierte Geschäftsbeziehung besteht.

Unter einer Geschäftsbeziehung versteht der Richtlinienvorschlag gem Art3 lite „eine Beziehung zu einem Auftragnehmer, Unterauftragnehmer oder jedem anderen Rechtssubjekt (‚Partner‘), (i) mit denen das Unternehmen eine Geschäftsvereinbarung geschlossen hat ... oder (ii) die für das Unternehmen oder in dessen Namen mit den Produkten des Unternehmens zusammenhängende Geschäftstätigkeit ausüben“. Im Ergebnis zeigt sich, dass nach dem Wortlaut der Bestimmung wohl alle Tätigkeiten Dritter in Bezug auf die Produkte oder Dienstleistungen des Unternehmens vom Begriff „Geschäftsbeziehung“ erfasst sein können, unabhängig davon, ob eine vertragliche Beziehung besteht oder nicht.23 Mit anderen Worten: Der Unternehmer unterhält zu jedem Rechtssubjekt, das entlang seiner Wertschöpfungskette tätig ist, eine Geschäftsbeziehung. Das Vorliegen einer unmittelbaren vertraglichen Beziehung ist gerade nicht erforderlich. Eine präzise und sinnvolle Eingrenzung sieht mE anders aus.

Die Reichweite der Sorgfaltspflichten wird jedoch auf etablierte Geschäftsbeziehungen eingeschränkt. Etabliert ist die Geschäftsbeziehung dann, wenn sie in Anbetracht ihrer Intensität oder Dauer beständig ist oder sein dürfte und wenn sie keinen unbedeutenden oder lediglich untergeordneten Teil der Wertschöpfungskette darstellt (Art3 litf des Richtlinienvorschlags). Ob eine Geschäftsbeziehung als etabliert gilt, wird dabei regelmäßig, mindestens jedoch alle 12 Monate, neu bewertet (Art1 Abs1 letzter Satz des Richtlinienvorschlags). Im Detail bleiben aber viele Fragen offen: Wann ist eine Geschäftsbeziehung bedeutend, wann unbedeutend? Ab welchen Zeitpunkt gilt die Geschäftsbeziehung als beständig?24 Es scheint, dass die Legaldefinition aufgrund der von ihr verwendeten abstrakten Kriterien mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.25

Kryptisch ist auch die Formulierung, dass die etablierte Geschäftsbeziehung sowohl direkte als auch indirekte Geschäftsbeziehungen erfasst. Was genau der Richtlinienvorschlag unter einer indirekten Geschäftsbeziehung versteht, bleibt offen. Meines Erachtens ist aber aus dem systematischen Zusammenhang der Begriffsbestimmungen abzuleiten, dass es sich dabei um jene Geschäftsbeziehungen handelt, bei denen kein unmittelbares Vertragsverhältnis zwischen den Geschäftspartnern besteht.26 Wenn die direkte Geschäftsbeziehung eines Unternehmens als etabliert gilt, sollten zudem auch alle damit verbundenen indirekten Geschäftsbezie-

23 Vgl auch Spindler, ZIP 2022, 768; L. Hübner/Habrich/Weller, NZG 2022, 648.

24 Nach Spindler (ZIP 2022, 768) sind Transaktionen über Börsen oder spot markets keine etablierten Geschäftsbeziehungen, sodass der Unternehmer nicht verpflichtet ist, beim Rohstoffeinkauf über eine Börse zu eruieren, ob und wie der Lieferant Menschenrechte oder Umweltbelange verletzt hat.

25 Ebenso kritisch Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, BB 2022, 838; vgl auch J. Schmidt, BB 2022, 1862; P. Jung, GPR 2022, 118.

26 So im Ergebnis wohl auch Charnitzky/Weigel, Die Krux mit der Sorgfalt (Teil II), RIW 2022, 413 (416); vgl auch Patz, The EU’s Draft Corporate Sustainability Due Diligence Directive: A First Assessment, Business and Human Rights Journal 2022, 291 (292): „The Commission has attempted more clarity by proposing that ‚established‘ cover both direct (contractual) and indirect (non-contractual) relationships ...“

hungen als in Bezug auf dieses Unternehmen etabliert betrachtet werden.27

2.2.Beispiele

2.2.1.Vorbemerkung

Zwei Beispiele soll die soeben geschilderten Ausführungen und die damit verbundenen Problemstellungen veranschaulichen.

2.2.2.Beispiel 1

Die österreichische X. AG produziert Küchenmöbel und unterliegt dem Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags. Sie erhält seit Jahren mehrmals in der Woche umfangreiche Holzlieferungen vom Sägewerk der S. GmbH. Die S. GmbH wiederum bezieht das von ihr bearbeitete Holz von diversen Forstbetrieben, darunter auch von der ungarischen F. Kft. 28 Die Küchenmöbel werden von der X. AG im großen Stil an die deutsche Z. GmbH veräußert, die die Möbelstücke in ihren Filialen vertreibt. Übrig gebliebene Rest- sowie beschädigte Möbelstücke bringt die Z. GmbH zur weiteren Verwertung in die Entsorgung- und Recyclinganlage der R. KG. Für welche Unternehmen ist die X. AG sorgfaltspflichtig?

Unstrittig ist, dass sie zunächst dafür Sorge zu tragen hat, dass die Achtung der Menschenrechte und der Umweltbelange in der eigenen Geschäftstätigkeit gewährleistet wird. Auch für die Geschäftstätigkeit der S. GmbH (unmittelbarer Zulieferer) und der Z. GmbH (unmittelbarer Abnehmer) ist die X.AG sorgfaltspflichtig, weil anzunehmen ist, dass es sich um direkte etablierte Geschäftsbeziehungen im Rahmen der Wertschöpfungskette handelt.

Unklar ist mE die Beziehung zur F. Kft (mittelbarer Zulieferer) sowie zur R. KG (mittelbarer Kunde), zu denen kein unmittelbares Vertragsverhältnis besteht. Beide sind Teil der Wertschöpfungskette und erfüllen iwS mit den Produkten der X. AG zusammenhängende Geschäftstätigkeiten (Gewinnung des Rohstoffs, Entsorgung und Recycling der Möbel). Es handelt sich somit um indirekte Geschäftsbeziehungen,29 die wohl auch etabliert sind,30 sodass sich die Sorgfaltsverpflichtung der X. AG auch auf diese beiden Gesellschaften erstreckt. Für letzteren Punkt spricht auch Erwägungsgrund 20 des Richtlinienvorschlags, nach dem alle mit einer etablierten direkten Geschäftsbeziehung verbundenen indirekten Geschäftsverbindungen als etabliert zu betrachten sind.

Die Einbeziehung der indirekten Geschäftsbeziehungen sowie der gesamten Wertschöpfungskette stellt die betroffenen Unternehmen vor komplexen Herausforderungen. Insb die Nachverfolgung eines Produkts bis ans Ende seines Lebenszyklus erfordert ein umfangreiches und aufwendiges Monitoring-System, sofern eine solche Nachverfolgung praktisch überhaupt möglich ist.31

27 Erwägungsgrund 20 des Richtlinienvorschlags.

28 Korlátolt felelősségű társaság. Entspricht im Wesentlichen der GmbH.

29 In diese Richtung auch Charnitzky/Weigel, RIW 2022, 416, nach denen sich die indirekten Geschäftsbeziehungen auf mittelbare Geschäftspartner beziehen; so auch L. Hübner/Habrich/Weller, NZG 2022, 648.

30 Nach einem Teil der Lehre fallen aus der Definition der etablierten Geschäftsbeziehungen nur Geschäftsbeziehungen heraus, die belanglos sind, was im Beispielfall mE aber zu verneinen ist; siehe Charnitzky/Weigel, RIW 2022, 416.

31 Ebenfalls kritisch Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, BB 2022, 837f; vgl auch Brock, EU-Lieferkettengesetz – Was bringt der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur unternehmerischen Nachhaltigkeit mit sich? GmbHR 2022, R132 (R133); Birkholz, DB 2022, 1310.

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Nachhaltigkeit

2.2.3.Beispiel 2

Gleicher Sachverhalt wie in Beispiel 1, jedoch mit der Abwandlung, dass das Sägewerk der S. GmbH für die Bearbeitung des Holzes Spezialmaschinen verwendet, die vom chinesischen Unternehmen U. produziert, geliefert und montiert wurden. Wird die X. AG für das chinesische Unternehmen U. sorgfaltspflichtig?

Fraglich ist, ob das chinesische Unternehmen aus Sicht der X. AG überhaupt Teil seiner (vorgelagerten) Wertschöpfungskette ist. Aus dem Richtlinienvorschlag ergibt sich jedenfalls kein Argument, das ausdrücklich dagegensprechen würde. Vielmehr wird der Begriff „Wertschöpfungskette“ in Art3 litg des Richtlinienvorschlags sehr weit verstanden.32 Erfasst sind neben den Tätigkeiten iZm der Produktion von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen durch ein Unternehmen auch „damit verbundene Tätigkeiten im Rahmen vor- und nachgelagerter etablierter Geschäftsbeziehungen des Unternehmens“. Erwägungsgrund 18 des Richtlinienvorschlags konkretisiert diese Begriffsbestimmung: Bei den vorgelagerten Geschäftsbeziehungen geht es um den Entwurf, die Gewinnung, die Herstellung, die Beförderung, die Lagerung, die Lieferung von Rohstoffen, Produkten, Teilen von Produkten oder Dienstleistungen, die für die Ausübung der Tätigkeit des Unternehmens (hier: X. AG) erforderlich sind. Die Produktion und Lieferung von Spezialmaschinen für den unmittelbaren Zulieferer (das Sägewerk der S. GmbH) kann wohl als verbundene Tätigkeit hinsichtlich der Möbelproduktion der X. AG angesehen werden, weil es um die Herstellung von Teilprodukten (verarbeitungsfähiges Holz für die Produktion der Küchenmöbel) geht, die für die Ausübung der Tätigkeit der X.AG erforderlich ist. Ob ein solch weites Verständnis der Wertschöpfungskette noch iSd Erfinder ist, ist mE jedoch äußerst zweifelhaft. Denn das würde bedeuten, dass große Unternehmen für nahezu alle Tätigkeiten von Geschäftspartnern sorgfaltspflichtig werden, die Teil der Lieferkette sind. Hier bedarf es zwingend einer Klarstellung und Präzisierung, um ausufernde und praktische nicht mehr handhabbare Ergebnisse zu vermeiden.33

Von der Reichweite der Wertschöpfungskette zu trennen ist der Frage, ob die X. AG mit dem chinesischen Unternehmen U. überhaupt eine (indirekte) etablierte Geschäftsbeziehung führt, weil nur dann die Sorgfaltspflicht besteht. Auch hier bietet sich wieder ausreichend Auslegungsspielraum, weil der Richtlinienvorschlag den Begriff „etablierte Geschäftsbeziehung“ trotz Legaldefinition weitgehend unbestimmt lässt.

2.3.Die betroffenen Schutzgüter

2.3.1.Menschenrechte

und Umweltbelange

Die Sorgfaltspflicht besteht zunächst in Hinblick auf alle negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte. Welche Menschenrechte im Detail geschützt werden, wird in Art3 litc des Richtlinienvorschlags durch eine Reihe von Verweisen auf zahlreiche internationale Abkommen, die im Anhang zum Richtlinienvorschlag,34 namentlich Teil I Abschnitt 1 Z1 bis 20, aufgelistet sind, konkretisiert. Der Katalog reicht etwa

32 Vgl auch Erwägungsgrund 17 des Richtlinienvorschlags, wonach die Sorgfaltspflichten den „gesamten Lebenszyklus der Produktion“ abdecken sollen.

33 Vgl auch Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2022, 142, die ebenfalls praktische Bedenken hinsichtlich einer derart umfassenden Sorgfaltspflicht äußern.

vom Schutz der Kinderrechte über das Verbot der Zwangsarbeit bis hin zum Recht der freien Meinungsäußerung oder eines angemessenen Lohns. Ergänzt wird diese Auflistung durch eine weitreichende Auffangklausel (Teil I Abschnitt 1 Z21 des Anhangs zum Richtlinienvorschlag). Demnach ist auch der Verstoß gegen ein Recht oder Verbot, das sich aus den in Teil I Abschnitt 2 des Anhangs zum Richtlinienvorschlag aufgezählten Menschenrechtskonventionen ableitet, zu berücksichtigen, sofern die Verletzung zu einer unmittelbaren Beeinträchtigung eines durch diese Übereinkommen geschützten rechtlichen Interesses führt.35 Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass das betroffene Unternehmen die Gefahr einer solchen Beeinträchtigung sowie alle geeignete Maßnahmen nach vernünftigem Ermessen hätte feststellen können.36

Darüber hinaus bestehen die Sorgfaltsverpflichtungen der Unternehmen hinsichtlich aller negativen Auswirkungen auf die Umwelt. Welche Umweltbelange geschützt werden, wird in Art3 litb des Richtlinienvorschlags wieder durch eine Reihe von Verweisen auf internationale Übereinkommen, die in Teil II des Anhangs zum Richtlinienvorschlag aufgelistet sind, geregelt. Eine allgemeine Auffangklausel existiert –anders als bei den Menschenrechten – allerdings nicht.

Wie sich aus dem Richtlinienvorschlag ergibt, kommt es nicht darauf an, dass der Staat, in dem das Unternehmen angesiedelt ist, die Menschenrechte und Umweltbelange verletzt. Denn dies würde wohl zweifellos das Ende des globalen Handelns bedeuten. Es ist ausschließlich darauf abzustellen, ob der in der Wertschöpfungskette tätige etablierte Geschäftspartner im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit die Schutzgüter beeinträchtigt. Nach einem Teil der Lehre ist es zudem auch nicht einmal erforderlich, dass der Staat, in dem die Geschäftstätigkeit ausgeübt wird, den im Anhang zum Richtlinienvorschlag aufgelisteten internationalen Abkommen beigetreten ist. Vielmehr werden die Rechte und Verbote aus den einzelnen Abkommen durch den Richtlinienvorschlag zu eigenständigen unionsrechtlichen Rechtspositionen erhoben.37

Fraglich und weitgehend unbestimmt ist auch, welcher Maßstab für die Beurteilung zur Einhaltung der einzelnen Menschenrechte und Umweltbelange heranzuziehen ist.38 Folgendes Beispiel zum Recht auf gerechte und günstigste Arbeitsbedingungen einschließlich eines angemessenen Lohns (Teil I Abschnitt 1 Z7 des Anhangs zum Richtlinienvorschlag) veranschaulicht die Problematik:

Der österreichische Textilunternehmer X. AG lässt einen Teil seiner Ware durch seinen etablierten Geschäftspartner in China produzieren. Muss die X. AG gewährleisten, dass die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Mitarbeiter vor Ort österreichischen Standards entsprechen oder richtet sich die Beurteilung nach dem Recht des jeweiligen Beschäftigungsortes?

34 Online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:bc4dcea49584-11ec-b4e4-01aa75ed71a1.0007.02/DOC_2&format=PDF

35 Vgl auch Erwägungsgrund 25 des Richtlinienvorschlags; dazu sehr kritisch DAV, Stellungnahme zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der RL (EU) 2019/1937, NZG 2022, 909; siehe auch Spindler, ZIP 2022, 769.

36 Erwägungsgrund 25 des Richtlinienvorschlags.

37 Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, BB 2022, 839 (auch mit dem Hinweis auf etwaige Auslegungsschwierigkeiten).

38 Darauf hinweisend auch Spindler, ZIP 2022, 769.

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Die besseren Gründe sprechen mE für letzteren Fall.39 Das Outsourcen von Geschäftsprozessen erfolgt gerade vor dem Hintergrund, von den günstigen Arbeitsbedingungen in fremden Ländern zu profitieren. Dies betrifft vor allem niedrige Lohnund Lohnnebenkosten. Damit wird sichergestellt, dass die Ware zu einem erschwinglichen Preis dem Konsumenten angeboten werden kann. Müsste die X. AG dafür Sorge tragen, dass die Mitarbeiter des chinesischen Geschäftspartners den österreichischen Mindestlohn erhalten, so wäre der Vorteil der billigeren Lohn- und Lohnnebenkosten in der Produktion hinfällig und ein Outsourcen von Geschäftsprozessen in Niedriglohnländer obsolet.

2.3.2.Eindämmung

des Klimawandels

Art15 des Richtlinienvorschlags sieht zudem vor, dass Gruppe 1und Gruppe 3-Unternehmen einen Plan festzulegen haben, mit dem sie sicherstellen, dass das Geschäftsmodell und die Strategie des Unternehmens mit dem Ziel des Pariser Klimaübereinkommens40 hinsichtlich der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5° C vereinbar sind.41 Die Aufnahme dieser Bestimmung in den Richtlinienvorschlag wird im Schrifttum kritisiert, weil sie mit den Sorgfaltspflichten in der Wertschöpfungskette nichts zu tun hat. Insb lässt sich aus der Norm auch nicht ableiten, welche Maßnahmen der einzelne Unternehmer konkret zu setzen hat.42 Auch führt ein Verstoß gegen Art15 des Richtlinienvorschlags nicht zu einer zivilrechtlichen Haftung nach Art22 des Richtlinienvorschlags.

3.Die Sorgfaltspflicht der Unternehmen im Detail

3.1.Allgemeines

Das Kernstück des Richtlinienvorschlags bilden die einzelnen Sorgfaltspflichten des Unternehmens. Sie sind in Art4 des Richtlinienvorschlags überblicksartig zusammengefasst sind und werden in Art5 bis 11 des Richtlinienvorschlags näher ausgeführt.

Der Richtlinienvorschlag zielt nicht darauf ab, Unternehmen dazu zu verpflichten, sämtliche negativen Auswirkungen in Bezug auf Menschenrechte und Umweltbelange zu verhindern oder zu stoppen.43 Vielmehr sieht die Europäische Kommission sog Mittelverpflichtungen in Form eines mehrstufigen Systems vor. Das Unternehmen soll geeignete Maßnahmen44 ergreifen, die nach vernünftigem Ermessen zur Verhinderung oder Minimierung der negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte und Umweltbelange führen.45

3.2.Einbeziehung der Sorgfaltspflicht in die Unternehmenspolitik (Art5 des Richtlinienvorschlags)

Die Unternehmen sollen zunächst verpflichtet werden, die menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflicht in

39 Siehe dazu auch §2 Abs2 Z8 dLkSG, wonach sich der angemessene Lohn im Zweifel nach dem Recht des Beschäftigungsortes bemisst.

40 Online abrufbar unter https://unfccc.int/sites/default/files/english_paris_agreement.pdf

41 Dazu im Detail Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, BB 2022, 841f.

42 J. Schmidt, BB 2022, 1862f; Charnitzky/Weigel, RIW 2022, 419f; vgl auch kritisch P.Jung, GPR 2022, 120; Nietsch/Wiedemann, CCZ2022, 128f.

43 Siehe Erwägungsgrund 15 des Richtlinienvorschlags.

44 Zum Begriff „geeigneten Maßnahme“ siehe die Legaldefinition in Art3 litq des Richtlinienvorschlags; vgl auch Erwägungsgründe 29 und 32 des Richtlinienvorschlags.

45 Erwägungsgrund 15 des Richtlinienvorschlags.

alle Bereiche der Unternehmenspolitik einzubeziehen. Dies inkludiert die Entwicklung einer Strategie zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht, welche jährlich zu aktualisieren ist. Art5 Abs1 lita bis c des Richtlinienvorschlags konkretisiert die Anforderungen an diese Strategie.46

3.3.Ermittlung tatsächlicher und potenzieller negativer Auswirkungen (Art6 des Richtlinienvorschlags)

Darüber hinaus müssen Unternehmer der Gruppen 1 und 3 tatsächliche und potenzielle negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt ermitteln, die sich aus ihren eigenen Tätigkeiten, denen ihrer Tochterunternehmen und aus ihren etablierten Geschäftsbeziehungen ergeben. Was genau potenzielle negative Auswirkungen sind, lässt der Richtlinienvorschlag offen. Zu denken ist etwa an eine Art anlassbezogener Prognose, die der Unternehmer immer dann aufzustellen hat, wenn sich die Umstände in seiner eigenen Geschäftstätigkeit oder die der (etablierten) Geschäftspartner ändern. Beispielhaft erwähnt ist etwa der Bau einer neuen Produktionshalle, bei der die zukünftigen emissionsbedingten Auswirkungen auf die Umwelt ermittelt werden müssen. Letztendlich bestehen aber auch hier Auslegungsunsicherheiten.47 Die Ermittlungspflicht ist grundsätzlich auf Dauer angelegt und muss regelmäßig während der gesamten Tätigkeit bzw Geschäftsbeziehung durchgeführt werden.48 Beaufsichtigte Finanzunternehmen müssen die negativen Auswirkungen hingegen nur bei Vertragsbeginn ermitteln (Art6 Abs3 des Richtlinienvorschlags).

Für Gruppe 2- und Gruppe 4-Unternehmer sieht der Richtlinienvorschlag eine Erleichterung vor. Sie müssen nur jene tatsächlichen und potenziellen schwerwiegenden negativen Auswirkungen ermitteln, die für den jeweiligen Highimpact-Sektor relevant sind. Schwerwiegend sind die Auswirkungen dann, wenn sie auf die Umwelt oder die Menschenrechte besonders gravierend wirken, eine große Personenanzahl oder einen großen Bereich der Umwelt betreffen, irreversibel sind oder sich nur besonders schwer beheben lassen (Art3 litl des Richtlinienvorschlags).

3.4.Vermeidung potenzieller negativer Auswirkungen (Art7 des Richtlinienvorschlags)

Auf Grundlage der in Art6 des Richtlinienvorschlags durchgeführten Risikoermittlung müssen Unternehmen geeignete Maßnahmen ergreifen, um potenzielle negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt zu vermeiden oder die Auswirkungen angemessen abzuschwächen, wenn sie nicht vollständig vermieden werden können. Zur Durchführung dieser Sorgfaltspflicht sieht der Richtlinienvorschlag ein Drei-Stufen-Modell vor:  Stufe 1 ist in Art7 Abs2 des Richtlinienvorschlags näher geregelt: Unternehmen haben einen Präventionsaktionsplan auszuarbeiten und umzusetzen. Sie sollen anstreben, dass die Einhaltung des Präventionsaktionsplans und des Verhaltenskodex von direkten etablierten Geschäftspartnern vertraglich zugesichert wird. Direkte Geschäftspartner

46 Siehe auch Erwägungsgrund 28 des Richtlinienvorschlags.

47 Vgl Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, BB 2022, 839.

48 Siehe Erwägungsgrund 30 des Richtlinienvorschlags.

5/2022 265 Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit

sollen wiederum von ihren Partnern, die Teil der Lieferkette sind, entsprechende vertragliche Zusicherungen verlangen (Vertragskaskaden). Die vertraglichen Zusicherungen müssen von geeigneten Maßnahmen zur Überprüfung und Einhaltung begleitet werden (Art7 Abs2 litb iVm Abs4 des Richtlinienvorschlags). Weitere Maßnahmen sind die Vornahme von Investitionen, die darauf abzielen, negative Auswirkungen zu verhindern, die gezielte verhältnismäßige Unterstützung für KMU, mit denen eine etablierte Geschäftsbeziehung besteht, und die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen.49

Stufe 2 wird in Art7 Abs3 des Richtlinienvorschlags präzisiert: Reichen die bisherigen Maßnahmen nicht aus, kann das Unternehmen versuchen, einen Vertrag mit indirekten Geschäftspartnern abzuschließen, um die Einhaltung des Verhaltenskodex oder eines Präventionsaktionsplans zu erreichen. Auch hier sind geeignete Maßnahme zur Überprüfung und Einhaltung erforderlich (Art7 Abs3 iVm Abs4 des Richtlinienvorschlags).

Stufe 3 ist in Art7 Abs5 und 6 des Richtlinienvorschlags normiert: Im Hinblick auf potenzielle negative Auswirkungen, die mit den vorgesehenen Maßnahmen nicht vermieden oder abgeschwächt werden können, darf das Unternehmen mit dem Partner oder in der Wertschöpfungskette, von dem bzw der die Auswirkungen ausgehen, keine neuen Beziehungen eingehen bzw bestehende Beziehungen ausbauen. Als Ultima-ratio-Maßnahme50 müssen Unternehmer, sofern es das anwendbare Recht zulässt, die Geschäftsbeziehungen vorübergehend aussetzen oder gänzlich beenden, sofern die Auswirkungen schwerwiegend sind.51 Die EU-Mitgliedstaaten werden verpflichtet, entsprechende Kündigungsmöglichkeiten in ihren Rechtsordnungen zu etablieren, sofern die Verträge ihrem Recht unterliegen.

3.5.Behebung tatsächlicher negativer Auswirkungen (Art8 des Richtlinienvorschlags)

Haben sich die negativen Auswirkungen tatsächlich realisiert, so sind die Unternehmen verpflichtet, die negativen Auswirkungen zu beheben oder zumindest zu minimieren. Wie genau dabei vorzugehen ist, regelt Art8 des Richtlinienvorschlags wiederum in einem Drei-Stufen-Modell, das weitgehend jenem in Art7 des Richtlinienvorschlags entspricht und nur in Details abweichend geregelt ist:  Stufe 1 wird in Art8 Abs3 des Richtlinienvorschlags näher erläutert: Unternehmen werden verpflichtet, Schadenersatz an betroffene Personen und finanzielle Entschädigungen an betroffene Gemeinschaften zu leisten. Falls die negativen Auswirkungen nicht sofort abgestellt werden können, ist zudem die Ausarbeitung und Umsetzung eines Korrekturmaßnahmenplans erforderlich. Im Übrigen folgen die aufgezählten Maßnahmen jenen der Stufe 1 in Art7 des Richtlinienvorschlags: Erwähnt werden die Einholung vertraglicher Zusicherungen von direkten etablierten Geschäftspartnern zur Einhaltung des Korrek-

49 Vgl Erwägungsgrund 34 des Richtlinienvorschlags; zur Zusammenarbeit mit andern Unternehmen vgl Erwägungsgrund 37 des Richtlinienvorschlags (Branchen- und Multi-Stakeholder-Initiativen).

50 Vgl Erwägungsgründe 32 und 36 des Richtlinienvorschlags.

51 Vgl aber die Einschränkung für Finanzunternehmen in Art7 Abs6 des Richtlinienvorschlags.

turmaßnahmenplans einschließlich der Verpflichtung, dass sie ihrerseits von ihren Geschäftspartnern solche Zusicherungen verlangen (Vertragskaskaden), die Vornahme von Investitionen zur Behebung bzw Minimierung der Auswirkungen, die Unterstützung von KMU sowie die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen.

Die Maßnahmen der Stufen 2 und 3 (Art8 Abs4 bis 7 des Richtlinienvorschlags) entsprechen – bis auf wenige redaktionelle Änderungen – jenen in Art7 des Richtlinienvorschlags.

3.6.Begleitmaßnahmen (Art9 bis 11 des Richtlinienvorschlags)

Gem Art9 des Richtlinienvorschlags werden Unternehmen dazu verpflichtet, eine Beschwerdeverfahren einzurichten. Dadurch soll es betroffenen Personen, Gewerkschaften und andere Arbeitnehmervertretern sowie aktive Organisationen der Zivilgesellschaft (zB NGOs) ermöglicht werden, dem Unternehmen begründete Bedenken hinsichtlich negativer Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit, der Tätigkeit von Tochterunternehmen und ihrer Wertschöpfungskette mitzuteilen. Art10 des Richtlinienvorschlags verpflichtet die Unternehmen dazu, ihre Tätigkeit und Maßnahmen zur Umsetzung der Sorgfaltspflichten in Bezug auf Menschenrechte und Umwelt mindestens alle 12 Monate neu zu bewerten. Schließlich sollen Unternehmen, die zwar dem Anwendungsbereich dieses Richtlinienvorschlags, nicht aber Art19a und 29a der Bilanzrichtlinie52 unterliegen, öffentlich darüber berichten, wie sie ihre Sorgfaltspflichten erfüllen (Art11 des Richtlinienvorschlags).

4.Sanktionsregime

4.1.Vorbemerkung Ein weiteres Kernstück des Richtlinienvorschlags ist das umfangreiche zweigeteilte Sanktionsregime, das aus einer öffentlich-rechtlichen Durchsetzung und einer zivilrechtlichen Haftung besteht.

4.2.Öffentlich-rechtliche Durchsetzung (Art17 bis 21 des Richtlinienvorschlags)

4.2.1.Behördliche Aufsicht (Art17 und 21 des Richtlinienvorschlags)

Die EU-Mitgliedstaaten haben eine oder mehrere unabhängige Aufsichtsbehörden zu benennen, um die Überwachung der ordnungsgemäßen Umsetzung der Sorgfaltspflichten der Unternehmen sicherzustellen (Art17 Abs1 des Richtlinienvorschlags). Bei der Zuständigkeit ist zu differenzieren: Bei EU-Unternehmen ist die Aufsichtsbehörde jenes EU-Mitgliedstaates zuständig, in dem das Unternehmen seinen eingetragenen Sitz hat. Bei Drittstaatsunternehmen wird primär darauf abgestellt, wo das Unternehmen seine Zweigneiderlassung hat. Subsidiär gilt, dass sich die Zuständigkeit danach orientiert, wo das Drittstaatsunternehmen den größten Teil seines Nettoumsatzes in der EU erzielt hat (Art17 Abs2 und 3 des Richtlinienvorschlags).

Nach Art16 des Richtlinienvorschlags sind Drittstaatsunternehmen zudem verpflichtet, eine juristische oder natürliche Person als Bevollmächtigten zu benennen. Dieser muss

52 In Österreich durch §§243b und 267a UGB umgesetzt.

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in einem EU-Mitgliedstaat, in dem das Drittstaatsunternehmen tätig ist, niedergelassen oder ansässig sein. Damit soll die wirksame Beaufsichtigung und Durchsetzung der Sorgfaltspflichten in Bezug auf das Drittstaatsunternehmen sichergestellt werden.53 Nähere Anforderungen an den Bevollmächtigten werden nicht gestellt. So ist es etwa denkbar, dass unterschiedliche Drittstaatsunternehmen denselben Bevollmächtigten benennen können. Ob und inwieweit Drittstaatsunternehmen zur Durchsetzung dieser Benennungspflicht angehalten werden können, bleibt ebenfalls offen.

Der Richtlinienvorschlag sieht in Art21 zudem die Schaffung eines europäischen Netzwerkes der Aufsichtsbehörden vor, mit dem das grenzüberschreitende Zusammenarbeiten koordiniert werden soll.

4.2.2.Befugnisse und Tätigwerden der Aufsichtsbehörden (Art18 und 19 des Richtlinienvorschlags)

Die Aufsichtsbehörden werden von Amtes wegen oder aufgrund ihnen nach Art19 des Richtlinienvorschlags übermittelter begründeter Bedenken tätig. Art19 des Richtlinienvorschlags räumt somit natürlichen und juristischen Personen die Möglichkeit ein, Beschwerden bei den Aufsichtsbehörden einzulegen, wenn sich ein Unternehmen nicht an die Sorgfaltspflichten hält. Offen – und somit einmal mehr unklar – bleibt, welchen Substanziierungsgrad die Beschwerde aufweisen muss.54 Gegen die Entscheidung der Aufsichtsbehörde sollen die Beschwerdeführer Rechtsmittel einlegen können (Art19 Abs5 des Richtlinienvorschlags).55

Die Aufsichtsbehörden dürfen Informationen anfordern und Untersuchungen – nach grundsätzlich vorheriger Ankündigung56 – durchführen. Darüber hinaus sollen Aufsichtsbehörden mindestens dazu berechtigt sein, Maßnahmen anzuordnen, um Verstöße gegen Sorgfaltspflichten zu beenden, finanzielle Sanktionen im Einklang mit Art20 des Richtlinienvorschlags zu verhängen sowie vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, um das Risiko eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens zu vermeiden (Art18 Abs5 des Richtlinienvorschlags).

4.2.3.Verwaltungssanktionen (Art20 des Richtlinienvorschlags)

Der Richtlinienvorschlag sieht keinen Katalog konkreter Sanktionstatbestände vor. Es wird lediglich angeordnet, dass die EU-Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorzusehen und anzuwenden haben, die bei sämtlichen Verstößen gegen die nationalen Umsetzungsakte zu verhängen sind. Erfasst sind jedenfalls Geldbußen, deren Höhe sich nach dem Umsatz des Unternehmens richtet. Darüber hinaus bleibt es den EU-Mitgliedstaaten offen, zu entscheiden, welche Sanktionen sie in ihren nationalen Vorschriften vorsehen wollen. Zu denken ist etwa

53 Erwägungsgrund 52 des Richtlinienvorschlags.

54 So auch Spindler, ZIP 2022, 774.

55 Unklar Spindler, ZIP 2022, 774, wonach Art19 Abs5 des Richtlinienvorschlags den EU-Mitgliedstaaten die Entscheidung offenlässt, ob Beschwerdeführer überhaupt Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Aufsichtsbehörden einlegen können sollen.

56 Der Richtlinienvorschlag ist in diesem Punkt gegenüber dem deutschen LkSG milder. In Bezug auf das deutsche LkSG kann die Aufsichtsbehörde anlasslos und unangekündigt Kontrolle durchführen, was de facto einer spontanen Hausdurchsuchung gleichkommt; siehe Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, Menschenrechte und Umweltschutz in Lieferketten – der Regierungsentwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes, BB 2021, 906 (912).

an einen Ausschluss von Unternehmen von der Vergabe öffentlicher Aufträge.57 Vorgesehen sind zudem vertypte Milderungsgründe, die zugunsten des Unternehmens bei einer Sanktionierung zu berücksichtigen sind (Art20 Abs2 des Richtlinienvorschlags). Die EU-Mitgliedstaaten haben zudem sicherzustellen, dass jede Entscheidung von Aufsichtsbehörden über die Verhängung von Sanktionen nach dem Naming-and-shaming-Prinzip veröffentlicht wird. Hier sollte mE sichergestellt werden, dass die Veröffentlichungen in Medien erfolgen, die der Bevölkerung bekannt und leicht zugänglich sind, damit die Verstöße des Unternehmens auch breitenwirksam wahrgenommen werden. Zu denken ist etwa an Print- und Online-Tageszeitungen. Der Zugang der Europäischen Kommission, sorgfaltspflichtwidrige Unternehmen öffentlich an den Pranger zu stellen, ist mE ein durchaus gelungener Ansatz, um Unternehmen verstärkt zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltbelangen zu bewegen.

Schwierigkeiten werden jedoch die Kontrollen und Sanktionierungen von Drittstaatsunternehmen ohne Zweigniederlassung in der EU bereiten.58 Nationale Aufsichtsbehörden können mangels Befugnis nicht ohne Weiteres Untersuchungen bei Drittstaatsunternehmen im Ausland durchführen. Wie Verwaltungssanktionen bei Drittstaatsunternehmen vollstreckt werden können, ist ebenfalls fraglich.

Der Wortlaut des Richtlinienvorschlags lässt keine abschließende Bewertung zu, wer alles Adressat der Verwaltungssanktionen sein soll. Jedenfalls wird das Unternehmen selbst als juristische Person dazu zählen. Es ist auch denkbar, dass die EU-Mitgliedstaaten in ihren nationalen Umsetzungsakten die Verhängung von Sanktionen gegen die einzelnen Mitglieder der Unternehmensleitung vorsehen dürfen.

4.3.Zivilrechtliche Haftung (Art22 des Richtlinienvorschlags)

4.3.1.Allgemeines

Die Einführung einer zivilrechtlichen Haftung bei Verstößen gegen bestimmte Sorgfaltspflichten bildet ein weiteres Kernelement des Richtlinienvorschlags. Adressaten des Haftungstatbestands sind die Unternehmen als juristische Person. Die Möglichkeit einer zivilrechtlichen Haftung übernimmt eine Doppelfunktion: Einerseits soll dadurch eine wirksame Entschädigung der Opfer nachteiliger Auswirkungen gewährleistet werden,59 anderseits dient sie als präventive Abschreckung davor, dass Unternehmen gegen die Sorgfaltspflichten verstoßen.60

4.3.2.Der Grundtatbestand (Art22 Abs1 des Richtlinienvorschlags)

Die EU-Mitgliedstaaten haben sicherzustellen, dass Unternehmen für Schäden haften, wenn sie  die Verpflichtungen zur Vermeidung potenzieller negativer Auswirkungen (Art7 des Richtlinienvorschlags) oder zur Behebung tatsächlicher negativer Auswirkungen (Art8 des Richtlinienvorschlags) nicht erfüllt haben und  als Ergebnis dieses Versäumnisses negative Auswirkungen eingetreten sind, die ermittelt, vermieden, abgeschwächt,

57 Vgl §22 dLkSG.

58 Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2022, 143.

59 Erwägungsgrund 56 des Richtlinienvorschlags.

60 Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, BB 2022, 842.

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Nachhaltigkeit

behoben oder durch angemessene Maßnahmen nach Art7 und 8 des Richtlinienvorschlags minimiert hätten werden müssen und zu Schäden geführt haben.

Erforderlich ist somit eine doppelte Kausalität: Der Verstoß gegen die Sorgfaltsverpflichtungen nach Art7 und 8 des Richtlinienvorschlags muss zunächst zu negativen Auswirkungen führen, die ihrerseits kausal für den eingetretenen Schaden beim Geschädigten sind.61 Besonders bemerkenswert ist, dass der Richtlinienvorschlag keine Regelungen zur Beweislast enthält. Vielmehr obliegt die Klärung der Beweislastverteilung den einzelnen EU-Mitgliedstaaten.62 In der Praxis ist es aber ganz entscheidend, ob das Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen vermutet wird oder ob dem Geschädigten der Nachweis obliegt.63 Obliegt die Beweislast dem Geschädigten, so wird eine effektive Durchsetzung der zivilrechtlichen Haftung wohl verhindert.

Auslegungsbedürftig bleibt auch, ob der Tatbestand des Art22 Abs1 des Richtlinienvorschlags auf ein schuldhaftes Verhalten des Unternehmens abstellt oder ob auch ein unverschuldeter Pflichtenverstoß (Gefährdungshaftung?) erfasst sein soll.64 Gleiches gilt für die Frage, wer zur Erhebung der Ansprüche aktivlegitimiert ist. Aus dem Grundtatbestand lässt sich ableiten, dass der Geschädigte selbst Schadenersatz begehren kann. Ob auch Verbandsklagen oder Prozessstandschaften möglich sind, wird hingegen nicht geregelt, sodass den einzelnen EU-Mitgliedstaaten bei einer Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht ein erheblicher Gestaltungsraum zukommt.65

Nach Art22 Abs3 des Richtlinienvorschlags ist die Haftung des Unternehmens unabhängig von der Haftung ihrer Tochtergesellschaften oder direkten bzw indirekter Geschäftspartner in der Wertschöpfungskette. Im Ergebnis können daher für den ein und denselben Sorgfaltsverstoß mehrere Gesellschaften schadenersatzpflichtig werden.

Da der Richtlinienvorschlag haftungsrechtlich lediglich einen Mindeststandard schaffen möchte, werden strenge nationale Haftungsbestimmungen ausdrücklich zugelassen (Art22 Abs4 des Richtlinienvorschlags).

4.3.3.Ausnahmetatbestand (Art22 Abs2 des Richtlinienvorschlags)

Ein vager Ausnahmetatbestand (safe harbor) besteht für schädigende Handlungen von indirekten Geschäftspartnern, mit denen eine etablierte Geschäftsbeziehung unterhalten wird. Hat das Unternehmen angemessene Maßnahmen nach Art7 Abs2 litb und Abs4 sowie Art8 Abs3 litc und Abs5 des Richtlinienvorschlags ergriffen (vertragliche Kaskaden und Zusicherungen von direkten Geschäftspartnern), so soll es nicht für Schäden haften, die durch die Tätigkeit des indirekten Geschäftspartners verursacht wurden. Diese Haftungsbefreiung entfällt jedoch, wenn es vernünftigerweise nicht zu erwarten war, dass die tatsächlich ergriffenen Maßnahmen geeignet waren, um die negativen Auswirkungen zu vermeiden oder zu vermindern.66

61 P. Jung, GPR 2022, 116.

62 Erwägungsgrund 58; dazu kritisch Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2022, 143.

63 J. Schmidt, BB 2022, 1862.

64 Siehe Spindler, ZIP 2022, 774f, wonach eine Gefährdungshaftung ausgeschlossen sein dürfte, weil in Art22 Abs2 des Richtlinienvorschlags zumindest indirekt auf die Bemühungen der Gesellschaft zur Einhaltung der Pflichten abgestellt wird; für eine Verschuldenshaftung auch Nietsch/Wiedmann, CCZ2022, 133.

65 So auch Spindler, ZIP 2022, 775.

4.3.4.Ausgestaltung als Eingriffsnorm (Art22 Abs5 des Richtlinienvorschlags) Abschließend enthält Art22 Abs5 des Richtlinienvorschlags eine kollisionsrechtliche Regelung: Die EU-Mitgliedstaaten haben sicherzustellen, dass die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Haftung zwingend Anwendung findet. Sie genießt Vorrang in jenen Fällen, in denen das auf entsprechende Ansprüche anzuwendende Recht nicht das Recht des EU-Mitgliedstaates ist. Die Haftungsbestimmung muss insoweit als Eingriffsnorm verstanden werden.67

5.Pflichten der Unternehmensleitung

(Art25 des Richtlinienvorschlags)

Schlussendlich normiert der Richtlinienvorschlag noch Sorgfaltspflichten für die Mitglieder der Unternehmensleitung.68 Die EU-Mitgliedstaaten sollen sicherstellen, dass Mitglieder der Unternehmensleitung bei Ausübung ihrer Pflicht, im besten Interesse des Unternehmens zu handeln, die Folgen für Menschenrechte, Klimawandel und Umwelt berücksichtigen (Art25 Abs1 des Richtlinienvorschlags). Zudem muss nach Art25 Abs2 des Richtlinienvorschlags gewährleistet werden, dass binnenstaatliche Vorschriften über die Haftung von Leitungsorganen auch Anwendung finden, wenn die Mitglieder der Unternehmensleitung ihre Pflicht nach Art25 Abs1 des Richtlinienvorschlags nicht erfüllen.

Die Bestimmung birgt durchaus „Sprengstoffpotenzial“, worauf bereits J. Schmidt ausdrücklich hinweist.69 Im Kern geht es um die Frage, ob Mitglieder der Unternehmensleitung künftig nicht nur im besten Interesse des Unternehmens handeln müssen, sondern auch zusätzlich Nachhaltigkeitsaspekte bei ihren Entscheidungen zu beachten haben. Kritisch führt J.Schmidt dazu aus: „Zielkonflikte sind damit vorprogrammiert. Letztlich wird es kaum eine unternehmerische Aktivität geben, bei der man nicht irgendeinen Grund finden könnte, warum sie negative Folgen für Menschenrechte, Klima und/oder Umwelt haben könnte. Wie müssen directors die Nachhaltigkeitsaspekte gewichten? Müssen sie sie gegebenenfalls über die Interessen und den Bestand des Unternehmens stellen?“.70

Hinsichtlich einer möglichen Haftung der Unternehmensleitung bei Verstoß gegen die Pflichten nach Art25 Abs1 des Richtlinienvorschlags verweist Abs2 leg cit auf die bestehenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften der EUMitgliedstaaten. Für Österreich ergeben sich daher zwei haftungsrechtliche Stoßrichtungen:  Zunächst ist davon auszugehen, dass die Mitglieder der Unternehmensleitung einer Innenhaftung71 ausgesetzt sind, wenn ein Schaden dadurch entstanden ist, weil sie in ihrer Entscheidung Nachhaltigkeitsaspekte unberücksichtigt ließen (§84 Abs2 AktG; §25 Abs2 GmbHG).

66 Zu den zahlreichen ungeregelten Einzelheiten iZm diesem Ausnahmetatbestand vgl Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2022, 143.

67 Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2022, 143; Spindler, ZIP 2022, 776; kritisch zum Regelungsvorschlag des Art22 Abs5 des Richtlinienvorschlags Nietsch/Wiedmann, CCZ2022, 134.

68 Siehe die weite Legaldefinition in Art3 lito des Richtlinienvorschlags.

69 J. Schmidt, Sustainable directors‘ duties? NZG 2022, 481; vgl auch Nietsch/Wiedmann, CCZ2022, 135f.

70 J. Schmidt, NZG 2022, 481.

71 Haftung der Geschäftsführer bzw der Vorstände für die schuldhafte Verletzung von Obliegenheiten und den daraus der Gesellschaft entstandenen Schaden.

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 Das österreichische Gesellschaftsrecht sieht in besonderen Fällen allerdings auch die Möglichkeit einer Außenhaftung der Leitungsorgane72 vor (§84 Abs5 AktG; §26 Abs2, §56 Abs3 und §64 Abs2 GmbHG).

Der Wortlaut des Richtlinienvorschlags unterscheidet zwischen diesen beiden Haftungstatbeständen nicht. Es wird lediglich angeordnet, dass die Rechtsvorschriften über einen Verstoß gegen die Pflichten der Mitglieder der Unternehmensleitung auch dann zu gelten haben, wenn sie gegen die Sorgfaltspflichten nach Art25 Abs1 des Richtlinienvorschlags verstoßen. Es scheint daher durchaus im Bereich des Möglichen, dass Österreich zukünftig sicherzustellen hat, dass die Tatbestände der Außenhaftung auch dann Anwendung finden, wenn ein Mitglied der Unternehmensleitung schuldhaft gegen Nachhaltigkeitsaspekte verstößt.

6.Zwischenfazit

Mit der vorgeschlagenen Richtlinie reiht sich die Europäische Kommissionen in eine Reihe von nationalen und internationalen Bestrebungen ein, Unternehmen zu einem verantwortungsvollen und nachhaltigen Verhalten entlang der gesamten Wertschöpfungskette anzuhalten. Kernstück des Richtlinienvorschlags sind umfangreiche Sorgfaltspflichten, zu deren Einhaltung große Unternehmen verpflichtet werden und die von einem strengen öffentlich- und zivilrechtlichen Sanktionsregime flankiert sind.

III.Kritische Würdigung

1.Allgemeines

Das ambitionierte Ziel des Richtlinienvorschlags, namhaft das nachhaltige und verantwortungsvolle unternehmerische Verhalten entlang der globalen Wertschöpfungsketten zu fördern, ist zu begrüßen. Doch nicht immer ist „gut gemeint“ auch „gut gemacht“. Der Richtlinienvorschlag ist mit zahlreichen Problemen verbunden und wird daher überwiegend kritisiert.73 Auf einer grundsätzlichen Ebene ist zu beanstanden, dass die Europäische Kommission die Verantwortung zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltbelangen weg von staatlichen Akteuren hin zu privaten Unternehmen verlagern möchte. Es scheint, dass damit eine Art Ausfallshaftung etabliert wird: Weil einige Staaten nicht willens sind oder die Möglichkeiten haben, die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltbelangen in ihrem Hoheitsgebiet sicherzustellen, sollen nun private Unternehmen dazu verpflichtet werden. Damit geht jedoch die reale Gefahr einher, dass sich viele Unternehmen aus globalen Wertschöpfungsketten zurückziehen werden, weil sie nicht gewillt sind, diese hohen Standards und Anforderungen an die Sorgfaltspflichten zu übernehmen.74 Ob dem globalen Handel damit ein Gefallen getan wird, ist äußerst fraglich. Dem Vernehmen nach verlangen vor allem international tätige Großkonzerne bereits heute verschiedenste Nachweise von ihren Vertragspartnern, die

72 Unmittelbare Haftung der Leitungsorgane gegenüber Dritten und Gesellschaftern.

73 Vgl die kritischen Stellungnahmen: P. Jung, GPR 2022, 117ff; Nietsch/Wiedmann, CCZ2022, 136f; DAV, NZG 2022, 909ff; Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2022, 143f; kritisch zu den directors‘ duties in Art25 des Richtlinienvorschlags J. Schmidt, NZG 2022, 481.

74 So auch P. Jung, GPR 2022, 118.

den vom Richtlinienvorschlag angesprochenen Bereichen durchaus ähnlich sind. Sie beschränken sich jedoch meist auf den unmittelbaren Vertragspartner und gehen in der Lieferkette nicht bis zur Produktion zurück.

Es gibt noch zahlreiche weitere Kritikpunkte am Richtlinienvorschlag; drei davon werden nachstehend näher ausgeführt.

2.Mangelnde Bestimmtheit

Wie die bisherigen Ausführungen aufgezeigt haben, ist der Richtlinienvorschlag von der Verwendung zahlreicher abstrakter, auslegungsbedürftiger Kriterien und unbestimmter Rechtspflichten geprägt, die sich ihrerseits in verschachtelten und verstrickten Sätzen wiederfinden.75 Vor dem Hintergrund der Bestrebungen der Europäischen Kommission, die fragmentierte Rechtslage bezüglich der Sorgfaltspflichten von Unternehmen entlang der Lieferkette zu vereinheitlichen, zeigt sich daher, dass der Richtlinienvorschlag kein geeignetes Instrument hierzu ist. Denn durch die Ausgestaltung als Mindestharmonisierung und die Verwendung zahlreicher unbestimmter und auslegungsbedürftiger Bestimmungen bleibt zu befürchten, dass die nationalen Umsetzungsakte der einzelnen EU-Mitgliedstaaten stark voneinander abweichen werden. Es ist daher durchaus realistisch, dass sich in den Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags fallende Unternehmen künftig mit 27 unterschiedlichen nationalen Umsetzungsakten plagen müssen.

Hinsichtlich der einzelnen Sorgfaltsplichten ist im Richtlinienvorschlag oftmals auch nur von „geeigneten Maßnahmen“ 76 die Rede, die das Unternehmen „gegebenenfalls“ zu ergreifen hat.77 So heißt es etwa in Art7 Abs3 und Art8 Abs4 des Richtlinienvorschlags, dass der Unternehmen „gegebenenfalls“ versuchen kann, einen Vertrag mit einem indirekten Geschäftspartner abzuschließen, um die Einhaltung des Verhaltenskodex bzw des Korrekturmaßnahmenplans zu gewährleisten. Dieser unbestimmte Wortlaut lässt zahlreiche Fragen offen. So ist etwa unklar, ob bereits die einmalige erfolglose Kontaktaufnahme mit dem Geschäftspartner ausreichen soll, um dieser Sorgfaltspflicht nachzukommen.

3.Die mittelbare Betroffenheit von KMU

KMU sind vom Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags ausdrücklich ausgenommen.78 Allerdings ist davon auszugehen, dass viele KMU Teil von unterschiedlichen Wertschöpfungsketten sind und in (direkten oder indirekten) etablierten Geschäftsbeziehungen mit großen Unternehmen stehen, die dem Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags unterliegen. In diesem Fall wird das Unternehmen auch für die Geschäftstätigkeiten der KMU sorgfaltspflichtig.

Wie die Europäische Kommission selbst zugesteht, ist daher zu erwarten, dass die große Unternehmen die Erfüllung der Sorgfaltspflichten unmittelbar an KMU weiterreichen werden (Weitergabeklauseln).79 Wie bereits unter Pkt II.3.4.

75 Vgl auch Spindler, ZIP 2022, 777; zur mangelnden Bestimmtheit „etablierter Geschäftsbeziehungen“ siehe Lutz-Bachmann/Vorbeck/Wengenroth, BB 2022, 837f.

76 Legal definiert in Art3 litq des Richtlinienvorschlags.

77 Siehe zB Art6 Abs1, Art7 Abs1 und 2 sowie Art8 Abs1 und 3 des Richtlinienvorschlags.

78 Zur Begründung der Europäischen Kommission siehe KOM (2022) 71 endg, S18f.

79 KOM (2022) 71 endg, S18.

5/2022 269 Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit

und II.3.5 ausgeführt, besteht die Sorgfaltspflicht der Unternehmer etwa genau darin, vertragliche Zusicherungen von Geschäftspartnern zur Einhaltung des Verhaltenskodex einzuholen.80 Letztendlich können KMU vertraglich dazu verpflichtet werden, für die Einhaltung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten bei ihrer eigenen Geschäftstätigkeit sowie der Geschäftstätigkeit ihrer Geschäftspartner zu sorgen. Dies kann wiederum nur durch die Einrichtung eines aufwendigen und kostspieligen internen Compliance-Verfahrens sichergestellt werden, wobei es vielen KMU an den finanziellen und fachlichen Möglichkeiten zur Etablierung eines solchen Systems mangeln wird. Zwar sieht der Richtlinienvorschlag Unterstützungsmaßnahmen vor, um KMU beim Aufbau ihrer operativen und finanziellen Kapazitäten zu helfen,81 doch ist es mehr als fraglich, ob diese Maßnahmen tatsächlich ausreichend sind, um KMU vor einem organisatorischen und finanziellen Kollaps zu bewahren.

4.Die ausufernde Reichweite der Sorgfaltspflichten

Kritisch zu betrachten ist die uferlose Reichweite der Sorgfaltspflichten. Wie die Ausführungen unter Pkt II.2.1 und II.2.2. aufgezeigt haben, werden die unmittelbaren Adressaten des Richtlinienvorschlags für nahezu jeden Geschäftspartner sorgfaltspflichtig, sofern er Teil der Wertschöpfungskette ist. Es wird der gesamte Lebenszyklus eines Produkts überwachungspflichtig, beginnend mit der Gewinnung des Rohstoffs bis hin zur Kompostierung und Deponierung. Hier stellt sich vor allem die Frage nach der praktischen Durchführbarkeit. Insb bleibt abzuwarten, inwieweit Monitoringund Compliance-Systeme etabliert werden können, die über die Fähigkeit verfügen, eine solch umfassende Überwachung sicherzustellen. Anstatt in geeignete Hilfen vor Ort zu investieren, werden die Kapazitäten der Unternehmen in die wohl kostenintensive Planung, Organisation und Abwicklung von Compliance-Maßnahmen sowie in Beschwerde,- Verwaltungsund Schadenersatzverfahren gebunden.82 Dass dieser finanzielle Aufwand letztendlich wohl auch zu Preissteigerungen führen wird, die der Letztverbraucher zu tragen hat, wird im Richtlinienvorschlag nicht berücksichtigt. Es ist zu bezweifeln, ob ein solches große Vertrauen der Europäischen Kommission in die Leidensfähigkeit der Konsumenten in Zeiten hoher Inflationsraten tatsächlich aufrechtzuerhalten ist.

IV.Ausblick

Der Richtlinienvorschlag durchläuft in den nächsten Monaten das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art294 AEUV und wird als nächstes dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt. Mit einer endgültigen Verabschiedung in absehbarer Zeit ist daher nicht zu rechnen. Hinsichtlich der

80 Vgl dazu Art7 Abs4 und Art8 Abs5 des Richtlinienvorschlags: Macht ein KMU vertragliche Zusicherungen oder wird ein Vertrag mit einem KMU geschlossen, so müssen die angewendeten Bedingungen fair, angemessen und nicht diskriminierend sein. Werden Maßnahmen zur Überprüfung der Einhaltung in Bezug auf KMU durchgeführt, so trägt das Unternehmen die Kosten für die Überprüfung durch unabhängige Dritte.

81 Vgl zB Art7 Abs2 litd und Abs4, Art8 Abs3 lite und Abs5 sowie Art14 des Richtlinienvorschlags.

82 P. Jung, GPR 2022, 118.

inhaltlichen Ausgestaltung ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es ist zu erwarten, dass sich vor allem die Vertreter der Wirtschaft für eine Entschärfung der vorgeschlagenen Richtlinie einsetzen werden. In einer rezenten und durchaus kritischen Stellungnahme hält der Europäische Wirtschaftsund Sozialausschuss etwa fest, dass der Richtlinienvorschlag im Hinblick auf mehr Harmonisierung, Rechtsklarheit und Rechtssicherheit deutlich verbessert werden müsse.83 Die österreichischen Unternehmen sollten sich aber bereits jetzt auf gravierende Änderungen in ihrer Geschäftstätigkeit einstellen. Derzeit scheint es nämlich, dass der Richtlinienvorschlag in der heimischen Unternehmerlandschaft noch kaum Aufmerksamkeit erregt. Dies wird sich gewiss bald ändern.

V.Zusammenfassung in Thesen

1. Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit sieht erstmals auf EU-Ebene menschenrechts- und umweltbezogene Sorgfaltspflichten für Unternehmen entlang ihrer gesamten Lieferkette vor.

2. Der persönliche Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags erstreckt sich gemäß dessen Art2 vor allem auf große EU- und Drittstaatsunternehmen, die bestimmte Schwellenwerte überschreiten. KMU sind hingegen nicht vom unmittelbaren Anwendungsbereich erfasst. Es ist aber zu erwarten, dass KMU durch sog Weitergabeklauseln ebenfalls zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltbelangen verpflichtet werden.

3. Die unmittelbaren Adressaten des Richtlinienvorschlags sind sorgfaltspflichtig für die eigene Geschäftstätigkeit, die Geschäftstätigkeit ihrer Tochterunternehmen sowie die Geschäftstätigkeit von Unternehmen, die Teil der Wertschöpfungskette sind und mit denen eine etablierte Geschäftsbeziehung unterhalten wird.

4. Die Sorgfaltspflicht besteht im Hinblick auf alle negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt. Welche Menschenrechte und Umweltbelange im Detail geschützt werden, wird in Art3 litb und c des Richtlinienvorschlags durch eine Reihe von Verweisen auf zahlreiche internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte bzw der Umwelt, die im Anhang zum Richtlinienvorschlag aufgelistet sind, konkretisiert.

5. Das Kernstück des Richtlinienvorschlags bilden die einzelnen Sorgfaltspflichten des Unternehmers, die in Art4 des Richtlinienvorschlags überblicksartig zusammengefasst sind und in Art5 bis 11 des Richtlinienvorschlags näher ausgeführt werden.

6. Die Sorgfaltspflichten werden von einem umfangreichen zweigeteilten Sanktionsregime begleitet, das neben verwaltungsrechtlichen Sanktionen auch eine zivilrechtliche Haftung bei Verstößen gegen die Sorgfaltspflichten vorsieht.

7. Die vorgeschlagene Richtlinie stößt auf Kritik. Besonders zu bemängeln sind die mangelnde Klarheit, die uferlose Reichweite der Sorgfaltspflichten sowie die mittelbare Betroffenheit von KMU.

83 Siehe https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=PI_EESC:EESC2022-01327-AS&from=DE

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Die neue EU-Pilotregelung für DLT-Marktinfrastrukturen (zB Blockchain)

Ein erster Überblick

FLORIAN EBNER *

Mit der Pilotregelung für DLT-Marktinfrastrukturen1 (im Folgenden: Pilotregelung) ist der erste Rechtsakt des Digital Finance Package der EU2 in Kraft getreten. Die Pilotregelung soll den Einsatz der Distributedledger-Technologie (im Folgenden: DLT) für den Handel und die Abwicklung von Aktien, Anleihen und anderen Finanzinstrumenten ermöglichen und die Entwicklung eines Sekundärmarkts für security tokens fördern. Ab 23.3.2023 ist sie vollständig anwendbar. Der vorliegende Beitrag gibt einen detaillierten Überblick über den Hintergrund und das Regelungskonzept der Pilotregelung und behandelt ausgewählte Einzel- und Folgefragen.3 *123

I.Einleitung

Mit dem 2020 präsentierten Digital Finance Package will die EU die Nutzung innovativer Finanzprodukte zum Vorteil der Verbraucher und Unternehmer ermöglichen und gleichzeitig die damit verbundenen Risiken adressieren. Wichtigster Regelungsgegenstand der Rechtsakte sind Kryptowerte, die eine immer größere Bedeutung am Binnenmarkt erlangen. Die digitalen Werte können mithilfe der DLT einfach begeben, gehalten und übertragen werden. Ausgegeben werden die unterschiedlichsten Werte, angefangen von Tauschmitteln (zB Bitcoin) und Gutscheinen (zB Warengutscheine im Rahmen eines Crowdfunding-Projekts) über Zahlungsmittel (zB tokenisiertes Geld) bis hin zu digitaler Kunst. Als Kryptowert emittiert werden könnten prinzipiell4 aber auch Aktien, Anleihen oder Investmentzertifikate.

Das rechtspolitische Problem bei den meisten Kryptowerten ist, dass sie am Markt rege gehandelt werden und Gegenstand eines reichen Dienstleistungsangebots sind, gleichzeitig aber nicht unter die bestehende Finanzmarktregulierung fallen. Daraus ergeben sich Herausforderungen für den Schutz der Nutzer, die Marktintegrität und die Finanzstabilität. Mit der Markets in Crypto-Assets Regulation (MiCAR),5 die sich derzeit in der Schlussphase des Gesetzgebungsverfahrens befindet,6 will der Unionsgesetzgeber einen umfassenden aufsichtsrechtlichen Rahmen für viele dieser Kryptowerte schaffen.

* Florian Ebner, LL.M. (WU) ist Universitätsassistent am Institut für Unternehmensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien.

1 Verordnung (EU) 2022/858 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2022 über eine Pilotregelung für auf Distributed-Ledger-Technologie basierende Marktinfrastrukturen und zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr600/2014 und (EU) Nr909/2014 sowie der Richtlinie 2014/65/EU, ABl L 151 vom 2.6.2022, S1.

2 Siehe https://ec.europa.eu/info/publications/200924-digital-finance-proposals_en

3 Teile des Beitrags gehen auf eine am Institut für Europarecht und Internationales Recht der Wirtschaftsuniversität Wien verfasste Seminararbeit zurück.

4 Voraussetzung ist die privat- und gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit der digitalen Begebung des jeweiligen Werts. Die Möglichkeiten dafür sind in der EU derzeit je nach Mitgliedstaat sehr unterschiedlich.

5 KOM (2020) 593 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/TXT/?uri=CELEX%3A52020PC0593

6 Die Letztfassung, auf die sich die Institutionen informell geeinigt haben, ist online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CONSIL:ST_ 13198_2022_INIT&from=EN

Bereits Ende Mai 2022 ist mit der Pilotregelung ein weiterer wichtiger Teil des Finanzpakets verabschiedet worden. Anders als die MiCAR betrifft die Pilotregelung jene Kryptowerte, die traditionellen Finanzinstrumenten nachgebildet sind und daher oft als „security tokens“ bezeichnet werden. Dazu gehören etwa tokens, die ähnlich wie Anleihen oder Genussscheine Zinsen oder Gewinnbeteiligungen versprechen. Aber auch tokenisierte Aktien oder Investmentzertifikate würden darunterfallen. Das Problem bei diesen Kryptowerten liegt gerade umgekehrt darin, dass die Bestimmungen des geltenden Finanzmarktrechts zur Anwendung kommen, diese aber nicht auf die DLT und Kryptowerte zugeschnitten sind. Das geltende Finanzmarktrecht ist zwar weitgehend technologieneutral formuliert, enthält aber Regelungen, die den Einsatz der DLT im Bereich der Finanzinstrumente behindern. Hürden bestehen vor allem für den organisierten Handel solcher Kryptowerte, weshalb ein entwickelter Sekundärmarkt derzeit noch fehlt.7 Damit geht aber zugleich der wichtigste Vorteil von Kryptowerten verloren. Diese Probleme will der Unionsgesetzgeber mit der Pilotregelung in Angriff nehmen.

II.Hintergrund

1.Allgemeines

Die Regelungen der Pilotregelung werden erst vor dem Hintergrund der derzeitigen Struktur des Handels mit Finanzinstrumenten und dem Unterschied zu DLT-Systemen verständlich. Neben den Handelsplätzen spielt dabei vor allem die Wertpapierabwicklung, dh die Übertragung bzw Lieferung von Wertpapieren, eine entscheidende Rolle.

2.Entmaterialisierung und mediatisierte Wertpapierverwahrung und Abwicklung

Gegenstand des Kapitalmarkts sind meist Bündel ökonomischer und rechtlicher Ansprüche, die auf schuldrechtlichen oder gesellschaftsrechtlichen Vereinbarungen beruhen. 8

7 Vgl Erwägungsgrund 4 der Pilotregelung.

8 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht2 (2015) §1 Rz2f.

5/2022 271 Kapitalmarktrecht

Sollen diese Kapitalgüter nicht nur auf dem Primärmarkt angeboten, sondern in organisierter Form auf dem Sekundärmarkt gehandelt werden, müssen entsprechende Vorkehrungen für eine einfache Handelbarkeit getroffen werden.

Da die Übertragung unkörperlicher Rechte mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet ist,9 setzt dies zunächst voraus, dass die Rechte aus zivil- bzw wertpapierrechtlicher Sicht umlauffähig gemacht werden.10 In Österreich wird die Umlauffähigkeit von Rechten traditionell durch die Verbriefung in Inhaber- und Orderpapieren erreicht.11 Als Verkehrspapiere entfalten sie nicht nur Legitimations-, Liberations-, und Sperrfunktion, sondern ermöglichen auch einen weitgehenden Verkehrsschutz. In Verkehrspapieren verbriefte Rechte werden nicht durch Zession, sondern nach sachenrechtlichen Grundsätzen übertragen.12

Der Handel am modernen Kapitalmarkt setzt aber auch eine entsprechend leistungsfähige Marktinfrastruktur voraus. Die Verbriefung in physischen Urkunden und deren körperliche Übergabe ist zwar eine taugliche Lösung zur Steigerung der Verkehrsfähigkeit von Rechten, sie stößt aber bei massenweise emittierten und gehandelten Kapitalmarktpapieren (Effekten) schnell an ihre Grenzen.13 Der Effektenverkehr hat sich daher über die Jahre von der Wertpapierurkunde gelöst und eine weitgehende Entmaterialisierung vollzogen.14 Während die wertpapierrechtlichen Wirkungen der Verkehrspapiere nach hA erhalten bleiben,15 werden Effekten (wie Aktien, Anleihen oder Investmentzertifikate) nicht mehr durch Übergabe von Urkunden, sondern im Rahmen des Effektengiroverkehrs durch Buchungen übertragen.

Die Marktrealität hat hierfür ein System der mediatisierten Wertpapierverwahrung hervorgebracht, bei dem Finanzintermediäre Aufzeichnungen über die Berechtigungen der Anleger führen. Die Wertpapierurkunden werden dafür bei einer zentralen Stelle (Wertpapiersammelbank bzw Zentralverwahrer) hinterlegt und dauerhaft immobilisiert. Die Anteile werden dann von der Wertpapiersammelbank buchmäßig erfasst und den angeschlossenen Finanzintermediären (meist Depotbanken) auf Depotkonten gutgeschrieben. Die Depotbanken führen ihrerseits Aufzeichnungen über die Berechtigungen der Anleger, die bei ihnen ein Depot eröffnen. Dadurch entsteht eine mehrstufige, pyramidenförmige Verwahrstruktur, in der jeder Intermediär elektronische Aufzeichnungen über die für seine Kunden gehaltenen Wertpapiere führt.16 Sofern dies wertpapierrechtlich vorgesehen ist, können Effekten alternativ zur Immobilisierung physischer Urkunden auch von Anfang an entmaterialisiert begeben und

9 Aicher/F. Schuhmacher in Krejci, Unternehmensrecht5 (2013) 541.

10 Dies gilt ua für Mitgliedschaftsrechte, Anteile an Investmentfonds und Anleiheforderungen. Anders organisiert ist der Handel mit bestimmten Finanzderivaten (zB unverbriefte Optionen, Futures und Swaps), weil dabei keine Rechte übertragen, sondern jeweils neue Verpflichtungen zwischen den Handelspartnern eingegangen werden; vgl Lehmann, Finanzinstrumente (2009) 313.

11 F. Ebner/Kalss, Die digitale Sammelurkunde – ein erster Schritt zur vollständigen Digitalisierung des österreichischen Wertpapierrechts, GesRZ2020, 369.

12 Keinert, Handbuch des Wertpapierrechts I (2014) Rz30ff.

13 Vgl zum paperwork crunch in den USA in den späten 1960er-Jahren S. Schwarz, Globaler Effektenhandel (2016) 29; Segna, Bucheffekten (2018) 18; zum heutigen Handelsvolumen S. Schwarz, Globaler Effektenhandel, 2.

14 Dazu monografisch Micheler, Wertpapierrecht zwischen Schuld- und Sachenrecht (2004); in Deutschland Einsele, Wertpapierrecht als Schuldrecht (1995); Lehmann, Finanzinstrumente; Segna, Bucheffekten; siehe auch bereits F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 370.

15 Aicher/F. Schuhmacher in Krejci, Unternehmensrecht5, 654f.

16 S. Schwarz, Globaler Effektenhandel, 6 und 30ff.

bei der Wertpapiersammelbank eingebucht werden.17 In Österreich ermöglicht das in begrenztem Umfang18 seit März 2021 die digitale Sammelurkunde (§1 Abs4 DepotG).19

Die mediatisierte Wertpapierverwahrung ist in Österreich längst zum Regelfall geworden und vielfach sogar gesetzlich verpflichtend. So müssen etwa Inhaberaktien (§10 Abs2 AktG) oder auf den Inhaber lautende Investmentzertifikate (§46 Abs1 InvFG 2011) zwingend in Verwahrung gegeben werden.20 Bei der mediatisierten Wertpapierverwahrung handelt es sich aber nicht nur um ein österreichisches, sondern um ein globales Phänomen.21

3.Regulierung

durch das geltende Finanz- und Kapitalmarktrecht

Aufgrund ihrer Relevanz für den Finanzmarkt sind Marktinfrastrukturen mittlerweile Gegenstand detaillierter Regelungen des europäischen Kapital- und Finanzmarktrechts. Das betrifft sowohl die Handels- als auch die Nachhandelsphase.

Die Betreiber von Handelsplätzen (geregelte Märkte, multilaterale Handelssysteme [MTF] und organisierte Handelssystemen [OTF]), an denen die Geschäfte abgeschlossen werden, unterliegen den umfangreichen Bestimmungen der MiFID II.22 Diese sehen ua vor, dass nur bestimmte Mitglieder oder Teilnehmer (idR Wertpapierfirmen und Kreditinstitute) zur Handelsteilnahme zugelassen werden.23 Für die Wertpapierabwicklung gilt die CSDR,24 die umfassende Vorgaben für Zentralverwahrer und die von ihnen betriebenen Wertpapierliefer- und Abrechnungssysteme (englisch: securities settlement systems – SSS) macht. Von besonderer Bedeutung ist dabei Art3 CSDR: Die Bestimmung sieht vor, dass übertragbare Wertpapiere,25 die an einem Handelsplatz iSd MiFID II gehandelt werden, für die Abwicklung der dort getätigten Transaktionen zwingend bei einem Zentralverwahrer in den Effektengiroverkehr einzubuchen sind.26 Dieser darf wiederum – entsprechend der unter Pkt II.2. geschilderten Praxis –nur bestimmten Teilnehmern (insb Depotbanken) Zugang zu seinem Abwicklungssystem gewähren.27 Die Nutzung des Effektengiroverkehrs als mediatisiertes Verwahrsystem ist damit für den organisierten Handel übertragbarer Wertpapiere unionsrechtlich verpflichtend vorgeschrieben.

17 Vgl etwa Erwägungsgrund 11 und Art3 Abs1 der CSDR (siehe FN 24).

18 Siehe Pkt IV.4.

19 Siehe dazu F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 375ff; dies, Die österreichische digitale Sammelurkunde, RDi 2022, 108.

20 Näher F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 370.

21 S. Schwarz, Globaler Effektenhandel, 61. Diese Entwicklung ist sogar in jenen Rechtsordnungen zu beobachten, in denen eine physische Verbriefung zur Herstellung der Umlauffähigkeit nicht erforderlich ist und das Papier dem massenweisen Handel eigentlich nicht entgegensteht; vgl Micheler/von der Heyde, Holding, clearing and settling securities through blockchain/distributed ledger technology: creating an efficient system by empowering investors, Journal of International Banking & Financial Law 2016, 652 (655).

22 Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU, ABl L 173 vom 12.6.2014, S349.

23 Vgl Art53 MiFID II; §75 Abs2 Z1 litb iVm §§28 und 29 BörseG 2018.

24 Verordnung (EU) Nr909/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.7.2014 zur Verbesserung der Wertpapierlieferungen und -abrechnungen in der Europäischen Union und über Zentralverwahrer sowie zur Änderung der Richtlinien 98/26/EG und 2014/65/EU und der Verordnung (EU) Nr236/2012, ABl L 257 vom 28.8.2014, S1.

25 Vgl Art4 Abs1 Z44 MiFID II. Dabei handelt es sich um eine wichtige Kategorie von Finanzinstrumenten.

26 Näher F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 371 FN 39.

27 Vgl Art2 Abs1 Z19 CSDR iVm Art2 litf der Finalitätsrichtlinie (siehe FN 103).

272 5/2022
Kapitalmarktrecht

Der börsemäßige Handel von Kapitalmarkttiteln erfolgt daher derzeit idR in drei Schritten:  Trading: Das Handelsgeschäft wird über einen Handelsplatz, der von einem lizensierten Betreiber betrieben wird, abgeschlossen. Die Übermittlung und Ausführung der Handelsaufträge erfolgt indirekt über die zugelassenen Handelsteilnehmer.27a  Clearing: 28 Die Geschäfte werden abgerechnet und zur Erfüllung vorbereitet. Gegebenenfalls werden die aus Handelsgeschäften entstandenen Positionen gegengerechnet (sog netting) und gegen Risiken abgesichert. Dazu kann eine zentrale Gegenpartei eingeschaltet werden.  Settlement: Die Kapitalmarktpapiere werden (Zug um Zug gegen Bezahlung) durch Buchungen im Effektengiroverkehr unter Einschaltung von Zentralverwahrer und Depotbanken geliefert.29

Trading und settlement werden also von unterschiedlichen regulierten Marktinfrastrukturen durchgeführt, wobei jeweils weitere Intermediäre zwischen Anleger und Marktinfrastruktur treten. Eine Abwicklung übertragbarer Wertpapiere ohne Einschaltung von Zentralverwahrer und Depotbanken ist unionsrechtlich nur möglich, wenn das Geschäft außerhalb regulierter Handelsplätze (zB bilateral oder über ein sog bulletin board, an dem Kauf- und Verkaufsinteressen nur bekannt gemacht werden) abgeschlossen wird.

4.Kryptowerte und Einsatz der DLT für Finanzinstrumente Kryptowerte werden nicht im Rahmen des Effektengiroverkehrs, sondern über DLT-Systeme übertragen. Diese Systeme gewährleisten, dass die digitalen Werte eindeutig zuordenbar und nicht duplizierbar sind, nur der jeweilige Inhaber über die Werte verfügen kann und Transaktionen nachvollziehbar und unveränderlich gespeichert werden.30 Sie sind dadurch gut geeignet, die ursprünglichen Funktionen der Wertpapierurkunde zu ersetzen und einen einfachen Handel unkörperlicher Werte zu ermöglichen.31 Anders als bei mediatisierten Verwahrsystemen erfolgen Transaktionen jedoch grundsätzlich peer to peer, dh im Idealfall ganz ohne Zwischenschaltung vertrauenswürdiger Intermediäre. Die Berechnungen der jeweiligen Inhaber werden nicht in zentralen Datenbanken bei Finanzintermediären, sondern in einer gemeinsamen dezentralen Transaktionsdatenbank gespeichert, deren Integrität durch ausgeklügelte Konsensmechanismen32 sichergestellt wird. Mithilfe von smart contracts 33 ist es außerdem möglich, Handelssysteme zu programmieren, die direkt auf dem DLTSystem aufbauen.

Der Einsatz der DLT im Bereich der Finanzinstrumente könnte einige potenzielle Vorteile bringen:34 Der wichtigste As-

27a Diese führen Handelsaufträge idR als Kommissionär im eigenen Namen auf fremde Rechnung aus; vgl Z 63 ABB.

28

Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs Segna, Bucheffekten, 66ff.

29 Siehe bereits Litten, Mit dem DLT-Piloten in die Zukunft des digitalen Kapitalmarktaufsichtsrechts, BKR 2022, 551 (553); näher zu den einzelnen Phasen S.Schwarz, Globaler Effektenhandel, 89ff; Segna, Bucheffekten, 65ff.

30 F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 372.

31 Subhash/Knobl, Die Schaffung und Übertragung von Wertrechten via BlockchainTechnologie, WBl 2019, 612 (613f); F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 372.

32 Zu den verschiedenen Arten von DLT-Systemen siehe Pkt IV.2.

33 Dabei handelt es sich um Programmcode, der auf dem DLT-System dezentral ausgeführt wird.

34 Dazu näher Pinna/Ruttenberg, Distributed ledger technologies in securities posttrading (2016), online abrufbar unter https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpops/ ecbop172.en.pdf; Benos/Garratt/Gurrola-Perez, The Economics of Distributed Ledger

pekt ist, dass die Zahl der beteiligten (und potenziell kostenverursachenden) Intermediäre zumindest deutlich reduziert werden könnte.35 Bei mediatisierten Verwahrsystemen ist außerdem ein ständiger Abgleich des Buchungsstands zwischen den Datenbanken der Intermediäre notwendig, der Kosten und Fehler verursachen kann.36 Die Verwendung eines DLT-Systems als einheitliche Infrastruktur könnte – zumindest bei ausreichender Standardisierung – eine vollautomatische Abwicklung von Effektentransaktionen (sog straight-trough processing)37 ermöglichen.38 Das bietet zugleich die Chance, trading, clearing und settlement zu einem automatisierten Prozess zu verbinden, der (nahezu) in Echtzeit abläuft und dadurch Ausfallsrisiken reduziert.39 Insgesamt erhofft man sich durch den Einsatz der DLT eine deutliche Vereinfachung des Wertpapierhandels, Effizienzgewinne und Kostenersparnisse.40 Die einfachere Übertragung und die Verringerung der Transaktionskosten kann außerdem dazu führen, dass kleinere Unternehmen besseren Zugang zum Kapitalmarkt erhalten.

Mit ihrem dezentralen Ansatz und dem weitgehenden Verzicht auf Intermediäre bricht die DLT allerdings mit den unter Pkt II.3. erläuterten Regelungskonzepten des geltenden Finanzmarktrechts. Ungeachtet der technologieneutralen Formulierung bestehen daher erhebliche Hürden für den Einsatz der DLT beim Handel und bei der Abwicklung von Finanzinstrumenten.

5.Technologische Innovationen als Herausforderung für das Aufsichtsrecht

Die schwierige Vereinbarkeit mit geltendem Aufsichtsrecht betrifft nicht allein die DLT, sondern ist ein verallgemeinerungsfähiges Phänomen, das insb am Finanzsektor zutage tritt.41 In den vergangenen Jahren waren zahlreiche Innovationen und innovative Dienstleister mit starkem Technologiebezug zu beobachten, was mit dem Schlagwort „FinTech“ 42 beschrieben wird. Diese Innovationen sollen einerseits gefördert werden, andererseits ist das geltende Finanzmarktrecht oft nicht uneingeschränkt mit den Innovationen kompatibel oder nicht ausreichend dafür gerüstet, damit einhergehende Risiken zu adressieren.43

Zahlreiche Mitgliedstaaten haben daher unterschiedliche Instrumente auf nationaler Ebene implementiert, um Finanzinnovationen zu erleichtern und Erkenntnisse über damit

34 Technology for Securities Settlement, Ledger 2019, 121; Priem, Distributed ledger technology for securities clearing and settlement: benefits, risks, and regulatory implications, Financial Innovation Vol 6, Article number11 (2020).

35 Litten, BKR 2022, 555.

36

Pinna/Ruttenberg, Distributed ledger technologies, 6 und 19f; Benos/Garratt/ Gurrola-Perez, Ledger 2019, 124; Priem, Financial Innovation Vol 6, Article number11 (2020), 9f. Teuer und fehleranfällig ist der Abgleich vor allem dann, wenn die Systeme nicht standardisiert sind. Innerhalb der EU hat das TARGET2-SecuritiesSystem bereits große Verbesserungen gebracht.

37 Siehe dazu S. Schwarz, Globaler Effektenhandel, 158f; Segna, Bucheffekten, 119.

38 Vgl Pinna/Ruttenberg, Distributed ledger technologies, 4.

39 Vgl Pinna/Ruttenberg, Distributed ledger technologies, 26, nach denen sofortiges settlement technisch zwar auch durch zentralisierte Systeme erreichbar wäre, aufgrund der abgeschlossenen Systeme der einzelnen Verwahrer aber derzeit nicht praktikabel ist.

40 Vgl Benos/Garratt/Gurrola-Perez, Ledger 2019, 121; Priem, Financial Innovation Vol 6, Article number11 (2020), 1ff.

41 Krönke, Regulatory Sandboxes aus der Perspektive des Allgemeinen Verwaltungsrechts, ÖZW 2020, 108 (109); Ringe/Ruof, Regulating Fintech in the EU: the Case for a Guided Sandbox, European Journal of Risk Regulation (EJRR) 2020, 604 (606f).

42 Verwendet als Abkürzung sowohl für technologische Innovationen als auch für die neuen Dienstleister.

43 Ringe/Ruof, EJRR 2020, 604f.

5/2022 273 Kapitalmarktrecht

verbundene Risiken zu gewinnen. Nach einer gemeinsamen Studie der europäischen Finanzaufsichtsbehörden44 lassen sich dabei zwei Hauptkategorien unterscheiden: 

Behördlich eingerichtete innovation hubs bieten eine einheitliche Anlaufstelle für FinTech-bezogene Anfragen und zielen darauf ab, den Marktteilnehmern unverbindliche Auskünfte und Hilfestellung zu aufsichtsrechtlichen Fragen und Erwartungen zu geben.45 In Österreich ist mit der Kontaktstelle FinTech der FMA bereits seit 2016 ein innovation hub eingerichtet.46 

Regulatory sandboxes erlauben Marktteilnehmern, innovative Geschäftsmodelle unter engmaschiger Aufsicht und mit Hilfestellung der Aufsichtsbehörden auf dem Markt zu testen.47 Ein solcher regulatorischer Sandkasten kann, muss aber keine Ausnahmen und Erleichterungen von bestehenden aufsichtsrechtlichen Regelungen enthalten.48 In Österreich ist seit 1.9.2020 eine regulatory sandbox bei der FMA eingerichtet,49 die keine Ausnahmen von regulatorischen Anforderungen vorsieht.50

Zwar haben sich diese Instrumente zur Innovationsförderung in verschiedenen Mitgliedstaaten bereits bewährt, naturgemäß können mitgliedsstaatlich eingerichtete regulatory sandboxes aber keine Ausnahmen oder Änderungen unionsrechtlicher Vorgaben vorsehen. Erleichterungen sind im Rahmen der Proportionalität und Verhältnismäßigkeit nur dort möglich, wo ein entsprechender Ermessensspielraum verbleibt.51 Im Falle der DLT ist es jedoch gerade (unmittelbar anwendbares) Unionsrecht, das dem Einsatz der Technologie für den Handel und die Abwicklung von Finanzinstrumenten entgegensteht. Bereits in ihrem FinTech-Aktionsplan 201852 deutete die Europäische Kommission daher an, dass auch auf EU-Ebene entsprechende Instrumente zur Innovationsförderung eingerichtet werden könnten.53

III.Die Pilotregelung im Überblick 1.Allgemeines

Vor dem geschilderten Hintergrund soll die neue Pilotregelung den Weg für einen Einsatz der DLT im Bereich der Finanzinstrumente ebnen. Die unmittelbar anwendbare Verordnung geht auf einen Entwurf der Europäischen Kommission54 zurück, der im Gesetzgebungsverfahren55 nicht grundlegend, aber doch in wesentlichen Aspekten noch abgeändert wurde. Ab 23.3.2023 ist die Pilotregelung vollständig anwend-

44 JC 2018 74, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/sites/default/files/ library/jc_2018_74_joint_report_on_regulatory_sandboxes_and_innovation_hubs.pdf

45 JC 2018 74, S5.

46 Vgl die Website der Kontaktstelle FinTech, https://www.fma.gv.at/kontaktstellefintech-sandbox/fintechnavigator/kontaktstelle-fintech

47 Vgl JC 2018 74, S5; Krönke, ÖZW 2020, 109; Ringe/Ruof, EJRR 2020, 606ff.

48 JC 2018 74, S5.

49 Siehe https://www.fma.gv.at/kontaktstelle-fintech-sandbox/fma-sandbox; dazu ausführlich Krönke, ÖZW 2020, 108ff; Caramanica/Raschner, Zur Einrichtung einer Regulatory Sandbox für FinTechs im österreichischen und europäischen Aufsichtsrecht, WBl 2019, 492; Fleischmann, Financial Innovation Made in Austria – die österreichische Regulatory Sandbox, ZFR 2021, 13; Potacs/Kircher, „Regulatory Sandbox“ in der Finanzmarktaufsicht, RdW 2021, 8.

50 Caramanica/Raschner, WBl 2019, 492; Fleischmann, ZFR 2021, 14.

51 Vgl KOM (2018) 109 endg, S10 (siehe FN 52); Potacs/Kircher, RdW 2021, 10.

52 KOM (2018) 109 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/resource.html ?uri=cellar:6793c578-22e6-11e8-ac73-01aa75ed71a1.0003.02/DOC_1&format=PDF

53 KOM (2018) 109 endg, S10.

54 KOM (2020) 594 endg, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0594&from=SV

55 2020/0267/COD.

bar (Art19 Abs2 der Pilotregelung). Ab diesem Zeitpunkt können auch die besonderen Genehmigungen für den Betrieb einer DLT-Marktinfrastruktur formal beantragt werden. Bis dahin wird die ESMA noch Leitlinien für Formulare, Standardformate und Mustertexte für den Antrag ausarbeiten (Art8 Abs5, Art9 Abs5 und Art10 Abs6 der Pilotregelung). Eine erste Konsultation der ESMA zur Anpassungsbedürftigkeit technischer Regulierungsstandards, die auf Grundlage der MiFIR56 erlassen wurden, ist bereits abgeschlossen.57 Darüber hinaus dürften sich ESMA und Europäische Kommission wohl noch vor März 2023 zu einigen Fragen, die von Stakeholdern gestellt wurden, äußern.58

2.Ziele der Pilotregelung

Die Pilotregelung zielt insgesamt darauf ab, den Einsatz der DLT im regulierten Bereich der Finanzinstrumente zu fördern. Die konkreten Regelungsziele sind aber durchaus mehrschichtig.

Bereits im FinTech-Aktionsplan 2018 der Europäischen Kommission und im Digital Finance Package59 finden sich jeweils etwas unterschiedlich konnotierte Bemerkungen zu den Zielen. Besonders instruktiv sind die Erläuterungen der Europäischen Kommission zur Pilotregelung60 und die zuvor durchgeführte Folgenabschätzung:61 Daraus geht hervor, dass die Pilotregelung vor allem einen Lernprozess der Marktteilnehmer, Aufsichtsbehörden und des Gesetzgebers ermöglichen soll. Aufgrund der bestehenden Hindernisse im Finanzund Kapitalmarktrecht mangelt es nämlich derzeit noch an Marktinfrastrukturen für Finanzinstrumente, die DLTSysteme einsetzen. Dadurch fehlt aber nach Einschätzung der Europäischen Kommission wiederum die nötige Erfahrung mit der Technologie, um alle rechtlichen Hürden und auch die mit der Technologie verbundenen Risiken richtig zu identifizieren und zu adressieren. Diesen Teufelskreis soll die Pilotregelung durchbrechen und gleichzeitig den Verbraucherund Anlegerschutz, die Marktintegrität und die Finanzstabilität sicherstellen.

Wesentliche permanente Änderungen, die den uneingeschränkten Einsatz von security tokens ermöglichen, hält der Unionsgesetzgeber dagegen aufgrund der fehlenden Erfahrung und technologiebezogenen Risiken noch für verfrüht.62 Das ist verständlich, da sich die ganze Diskussion auf sehr heiklem Terrain bewegt: Vor allem Zentralverwahrer und die von ihnen betriebenen Wertpapierliefer- und Abrechnungssysteme werden als systemrelevant eingestuft.63

56 Verordnung (EU) Nr600/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr648/2012, ABl L 173 vom 12.6.2014, S84.

57 Vgl Erwägungsgrund 54 der Pilotregelung; ESMA70-460-111, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/sites/default/files/library/esma70-460-111_report_on_ the_dlt_pilot_regime.pdf

58 Vgl ESMA70-460-111, S6 aE. Im Bericht wird an mehreren Stellen darauf hingewiesen, dass die ESMA Klarstellungen durch die Europäische Kommission erbeten hat. Die Fragen betreffen nicht nur technische Regulierungsstandards nach der MiFIR, sondern auch allgemein relevante Belange.

59 Siehe neben FN 2 auch KOM (2020) 591 endg, online abrufbar unter https://eurlex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC0591&from=EN

60 Vgl KOM (2020) 594 endg, S1ff; siehe auch https://ec.europa.eu/info/sites/default/ files/business_economy_euro/banking_and_finance/200924-presentation-proposalmarket-infrastructures-pilot-regime_en.pdf

61 SWD (2020) 201 final, online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:52020SC0201&from=EN

62 Erwägungsgründe 4 und 6 der Pilotregelung.

63 Freudenthaler/Hruby, Die Zentralverwahrer-VO, ecolex 2014, 1023; CPSS-IOSCO, Principles for Financial Market Infrastructures (2012) 12.

274 5/2022
Kapitalmarktrecht

Eine pauschale Ausnahme von Art3 CSDR, damit security tokens ohne weitere Voraussetzungen auch auf regulierten Handelsplätzen gelistet werden können, würde zugleich eine Generalausnahme von der CSDR und ihren Schutzmechanismen bedeuten. Wie viele der heute für Finanzinstrumente geltenden Regelungen ist die CSDR aber vor dem Hintergrund der letzten Finanzkrise zu sehen und soll vergleichbaren Krisenszenarien entgegenwirken.64 Selbst wenn die Abwicklung von security tokens potenziell ganz ohne Einbindung von Intermediären möglich wäre, ist daher eine umsichtige Vorgehensweise geboten. Bedauerlich ist allerdings, dass die Erprobung von DLT-Systemen als eigenständige Alternative zur regulierten Wertpapierabwicklung auch unter der engmaschigen Beaufsichtigung innerhalb der Pilotregelung – im Gegensatz zum Kommissionsentwurf65 – nicht mehr vorgesehen ist.66 Als Konsequenz sind die Anforderungen an Marktinfrastrukturen, die Handels- und Nachhandelstätigkeiten kombinieren, deutlich gestiegen.67

Aus den Erwägungsgründen der Pilotregelung leuchten damit noch vier konkrete Regelungsanliegen in Bezug auf die DLT hervor:

Aufgrund der potenziellen Effizienzgewinne soll allgemein der Einsatz der DLT beim Handel und bei der Abwicklung von Finanzinstrumenten ermöglicht werden.68

konzept klar um eine regulatory sandbox, die dafür typische Merkmale73 aufweist:73a

Der Anwendungsbereich der Pilotregelung wird entsprechend einer sandbox in zeitlicher74 und sachlicher Hinsicht75 beschränkt. Zur Innovationsförderung können die Teilnehmer der sandbox Ausnahmen von bestimmten Anforderungen des geltenden Aufsichtsrechts beantragen, die den Einsatz der DLT behindern können.76 Als Ausgleich und zum Schutz der Anleger, der Verbraucher und der Marktintegrität haben die Teilnehmer zusätzliche Anforderungen zu erfüllen.77 Zur Überwachung der Tätigkeit und um einen Lernprozess zu ermöglichen, ist außerdem eine enge Kooperation zwischen den Teilnehmern, den nationalen Aufsichtsbehörden und der ESMA vorgesehen.78

Die Pilotregelung soll aufgrund der potenziellen Vorteile die Bildung eines funktionierenden Sekundärmarkts für security tokens (bzw Kryptowerte, die als Finanzinstrumente einzuordnen sind) fördern.69

Der Einsatz der DLT könnte zu einer Konvergenz der Handels- und Nachhandelsphase führen. Die Pilotregelung soll die Kombination von Handels- und Nachhandelstätigkeiten (durch eine eigene Marktinfrastruktur) erlauben.70 

Neben der Förderung von Innovationen und der Ermöglichung eines Lernprozesses geht aus den Erwägungsgründen und Regelungen schließlich auch konkret hervor, dass Maßnahmen iSd Verbraucher- und Anlegerschutzes, der Finanzmarktstabilität und der Transparenz ein zentrales Regelungsanliegen der Pilotregelung sind.71

3.Die Pilotregelung als unionsrechtliche Sandbox

Um all diese Ziele erreichen oder zumindest verfolgen zu können, hat sich die Europäische Kommission für eine zeitlich befristete Testumgebung entschieden. Diese wird von einigen nicht legislativen Maßnahmen sowie von kleineren permanenten Änderungen im Unionsrecht begleitet.72 Obwohl weder die Pilotregelung noch die Erwägungsgründe den Begriff verwenden, handelt es sich nach dem Regelungs-

64 Segna, Bucheffekten, 108.

65 Vgl KOM (2020) 594 endg, Erwägungsgrund 9, wo davon gesprochen wird, dass DLT-Systeme möglicherweise „als dezentrale Version eines .,. Zentralverwahrers verwendet werden“ könnten.

66 Mit kritischem Tenor zur Überintermediation auch H. Weiss, Intermediärs- und Innovationsverständnis von DLT-Finanzinstrumenten am Beispiel des DLT Pilot Regimes, RDi 2022, 196 (198f).

67 Siehe Pkt III.6.

68 Vgl Erwägungsgründe 4 und 6 der Pilotregelung.

69 Vgl Erwägungsgründe 4 und 7 der Pilotregelung. Noch viel deutlicher KOM (2020) 594 endg, Erwägungsgrund 3, wo hervorgehoben wird, dass sich diese Instrumente ohne einen funktionierenden Sekundärmarkt nicht nachhaltig entwickeln können.

70 Erwägungsgrund 14 der Pilotregelung.

71 Vgl Erwägungsgrund 6 der Pilotregelung.

72 Vgl KOM (2020) 594 endg, S1ff.

Die entscheidende Neuheit liegt darin, dass die Pilotregelung eine unionsrechtlich eingerichtete sandbox ist.79 Daraus ergibt sich ua die Besonderheit, dass einerseits die nationalen Behörden zuständig sind, andererseits aber auch der ESMA wichtige Kompetenzen zukommen.80 Während sich die Innovationsförderung bei der sandbox der FMA ausschließlich aus der Begleitung durch die Behörde ergibt,81 sieht die Pilotregelung außerdem echte Ausnahmebestimmungen vor. Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren interessanten Unterschied: Viele regulatory sandboxes stehen aufgrund der limitierten Ressourcen der Aufsichtsbehörden nur einer bestimmte Anzahl an besonders förderungswürdigen Marktteilnehmern offen.82 Die sandbox der FMA sieht wohl aus diesem Grund mit dem Verweis auf das volkswirtschaftliche Interesse einen Maßstab für die Verteilung knapper Ressourcen vor. Die Auswahl der Teilnehmer erfolgt durch die FMA auf Basis der Stellungnahme eines Beirats (§23a Abs3 FMABG). Eine besondere Genehmigung nach der Pilotregelung muss dagegen wohl jedem Marktteilnehmer erteilt werden, der die Voraussetzungen erfüllt.82a Praktisch dürfte es allerdings nicht zu Ressourcenproblemen kommen, weil die Eintrittshürde aufgrund der erforderlichen Lizenzen eher hoch angesetzt ist.83

Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass sich die Pilotregelung als optionale Erleichterung für den Testbetrieb von DLT-Marktinfrastrukturen versteht. Betreiber traditioneller Marktinfrastrukturen können auch außerhalb der Pilotregelung DLT-Systeme für ihre Tätigkeiten einsetzen, sofern sie alle aufsichtsrechtlichen Anforderungen erfüllen.84 Ausnahmen können in diesem Fall freilich nicht beantragt werden.

4.Zeitlicher Rahmen der Pilotregelung

ISd Technologieneutralität sind grundsätzlich einheitliche Regelungen für alle Marktinfrastrukturen geboten. Um die Entstehung paralleler Rechtsrahmen für traditionelle Markt-

73 Vgl Ringe/Ruof, EJRR 2020, 607ff; JC 2018 74, S16ff.

73a Siehe auch Krönke, Die Regulatory Sandbox – Maßanfertigung oder Multifunktionstool? ÖZW 2022, 3 (5).

74 Siehe Pkt III.4.

75 Siehe Pkt III.5.

76 Siehe Pkt III.7.

77 Siehe Pkt III.8.

78 Siehe Pkt III.9.

79 Zu diesem Ansatz allgemein Ringe/Ruof, EJRR 2020, 604ff.

80 Siehe Pkt III.9.

81 Caramanica/Raschner, WBl 2019, 492; Fleischmann, ZFR 2021, 14.

82 Krönke, ÖZW 2020, 116; ders, ÖZW 2022, 7 f.

82a Vgl Art 8 Abs 10, Art 9 Abs 10 und Art 10 Abs 10 der Pilotregelung.

83 Siehe Pkt III.6.

84 Erwägungsgrund 7 der Pilotregelung.

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infrastrukturen und DLT-Marktinfrastrukturen zu verhindern, ist die Pilotregelung zeitlich befristet.85 Die Dauer der Befristung ist allerdings zugleich für interessierte Marktteilnehmer von entscheidender Bedeutung, weil diese unter Umständen erhebliche Investitionen tätigen müssen.

Besondere Genehmigungen und Ausnahmen nach der Pilotregelung können nur zeitlich befristet für eine Höchstdauer von sechs Jahren gewährt werden (Art8 Abs11, Art9 Abs11 und Art10 Abs11 der Pilotregelung). Für die Pilotregelung selbst ist außerdem Mitte 2026 eine Evaluierung vorgesehen. Auf Basis eines Berichts der ESMA und auf Empfehlung der Europäischen Kommission soll dann vom Europäischen Parlament und vom Rat entschieden werden, ob die Pilotregelung um einen weiteren Zeitraum von bis zu drei Jahren verlängert, ausgeweitet, angepasst, in ein unbefristetes Regime überführt oder beendet werden soll (Art14 Abs2 der Pilotregelung). Zusätzlich hat die ESMA jährliche Zwischenberichte zu veröffentlichen (Art15 der Pilotregelung).

Obwohl eine vorzeitige Beendigung der Pilotregelung unmittelbar nach der Evaluierung 2026 nicht explizit ausgeschlossen ist, geht die Pilotregelung mE erkennbar von einer ersten Geltungsperiode von sechs Jahren, dh bis März 2029, aus.86 Damit dürfte den Teilnehmern ein angemessener Zeitrahmen für die Erprobung ihrer Systeme zur Verfügung stehen. Zu beachten ist allerdings, dass im Falle einer Beendigung der Pilotregelung nach sechs Jahren auch die erteilten Genehmigungen erlöschen (Art14 Abs2 lite der Pilotregelung), obwohl für diese grundsätzlich eine Höchstdauer von sechs Jahren ab dem Ausstellungsdatum vorgesehen ist.87 Ein später Einstieg in die sandbox könnte daher von Nachteil sein, weil unter Umständen nicht mehr die vollen sechs Jahre zur Verfügung stehen.

5.Beschränkung auf bestimmte Finanzinstrumente und Wertgrenzen

Um experimentellen Spielraum zu gewähren, aber gleichzeitig den Anlegerschutz, die Marktintegrität und die Finanzmarktstabilität nicht zu gefährden, sieht die Pilotregelung Beschränkungen in sachlicher Hinsicht vor.88 Gehandelt und abgewickelt werden dürfen nach Art3 Abs1 der Pilotregelung drei Arten von Finanzinstrumenten:  Aktien von Emittenten, die eine (voraussichtliche) Marktkapitalisierung von 500Mio€ unterschreiten,  Anleihen und andere verbriefte Schuldtitel mit einem Emissionsvolumen von weniger als 1Mrd€, wobei Instrumente ausgeschlossen sind, die ein Derivat oder eine Struktur enthalten, die es dem Kunden erschwert, das mit ihnen verbundene Risiko zu verstehen, und  Anteile an Wertpapierfonds (OGAW) mit Ausnahme bestimmter strukturierter Fonds, wenn der Marktwert der verwalteten assets weniger als 500Mio€ beträgt.

Die Beschränkung auf bestimmte Typen von Finanzinstrumenten schließt Produkte aus, die bereits aufgrund ihrer

85 Erwägungsgrund 53 der Pilotregelung.

86 Vgl tendenziell Erwägungsgrund 48 sowie Art7 Abs10 der Pilotregelung, der ein Wirksamwerden der Vereinbarungen, die im Rahmen der Übergangsstrategie zu treffen sind, erst nach fünf Jahren verlangt.

87 Vgl Art8 Abs11, Art9 Abs11 und Art10 Abs11 der Pilotregelung.

88 Erwägungsgrund 23 der Pilotregelung.

inhaltlichen Ausgestaltung komplex sind, und erinnert ein wenig an die missglückte und mittlerweile wieder beseitigte Beschränkung alternativer Finanzierungsinstrumente nach §2 Z2 AltFG idF BGBl I 2015/114.89 Im vorliegenden Kontext dürfte die Einschränkung weniger Probleme bereiten, weil dennoch ein praktisch sehr relevanter Teil von Finanzinstrumenten abgedeckt ist. Trotzdem ist fraglich, wie viel diese Beschränkung tatsächlich zum Anlegerschutz beitragen kann.

Zum Schutz der Finanzmarktstabilität darf darüber hinaus der Gesamtwert der bei einer DLT-Marktinfrastruktur registrierten Wertpapiere 6Mrd€ nicht überschreiten. Ist dieser Wert erreicht, dürfen keine neuen Finanzinstrumente zugelassen oder verbucht werden. Wird ein Wert von 9Mrd€ überschritten (was sich aufgrund der Marktentwicklung ergeben kann), muss die Marktinfrastruktur die bei der Antragstellung vorzulegende Übergangsstrategie aktivieren und Finanzinstrumente auf eine andere Marktinfrastruktur übertragen (Art3 Abs3 iVm 7 Abs7 der Pilotregelung).

Alle Wertgrenzen wurden im Vergleich zum Kommissionsentwurf noch einmal deutlich erhöht und sollten einigen Spielraum bieten. Nach Art3 Abs6 der Pilotregelung kann die zuständige Behörde (des Herkunftsmitgliedstaates) diese Grenzen im Einzelfall herabsetzen. Der ESMA kommt diesbezüglich allerdings eine Richtlinienkompetenz zu (Art8 Abs8 litb und Art9 Abs8 litb der Pilotregelung).

6.DLT-Marktinfrastrukturen und teilnahmeberechtigte Marktteilnehmer

Kernstück der Pilotregelung ist die Etablierung eines neuen Unionsstatus für DLT-Marktinfrastrukturen.90 Die Pilotregelung sieht drei Arten solcher Marktinfrastrukturen vor: Multilaterale DLT-Handelssysteme (DLT-MTF) erlauben den Handel von DLT-Finanzinstrumenten (Art2 Z6 der Pilotregelung). Sie können von einer nach der MiFID II zugelassenen Wertpapierfirma oder dem Betreiber eines geregelten Markts betrieben werden.91 DLT-Abwicklungssysteme (DLTSS) ermöglichen die erstmalige Verbuchung, Abwicklung und Verwahrung von DLT-Finanzinstrumenten (Art2 Z7 der Pilotregelung). Sie werden von nach der CSDR zugelassenen Zentralverwahrern betrieben.92 Zusätzlich zur bereits vorhandenen Zulassung ist jeweils die Beantragung einer besonderen Genehmigung nach der Pilotregelung erforderlich (Art8 und 9 der Pilotregelung).

DLT-MTF und DLT-SS erleichtern aufgrund der verfügbaren Ausnahmen93 die Verwendung von DLT-Systemen. Sie halten aber grundsätzlich an der Einschaltung einer regulierten Abwicklungsinfrastruktur und an der Trennung zwischen Handels- und Nachhandelstätigkeiten fest. Um das volle Potenzial der DLT zu nutzen, war daher im Entwurf der Europäischen Kommission vorgesehen, dass Betreiber von DLTMTF eine Ausnahme von Art3 CSDR beantragen und Finanzinstrumente in den Handel einbeziehen können, die nicht bei einem Zentralverwahrer eingebucht sind, wenn sie

89 Dazu Palma, Alternative Finanzierung – Crowdfunding in Österreich (2019) 194.

90 Erwägungsgrund 7 der Pilotregelung.

91 Erwägungsgrund 13 der Pilotregelung.

92 Erwägungsgrund 18 der Pilotregelung.

93 Siehe Pkt III.7.

276 5/2022 Kapitalmarktrecht

die Finanzinstrumente auf einem DLT-System verbuchen und bestimmte Mindestanforderungen erfüllen.94

Die finale Fassung sieht stattdessen für die Kombination von Handels- und Nachhandelstätigkeiten mit dem DLTHandels- und Abwicklungssystem (DLT-TSS) eine neue eigenständige Marktinfrastruktur vor. Die Pilotregelung ermöglicht auf diese Weise ebenfalls den Handel und die Abwicklung von DLT-Finanzinstrumenten unter Einschaltung lediglich eines Intermediärs und trägt dem Anliegen eines level-playing field besser Rechnung.95 Im Unterschied zum Kommissionsentwurf ist aber die Eintrittshürde deutlich höher: Eine Wertpapierfirma oder ein Marktbetreiber, der eine besondere Genehmigung für den Betrieb eines DLT-TSS beantragt, muss zusätzlich zu den Anforderungen der MiFID II auch die meisten Anforderungen der CSDR erfüllen, soweit nicht eine Ausnahme nach der Pilotregelung für bestimmte Bestimmungen beantragt wurde (Art6 Abs1 litb der Pilotregelung). Dasselbe gilt vice versa im Hinblick auf die Bestimmungen von MiFID II und MiFIR für Zentralverwahrer, die ein DLT-TSS betreiben wollen (Art6 Abs2 litb der Pilotregelung). An die Betreiber von DLT-TSS werden damit hohe Anforderungen gestellt. Angesichts der strengen Sicherheitsvorkehrungen und der engmaschigen Beaufsichtigung innerhalb der sandbox wäre ein etwas liberalerer Ansatz durchaus zu begrüßen gewesen.

Aufgrund der erforderlichen Zulassungen als Wertpapierfirma, Marktbetreiber oder Zentralverwahrer steht die sandbox – anders als sonst üblich – primär etablierten Marktteilnehmern offen. Die Zulassungserfordernisse sind wiederum vor dem Hintergrund zu sehen, dass es sich um streng regulierte und potenziell systemrelevante Bereiche handelt.96 Fraglich ist allerdings, ob diese Beschränkung im Rahmen einer sandbox sinnvoll ist, da Innovationen am Finanzmarkt häufig nicht von etablierten Marktteilnehmern, sondern von jungen Unternehmen ausgehen, die aufgrund ihrer fehlenden Erfahrung im regulierten Umfeld in besonderem Ausmaß von einer Sandbox-Lösung profitieren.97

Um auch neuen Marktteilnehmern Zugang zu gewähren, sieht die Pilotregelung daher für diese eine Erleichterung vor:98 Wird gleichzeitig mit der Zulassung als Wertpapierfirma, Marktbetreiber oder Zentralverwahrer eine besondere Genehmigung nach der Pilotregelung beantragt und soll ausschließlich eine DLT-Marktinfrastruktur betrieben werden, müssen jene Anforderungen, für die nach der Pilotregelung Ausnahmen beantragt werden, für die Zulassung nicht erfüllt werden (Art8 Abs2, Art9 Abs2 und Art10 Abs2 der Pilotregelung). Die Pilotregelung sieht also eine Art beschränkte Zulassung für DLT-Marktinfrastrukturen unter etwas niedrigeren Voraussetzungen vor. Da die möglichen Ausnahmen aber nur jene Bestimmungen betreffen, die dem Einsatz der DLT entgegenstehen könnten, hat die Erleichterung eher den

94 Vgl KOM (2020) 594 endg, Art4 Abs2. Als Mindestanforderungen hatte der Betreiber des DLT-MTF lediglich sicherzustellen, dass die Finanzinstrumente auf einem DLT-System verbucht werden, die Integrität der Emission im Hinblick auf die Gesamtzahl der verbuchten Wertpapiere gewahrt bleibt und eine vollständige Kontentrennung gewährleistet ist.

95 Vgl ECON_PR(2021)689571, S69 (Amendment 95), online abrufbar unter https:// www.europarl.europa.eu/RegData/commissions/econ/projet_rapport/2021/689571/ ECON_PR(2021)689571_EN.pdf

96 Siehe Pkt III.2.

97 Ringe/Ruof, EJRR 2020, 605 und 613.

98 Erwägungsgrund 11 der Pilotregelung.

Charakter eines beschleunigten Zulassungsverfahrens, das die Anforderungen nicht signifikant senkt. Der eigentliche Vorteil könnte in einer stärkeren Begleitung des Zulassungsverfahrens durch die Behörde liegen.

Vor diesem Hintergrund muss die Praxis erst zeigen, ob die Pilotregelung für die (österreichischen) Marktteilnehmer ausreichend attraktiv ist. Traditionelle Handelsplätze iSd MiFID II werden derzeit in Österreich nur von der Wiener Börse AG betrieben. Es gibt aber immerhin zahlreiche Wertpapierfirmen.99 Einziger österreichischer Zentralverwahrer ist die OeKB CSD GmbH.100

7.Wesentliche Ausnahmen für DLT-Marktinfrastrukturen

Für alle drei DLT-Marktinfrastrukturen sieht die Pilotregelung Ausnahmen von bestehenden aufsichtsrechtlichen Anforderungen vor. Die Pilotregelung geht damit über den Ansatz vieler national eingerichteter regulatory sandboxes hinaus.101 Die Ausnahmen konzentrieren sich vor allem auf Bestimmungen der CSDR, welche die größte Hürde für den Einsatz der DLT darstellen; darüber hinaus sind auch einzelne Anforderungen der MiFID II und der MiFIR betroffen.

Die wesentliche Erleichterung für DLT-MTF besteht in der Ausnahme aus der Verpflichtung zur Mediatisierung, sodass unter bestimmten Voraussetzungen auch Endanleger direkt an das MTF angeschlossen werden können (Art4 Abs2 der Pilotregelung). Darüber hinaus kann eine Ausnahme von den Transparenzverpflichtungen nach Art26 MiFIR beantragt werden (Art4 Abs3 der Pilotregelung). Dahinter steht die Überlegung, dass die zuständigen Behörden über das DLT-System direkten Zugang zu den relevanten Informationen erhalten könnten und Meldungen dadurch überflüssig werden.102

Für DLT-SS sind in Art5 der Pilotregelung kleinteiligere Ausnahmen von bestimmten Anforderungen der CSDR vorgesehen, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden können. Zu den Ausnahmen gehören ua bestimmte Konzepte der CSDR (zB jenes der Wertpapierkonten; Art5 Abs2 der Pilotregelung), die Auslagerung von Dienstleistungen (Art5 Abs4 der Pilotregelung), Anforderungen an das cash settlement (Barausgleich; Art5 Abs8 der Pilotregelung) und die Verpflichtung zur Meldung des Wertpapierabwicklungssystems nach der Finalitätsrichtlinie103 (Art5 Abs7 der Pilotregelung). Von zentraler Bedeutung ist, dass auch für DLT-SS eine Ausnahme von der verpflichtenden Zwischenschaltung von weiteren Verwahrern vorgesehen ist, sodass eine Reduktion von Intermediären ermöglicht wird und Endanleger direkten Zugang zur DLT-Marktinfrastruktur haben (Art5 Abs5 der Pilotregelung).

Betreiber von DLT-TSS profitieren von allen Ausnahmeregelungen für DLT-MTF und DLT-SS (Art6 Abs1 Unterabs 2 der Pilotregelung).

99 Vgl die Datenbank der ESMA, online abrrufbar unter https://registers.esma.europa. eu/publication/searchRegister?core=esma_registers_upreg

100 Vgl ESMA70-155-11635, S98, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/ sites/default/files/library/esma70-155-11635_csds_register_-_art_21.pdf

101 JC 2018 74, S20.

102 Vgl Art4 Abs3 Unterabs 2 der Pilotregelung; im Detail ESMA70-460-111.

103 Richtlinie 98/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.5.1998 über die Wirksamkeit von Abrechnungen in Zahlungs- sowie Wertpapierliefer- und -abrechnungssystemen, ABl L 166 vom 11.6.1998, S45.

5/2022 277 Kapitalmarktrecht

8.Zusätzliche Anforderungen und Ausgleichsmaßnahmen

8.1.Vorbemerkung

Als Gegengewicht zu den vorgesehenen Ausnahmen sind im Lichte des Anlegerschutzes, der Marktintegrität und der Finanzstabilität unterschiedliche Arten von Maßnahmen vorgesehen, die insgesamt ein sehr starkes Sicherheitsnetz bieten sollten.

8.2.Allgemeine Anforderungen an DLT-Marktinfrastrukturen

Alle DLT-Marktinfrastrukturen müssen die in Art7 der Pilotregelung normierten zusätzlichen Anforderungen an DLTMarktinfrastrukturen erfüllen, mit denen die Risiken der Nutzung der DLT adressiert werden sollen.104 Die Bestimmung sieht dabei einen sehr detaillierten Katalog an aufsichtsrechtlichen Erfordernissen vor:

Dreh- und Angelpunkt der Anforderungen ist ein detaillierter Geschäftsplan (business plan), in dem Betreiber von DLT-Marktinfrastrukturen die Rahmenbedingungen für die Erbringung ihrer Dienstleistungen definieren müssen (Art7 Abs1 der Pilotregelung).105 Die Betreiber müssen Regeln für die Funktionsweise des verwendeten DLT-Systems, einschließlich der Regeln für den Zugang zum DLT-System und für die Teilnahme validierender Knotenpunkte, festlegen bzw dokumentieren (Art7 Abs2 der Pilotregelung).106 Bestimmte Informationen müssen öffentlich zugänglich gemacht werden (Art7 Abs1 Unterabs 2 und Abs3 der Pilotregelung).

Einen großen Stellenwert nehmen Anforderungen betreffend IT-Risiken und operationelle Risiken ein. Zur Bewertung der IT- und Cyberstrukturen kann die zuständige Aufsichtsbehörde sogar die Überprüfung durch einen unabhängigen Prüfer veranlassen, wobei der Betreiber der DLTMarktinfrastruktur für die Kosten aufkommen muss (Art7 Abs4 der Pilotregelung). Ist die Verwahrung von Kundenvermögen vorgesehen, sind auch dafür umfassende Schutzmaßnahmen vorgeschrieben. Der Betreiber haftet außerdem für den Verlust von Kundenwerten. Die Behörde hat hierbei die Möglichkeit, zusätzliche Eigenmittel oder die Deckung durch eine Versicherung zu verlangen (Art7 Abs5 und 6 der Pilotregelung).

Alle DLT-Marktinfrastrukturen müssen schließlich über eine sog Übergangsstrategie verfügen (Art7 Abs7 bis 10 der Pilotregelung). Diese soll sicherstellen, dass DLT-Finanzinstrumente bei Überschreitung der Wertgrenzen, Erlöschen der Zulassung oder Einstellung des Betriebs in eine andere Marktinfrastruktur überführt werden können. Damit das funktioniert, nimmt die Pilotregelung auch Zentralverwahrer in die Pflicht, die ein traditionelles Wertpapierliefer- und Abrechnungssystem betreiben, und verlangt von ihnen den Abschluss entsprechender Vereinbarungen mit Betreibern von DLT-Marktinfrastrukturen (Art7 Abs9 der Pilotregelung). Eine Herausforderung könnte die Interoperabilität zwischen DLT-Marktinfrastrukturen und traditionellen Marktinfrastrukturen sein.107

104 Erwägungsgrund 38 der Pilotregelung.

105 Dazu ausführlich Zetzsche/Woxholth, The DLT Sandbox under the Pilot-Regulation (2021) 18, online abrufbar unter https://papers.ssrn.com/abstract=3833766

106 Siehe Pkt IV.2.

8.3.Ausnahmespezifische Bedingungen und Ausgleichsmaßnahmen

Zusätzlich zu den allgemeinen Anforderungen ist die Inanspruchnahme von Erleichterungen gleich mehrfach abgesichert: Je nach Ausnahme müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Die Ausnahmen sind idR vom Nachweis der Inkompatibilität mit dem eingesetzten DLT-System abhängig. Darüber hinaus haben die zuständigen Behörden die Möglichkeit, zusätzliche Ausgleichsmaßnahmen zu verlangen, um die mit der für unanwendbar erklärten Bestimmung verfolgten Ziele zu erreichen oder um den Anlegerschutz, die Marktintegrität oder die Finanzstabilität zu gewährleisten.108

9.Aufsicht in der Sandbox 9.1.Vorbemerkung

Dem Regelungskonzept einer sandbox entsprechend ist die Beaufsichtigung engmaschig ausgestaltet. Die Kompetenzen sind, da es sich um eine unionsrechtlich eingerichtete sandbox handelt, zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden und der ESMA geteilt. Die finale Fassung der Pilotregelung weist der ESMA eine relativ starke Rolle zu.

9.2.Genehmigungsverfahren

Marktteilnehmer, die die Ausnahmen der Pilotregelung in Anspruch nehmen wollen, müssen eine besondere Genehmigung zum Betrieb einer DLT-Marktinfrastruktur (Art8 bis 10 der Pilotregelung) beantragen. Der Antrag umfasst den Geschäftsplan, umfassende Informationen zur Erfüllung der allgemeinen Anforderungen nach Art7 der Pilotregelung, die Übergangsstrategie sowie Angaben zu den gewünschten Ausnahmen, gegebenenfalls samt vorgeschlagenen Ausgleichsmaßnahmen (Art8 Abs4, Art9 Abs4 und Art10 Abs4 der Pilotregelung). Der Umfang der zu übermittelnden Informationen legt nahe, dass bereits vor dem Antrag eine intensivere Abstimmung mit der zuständigen Behörde erforderlich ist.

Zuständig für das Genehmigungsverfahren ist in erster Linie die nationale Aufsichtsbehörde, die auch die notwendige Zulassung als Wertpapierfirma für den Betrieb eines MTF bzw als Zentralverwahrer für den Betrieb eines Wertpapierliefer- und Abrechnungssystems erteilt.109 Vor der Entscheidung über den Antrag ist jedoch die ESMA unter Anschluss aller relevanter Informationen zu benachrichtigen, die innerhalb von 30 Tagen eine unverbindliche Stellungnahme abgeben kann. Die ESMA hat dabei nicht nur Empfehlungen hinsichtlich der beantragten Ausnahmen und der Eignung des verwendeten DLT-Systems abzugeben, sondern soll auch die einheitliche und proportionale Anwendung der Bestimmungen sicherstellen und zu diesem Zweck die Behörden anderer Mitgliedstaaten miteinbeziehen (Art8 Abs7, Art9 Abs7 und Art10 Abs8 der Pilotregelung). Ihr kommt damit eine ent-

107 Die Schnittstelle zwischen DLT-Marktinfrastrukturen und traditionellen Marktinfrastrukturen hält die Pilotregelung auch beim Zentralverwahrer-Link für problematisch; vgl Erwägungsgrund 36 der Pilotregelung. Bei der Übergangsstrategie geht es allerdings nicht um eine laufende Datenübertragung.

108 Vgl Erwägungsgrund 25 sowie Art4 Abs1 und Art5 Abs1 der Pilotregelung.

109 Vgl Art12 der Pilotregelung; widersprüchlich Art2 Z21 der Pilotregelung, der scheinbar davon ausgeht, dass auch die Benennung einer andere Behörde möglich ist.

278 5/2022 Kapitalmarktrecht

scheidende Koordinationsaufgabe zu.110 Die Letztentscheidungskompetenz liegt zwar bei der nationalen Aufsichtsbehörde, allerdings muss sie wesentliche Abweichungen gegenüber der ESMA begründen (Art8 Abs7, Art9 Abs7 und Art10 Abs8 der Pilotregelung). Außerdem muss die ESMA innerhalb von zwei Jahren Leitlinien in Bezug auf Ausnahmen, geeignete DLT-Systeme und die Herabsetzung der Schwellenwerte nach Art3 Abs6 der Pilotregelung veröffentlichen (Art8 Abs8 und Art9 Abs8 der Pilotregelung). Die Rolle der ESMA wurde damit in der Endfassung der Pilotregelung noch einmal deutlich aufgewertet. Ihr kommt insgesamt eine starke Stellung zu, die den Spielraum der nationalen Aufsichtsbehörden begrenzt. Das erscheint im Hinblick auf eine einheitliche Genehmigungspraxis auch durchaus begrüßenswert.

Eine erteilte Genehmigung gilt in der gesamten EU (Art8 Abs11, Art9 Abs11 und Art10 Abs11 der Pilotregelung). Der damit vorgesehene EU-Pass111 könnte vor allem dann interessant werden, wenn es in der EU nur wenige DLT-Marktinfrastrukturen nach der Pilotregelung gibt.

9.3.Laufende Beaufsichtigung

Für die laufende Beaufsichtigung ist primär ebenfalls die nationale Aufsichtsbehörde zuständig. In Art11 der Pilotregelung ist darüber hinaus eine enge Kooperation von Betreibern von DLT-Marktinfrastrukturen, nationalen Behörden und der ESMA vorgesehen. Dies ermöglicht eine engmaschige Aufsicht als Ausgleich für die gewährten Ausnahmen. Darüber hinaus sind die Kooperationsbestimmungen entscheidend für den bezweckten Lernprozess. Vorgesehen sind sowohl anlassbezogene als auch regelmäßige Berichtspflichten der Betreiber DLT-Marktinfrastrukturen an die nationale Behörde und die Weiterleitung der Informationen an die ESMA.

Die Behörden sind mit speziellen Befugnissen ausgestattet und können insb die erteilte Genehmigung vorzeitig widerrufen oder Abhilfemaßnahmen anordnen. Hinzu treten jene Befugnisse, die den Behörden bereits aufgrund der Zulassung der Betreiber der DLT-Marktinfrastrukturen nach der MiFID II oder der CSDR zukommen.

Die ESMA hat auch bei der Aufsicht eine Koordinierungsfunktion, im Rahmen derer sie die gewonnenen Erkenntnisse auswerten und regelmäßig an die Behörden anderer Mitgliedstaaten übermitteln soll (Art11 Abs5 der Pilotregelung). Sie muss außerdem der Europäischen Kommission jährlich Bericht erstatten (Art11 Abs6 der Pilotregelung) und spielt eine wesentliche Rolle im weiteren Gesetzgebungsprozess, da sie nach drei Jahren als Basis für die weitere Vorgehensweise einen umfassenden Bericht an die Europäische Kommission zu erstatten hat (Art14 der Pilotregelung).112

10.Zwischenfazit

Da der Handel und die Abwicklung von Finanzinstrumenten einen sensiblen Bereich betreffen, die DLT mit mehreren Regelungskonzepten des Aufsichtsrechts bricht und ausrei-

110 Ringe/Ruof, The DLT Pilot Regime: An EU Sandbox, at Last! (2020), online abrufbar unter https://www.law.ox.ac.uk/business-law-blog/blog/2020/11/dlt-pilot-regime-eusandbox-last; Zetzsche/Woxholth, DLT Sandbox, 28.

111 Vgl Zetzsche/Woxholth, DLT Sandbox, 22.

112 Siehe Pkt III.4.

chende Erfahrungen mit der Technologie fehlen, sah sich der Unionsgesetzgeber mit einer schwierigen Regelungsaufgabe konfrontiert. Hinzu kommen die ambitionierten Ziele der Pilotregelung: Diese soll gleichzeitig Innovationen fördern, Risiken minimieren und einen institutionellen Lernprozess ermöglichen.

Mit dem Konzept einer unionsrechtlich eingerichteten regulatory sandbox, die gezielte Ausnahmen vom geltenden Aufsichtsrecht ermöglicht, ist es dem Unionsgesetzgeber dennoch gelungen, ein geeignetes Werkzeug zur Erreichung der Ziele zu entwerfen. Die Pilotregelung fügt sich gut in das geltende Aufsichtsrecht ein und sieht ein ausreichend starkes Sicherheitsnetz vor, um mit der Technologie verbundene Risiken abzufedern. Die Koordination durch die ESMA sollte eine einheitliche Aufsichtspraxis in der EU gewährleisten. Kritikwürdig ist, dass die Pilotregelung die Hürde für den Eintritt in die sandbox hoch ansetzt und nur wenige Erleichterungen für neue Marktteilnehmer vorsieht. Dadurch könnte wichtiges Potenzial verloren gehen.

IV.Ausgewählte Einzel- und Folgefragen 1.Allgemeines

Im Anschluss an den Überblick sollen noch drei ausgewählte Einzel- und Folgefragen diskutiert werden, die Auskunft über das Innovationspotenzial der Pilotregelung und mögliche Hürden geben.

2.Erfasste DLT-Systeme

Eine Schlüsselfrage aus innovationstechnischer Sicht ist, ob DLT-Marktinfrastrukturen nur zugangsbeschränkte DLTSysteme (sog Permissioned-DLT-Systeme), die gegebenenfalls ein hohes Maß an Kontrolle durch den Betreiber der DLTMarktinfrastruktur ermöglichen, oder auch vollständig dezentrale Permissionless-DLT-Systeme (zB die EthereumBlockchain) verwenden können.113 Bei Letztgenannten ist es möglich, dass bestimmte Umstände ganz außerhalb der Einflusssphäre des Betreibers der DLT-Marktinfrastruktur liegen.

Während der Entwurf der Europäischen Kommission noch eine Einschränkung auf „proprietäre“ DLT vorsah,114 hat sich der Unionsgesetzgeber nun ausdrücklich für einen technologieneutralen Ansatz entschieden.115 Von Bedeutung für diesen innovationsfreundlichen Ansatz sind zwei Schlüsselstellen der Pilotregelung:

Angaben zur Funktionsweise: Nach Art7 Abs2 der Pilotregelung müssen die Betreiber von DLT-Marktinfrastrukturen Regeln für die Funktionsweise der eingesetzten DLT einschließlich der Regeln für den Zugang zum DLT-System und für die Beteiligung der validierenden Knotenpunkte definieren. Die verabschiedete Fassung verlangt aber nicht mehr zwingend die Festlegung dieser Regeln durch den Betreiber, sondern lässt ausdrücklich auch die Dokumentation der Regeln genügen. Damit ebnet die Pilotregelung den Weg für den Einsatz dezentraler Systeme, bei denen der Betreiber keinen Einfluss auf

113 Zum genauen Unterschied siehe bereits F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 372.

114 Vgl KOM (2020) 594 endg, Erwägungsgrund 28.

115 Erwägungsgrund 9 der Pilotregelung.

5/2022 279 Kapitalmarktrecht

die genaue Funktionsweise und den Kreis der validierenden Knotenpunkte hat.  Haftung: Nach Art7 Abs6 der Pilotregelung haften die Betreiber von DLT-Marktinfrastrukturen für den Verlust von Geldern, Sicherheiten oder DLT-Finanzinstrumenten bis zum Marktwert des verlorenen Vermögenswerts. Die Haftung ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Betreiber „nachweist, dass der Verlust auf ein externes Ereignis zurückzuführen ist, das sich seiner vernünftigen Kontrolle entzogen hat und dessen Folgen trotz aller zumutbarer Anstrengungen unvermeidbar waren.“ Damit dürfte der Unionsgesetzgeber ein Haftungsregime geschaffen haben, das zwar durchaus streng ist,116 dem Betreiber aber auch bei Einsatz eines Permissionless-DLT-Systems keine unkalkulierbaren Haftungsrisiken aufbürdet.

Die Pilotregelung ist damit breit aufgestellt und sollte den Einsatz beider Arten von DLT-Systemen ermöglichen. Die Praxis wird zeigen, welche Technologien sich am besten für den Betrieb einer DLT-Marktinfrastruktur eignen.

3.Finanzinstrumente, DLT-Finanzinstrumente und Security Tokens

3.1.Vorbemerkung

Die Pilotregelung betrifft Finanzinstrumente, die mithilfe von DLT-Marktinfrastrukturen gehandelt und abgewickelt werden. Allerdings verwendet die Pilotregelung unterschiedliche Begriffe und Begriffsdefinitionen. Der Anwendungsbereich bedarf daher einer genaueren Betrachtung.

3.2.Änderung des Begriffs „Finanzinstrumente“ nach der MiFID II

Mit der Neufassung des Art4 Abs1 Z15 MiFID II tritt gemeinsam mit der Pilotregelung zunächst eine permanente Änderung in Kraft. Nach dem neuen Wortlaut der Begriffsbestimmung sind Finanzinstrumente „die in Anhang I Abschnitt C genannten Instrumente, einschließlich mittels Distributed-Ledger-Technologie emittierter Instrumente“ (Art18 Abs1 der Pilotregelung). Für das Vorliegen eines Finanzinstruments iSd MiFID II ist es daher ausdrücklich unerheblich, ob dieses unter Nutzung der DLT oder mithilfe traditioneller Methoden (zB durch Ausstellung einer Wertpapierurkunde) emittiert wird.

Aus unionsrechtlicher Sicht hat diese Regelung lediglich klarstellende Bedeutung: In der Diskussion war bereits früh anerkannt, dass auch Kryptowerte Finanzinstrumente darstellen können, wenn sie inhaltlich traditionellen Finanzinstrumenten vergleichbar ausgestaltet sind.117 Auf die Verbriefung nach dem nationalen Recht kommt es nach mE zutreffender Ansicht auch bei übertragbaren Wertpapieren, die einen wichtigen Teil der Finanzinstrumente darstellen, nicht an, sofern die Handelbarkeit aus praktischer Sicht gewährleistet ist.118 Dieser Substance-over-form-Ansatz wurde 2019 durch

116 Zur Beweislastumkehr Litten, BKR 2022, 555.

117 Vgl Hacker/Thomale, Crypto-Securities Regulation: ICOs, Token Sales and Cryptocurrencies under EU Financial Law, European Company and Financial Law Review 2018, 645 (671ff).

118 Überzeugend Zickgraf, Initial Coin Offerings – Ein Fall für das Kapitalmarktrecht? AG 2018, 293 (301f); siehe auch Kalss/F. Ebner, Auf dem Weg zum digitalen Wertpapier, EuZW 2019, 433.

die ESMA nach Konsultation der zuständigen nationalen Behörden im Ergebnis bestätigt.119 Auch die FMA ging schon bisher davon aus, dass Finanzinstrumenten vergleichbare Kryptowerte dem geltenden Finanzmarktrecht unterliegen.120 Gegebenenfalls sind Bestimmungen im nationalen Recht, die auf Grundlage von Art4 Abs1 Z15 MiFID II aF erlassen wurden und diesem Verständnis entgegenstehen, bis 23.3.2023 anzupassen (Art18 Abs2 der Pilotregelung).

3.3.Einschränkung auf DLT-Finanzinstrumente? Obwohl jedes Finanzinstrument iSd MiFID II damit grundsätzlich auch mithilfe der DLT emittiert werden kann, sieht die Pilotregelung in Art2 Z11 noch eine eigene Definition von „DLT-Finanzinstrumenten“ vor. Diese Bestimmung ist relevant, weil DLT-Marktinfrastrukturen ausschließlich DLTFinanzinstrumente iSd Art2 Z11 der Pilotregelung zum Handel zulassen121 oder verbuchen122 dürfen.123 Die Textierung der Bestimmung wirft allerdings viele Fragen auf: Nach Art2 Z11 der Pilotregelung ist ein DLT-Finanzinstrument „ein Finanzinstrument, das mittels Distributed-Ledger-Technologie emittiert, verbucht, übertragen und gespeichert wird“. Der Wortlaut der Bestimmung legt dabei nahe, dass es sich um kumulative Voraussetzungen handelt und ein DLTFinanzinstrument nur vorliegt, wenn der gesamte Lebenszyklus des Finanzinstruments auf einem DLT-System abgebildet ist. Finanzinstrumente, die zunächst traditionell (zB mittels Urkunde) begeben und später tokenisiert werden, könnten danach nicht über eine DLT-Marktinfrastruktur gehandelt oder übertragen werden. Dagegen spricht aber schon Erwägungsgrund 3 der Pilotregelung, der sowohl die „Emission traditioneller Anlageklassen in tokenisierter Form“ als auch die „digitale Darstellung [vgl die englische Sprachfassung: representation] von Finanzinstrumenten auf Distributed Ledgern“ anspricht.124

Auch sonst wollen die DLT-Finanzinstrumente mE nicht so recht in die Logik der DLT-Marktinfrastrukturen hineinpassen. So ist etwa für DLT-SS vorgesehen, dass diese „die erstmalige Erfassung von DLT-Finanzinstrumenten“ ermöglichen (Art2 Z7 der Pilotregelung). Nach dem Wortlaut der Bestimmung muss das Finanzinstrument daher wohl schon in Form eines Kryptowerts beim DLT-SS ankommen. Die Aufgabe eines Zentralverwahrers als traditionelles Pendant liegt dagegen gerade darin, Wertpapiere unterschiedlicher Form in die Form eines Bucheintrags zu überführen. Dieser Logik würde es entsprechen, wenn DLT-SS nicht nur die erstmalige Erfassung von DLT-Finanzinstrumenten, sondern die erstmalige Erfassung jeglicher Finanzinstrumenten als DLT-Finanzinstrumente ermöglichen würden.

Die Bedeutung des Begriffs „DLT-Finanzinstrument“ kann damit derzeit wohl leider nur als „unklar“ bezeichnet werden. Die ESMA dürfte ebenfalls von einem weiten Verständnis ausgehen, das sich mehr an der Logik traditioneller Markt-

119 ESMA50-157-1391, S5, online abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/sites/ default/files/library/esma50-157-1391_crypto_advice.pdf

120 Siehe https://www.fma.gv.at/kontaktstelle-fintech-sandbox/fintechnavigator/initialcoin-offering

121 Vgl Art2 Z6 der Pilotregelung.

122 Vgl Art2 Z7 der Pilotregelung.

123 Erwägungsgrund 8 der Pilotregelung.

124 Vgl ESMA70-460-111, S39f.

280 5/2022
Kapitalmarktrecht

infrastrukturen orientiert und die nachträgliche Überführung von Finanzinstrumenten in die Form eines Kryptowerts erlaubt.125 Eine Klarstellung durch die Europäische Kommission wäre hilfreich.

3.4.Handelsmöglichkeit für bestehende Security Tokens?

Damit im weiteren Zusammenhang steht die Frage, ob bereits derzeit am Markt vorzufindende security tokens (zB tokens, die auf der Ethereum-Blockchain nach dem ERC-20-Standard ohne Einschaltung eines Intermediärs begeben wurden) in den Handel bei einer DLT-Marktinfrastruktur einbezogen werden können. Das würde dem Ziel der Pilotregelung entsprechen, die Entwicklung eines Sekundärmarkts für „Kryptowerte, die als Finanzinstrumente gelten“, zu fördern,126 und wäre aus praktischer Sicht sehr wichtig.

Die Pilotregelung regelt nicht explizit, wie solche tokens an regulierten Handelsplätzen gehandelt werden könnten. Sie wählt stattdessen den umgekehrten Weg und erlaubt Betreibern von Marktinfrastrukturen, DLT-Systeme für den Handel und die Abwicklung von Finanzinstrumenten einzusetzen. Der Logik der traditionellen Marktinfrastrukturen würde es wiederum entsprechen, wenn solche security tokens als Vorbereitung für den Handel bei einem DLT-SS oder DLT-TSS als DLT-Finanzinstrument erfasst und anschließend an einem DLT-MTF oder DLT-TSS gehandelt werden könnten. Im Falle der security tokens dürfte dem auch der Wortlaut des Art2 Z11 der Pilotregelung nicht entgegenstehen, da security tokens alle Merkmale eines DLT-Finanzinstruments erfüllen.

Die Pilotregelung sollte damit im Ergebnis die Bildung eines Sekundärmarkts auch für bestehende security tokens ermöglichen. Die technische Herausforderung dürfte vor allem die Interoperabilität sein, falls verschiedene DLT-Systeme verwendet werden.

4.Privatrechtliche Einordnung von DLT-Finanzinstrumenten

Eine Frage, die nicht von der Pilotregelung geregelt wird, ist die privatrechtliche Einordnung von DLT-Finanzinstrumenten. Dabei handelt es sich um eine Angelegenheit des nationalen Rechts.

Praktisch relevant ist vor allem, ob ausschließlich elektronisch mithilfe der DLT begebene Finanzinstrumente dieselben wertpapierrechtlichen Wirkungen entfalten wie Wertpapiere, bei denen eine physische (Sammel-)Urkunde existiert. Das ist ua für den Verkehrsschutz und damit für die Rechtssicherheit von entscheidender Bedeutung.127

Gesetzlich ist eine vollständig entmaterialisierte Begebung von Wertpapieren derzeit nur für die digitale Sammelurkunde nach §1 Abs4 DepotG vorgesehen. Das Instrument steht aber einerseits nur für Schuldverschreibungen und Investmentzertifikate zur Verfügung; eine digitale Begebung von Aktien ist damit ausgeschlossen.128 Andererseits entsteht die digitale Sammelurkunde nach §1 Abs4 DepotG „durch Anlegung eines elektronischen Datensatzes bei einer Wertpapiersammelbank ... im Umfang der Gutschriften auf den bei

125 Vgl ESMA70-460-111, S39f.

126 Erwägungsgrund 4 der Pilotregelung.

127 Siehe Pkt II.2.; zum Meinungsstand F. Ebner/Kalss, RDi 2022, 110.

128 F. Ebner/Kalss, GesRZ2020, 376.

der Wertpapiersammelbank geführten Depots.“ Die Begebung einer digitalen Sammelurkunde über eine DLT-Marktinfrastruktur ist daher dann denkbar, wenn diese von einem zugelassenen Zentralverwahrer129 betrieben wird. Die Einbindung einer Wertpapierfirma oder eines Marktbetreibers, der ein DLT-TSS betreibt, reicht dagegen nach dem Wortlaut nicht aus. Ein potenzielles Hindernis könnte auch die zwingende Gutschrift auf einem „Depot“ sein, weil in Art5 Abs2 der Pilotregelung eine Ausnahme von der Verwendung von „Depotkonten“ vorgesehen ist.

Die digitale Sammelurkunde bietet damit nur für einen Teil der Anwendungsfälle der Pilotregelung eine sichere wertpapierrechtliche Grundlage. Weitere wertpapierrechtliche Reformen auf nationaler Ebene sind daher – zumindest iSd Rechtssicherheit – erforderlich.130 Die Schweiz, Liechtenstein und Deutschland sind hier bereits deutlich weiter.130a

V.Fazit und Ausblick

Die DLT eignet sich für die digitale Begebung von Finanzinstrumenten und verspricht Effizienzgewinne für deren Handel und Abwicklung. Unvereinbarkeiten mit dem geltenden Finanz- und Kapitalmarktrecht erschweren jedoch bislang den Einsatz der Technologie und verhindern damit die Entwicklung eines Sekundärmarkts für security tokens. Änderungen des Unionsrechts müssen mit großer Umsicht erfolgen, um die Integrität und Stabilität des Finanzmarkts nicht zu gefährden.

Mit der Pilotregelung für DLT-Marktinfrastrukturen präsentiert der europäische Gesetzgeber eine unionsrechtlich eingerichtete sandbox, die Ausnahmen vom geltenden Finanzmarktrecht erlaubt und dadurch bestimmten Marktteilnehmern den Einsatz der DLT für den Handel und die Abwicklung von Aktien, Anleihen und Investmentzertifikaten ermöglicht. Damit wird zugleich die Entwicklung eines Sekundärmarkts für security tokens gefördert. Zum Schutz der Anleger, der Marktintegrität und der Finanzmarktstabilität unterliegen die Marktteilnehmer in der sandbox erhöhten Anforderungen und einer engmaschigen Beaufsichtigung. Durch ihren technologieneutralen Ansatz bietet die Pilotregelung genügend Spielraum, um unterschiedliche Arten von DLT-Systemen zu erproben. Sie ist damit insgesamt gut geeignet, die Hürden im geltenden Aufsichtsrecht zu überwinden, wenngleich manche Aspekte noch klärungsbedürftig sind.

Für den Erfolg der Pilotregelung wird entscheidend sein, wie attraktiv die sandbox für die (österreichischen) Marktteilnehmer ist. Hier legt die Pilotregelung einen hohen Maßstab an, der sich vor allem für neue Marktteilnehmer als zu restriktiv erweisen könnte. Unbeantwortet bleibt außerdem die Frage, wie DLT-Finanzinstrumente privatrechtlich einzuordnen sind. Die digitale Sammelurkunde bietet nur für einige, aber nicht für alle Anwendungsfälle der Pilotregelung eine geeignete wertpapierrechtliche Grundlage. Weitere Reformen im Wertpapierrecht sind daher notwendig, um etwa die vollständig digitale Begebung tokenisierter Aktien zu ermöglichen.

129 Vgl §1 Abs3 DepotG. 130 Siehe zu all dem bereits F. Ebner/Kalss, RDi 2022, 115. 130a Vgl F. Ebner/Kalss, GesRZ 2020, 373 f.

5/2022 281 Kapitalmarktrecht

Aus der aktuellen Rechtsprechung*

Personengesellschaften

Zum Zeitpunkt des Erlöschens einer eingetragenen Personengesellschaft im Zusammenhang mit §142 UGB (HGB)

§§105, 123, 142 und 166 UGB

§142 HGB

§2 Abs2 Z7 AußStrG 1854

1. Die Vollbeendigung einer abzuwickelnden Personengesellschaft setzt im Allgemeinen (neben deren Vermögenslosigkeit) auch deren Löschung im Firmenbuch voraus (Fortschreibung der Rspr).

2. Die Firmenbucheintragung ist zwar notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für das Bestehen einer eingetragenen Personengesellschaft.

3. Eine Übernahmevereinbarung iSd §142 Abs1 UGB (HGB) führt unmittelbar mit ihrem Wirksamwerden zu einer Gesamtrechtsnachfolge des Übernehmers kraft Anwachsung und zur Auflösung der Gesellschaft ohne Liquidation, und zwar unabhängig von der entsprechenden Firmenbucheintragung (Fortschreibung der Rspr).

4. Die zum AußStrG 1854 ergangene Rspr, wonach über Auskunfts- und Kontrollrechte eines Kommanditisten dann, wenn auch ihre tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen (zB Gesellschafterqualität, Beteiligung und Identität der Gesellschaft) streitig waren, im streitigen Verfahren zu entscheiden war, wird nicht aufrechterhalten.

OGH 18.3.2022, 6 Ob 191/21p (OLG Linz 6 R 70/21p; LG Ried im Innkreis 16 Fr 3976/20x)

[1] Seit 31.7.2004 sind im Firmenbuch des Erstgerichts ... die Antragsgegnerin aufgrund des Gesellschaftsvertrages vom 13.7.2004 mit dem unbeschränkt haftenden Gesellschafter J. S. (im Folgenden: Komplementär) sowie dessen Bruder, dem Antragsteller, als Kommanditisten mit einer Haftungssumme von 10.000€ eingetragen.

[2] Der Antragsteller begehrt gestützt auf §166 Abs1 UGB, ihm die Jahresabschlüsse der Antragsgegnerin für die Jahre 2017 bis 2019 in Abschrift herauszugeben und ihm Einsicht in die Bücher und Schriften der Jahre 2017 bis 2019 zu gewähren. Obwohl ihm als Kommanditisten die abschriftliche Mitteilung der Jahresabschlüsse und die Einsicht in die Bücher und Schriften zustehen, habe ihm die Antragsgegnerin beides verweigert.

[3] Die Antragsgegnerin wendet ein, der Antragsteller sei zwar als ihr Kommanditist im Firmenbuch eingetragen, ihm komme jedoch materiell-rechtlich keine Gesellschafterstellung zu, sodass er auch nicht zur Bucheinsicht berechtigt sei. Unverzüglich nach Errichtung des ersten Gesellschaftsvertrages im Sommer 2004 habe der Antragsteller die von ihm zugesicherten Leistungen und Zahlungen nicht erbracht. Diese Situation habe dazu geführt, dass bereits wenige Monate später der Antragsteller aus der Gesellschaft ausgeschieden sei. Aufgrund des damals noch bestehenden Vertrauensverhältnisses sei auf eine formelle Auflösung und auf eine entsprechende Firmenbuchanmeldung zum Ausscheiden des Antragstellers verzichtet worden. Die im Firmenbuch eingetragene Antragsgegnerin sei somit eine bloße „Pro-forma-Gesellschaft“. Zudem habe der Antragsteller seinen Bruder insb durch Vorschützen zukünftiger Arbeitsleistungen arglistig getäuscht; dem Abschluss des Gesellschaftsvertrages hafte daher ein Wurzelmangel an, sodass die Gesellschaft nicht wirksam zustande gekommen sei.  [4] Das Erstgericht gab dem Antragsbegehren statt. ...

[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. ... Nach jüngerer Rechtsprechung setze jedoch die Vollbeendigung einer (eingetragenen) Personengesellschaft nicht nur deren Vermögenslosigkeit, sondern auch deren Löschung im Firmenbuch als konstitutives Element voraus. Da die Gesellschaft und ihre Gesellschafter aufrecht im Firmenbuch eingetragen seien, sei die Antragsgegnerin nicht vollbeendet, sondern bestehe nach wie vor aufrecht. Damit sei der Anspruch des Antragstellers als Kommanditist der Gesellschaft nach §166 UGB berechtigt. Aufgrund dieser Rechtsansicht und der konstitutiven Eintragung der Antragsgegnerin im Firmenbuch komme es auf die in der Verfahrensrüge gerügten unterlassenen Beweisaufnahmen zu den Behauptungen der Antragsgegnerin nicht an.

[6]

Der OGH gab dem Revisionsrekurs Folge, hob die Beschlüsse der Vorinstanzen auf und verwies die Firmenbuchsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Aus der Begründung des OGH:

[7] Der Revisionsrekurs der Antragsgegnerin ist zulässig; er ist iSd hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags in die erste Instanz auch berechtigt.

[8] 1. Zutreffend hat das Rekursgericht eine Bindung an die Entscheidung des OGH im Vorverfahren 6 Ob 219/19b verneint.

[9] 1.1. Die Rspr nimmt eine Bindung nur an die im Vorprozess entschiedene Hauptfrage, nicht aber an eine dort beurteilte Vorfrage an (RIS-Justiz RS0127052 [T1]; RS0042554 [T6]). Worüber im Vorprozess als Hauptfrage bzw Hauptgegenstand entschieden wurde, ist jeweils im Einzelfall konkret zu prüfen; dabei kommt es auf den Gegenstand der spruchmäßigen Entscheidung an. Lediglich zur Individualisierung des Hauptgegenstands sind auch die rechtserzeugenden Tatsachen und der rechtliche Subsumtionsschluss heranzuziehen (RIS-Justiz RS0127052 [T5]; RS0043259; RS0041357 [T3]).

[10] 1.2. Dass das Bestehen des Gesellschaftsverhältnisses im hier relevierten Vorprozess lediglich Vorfrage für den vom dortigen Kläger geltend gemachten Anspruch auf Auszahlung seines Gewinnanteils war, liegt auf der Hand. Schon aus diesem Grund kommt der dort erfolgten Beurteilung dieser Frage keine Bindungswirkung zu.

[11] 2. Ebenso zutreffend ist die Beurteilung des Rekursgerichts, dass nach jüngerer – mittlerweile gefestigter – höchstgerichtlicher Rspr die Vollbeendigung einer abzuwickelnden Personengesellschaft im Allgemeinen (neben deren Vermögenslosigkeit) auch deren Löschung voraussetzt (8 ObA 72/07g; 5 Ob 168/08d; 8 Ob 61/12x; 8 Ob 72/12i; 6 Ob 136/15s; gegenteilig die ältere Rspr; siehe RIS-Justiz RS0021156; zur bloß deklarativen Bedeutung der Eintragung im Verhältnis zwischen den Gesellschaftern einer Personengesellschaft vgl RIS-Justiz RS0061697).

[12] 3. Nicht gefolgt werden kann jedoch dem Rekursgericht bei der weiteren Beurteilung, wegen dieser Rechtslage folgen aus der aufrechten Firmenbucheintragung zwingend das auf-

*Die zivilrechtliche Judikatur wird von Dr. Georg Nowotny, Hofrat des OGH, bearbeitet.

282 5/2022 Judikatur

rechte Bestehen der Antragsgegnerin und die Stellung des Antragstellers als deren Kommanditist.

[13] 3.1. Die Firmenbucheintragung einer eingetragenen Personengesellschaft ist zwar gem §123 Abs1 (iVm §161 Abs2) UGB notwendige Bedingung für das Entstehen und somit für die (volle) Existenz der Gesellschaft als Rechtsträger (§105 UGB). Dies gilt hier auch für die Antragsgegnerin, die schon vor Inkrafttreten des HaRÄG, BGBl I 2005/120, mit 1.1.2007 (vgl §907 Abs9 UGB) als KEG angemeldet und eingetragen wurde (§3 Abs1 Satz 2 EGG iVm §124 Abs1 HGB). Die Firmenbucheintragung ist jedoch nicht hinreichende Bedingung für das Bestehen einer eingetragenen Personengesellschaft. So wurde vom erkennenden Fachsenat auch schon ausgesprochen, dass etwa die nach §33 Abs3 PSG erforderliche Firmenbucheintragung der Änderung einer Stiftungsurkunde dann keine konstitutive Wirkung entfaltet, wenn der Stifter beim Änderungsakt geschäftsunfähig war (6 Ob 157/12z; RIS-Justiz RS0123556 [T6 und T7]).

[14] 3.2. Nach dem Vorbringen der Antragsgegnerin ist es bereits wenige Monate nach der Gesellschaftsgründung im Sommer 2004 zu einem Ausscheiden des Antragstellers aus der Antragsgegnerin gekommen, wobei sich die beiden (bisherigen) Gesellschafter darauf verständigt hätten, auf eine „formelle Auflösung“ der Gesellschaft und eine Eintragung des Ausscheidens des Antragstellers in das Firmenbuch zu verzichten.

[15] Damit beruft sich die Antragsgegnerin erkennbar auf eine einseitige Übernahme des Gesellschaftsvermögens durch den Komplementär als verbleibenden Gesellschafter im Wege der Gesamtrechtsnachfolge, die auch bereits nach der vor Inkrafttreten des HaRÄG geltenden Regelung bei entsprechendem Einvernehmen der Gesellschafter möglich war (vgl dazu 6 Ob 152/08h, Pkt3.1. bis 3.4.). Eine solche nachträgliche Übernahmevereinbarung iSd §142 Abs1 HGB hätte unmittelbar mit ihrem Wirksamwerden zu einer Gesamtrechtsnachfolge des Übernehmers kraft Anwachsung und zur Auflösung der Antragsgegnerin ohne Liquidation geführt (vgl 4 Ob 78/ 01a; 2 Ob 54/00f; vgl auch Warto in Straube/Ratka/Rauter, UGB I4, §145 Rz60 mwN), und zwar unabhängig von der Eintragung des einvernehmlichen Ausscheidens des Kommanditisten sowie der Vollbeendigung der Gesellschaft in das Firmenbuch.

[16] Auf die behauptete arglistige Täuschung des Komplementärs durch den Antragsteller bei Abschluss des Gesellschaftsvertrages kommt der Revisionsrekurs nicht mehr zurück.

[17] 4. Das Erstgericht hat zwar Feststellungen im zeitlichen Zusammenhang mit der Firmenbucheintragung der Antragsgegnerin getroffen. Das von der Antragsgegnerin behauptete seinerzeitige Ausscheiden des Antragstellers aus der Antragsgegnerin hätte nach den vorstehenden Rechtsausführungen zur Folge, dass die Gesellschaft nicht mehr bestünde, der Antragsteller nicht mehr Kommanditist wäre und daher auch nicht die Rechte nach §166 UGB hätte. Zu diesen Behauptungen hat aber das Erstgericht keine (weder positive noch negative) Feststellungen getroffen und die von der Antragsgegnerin beantragten Beweise nicht durchgeführt. Nach der dargestellten Rechtslage sind diese Feststellungen aber zur

Beurteilung der Berechtigung des Antragsbegehrens erforderlich. Somit erweist sich nicht nur die rekursgerichtliche, sondern auch die erstgerichtliche Entscheidung als mangelhaft, weshalb sich die Aufhebung der Entscheidungen beider Vorinstanzen und die Zurückverweisung an das Erstgericht als notwendig erweisen. Das Erstgericht wird alle zur Beurteilung, ob der Antragsteller aus der Gesellschaft ausgeschieden ist, notwendigen Beweise durchführen, ausreichende Feststellungen treffen und sodann neuerlich entscheiden müssen. Dabei ist der Antragsgegnerin als „Gebilde“, dessen Parteifähigkeit strittig ist, die Möglichkeit zuzubilligen, im Verfahren bis zur rechtskräftigen Klärung dieser Frage aufzutreten (1 Ob 40/09b).

[18] 5.1. Zur Frage der Verfahrensart ist festzuhalten, dass nach älterer Rspr dann, wenn nicht nur die Kontroll- und Überwachungsrechte eines Gesellschafters (Einsicht in die Geschäftspapiere, Geschäftsbücher und Bilanzen) streitig waren, sondern auch ihre tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen (zB Gesellschafterqualität, Beteiligung und Identität der Gesellschaft), eine Ausnahme vom anerkannten Grundsatz, dass Auskunfts- und Kontrollrechte eines Kommanditisten nach §166 UGB im Verfahren außer Streitsachen zu behandeln sind (RIS-Justiz RS0059108 [T1]), zu machen war; diesfalls war der Anspruch im Klageweg geltend zu machen (RISJustiz RS0046144). In der Leitentscheidung dieser Rechtssatzkette wurde dies mit §2 Abs2 Z7 AußStrG 1854 begründet, wonach der Außerstreitrichter bei Notwendigkeit der Erörterung streitiger Rechtsfragen oder von Tatumständen, die sich nur durch ein förmliches Beweisverfahren ins Klare setzen lassen, die Beteiligten auf den Rechtsweg verweisen konnte (5Ob 122/58, SZ31/76; so auch noch 6 Ob 4/84; kritisch Rassi, Verfahrensrechtliche Fragen der Bucheinsicht, ÖJZ1997, 891 [Pkt III.A.2.]).

[19] Auf diese Rspr wurde auch nach Inkrafttreten des AußStrG, BGBl I 2003/111, ohne Auseinandersetzung mit deren Begründung, hingewiesen (6 Ob 203/19z, Pkt4.2.; 6 Ob 229/19y, Pkt4.2.; Kraus in U. Torggler, UGB3, §166 Rz8; Kammel in Straube/Ratka/Rauter, UGB I4, §166 Rz19; Jabornegg/Artmann in Artmann, UGB I3, §166 Rz14; Baumüller/ Grbenic in Zib/Dellinger, UGB II, §166 Rz27).

[20] 5.2. Im AußStrG, BGBl I 2003/111, wurde jedoch die Verweisung auf den Rechtsweg ersatzlos abgeschafft, weil nach Aussage der Materialien das neue AußStrG das Außerstreitverfahren mit der ZPO gleichwertigen Verfahrensgarantien und -regeln ausstatte, sodass für die Verweisung auf den Zivilrechtsweg zur Klärung strittiger Tatumstände kein Raum mehr bleibe (ErlRV 224 BlgNR 22. GP, 13). Es unterliegt keinem Zweifel, dass das AußStrG, BGBl I 2003/111, ein vollwertiges, eigenständiges zivilgerichtliches Erkenntnisverfahren normiert (6 Ob 72/18h, Pkt3.3.). Spätestens seit seiner Einführung stellt die Behandlung eines Begehrens im Außerstreitverfahren auch kein „Rechtsschutzdefizit“ im Vergleich zum streitigen Rechtsweg dar (6 Ob 229/19y, Pkt3.3.). Im Hinblick auf diesen Wegfall der gesetzlichen Grundlage wird die erörterte Rspr (RIS-Justiz RS0046144) nicht aufrechterhalten.

[21] 5.3. Vielmehr gilt auch hier der allgemeine Grundsatz: Für die Frage, ob eine Rechtssache im streitigen oder außer-

5/2022 283 Judikatur

Judikatur

streitigen Verfahren zu entscheiden ist, kommt es auf den Wortlaut des Entscheidungsbegehrens und die zu seiner Begründung vorgebrachten Sachverhaltsbehauptungen der das Verfahren einleitenden Partei an (6 Ob 162/19w, Pkt2.1.; 6Ob 203/19z, Pkt3.1.; RIS-Justiz RS0013639 [T1, T11 ua]). Welche Einwendungen der Beklagte (Antragsgegner) erhebt, ist nicht bedeutsam (RIS-Justiz RS0013639 [T5]).

[22] 5.4. Nach den allein maßgeblichen Behauptungen des Antragstellers liegt die Zuständigkeit des Außerstreitgerichts vor (RIS-Justiz RS0059108 [T1]). Ob der Antragsteller aus der Gesellschaft ausgeschieden ist, ist im außerstreitigen Verfahren als Vorfrage zu prüfen (idS schon Rassi, ÖJZ1997, 891 [Pkt III.A.2.]; vgl RIS-Justiz RS0005972). Für die von der Antragsgegnerin ins Treffen geführte Umdeutung des gestellten Antrags in eine Klage gem §40a JN besteht daher kein Raum.

6.

Anmerkung:

1. Wie der OGH festgestellt hat, entspricht es gefestigter höchstgerichtlicher Rspr, dass die Vollbeendigung einer Personengesellschaft – neben deren Vermögenslosigkeit – auch die Löschung aus dem Firmenbuch als konstitutives Element erfordert. Zu unterscheiden sind jedoch die Auflösung einer Gesellschaft aus den in §131 UGB genannten Gründen und die darauffolgende Liquidation einerseits und die Übernahme des Gesellschaftsvermögens durch den einzig verbleibenden (unbeschränkt haftenden) Gesellschafter nach §142 UGB mittels Gesamtrechtsnachfolge andererseits (OGH 28.6.1990, 6 Ob 553/90; Jabornegg/Artmann in Artmann, UGB I3 [2019] §143 Rz11; K. Schmidt/Fleischer in MünchKomm HGB5, §131 Rz8).

2. Für den Fall der Gesamtrechtsnachfolge gem §142 UGB fehlte es bislang an Rechtsklarheit. Die Tatsache, dass eine (Personen-)Gesellschaft nach wie vor im Firmenbuch eingetragen ist, bedeutet nämlich nicht zwingend, dass diese auch weiterhin existiert. Zwar mag sie gem §123 Abs1 UGB erst mit Eintragung in das Firmenbuch entstehen; die Bestimmung stellt aber eben nur auf das Entstehen der Gesellschaft ab. Nunmehr spricht der OGH aus, dass das Wirksamwerden der Gesamtrechtsnachfolge und damit einhergehend die Auflösung der Gesellschaft gerade nicht von der Eintragung des Ausscheidens des Kommanditisten sowie der Löschung der Gesellschaft im Firmenbuch abhängig sind (so auch Koppensteiner/Auer in Straube/Ratka/Rauter, UGB I4, §142 Rz7; aA Krejci, Reform-Kommentar [2007] §142 UGB Rz2).

3. Gem §142 UGB führt das Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters automatisch zum Erlöschen der Gesellschaft ohne Liquidation sowie gleichzeitig zur Anwachsung des Gesellschaftsvermögens auf den verbleibenden Gesellschafter. Losgelöst von einem weiteren Zutun der Gesellschafter – mit Ausnahme der Fortführungserklärung – fallen diese drei Schritte, nämlich 1.) das Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters, 2.) die Löschung der Gesellschaft und 3.) die Vermögensübernahme, zeitlich zusammen. Sie sind daher als einheitlicher Vorgang zu betrachten (OGH 13.10.1983, 6Ob 812/82, GesRZ1984, 213; OLG Wien 2.8.1989, 6 R 32/89, ecolex 1990, 90 [Reich-Rohrwig]; Koppensteiner/Auer in Straube/ Ratka/Rauter, UGB I4, §131 Rz7). Bei einer Ausschlussklage gem §140 UGB stellt das stattgebende Urteil, in allen anderen Fällen die Fortführungserklärung des verbleibenden Gesellschafters den maßgebenden Akt dar (Jabornegg/Artmann in Artmann, UGB I3, §142 Rz14; aA Krejci, Reform-Kommentar, §142 UGB Rz2). Damit ist auch der Zeitpunkt festgelegt.

4. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die nunmehr ergangene Rspr des OGH schlüssig, da auch die Eintragung der Vermögensübernahme nach §142 UGB im Firmenbuch – unabhängig davon, auf welcher Basis man eine Eintragungspflicht bejaht – bloß deklarative Wirkung hat (Obradović/Aschl, Der Vermögensübergang

nach §142 UGB und seine firmenbuchrechtliche Wirkung, GesRZ2021, 83). Mit der Übernahmeerklärung bzw dem stattgebenden Urteil im Falle einer Ausschlussklage geht das Vermögen bereits auf den verbleibenden Gesellschafter über. Eine Ausnahme stellen gesellschaftsrechtliche Umgründungsmaßnahmen (wie Verschmelzungen, Spaltungen oder Umwandlungen) dar, die gem §225a Abs3 AktG erst bei Eintragung ins Firmenbuch wirksam werden. Im Falle des §142 UGB kommt es hingegen zu einem gesetzlich angeordneten Vermögensübergang, dessen telos das Verhindern einer Ein-Personen-Personengesellschaft ist. Eine Wirksamkeit der Anwachsung erst bei entsprechender Firmenbucheintragung wäre daher insofern zweckwidrig, als es im Zeitraum zwischen Austreten des vorletzten Gesellschafters und Eintragung des Vermögensüberganges (der wie im gegenständlichen Fall auch mehrere Jahre betragen kann) zum Weiterbestehen der Personengesellschaft als Ein-Personen-OG bzw -KG käme. Dies widerspricht sowohl dem Wortlaut des §142 Abs1 UGB als auch dem im Personengesellschaftsrecht vorherrschenden Prinzip der Gesamthand gem §105 UGB (so auch OLG Wien 21.6.2016, 28 R 117/16f, NZ2016/121 [Walch]). Insofern stellt der OGH nunmehr klar, dass der Rechtsübergang und daher auch das Erlöschen der Gesellschaft (siehe Pkt3. der vorliegenden Entscheidungsanmerkung) bereits mit dem Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters vollzogen sind.

Sandra Maier, LL.M. (WU) ist Universitätsassistentin am Institut für Unternehmensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien.

Kapitalgesellschaften

Unzulässigkeit von Feststellungsbegehren über Rechtsverhältnisse und von Leistungsbegehren über Verhaltensweisen jeweils in der Generalversammlung zwischen GmbH-Gesellschaftern

§38 Abs5 und §§41ff GmbHG §228 ZPO

1. Einem GmbH-Gesellschafter ist es unbenommen, in der Generalversammlung dem Versammlungsleiter seine Rechtsansicht über das ihm seiner Meinung nach zustehende Stimmrecht mitzuteilen. Dem Versammlungsleiter obliegt es dann, diese Rechtsansicht zu prüfen, sich selbst eine (Rechts-) Meinung zu bilden und danach sein Verhalten als Versammlungsleiter einzurichten.

2. Das rechtliche Interesse an einer Feststellung ist zu verneinen, wenn die Rechtskraftwirkung des Feststellungsurteils die Beseitigung der Unsicherheit über das Rechtsverhältnis nicht garantieren kann. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn weder der Versammlungsleiter einer Generalversammlung noch die Gesellschaft Parteien im Feststellungsprozess über das Stimmrecht eines Gesellschafters sind.

3. Feststellungsbegehren über Rechtsverhältnisse und Leistungsbegehren über Verhaltensweisen jeweils in der Generalversammlung zwischen GmbH-Gesellschaftern sind grundsätzlich unzulässig. Zur Klärung der Fragen, ob sich die Gesellschafter oder der Versammlungsleiter in der Generalversammlung rechtmäßig verhalten haben, wer zu welchen Beschlussgegenständen sein Stimmrecht gültig ausüben durfte bzw ausgeübt hat und welche Beschlüsse letztlich wirksam zustande gekommen sind, stehen die befristete Klage nach §§41 und 42 GmbHG und die Beschlussfeststellungsklage als grundsätzlich abschließende Regelung zur Verfügung.

OGH 2.2.2022, 6 Ob 213/21y (OLG Linz 1 R 50/21k; LG Salzburg 2 Cg 9/19a)

284 5/2022

[1] Die Streitteile sind die beiden Gesellschafterinnen der d. GmbH (im Folgenden: Gesellschaft). Die Klägerin hält zirka 32% der Geschäftsanteile, die Beklagte zirka 68%. Nach dem Gesellschaftsvertrag der Gesellschaft bedarf ua die Beschlussfassung über den jährlichen Investitionsplan, sofern darin Investitionen enthalten sind, deren gemeinsame Summe 2% des Bruttoumsatzes des Vorjahres übersteigt, einer Dreiviertelmehrheit der abgegebenen Stimmen.

[2] In den Generalversammlungen der Gesellschaft vom 27.2.2018 und 8.11.2018 wurde jeweils mit den Stimmen der Beklagten und gegen die Stimmen der Klägerin ein selbständig vertretungsbefugter Geschäftsführer jener Rechtsanwalts-GmbH, die die Beklagte sowohl in diesen Generalversammlungen vertrat als auch im vorliegenden Verfahren vertritt, zum Vorsitzenden der Generalversammlung (im Folgenden: GV) bestellt. In diesen Generalversammlungen wurde auch über das Budget inklusive Investitionsplan für die Geschäftsjahre 2017/2018 bzw 2018/2019 abgestimmt. Die vorgesehenen Investitionen überstiegen jeweils 2% des Bruttoumsatzes des Vorjahres. Die Klägerin stimmte jeweils gegen, die Beklagte jeweils für den Investitionsplan. Der Vorsitzende stellte dabei jeweils nicht fest, ob der Antrag angenommen oder abgelehnt worden war.

[3] Die Klägerin begehrte zuletzt, 1.a.) es werde festgestellt, dass der Klägerin in Generalversammlungen der Gesellschaft bei der Beschlussfassung über Budget, Investitionsplan und/oder Budget inklusive Investitionsplan ein Stimmrecht zukomme, sodass ihre Stimmen bei der Beschlussfeststellung zu berücksichtigen und mitzuzählen seien;

1.b). in eventu, es werde festgestellt, dass die Klägerin in Generalversammlungen der Gesellschaft bei der Beschlussfassung über Budget, Investitionsplan und/oder Budget inklusive Investitionsplan keinem Stimmverbot oder Stimmrechtsausschluss unterliege, sodass ihre Stimmen bei der Beschlussfeststellung zu berücksichtigen und mitzuzählen seien;

2.) die Beklagte sei schuldig, in Generalversammlungen der Gesellschaft bei der Beschlussfassung über Budget, Investitionsplan und/oder Budget inklusive Investitionsplan das Stimmrecht der Klägerin sowie seine Ausübung nicht zu beeinträchtigen, etwa durch Bestreitung des Stimmrechts der Klägerin, auch gegenüber dem Versammlungsleiter, oder durch die Berufung auf Stimmverbote oder Stimmrechtsausschlüsse der Klägerin;

insb werde der Beklagten geboten, in solchen Generalversammlungen den bestellten Versammlungsleiter auf seine Pflicht zur Unparteilichkeit und zur Beachtung des Gleichbehandlungsgebots sowie darauf hinzuweisen, dass bei der Beschlussfassung ein Stimmrecht der Klägerin bestehe, sie weder einem Stimmverbot noch einem Stimmrechtsausschluss unterliege, dass daher alle abgegebenen Stimmen zu zählen und bei der Beschlussfeststellung zu berücksichtigen seien, weiters darauf, dass er das Beschlussergebnis unter Berücksichtigung aller abgegebenen Stimmen festzustellen habe.

[4] Ein Sicherungsbegehren der Klägerin wurde mit Beschluss vom 29.8.2019, 6 Ob 149/19h, zur Gänze abgewiesen. Auf diese Entscheidung wird verwiesen.

[5] Die Klägerin brachte vor, die Beklagte ziehe nach nahezu 40 Jahren, in denen die Klägerin ihre Gesellschafterrechte anstandslos habe ausüben können, nunmehr unzutreffende kartellrechtliche Argumente heran, um der Klägerin in Generalversammlungen deren Stimmrecht „wegzunehmen“. IdS habe der allein mit den Stimmen der Beklagten gewählte Versammlungsleiter bereits in den beiden erwähnten Generalversammlungen bewusst davon Abstand genommen, die erfolgte Ablehnung des Budgetantrags festzustellen. Die Klage richte sich auf Feststellung eines Stimmrechts und Nichtvorliegen eines Stimmverbots der Klägerin und solle der Beklagten gebieten, dieses Stimmrecht nicht zu „torpedieren“.

[6] Die Beklagte wendete ein, der Klägerin fehle ein Feststellungsinteresse, die Beklagte sei nicht passivlegitimiert. Die gesellschafterliche Willensbildung sei ausschließlich nach §§41ff GmbHG zu überprüfen. Der Versuch der Klägerin, ein weiteres Prüfungsmodell im Vorfeld der gesellschafterlichen Willensbildung einzurichten, entbehre einer Rechtsgrundlage. Die von der Klägerin abgegebenen Stimmen seien (aus näher

dargestellten Gründen) nach Art101 AEUV nichtig und nicht zu berücksichtigen gewesen. Der Versammlungsleiter habe sich in den Generalversammlungen stets korrekt verhalten.

[7] Mit Urteil vom 19.12.2019, 6 Ob 105/19p, kam der erkennende Senat zum Ergebnis, dass die Ausübung der Einflussrechte der Klägerin in der Gesellschaft das Ergebnis der Erlangung gemeinsamer Kontrolle ist und daher grundsätzlich nicht Art101 AEUV unterliegt, dass die Klägerin in der GV der Gesellschaft vom 27.2.2018 bei der Beschlussfassung über das Budget inklusive Investitionsplan für das Geschäftsjahr 2017/ 2018 keinem Stimmverbot unterlag und dass ihre diesbezügliche Stimmabgabe auch nicht treuwidrig war.

[8] Die Vorinstanzen wiesen das wiedergegebene Feststellungsund Unterlassungsbegehren ab. ...

 Der OGH wies die Revision der Klägerin zurück.

Aus der Begründung des OGH:

1. Unterlassungsbegehren

[11] 1.1. Welche Anforderungen an die Konkretisierung des Klagebegehrens zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (RIS-Justiz RS0037874 [T33 und T39]); dies gilt auch für Unterlassungsbegehren (RIS-Justiz RS0037874 [T38]).

[12] 1.2. Der Senat hat sich bereits im Provisorialverfahren (6Ob 149/19h, Pkt1.) ausführlich mit der Bestimmtheit des Sicherungsunterlassungsbegehrens befasst und es für zu unbestimmt gehalten.

[13] Die Klägerin hat auf diese Beurteilung im Provisorialverfahren im Wesentlichen dadurch reagiert, dass sie in das Hauptunterlassungsklagebegehren die Wendung „etwa durch Bestreitung des Stimmrechts der klagenden Partei, auch gegenüber dem Versammlungsleiter, oder durch die Berufung auf Stimmverbote oder Stimmrechtsausschlüsse der klagenden Partei“ aufgenommen, das Eventualbegehren als Beispiel („insbesondere“) formuliert hat und das gebotene Verhalten nunmehr „hinzuweisen“ statt „hinzuwirken“ lautet.

[14] Wenn das Berufungsgericht auch das nunmehrige Unterlassungsbegehren als zu unbestimmt angesehen hat, hat es seinen Beurteilungsspielraum im vorliegenden Einzelfall nicht überschritten. Tatsächlich ist mit diesen Modifikationen keine maßgebliche Präzisierung oder qualitative Änderung gegenüber dem Begehren im Provisorialverfahren erfolgt. [15] 1.3. Die berufungsgerichtliche Ansicht, auch für ein Hinweisgebot der Beklagten gegenüber dem Versammlungsleiter gebe es auf Basis der rechtlichen Beurteilung des OGH im Provisorialverfahren keine Rechtsgrundlage, ist ebenfalls nicht korrekturbedürftig.

[16] Überdies wäre eine solche Hinweispflicht der Beklagten für die Klägerin nicht notwendig: In der GV einer GmbH gibt es für die Gesellschafter kein gesetzlich normiertes Redeverbot. Nach §38 Abs5 GmbHG bedarf es zur Antragstellung und zu Verhandlungen ohne Beschlussfassung der Ankündigung nicht. Das Teilnahmerecht der Gesellschafter ist im Kern unentziehbar und umfasst im Wesentlichen Anwesenheit und Teilhabe an der Beratung in der GV (Baumgartner/ Mollnhuber/U. Torggler in U. Torggler, GmbHG, §38 Rz19 mwN). Es ist daher der Klägerin unbenommen, dass sie selbst in der GV dem Versammlungsleiter ihre Rechtsansicht über das ihr ihrer Meinung nach zustehende Stimmrecht mitteilt.

5/2022 285 Judikatur

Judikatur

Dem Versammlungsleiter obliegt es dann, diese Rechtsansicht zu prüfen, sich selbst eine (Rechts-)Meinung zu bilden und danach sein Verhalten als Versammlungsleiter einzurichten.

2. Feststellungsbegehren

[17] 2.1. Auch die berufungsgerichtlichen Erwägungen zum Feststellungsbegehren sind nicht korrekturbedürftig.

[18] 2.2. Dieses muss aber schon aus folgenden Erwägungen scheitern: Ein Interesse an der Feststellungsklage ist zu bejahen, wenn das Feststellungsbegehren geeignet ist, über die Rechtsbeziehungen der Parteien ein für alle Mal Klarheit zu schaffen (RIS-Justiz RS0038908 [T5]). Das rechtliche Interesse ist daher dann zu verneinen, wenn die Rechtskraftwirkung des Feststellungsurteils die Beseitigung der Unsicherheit über das Rechtsverhältnis nicht garantieren kann (RIS-Justiz RS0014654 [T5]).

[19] Die Beklagte verweist in der Revisionsbeantwortung zutreffend darauf, dass der Versammlungsleiter (als in diesem Verfahren nicht Beteiligter) an die Feststellungswirkung nicht gebunden wäre. Darüber hinaus kann die Frage, ob einem Gesellschafter in einer konkreten GV bei einer konkreten Beschlussfassung ein Stimmrecht zusteht oder nicht, letztlich nur in einem Anfechtungsprozess (allenfalls verbunden mit einem Beschlussfeststellungsverfahren) nach §§41 und 42 GmbHG geklärt werden. Eine Klage nach §41 GmbHG ist aber nach §42 Abs1 GmbHG gegen die Gesellschaft zu richten. Auch diese ist nicht Partei des vorliegenden Verfahrens und wäre daher ebenfalls im Anfechtungsprozess an eine Feststellung nicht gebunden. Es besteht somit kein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung, weshalb sich schon aus diesem der stRspr entsprechenden Grund die Richtigkeit der Abweisung des Feststellungsbegehrens durch die Vorinstanzen erweist. Auf die vom Berufungsgericht in der Zulassungsbegründung formulierte Rechtsfrage kommt es somit nicht an.

3. Im Übrigen kommt dem Klagebegehren auch aus einer weiteren Erwägung keine Berechtigung zu:

[20] 3.1. In der E 1 Ob 539/76 wurde ausgesprochen, in Prozessen über Gesellschaftsbeschlüsse sei immer die Gesellschaft Partei. Dies bedeute, dass solche Prozesse (ua auf Unterlassung der Ausübung des Stimmrechts) unter Gesellschaftern und Organmitgliedern untereinander und gegeneinander nicht zuzulassen seien, obwohl es sich vielfach nicht um Streitigkeiten mit der Gesellschaft, sondern um Streitigkeiten der Gesellschafter, allenfalls der Organmitglieder, handle. Die behauptete Verletzung von Mitgliedschaftsrechten durch bereits gefasste Beschlüsse könne nicht mit Unterlassungsklage des Gesellschafters gegen den Geschäftsführer unter Außerachtlassung der in §41 GmbHG vorgesehenen befristeten Anfechtungsmöglichkeit bekämpft werden. Künftig allenfalls ins Auge gefasste Beschlüsse könnten dann aber in Ermangelung eines – vom Gesetz dem einzelnen Gesellschafter gegenüber seinem Mitgesellschafter eingeräumten – Anspruchs auf Ausübung des Stimmrechts in einem bestimmten Sinn nicht mit vorbeugender Unterlassungsklage oder einstweiliger Verfügung verhindert werden.

[21] 3.2. In der E 5 Ob 523/91 ua erwog der OGH in einem dem vorliegenden ähnlichen Fall, abgesehen davon, dass sich die Voraussetzungen für den Ausschluss vom Stimmrecht auch bei dieser konkreten Beschlussfassung in Zukunft anders gestalten könnten, würde die Stimmrechtsausübung an sich nicht verhindert, und es wäre wieder die Wirksamkeit des Gesellschafterbeschlusses auf das nur mittels der Nichtigkeitsklage des einen oder des anderen durch die Feststellung des Abstimmungsergebnisses benachteiligten Gesellschafters zu bewältigende Problem verlagert, ob im konkreten Fall das Stimmrecht zugestanden oder versagt gewesen sei. Damit erübrigen sich letztlich die Erörterung der vom OGH noch in der E 1 Ob 539/76 vertretenen Meinung, dass ein Anspruch auf Ausübung des Stimmrechts in einem bestimmten Sinn nicht mit vorbeugender Unterlassungsklage verhindert werden könne, und ein Eingehen auf die sich aus der nun anerkannten auch zwischen den Gesellschaftern einer GmbH bestehenden Treuepflicht, die eine angemessene Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Mitgesellschafter auch bei der Ausübung des Stimmrechts gebieten könne. [22] 3.3. Im vorliegenden Fall will die Klägerin mit dem Leistungs- bzw Unterlassungsbegehren der Beklagten in Generalversammlungen der Gesellschaft zwar nicht die Ausübung des Stimmrechts in einer bestimmten Weise, aber doch sonstige Verhaltensweisen vorschreiben. Mit dem Feststellungsbegehren will sich die Klägerin für gewisse Abstimmungsgegenstände in Generalversammlungen der Gesellschaft ohne zeitliche Einschränkungen für die Zukunft (nach dem Wortlaut auch bei mittlerweile geänderten Verhältnissen) ihr Stimmrecht bindend feststellen lassen.

[23] 3.4. Aus den in den zitierten Entscheidungen genannten Gründen erweisen sich Klagebegehren solcher Art, wie sie hier gestellt werden, schon grundsätzlich als unzulässig. Zur Klärung der Fragen, ob sich die Gesellschafter oder der Versammlungsleiter in der GV rechtmäßig verhalten haben, wer zu welchen Beschlussgegenständen sein Stimmrecht gültig ausüben durfte bzw ausgeübt hat und welche Beschlüsse letztlich wirksam zustande gekommen sind, steht die befristete Klage nach §§41 und 42 GmbHG zur Verfügung.

[24] 3.5. Die Rspr zu Syndikatsverträgen (RIS-Justiz RS0117682) lässt sich auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragen, weil sie nur die Durchsetzung besonderer vertraglicher Pflichten betrifft. Hier geht es demgegenüber ausschließlich um die Beurteilung gesetzlicher Rechte und Pflichten iZm der Willensbildung der Gesellschaft. Für diese stellt aber §41 GmbHG mit der Beschlussfassungsanfechtung und der ergänzend dazu von der Rspr entwickelten Beschlussfeststellungsklage eine grundsätzlich abschließende Regelung dar. 4. und 5.

Anmerkung:

Die vorliegende Entscheidung befasst sich mit der Unzulässigkeit der bindenden Feststellung des Stimmrechts eines GmbH-Gesellschafters für bestimmte Abstimmungsgegenstände ohne zeitliche Einschränkung für die Zukunft. Der OGH nahm dabei ua auf die Frage Bezug, ob eine derartige Feststellungsklage vorbeugend und zusätzlich zur gesellschaftsrechtlichen Beschlussanfechtungsklage nach §§41 und 42 GmbHG möglich sei. Dafür fehle es aber bereits an der Eignung des Feststellungsbegehrens, für die Rechtsbezie-

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hung der Parteien zukünftig Klarheit zu schaffen (vgl RIS-Justiz RS0038908 [T5]; RS0014654 [T5]). Daher sei das rechtliche Interesse an der Feststellung zu verneinen. Die Feststellung des Bestehens eines Stimmrechts bzw des Nichtbestehens eines Stimmverbots habe keine über den Feststellungsprozess hinausgehende Bindungswirkung. Insb seien die Gesellschaft und der Versammlungsleiter mangels Parteistellung im Verfahren gar nicht daran gebunden. Beklagte war nämlich ausschließlich die – einzige – Mitgesellschafterin. Feststellungsbegehren über Rechtsverhältnisse, wie sie im vorliegenden Fall gestellt wurden, seien sogar grundsätzlich unzulässig. Der OGH betonte fortführend, dass für die Beurteilung gesetzlicher Rechte und Pflichten iZm der Willensbildung der Gesellschaft in der GV mit der Klage nach §§41 und 42 GmbHG eine grundsätzlich abschließende Regelung zur Verfügung stehe.

Das Beschlussanfechtungsrecht nach §§41 und 42 GmbHG dient dem Schutz der ordnungsgemäßen Willensbildung in der GV (Linder in H. Foglar-Deinhardstein/Aburumieh/Hoffenscher-Summer, GmbHG [2017] §41 Rz2). Mittelbar sollen auch die Individualrechte (etwa das Stimmrecht) der einzelnen Gesellschafter gesichert werden (ErlRV 236 BlgHH 17. Sess, 71, abgedruckt in Kalss/Eckert, Zentrale Fragen des GmbH-Rechts [2005] 566; Koppensteiner/Rüffler, GmbHG3 [2007] §41 Rz2). Für die nachträgliche Beurteilung, ob das Stimmrecht für den konkreten Beschlussgegenstand bestanden hat oder nicht, ist dem OGH zuzustimmen, dass für den Gesellschafter ohnehin die befristete Klage nach §§41 und 42 GmbHG zur Verfügung steht und eine Feststellungsklage nach §228 ZPO daher nicht zuzulassen ist. Es stellt sich aber die Frage, ob es doch Konstellationen gibt, die eine Feststellungsklage ermöglichen, zumal der OGH stets nur von einer „grundsätzlichen“ Unzulässigkeit spricht. Zur Begründung der Unzulässigkeit des Klagebegehrens stützt sich der OGH ua auf seine Entscheidung vom 7.4.1976, 1 Ob 539/76, wonach in Prozessen über Gesellschaftsbeschlüsse immer die Gesellschaft Partei sein müsse. Wird nämlich über das rechtsgültige Zustandekommen eines Beschlusses debattiert, ist unbestritten, dass die Beschlussanfechtungsklage gegen die Gesellschaft zu richten ist (§42 Abs1 GmbHG) und diese damit – als Beklagte –Verfahrenspartei wird. Der OGH hatte in der E 1 Ob 539/76 aber nicht die Frage vor Augen, ob eine (vorbeugende) Klage zur Feststellung des Bestehens des Stimmrechts – als Vorstufe zur Beschlussfassung – zwischen den Gesellschaftern möglich wäre. Eine vorbeugende Feststellung des (Nicht-)Bestehens eines Stimmrechts zwischen den Gesellschaftern scheitert nämlich bereits am Feststellungsinteresse: Weder der Versammlungsleiter noch die Gesellschaft wären mangels Parteistellung an die Feststellungswirkung gebunden, da diese nur inter partes wirkt (Frauenberger-Pfeiler in Fasching/ Konecny, Zivilprozessgesetze III/13 [2017] §228 ZPO Rz145; Ziehensack in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-Taschenkommentar [2019] §228 Rz18). Es handelt sich dabei auch um keine Angelegenheit zwischen den Gesellschaftern, sondern um eine Angelegenheit des Organs GV.

Der Versammlungsleiter hat sich vielmehr in jeder GV selbst eine Rechtsmeinung zu bilden, ob den einzelnen Gesellschaftern für den konkreten Beschlussgegenstand ein Stimmrecht zusteht oder sie einem Stimmverbot unterliegen. Kommt er zum Ergebnis, dass ein Gesellschafter einem – möglicherweise sogar evidenten –Stimmverbot unterliegt, steht es ihm nicht zu, diesen von der Stimmabgabe auszuschließen. Wie und ob entgegen einem Stimmverbot abgegebene Stimmen bei der Auszählung zu berücksichtigen sind, ist strittig (zum Stimmrechtsausschluss vgl Reich-Rohrwig, Beschlussunfähigkeit der GmbH-Generalversammlung, Stimmrechtsausschluss und Leiter der Generalversammlung, in Kalss/ U.Torggler, Das Stimmrecht [2021] 93 [109ff]). Werden diese bei der Ermittlung des Beschlussergebnisses mitgezählt, führt das zur Anfechtbarkeit des Beschlusses (vgl Enzinger in Straube/Ratka/ Rauter, GmbHG, §39 Rz13; Ch. Nowotny in Kalss/Nowotny/ Schauer, Österreichisches Gesellschaftsrecht2 [2017] Rz4/293; R.Winkler in H. Foglar-Deinhardstein/Aburumieh/HoffenscherSummer, GmbHG, §39 Rz6; zu den Aufgaben des Versammlungsleiters siehe Gratzl in Reich-Rohrwig/Ginthör/Gratzl, Handbuch Generalversammlung der GmbH2 [2021] Rz3.47f). Eine vorsorgliche bindende Feststellung für künftige Abstimmungen ist nicht

möglich, da nicht pauschal gesagt werden kann, dass ein Gesellschafter niemals einem Stimmverbot aufgrund einer Interessenkollision unterliegen wird. Wird über künftige Investitionen abgestimmt, ist nicht gänzlich auszuschließen, dass – insb in einer Konzernstruktur – eine mittelbare Betroffenheit bei der Zuwendung eines Vorteils oder der Befreiung von einer Verpflichtung vorliegt. Kann der Betroffene auf die Gesellschaft und deren Abstimmungsverhalten einen beherrschenden Einfluss geltend machen, ist es nach hA möglich, dass das Stimmverbot auch im Falle der mittelbaren Betroffenheit greift (siehe etwa Enzinger in Straube/Ratka/ Rauter, GmbHG, §39 Rz84). Eine Änderung der äußeren Umstände vermag daher sehr wohl zu einer anderslautenden Beurteilung im Einzelfall zu führen. Diese Beurteilung ändert sich auch dann nicht, wenn es sich um einen jährlich wiederkehrenden (eingegrenzten) Beschlussgegenstand (wie etwa die Beschlussfassung über den jährlichen Investitionsplan) handelt. Ein weiterer Prüfweg im Vorfeld der gesellschaftlichen Willensbildung steht im Ergebnis nicht zur Verfügung, da Mängel stets durch die gesetzlich geregelte befristet verfügbare Klage nach §§41 und 42 GmbHG und die Beschlussfeststellungsklage aufzugreifen sind (siehe Pkt3.4 der Entscheidungsbegründung).

Darüber hinaus thematisiert der OGH die Unzulässigkeit eines Unterlassungs- bzw Leistungsbegehrens, mit dem zwar nicht die bestimmte Ausübung des Stimmrechts, wohl aber sonstige Verhaltensweisen während der GV vorgeschrieben werden sollen. Dabei weist der OGH darauf hin, dass es keine Rechtsgrundlage gebe, aus der sich ein Hinweisgebot eines Gesellschafters gegenüber dem Versammlungsleiter – zur Wahrung der Unparteilichkeit und Achtung des Stimmrechts – ableiten ließe. Jedem Gesellschafter stehe es jedenfalls frei, seine Rechtsansicht (über das Bestehen seines Stimmrechts) selbst in der GV mitzuteilen und dem Versammlungsleiter zu kommunizieren. Das Teilnahmerecht bestehe unabhängig vom Stimmrecht und umfasst sowohl die Anwesenheit als auch die Teilhabe an der Beratung (siehe Baumgartner/Mollnhuber/ U. Torggler in U. Torggler, GmbHG [2014] §38 Rz19; Ch. Nowotny in Kalss/Nowotny/Schauer, Gesellschaftsrecht2, Rz4/291). Der Versammlungsleiter prüfe in der Folge, ob ein Stimmverbot bestehe, und richte sein Verhalten nach der gebildeten Meinung. Da auch kein gesetzlich eingeräumter Anspruch des einzelnen Gesellschafters auf Ausübung des Stimmrechts in einer bestimmten Weise gegenüber den Mitgesellschaftern bestehe, sieht der OGH eine vorbeugende Unterlassungsklage (zur Absicherung) als ebenso unzulässig an (zur Begründung vgl OGH 7.4.1976, 1 Ob 539/76). Bereits gefasste Beschlüsse könnten erst recht nicht mit Unterlassungsklage bekämpft werden, da hier mit §§41 und 42 GmbHG eine Aufgriffsmöglichkeit bestehe. Mit der Beschlussanfechtung (und positiven Beschlussfeststellung) können im Nachhinein die Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Versammlungsleiters sowie eine etwaige Verletzung von Mitgliedschaftsrechten überprüft werden, wenn die Stimmverbotsverletzung für das Beschlussergebnis kausal war (Ch.Nowotny in Kalss/Nowotny/Schauer, Gesellschaftsrecht2, Rz4/293).

Im Ergebnis zeigt der OGH in der Entscheidung, dass für einen weiteren (präventiven) Prüfweg der gesellschaftlichen Willensbildung kein Anwendungsbereich besteht, da das Beschlussanfechtungsrecht nach §§41 und 42 GmbHG einen ausreichenden Schutz für die ordnungsgemäße Willensbildung in der GV bietet. Es wird hervorgehoben, dass es ohnehin ein eigenes Verfahren gibt. Eine bindende Feststellung des (Nicht-)Bestehens von Stimmrechten ist alleine schon deshalb nicht zielführend, da die Beurteilung, ob ein Gesellschafter für den konkreten Beschlussgegenstand einem Stimmverbot unterliegt, nicht pauschal für zukünftige Abstimmungen festgesetzt werden kann. Auch die Vorschreibung bestimmter Verhaltensweisen – sei es gegenüber dem Versammlungsleiter oder den Mitgesellschaftern – ist mangels rechtlicher Grundlage nicht zulässig (hierbei ist aber zu beachten, dass sich aus der Treuepflicht im Einzelfall gewisse Verhaltenspflichten ergeben können, wie etwa zur Mitwirkung an der GV, zur angemessenen Berücksichtigung berechtigter Interessen von Mitgesellschaftern oder sogar Zustimmungs-, Ablehnungs- und Stimmenthaltungspflichten; vgl RIS-Justiz RS0061585; Baumgartner/Mollnhuber/U. Torggler in U. Torggler, GmbHG, §39 Rz41; Gratzl in Reich-Rohrwig/Ginthör/Gratzl,

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Judikatur

Generalversammlung2, Rz3.55). Es ist somit stets in einer Rückschau zu überprüfen, ob die Willensbildung korrekt abgelaufen ist, der Versammlungsleiter rechtmäßig gehandelt hat und der Beschluss schließlich wirksam zustande gekommen ist.

Tamara Harner, LL.M. (WU) ist Universitätsassistentin am Institut für Unternehmensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien.

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Zu den Erfordernissen eines gültigen Notariatsaktes als öffentlicher Urkunde (GmbH-Abtretungsvertrag)

§§52 und 68 NO

§76 GmbHG

§§892 und 895 ABGB

§35 AußStrG

§292 ZPO

1. Eine unterbliebene Verlesung des Notariatsaktes bewirkt den Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde.

2. Die Behauptung und die Beweisführung, dass entgegen der Beurkundung in der öffentlichen Urkunde der Notariatsakt tatsächlich nicht verlesen worden sei, stehen offen.

3. Eine fehlende gleichzeitige Anwesenheit der Vertragsparteien bei Errichtung des Notariatsaktes bewirkt nicht den Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde.

4. Eine Vereinbarung über Voraussetzungen für eine Ausübung der Option (betreffend den Erwerb eines Geschäftsanteils) ist – weil keine bloße Nebenabrede – von der Notariatsaktspflicht erfasst.

OGH 2.2.2022, 6 Ob 122/21s (OLG Linz 6 R 41/21y; LG Linz 32 Fr 784/21x)

[1] Im Firmenbuch ist ... die L. M. GmbH mit dem Sitz in P. (im Folgenden: Gesellschaft) eingetragen. Als Gesellschafter waren ua eingetragen die R. GmbH mit einer übernommenen und zur Gänze geleisteten Stammeinlage von 142.500€, die F. GmbH mit einer übernommenen und zur Gänze geleisteten Stammeinlage von 75.000€, die Z. GmbH mit einer übernommenen und zur Gänze geleisteten Stammeinlage von 75.000€ (alle drei Rechtsmittelwerber), die M. GmbH mit einer übernommenen und zur Gänze geleisteten Stammeinlage von 75.000€, M. S. mit einer übernommenen und zur Gänze geleisteten Stammeinlage von 120.000€ sowie die L. GmbH mit einer übernommenen und zur Gänze geleisteten Stammeinlage von 120.000€.

[2] Der alleinvertretungsbefugte Geschäftsführer der Gesellschaft meldete eine Änderung im Stand der Gesellschafter zur Eintragung in das Firmenbuch an, die aufgrund von Call-Optionen vom 28.7.2019 und Ausübungserklärungen vom 5.2.2021 vollzogen worden sei, sodass sämtliche Geschäftsanteile der R. GmbH, der F. GmbH, der Z. GmbH und der M. GmbH sowie ein Teil des Geschäftsanteils des M. S. im Nominale von 7.500€ an die L. GmbH übertragen worden seien. Die übernommene Stammeinlage der L. GmbH betrage nunmehr 495.000€, jene des M. S. 112.500€. Die Abtretungen seien jeweils mit postalischer Zustellung der Ausübungserklärungen an die abtretenden Gesellschafter am 8.2.2021 wirksam geworden. Zustimmungserklärungen der ausscheidenden Gesellschafter könnten wegen Unstimmigkeiten nicht vorgelegt werden.

[3] Das Erstgericht bewilligte die begehrte Eintragung.

 [4] Das von den gelöschten Gesellschaftern R. GmbH, F. GmbH und Z. GmbH angerufene Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Selbst bei Zutreffen der Behauptungen der in erster Instanz nicht gehörten Rechtsmittelwerber sei die angefochtene Eintragung nicht fehlerhaft. Nach §68 Abs1 litf NO führe nicht das Unterbleiben der „Vorlesung“ (iSd §52 NO) zur Unwirksamkeit des

Notariatsaktes, sondern nur ein unterbliebener Hinweis auf diese am Schluss des Notariatsaktes; Letzterer sei aber erfolgt. Auch die Rekursausführungen, die Call-Optionen seien deshalb unwirksam, weil bei der Errichtung der Notariatsakte die Parteien nicht bis zur Unterfertigung gleichzeitig anwesend gewesen seien, gingen mangels Unwirksamkeitssanktion ins Leere. Soweit sich die Rechtsmittelwerber auf die Unwirksamkeit der Ausübungserklärungen stützten, weil diese unter Missachtung der dafür einvernehmlich vorgesehenen Voraussetzungen (Verletzung der Sponsoring-Verpflichtung, Abtretungsnotwendigkeit infolge FIFA- bzw UEFARegularien, unerwünschte erbrechtliche Rechtsnachfolge) erfolgt seien, sei darauf Bedacht zu nehmen, dass ein vom objektiven Wortlaut der schriftlichen Optionsverträge abweichender natürlicher Konsens der Vertragsparteien nicht von der Notariatsaktsform gedeckt sei, zumal die behaupteten Bedingungen für die Ausübung der Option in den Verträgen nicht einmal angedeutet seien; da es sich nicht um bloße Nebenabreden, sondern um wesentliche Vertragsbestandteile handle, seien aber auch sie formpflichtig. Die zudem behauptete Ausübung der Call-Option, um „unliebsame“ Gesellschafter „loszuwerden“, sei im vorliegenden Fall nicht als rechtsmissbräuchliche Rechtsausübung zu werten, weil es sich beim Bestreben, den behaupteten Konflikt um einen Stadionneubau zu lösen, um ein grundsätzlich legitimes Interesse handle. Schließlich sei die Ausübungserklärung auch nicht deshalb unwirksam, weil das Optionsrecht zwei Berechtigten (der L. GmbH und dem L. Club) gegenüber eingeräumt, aber nur von einem ausgeübt worden sei, ohne dass zuvor eine §906 ABGB entsprechende Willenserklärung abgegeben worden sei. Im vorliegenden Fall ergebe sich kein Wahlrecht der Optionsverpflichteten; die Rechtslage sei vielmehr mit §892 ABGB zu vergleichen, wonach jeder Gläubiger ohne Zustimmung der Übrigen die gesamte Leistung verlangen könne und das Innenverhältnis der Mitgläubiger deren Sache bleibe.

[5] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil eine Konkretisierung zum Umfang der materiellen Prüfpflicht des Firmenbuchgerichts im vereinfachten Anmeldungsverfahren wie auch zur Frage der Nichtigkeit des Notariatsaktes bei mangelnder „Vorlesung“ „wünschenswert“ wäre. Außerdem fehle Rspr des OGH zur Frage, ob ein vom objektiven Vertragstext abweichender „natürlicher Konsens“ in Bezug auf Bedingungen der an sich notariatsaktspflichtigen (Call-)Option insb im vereinfachten Anmeldungsverfahren Bedeutung zukommen könne.  Der OGH gab dem Revisionsrekurs Folge, hob die Beschlüsse der Vorinstanzen auf und verwies die Firmenbuchsache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück.

Aus der Begründung des OGH:

[6] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von der Rspr des OGH zu den Folgen der Verletzung von Formvorschriften eines Notariatsaktes abgewichen ist; er ist iS einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.

[7] 1. Nach stRspr kommt einem GmbH-Gesellschafter Rechtsmittellegitimation zu, wenn die Entscheidung nach dem konkreten Verfahrensstand seine firmenbuchrechtliche Rechtssphäre berührt, etwa weil es um seine Eintragung oder Nichteintragung oder seine Löschung als Gesellschafter geht (6 Ob 154/18t, Pkt3.3.).

[8] War der Gesellschafter – wie hier die Rechtsmittelwerber – am erstinstanzlichen Verfahren nicht beteiligt, kommt ihm im Rekursverfahren Neuerungserlaubnis zu (vgl Pilgerstorfer in Artmann, UGB I3, §15 FBG Rz171 und §18 FBG Rz30; Kodek in Kodek/Nowotny/Umfahrer, FBG, §18 Rz53). Das Rekursgericht hat in einem solchen Fall nach

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Möglichkeit in der Sache selbst zu entscheiden. Wenn sich schon aufgrund der Angaben des Rekurswerbers ergibt, dass der angefochtene Beschluss zur Gänze zu bestätigen ist, so hat das Rekursgericht mit Bestätigung vorzugehen (§58 Abs1 AußStrG). Auch wenn dies nicht der Fall ist, hat das Rekursgericht nach §58 Abs3 AußStrG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der angefochtene Beschluss ohne weitere Erhebungen abgeändert werden kann. Andernfalls ist er aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung an das Erstgericht zurückzuverweisen (6 Ob 154/18t, Pkt2.1.).

[9] 2. Zutreffend hat das Rekursgericht ausgeführt, dass das Firmenbuchgericht die Anmeldung in formeller und materieller Hinsicht zu prüfen hat und auch in Fällen der vereinfachten Anmeldung die materielle Prüfpflicht gilt (6 Ob 3/20i; vgl auch 6 Ob 154/18t; 6 Ob 196/20x). Diese umfasst auch die Formgültigkeit und Wirksamkeit rechtsgeschäftlicher Geschäftsanteilsübertragungen einer GmbH (vgl 6 Ob 59/20z; 6 Ob 3/20i; 6 Ob 154/18t).

[10] 3. Eine unterbliebene Verlesung des Notariatsaktes bewirkt den Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde:

[11] 3.1. Nach §68 Abs1 lite und f NO muss ein Notariatsakt „bei Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde“ insb enthalten: „e) den Inhalt des Geschäftes ...; f) am Schlusse die Anführung, daß der Act den Parteien vorgelesen worden [sei] ...“

[12] 3.2. Wird – wie hier – eine Privaturkunde, die den Inhalt des Geschäfts enthält, iSd §54 NO notariell bekräftigt, so ersetzt dies zwar die Errichtung eines Notariatsaktes über den Inhalt der Urkunde (RIS-Justiz RS0070805). Der OGH hat jedoch in der ausführlich begründeten E 2 Ob 13/18b bereits ausgesprochen, dass darin aber nur scheinbar eine Ausnahme von §68 Abs1 lite und f NO liegt, weil die Urkunde durch die Mantelung ergänzender Bestandteil des Notariatsaktes wird (§54 Abs3 NO) und daher als solcher ebenfalls zu verlesen ist. Werden diese Förmlichkeiten nicht eingehalten, liegt kein formgültiger Notariatsakt vor (§68 Abs1 lite und f und §66 iVm §54 NO). Wurde die Privaturkunde, der der Inhalt des Geschäfts zu entnehmen ist, den Parteien nicht vorgelesen, ist der Notariatsakt ungültig (2 Ob 13/18b; vgl auch Aburumieh/ Hoppel, GesRZ2020, 423 [425f, Pkt5.], zu 6 Ob 59/20z).

[13] In der E 6 Ob 20/20i wurde diese Ansicht geteilt. Wie aus dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hervorgeht, war in dem dort zu beurteilenden Notariatsakt angeführt, dass dieser den Parteien vorgelesen worden sei (§68 Abs1 litf NO). Das dortige Berufungsgericht hatte den Einwand, der Notariatsakt sei tatsächlich nicht allen Beteiligten vorgelesen worden, als unerheblich erachtet, weil die mangelnde Verlesung nicht zum Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde führe. Vor diesem Hintergrund kann –entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – kein Zweifel daran bestehen, dass sich die diesbezüglichen Ausführungen des Senats auf die Frage bezogen haben, ob ein den Vertragsparteien im Zuge der Errichtung entgegen dem erfolgten Hinweis nicht vorgelesener Notariatsakt von der Sanktion des §68 Abs1 litf NO erfasst ist.

[14] 3.3. Die Erwägungen P. Bydlinskis (Notariatsakt und Notariatshaftung, NZ1991, 235; idS wohl auch Wagner/

Knechtel, NO6, §52 Rz1), die sich auf den Wortlaut des §68 Abs1 litf NO in seiner systematischen Einbettung und auf den teleologischen Aspekt stützen, bei einer nach außen hin gewahrten Form müsse das Rechtsgeschäft im Interesse der allgemeinen Rechtssicherheit als voll wirksam qualifiziert werden, überzeugen nicht. Sie berücksichtigen nicht ausreichend, dass auch der Solennitätsverlust nach §66 NO an das Versäumnis verschiedener Vorkehrungen (§§54 bis 65 NO) anlässlich der Errichtung des Notariatsaktes anknüpft, die der Kenntnisnahme des Vertragsinhalts durch die Parteien dienen und die außenstehenden Dritten nicht als (Form-)Gebrechen beim Zustandekommen des Notariatsaktes offenbar werden.

[15] 3.4. Es liegen daher keine beachtlichen Argumente dafür vor, in Ansehung des in §68 Abs1 litf NO geregelten Solennitätsverlustes zwischen der „Anführung“ als bloßem Formalerfordernis und der eigentlichen Verlesung zu differenzieren (idS bereits 6 Ob 20/20i; 2 Ob 13/18b); vielmehr wird durch diese Bestimmung der tatsächlich erfolgten Verlesung besonderes Gewicht eingeräumt. Dagegen spricht auch nicht, dass andere in §68 Abs1 NO nicht genannte Verstöße gegen §52 NO, wie etwa eine Verletzung der Belehrungspflicht (9 Ob 82/04f) oder der Pflicht zur gleichzeitigen Anwesenheit der Parteien (dazu Pkt4.), die Wirksamkeit des Notariatsaktes grundsätzlich unberührt lassen.

[16] 3.5. Den Rechtsmittelwerbern stehen die Behauptung und die Beweisführung (§35 iVm §292 Abs2 ZPO) offen, dass entgegen der Beurkundung in der öffentlichen Urkunde (§35 AußStrG iVm §292 Abs1 ZPO) der Notariatsakt tatsächlich nicht verlesen worden sei (vgl 6 Ob 49/11s, Pkt2.3.: Sprachkundigkeit).

[17] 4. Eine fehlende gleichzeitige Anwesenheit der Vertragsparteien bei Errichtung des Notariatsaktes bewirkt nicht den Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde:

[18] 4.1. Nach gefestigter Rspr ergibt sich zwar aus §52 NO, dass die als erschienen angeführten Vertragsparteien bei Errichtung und Unterfertigung eines Notariatsaktes grundsätzlich gleichzeitig anwesend sein müssen (VwGH 92/16/0102, ecolex 1994, 428; Wagner/Knechtel, NO6, §52 Rz19). Eine abweichende Vorgangsweise bewirkt jedoch nicht den Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde und damit der Wirksamkeit des Geschäfts (4 Ob 197/08m; VwGH 92/16/0102; vgl 6 Ob 206/20t; 6 Ob 167/17b). Allerdings ist auch in einem solchen Fall (auch) der nachträglich unterfertigenden Partei der Notariatsakt vorzulesen (Wagner/Knechtel, NO6, §68 Anm zu E 6).

[19] 4.2. Damit erweist sich die Behauptung der Rechtsmittelwerber, es seien nicht alle Vertragsparteien beim Solennisierungsvorgang gleichzeitig anwesend gewesen, hier als nicht rechtserheblich.

[20] 5. Die von den Rechtsmittelwerbern behauptete Vereinbarung über Voraussetzungen für eine Ausübung der Option wäre von der Notariatsaktspflicht erfasst:

[21] 5.1. Nach §76 Abs2 GmbHG bedarf es zur Übertragung von Geschäftsanteilen mittels Rechtsgeschäfts unter Lebenden eines Notariatsaktes. Der gleichen Form bedürfen Ver-

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einbarungen über die Verpflichtung eines Gesellschafters zur künftigen Abtretung eines Geschäftsanteils. Die Verletzung der Formvorschrift hat Ungültigkeit des Geschäfts zur Folge (6 Ob 186/20a; vgl RIS-Justiz RS0059756; RS0060256 [T11]).

[22] Während reine Nebenabreden nicht formpflichtig sind – wobei darauf abzustellen ist, ob eine Nebenabrede dem Formzweck zuwiderläuft (6 Ob 186/20a) –, können wesentliche Vertragsbestandteile, etwa solche, die die unmittelbare Wirksamkeit des Abtretungsvertrages betreffen, nicht als Nebenabreden vereinbart werden; solche unterliegen vielmehr der Formpflicht des §76 Abs2 GmbHG schon wegen deren Klarstellungsfunktion (9 Ob 165/02h [Zeitpunkt des Bedingungseintritts]; vgl 6 Ob 3/20i).

[23] 5.2. Zutreffend hat das Rekursgericht die von den Rechtsmittelwerbern behauptete Vereinbarung über die Voraussetzungen der Optionsausübung als wesentlichen Bestandteil der Optionsvereinbarung selbst und nicht als bloße Nebenabrede qualifiziert, woraus folgt, dass auch dieser Teil der Vereinbarung von der Notariatsaktspflicht erfasst ist. Mangels jeglicher Andeutung im Notariatsakt (vgl RIS-Justiz RS0118519) läge aber nach den Behauptungen der Rechtsmittelwerber insoweit keine formgültige und daher rechtswirksame Erklärung der Vertragsteile vor.

[24] 5.3. Dies führte allerdings – entgegen der Auffassung des Rekursgerichts – nicht dazu, dass die Optionsvereinbarung ohne die behaupteten Bedingungen zustande gekommen wäre: Als Vertragsinhalt gilt vielmehr, was die Parteien gewollt haben (RIS-Justiz RS0017280). Während der Parteiwille auch bei einem Rechtsgeschäft, das einer bestimmten Form bedarf, mithilfe der allgemeinen Auslegungsregeln zu ergründen ist, ist nach der „Andeutungstheorie“, deren Reichweite durch den Formzweck begrenzt wird, (nur) die weitere Frage zu lösen, ob – und bejahendenfalls inwieweit – der Parteiwille auch formgültig und daher rechtswirksam erklärt wurde (1 Ob 213/03k; 5 Ob 73/20a).

[25] Mangels eines die wesentlichen Vertragsbestandteile enthaltenden Notariatsaktes (siehe Pkt5.1.) wäre in diesem Fall somit die gesamte Optionsvereinbarung wegen Verletzung der Formvorschrift des §76 Abs2 GmbHG ungültig. Die Beurteilung einer Restgültigkeit des formgerechten Teils der Optionsvereinbarung unter dem Aspekt des §878 ABGB wäre in diesem Fall nicht erforderlich (vgl 7 Ob 208/00i).

[26] 6. Einer gemeinsamen Ausübung der Option durch die Berechtigten bedurfte es nicht:

[27] 6.1. Zu Unrecht beanstanden die Rechtsmittelwerber die Auffassung des Rekursgerichts, wonach ausgehend von der behaupteten Vertragslage im vorliegenden Fall – ähnlich wie nach §§892 und 895 ABGB – jedem der beiden Optionsberechtigten die Ausübung der Option ohne Zustimmung des anderen zustehe und das Innenverhältnis deren Sache bleibe:

[28] Ihr Verweis auf höchstgerichtliche Judikatur zum gleichzeitig (ohne nähere Bestimmung der konkreten Ausübungsberechtigung) mehreren Personen eingeräumten Vorkaufsrecht, als Unterfall der Option, das im Zweifel von allen Berechtigten gemeinsam auszuüben sei (siehe RIS-Justiz RS0020257; 2 Ob 89/13x), lässt sich mit ihren eigenen Rechtsmittelbehauptungen im Rekursverfahren nicht in Einklang bringen. Danach obliege es nach den Optionsverträgen alleine

den beiden Optionsberechtigten (der L. GmbH und dem L.Club), zu bestimmen, welcher der beiden Optionsberechtigten in welchem Umfang von der Kaufoption tatsächlich Gebrauch mache, was auch dem Wortlaut der dazu vorgelegten Notariatsakte (jeweils Pkt2.1. der Beilagen ./P, ./Q und ./R) entspricht. Zudem hat nach diesen Urkunden die Ausübung der Call-Option durch Abgabe einer schriftlichen Ausübungserklärung in Notariatsaktsform der tatsächlich ausübenden Optionsberechtigten gegenüber der Optionsverpflichteten zu erfolgen. Mit deren erfolgter Übermittlung (durch eingeschriebenen Brief) soll der optionsgegenständliche Geschäftsanteil auf den tatsächlich ausübenden Optionsberechtigten übergehen. Eine Abgabe weiterer Erklärungen, insb eines die Option nicht ausübenden Optionsberechtigten, ist nicht vorgesehen.

[29] Ausgehend von diesen ausdrücklichen Regelungen betreffend die Ausübung der Option kann von einem Zweifelsfall (vgl 2 Ob 89/13x, Pkt4.2.3.2.) iSd dargestellten Judikatur zum Vorkaufsrecht nicht gesprochen werden.

[30] 6.2. Mit der zutreffenden Rechtsansicht des Rekursgerichts, dass aus §906 ABGB mangels Wahlrechts der Optionsverpflichteten für die Rechtsmittelwerber nichts zu gewinnen ist, setzen sich diese inhaltlich ohnehin nicht auseinander.

7. Ergebnis:

[31] Damit ist dem Revisionsrekurs iSd Aufhebungsantrags Folge zu geben und die Sache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen, das im fortgesetzten Verfahren iSd vorstehenden Ausführungen Feststellungen dazu zu treffen haben wird, ob der Notariatsakt über die Optionsvereinbarung tatsächlich verlesen wurde (Pkt3.5.) und/oder ob die Parteien der Optionsvereinbarung die von den Rechtsmittelwerbern behaupteten Voraussetzungen für die Ausübung der Option vereinbarten, sodass der diesbezügliche Notariatsakt alle wesentlichen Vertragsbestandteile enthält (Pkt5.3). Erst danach kann beurteilt werden, ob die Anteilsabtretung wirksam erfolgte und die begehrte Eintragung bewilligt werden kann.

8.

Anmerkung:

1. Zum Unterbleiben der tatsächlichen Vorlesung des Notariatsaktes Der OGH stellt in dieser Entscheidung (nochmals) klar, dass eine unterbliebene Verlesung des Notariatsaktes den Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde bewirkt (vgl dazu ausführlich OGH 30.10.2018, 2 Ob 13/18b; 25.3.2020, 6 Ob 20/20i).

Die Voraussetzungen für einen formgültigen Notariatsakt sind ua die tatsächliche Vorlesung und das Festhalten dieses Vorgangs im Akt. Das gilt auch, wenn eine Privaturkunde durch Mantelung ergänzender Bestandteil des Notariatsaktes wird (vgl OGH 30.10.2018, 2 Ob 13/18b).

Die Notwendigkeit der tatsächlichen Verlesung und des Festhaltens des Aktes der tatsächlichen Verlesung ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des §68 Abs1 litf NO, wonach jeder Notariatsakt bei Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde „am Schlusse die Anführung, daß der Act den Parteien vorgelesen worden“ [sei], enthalten muss. Die Voraussetzung dieser Anmerkung ist die tatsächliche Vorlesung; fehlt eine dieser beiden Voraussetzungen, greift eben die Sanktion des §68 Abs1 litf NO.

Der OGH verweist idS auch auf frühere Entscheidungen, wonach keine beachtlichen Argumente vorliegen, zwischen der „Anführung“ und der Verlesung zu differenzieren (idS bereits OGH

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Judikatur

30.10.2018, 2 Ob 13/18b; 25.3.2020, 6 Ob 20/20i). Der OGH spricht damit aus, dass der Gesetzgeber in Ansehung des §68 Abs1 litf NO der Verlesung (bzw Vorlesung) besonderes Gewicht eingeräumt hat. Das ist nachvollziehbar, wenn man auch §52 NO ins Treffen führt, nach dem der Notar sich bei der Errichtung ua „nach geschehener Vorlesung des Actes“ durch persönliches Befragen der Parteien zu vergewissern hat, „daß derselbe ihrem Willen entsprechend sei“ (vgl dazu auch OGH 30.5.2022, 2 Ob 63/22m).

Die Entscheidung zeigt auch einmal mehr, dass auf die vollständige Vorlesung zu bestehen ist, auch wenn Parteien darauf „verzichten“ wollen oder eine Einschränkung auf „wesentliche Punkte“ wünschen. Die Parteien können auf die Vorlesung nämlich nicht verzichten (vgl Kisser, Best Practice – Formvorschriften und Beglaubigungen [2013] 8). Die tatsächliche Vorlesung dient daher wohl auch der Schutz- und Klarstellungsfunktion als auch dem Zweck des Gesetzgebers, durch eine besonders aufwendige Form Geschäftsanteile zu immobilisieren.

2. Zur Parteistellung des GmbH-Gesellschafters – Beweis des Gegenteils zulässig Aus prozessualer Sicht sprach der OGH aus, dass den Rechtsmittelwerbern die Behauptung und Beweisführung daher offensteht, dass entgegen der Beurkundung in der öffentlichen Urkunde der Notariatsakt tatsächlich nicht verlesen worden sei. Nach stRspr kommt GmbH-Gesellschaftern Rechtmittellegitimation auch dann zu, wenn der GmbH-Gesellschafter als Rechtmittelwerber am erstinstanzlichen Verfahren nicht beteiligt war. Ihm kommt dann im Rekursverfahren Neuerungserlaubnis zu.

3. Keine gleichzeitige Anwesenheit der Parteien notwendig

Der OGH stellt auch klar, dass eine fehlende gleichzeitige Anwesenheit der Vertragsparteien bei Errichtung des Notariatsaktes nicht den Verlust der Kraft einer öffentlichen Urkunde bewirkt, wobei der OGH konsequenterweise mit Verweis auf Wagner/Knechtel (NO6, §68 Anm zu E 6) ausspricht, dass in einem solchen Fall (auch) der nachträglich unterfertigenden Partei der Notariatsakt vorzulesen ist.

4. Formpflicht bei Nebenabreden

Zur Übertragung von Geschäftsanteilen mittels Rechtsgeschäfts unter Lebenden bedarf es eines Notariatsaktes (vgl §76 Abs2 GmbHG). Der gleichen Form bedürfen Vereinbarungen über die zukünftige Abtretung, etwa auch Optionen (vgl dazu schon OGH 9.4.1986, 1 Ob 518/86). Fehlt die Notariatsaktsform, ist das Geschäft nicht gültig zustande gekommen; es kann weder auch die Errichtung des Notariatsaktes geklagt werden (vgl RIS-Justiz RS0060256) noch kommt eine Heilung durch Erfüllung infrage (vgl OGH 20.10.2004, 7 Ob 110/04h).

Eine Vereinbarung über die Voraussetzungen für eine Ausübung der Option (betreffend den Erwerb eines Geschäftsanteils) ist – weil keine bloße Nebenabrede – von der Notariatsaktspflicht umfasst. Zutreffend hat nach dem OGH das Rekursgericht die von den Rechtsmittelwerbern behauptete Vereinbarung über die Voraussetzung der Optionsausübung als wesentlichen Bestandteil der Optionsausübung und nicht bloß als Nebenabrede qualifiziert. Mangels jeglicher Andeutung im Notariatsakt (vgl RIS-Justiz RS0118519) läge aber nach den Behauptungen der Rechtsmittelwerber insoweit keine formgültige und daher rechtswirksame Erklärung der Vertragsteile vor. Das führt nach Ansicht des OGH (anders das Rekursgericht) aber nicht dazu, dass die Optionsvereinbarung ohne die behaupteten Bedingungen zustande gekommen wäre: Als Vertragsinhalt gilt vielmehr, was die Parteien gewollt haben (vgl RIS-Justiz RS0017280).

Nebenabreden sind formpflichtig, wenn dies im Hinblick auf die mit der Notariatsaktspflicht verfolgten Zwecke erforderlich ist (vgl OGH 15.5.2001, 5 Ob 41/01t). Der OGH spricht in der vorliegenden Entscheidung aus, dass nach der „Andeutungstheorie“, deren Reichweite durch den Formzweck begrenzt wird, (nur) die weitere Frage zu lösen ist, ob und – bejahendenfalls – inwieweit der Parteiwille auch formgültig und daher rechtswirksam erklärt wurde (vgl OGH 16.12.2003, 1 Ob 213/03k; 18.6.2020, 5 Ob 73/20a). Mangels eines wesentliche Bestandteile enthaltenden Notariatsaktes wäre nach dem OGH in diesem Fall die gesamte Optionsverein-

barung wegen Verletzung der Formpflicht des §76 Abs2 GmbHG ungültig (keine „Restgültigkeit“ der Optionsvereinbarung ohne die behaupteten Bedingungen, wie es das Rekursgericht aussprach).

*

Zu Treuepflichten zwischen GmbH-Gesellschaftern (im Gefolge von OGH 18.2.2021, 6 Ob 140/20m, GesRZ2021, 175 [Natlacen]; 18.2.2021, 6 Ob 155/20t, GesRZ2021, 164 [Leonhartsberger])

§1210 ABGB §§4 und 49 GmbHG

1. Die Geltendmachung des Auflösungsrechts bei der Auflösung einer GesBR aus wichtigem Grund hat durch Klage des Gesellschafters zu erfolgen (§1210 Abs1 ABGB).

2. Aus der gegenseitigen Treuepflicht der GmbH-Gesellschafter kann auch die Verpflichtung folgen, einer Änderung des Gesellschaftsvertrages zuzustimmen.

3. Ist die Stammeinlage von allen Gesellschaftern eingezahlt worden, verliert die Aufzählung der ursprünglichen Gesellschafter und die Höhe der von ihnen seinerzeit zu leistenden Stammeinlagen im Gesellschaftsvertrag ihre Bedeutung; es könnten auch in einer Neufassung des Gesellschaftsvertrages nur die ursprünglichen Gesellschafter und deren Stammeinlagen angeführt werden. Daher müssen nach Eintragung einer Gesellschaft und Erfüllung der Einlageverpflichtungen die Gesellschafter und die einzelnen Stammeinlagen nicht mehr angeführt werden.

OGH 6.4.2022, 6 Ob 192/21k (OLG Linz 3 R 44/21t; LG Salzburg 2 Cg 34/18a)

[1] Die Klägerin ist Teil des im Lebensmittelhandel tätigen S.-Konzerns (im Folgenden: S. bzw S.-Konzern). Die Beklagte gehört dem d.-Konzern an (im Folgenden: d. bzw d.-Konzern). Die Klägerin hält als Gesellschafterin eine Beteiligung von zirka 32% an der d. GmbH (künftig: die Gesellschaft), die Beklagte einen Anteil von zirka 68%.

[2] Die Zusammenarbeit zwischen beiden Gesellschafterinnen, die ursprünglich jahrelang reibungslos abgelaufen war, führte im Frühjahr 2017 anlässlich der Einführung eines Kundenbindungsprogramms zu tiefgreifenden Auffassungsdifferenzen, die Gegenstand diverser gerichtlicher Verfahren waren.

[3] Anfang der 1980er-Jahre waren die Geschäftsführer von d. und S. übereingekommen, durch ein gemeinsames unternehmerisches Projekt die d.-Drogeriemärkte in Österreich zu vermehren. S. hatte aufgrund einer entsprechenden Beteiligung die Möglichkeit, die Märkte einer Drogeriekette in Österreich zu übernehmen. Der Plan sah vor, dass ein Unternehmen des S.-Konzerns diese Drogeriemärkte in Österreich übernehmen und an die Gesellschaft verkaufen sowie im Gegenzug dafür einen Geschäftsanteil an der Gesellschaft übernehmen sollte. Die Gesellschaft konnte auf diese Weise ihr Filialnetz in Österreich deutlich vergrößern und zugleich ihre damalige Hauptkonkurrentin auf dem österreichischen Markt, nämlich die zu übernehmenden Drogeriemärkte, verdrängen.

[4] Am 21.8.1981 unterzeichneten die Vertreter des S.-Konzerns sowie jene des d.-Konzerns eine Grundsatzvereinbarung, wonach eine GmbH errichtet werden sollte, an der die Beklagte mit 68% und eine S.-Tochter mit 32% beteiligt sein sollte. Die GmbH sollte einen Aufsichtsrat mit vier Kapitalvertretern haben, wovon zwei von der Beklagten und einer von der S.-Tochter entsendet werden sollten; der vierte Kapitalvertreter sollte gemeinsam bestellt werden.

5/2022 291 Judikatur
Mag. Bernhard Maier, LL.M. ist Rechtsanwalt in Wien.

Judikatur

[5] Die in der Grundsatzvereinbarung aufgelisteten Schritte wurden in der Folge im Wesentlichen so umgesetzt, dass die S.-AG sich im Jahr 1981 durch ihre 100%ige Tochtergesellschaft, die P.-GmbH (im Folgenden: P.), an der Gesellschaft mit einem Geschäftsanteil von 32% beteiligte. Die Beklagte war bereits Gesellschafterin der Gesellschaft und hielt in der Folge einen Geschäftsanteil von 68%.

[6] Der Gesellschaftsvertrag der Gesellschaft in der Neufassung vom 9.9.1981 lautet auszugsweise:

§8. Aufsichtsrat

(1) Der Aufsichtsrat besteht aus mindestens drei, höchstens vier Mitgliedern, welche von der Gesellschaft bestellt werden.

(2) Sie werden, sofern keine abweichenden gesetzlichen Bestimmungen bestehen, längstens für vier Jahre gewählt. Die Funktionsperiode endet mit der Beschlussfassung über die Entlastung für das vierte auf die Bestellung folgende Geschäftsjahr nach der Wahl. Wiederholte Bestellung als Aufsichtsratsmitglied ist zulässig.

(3) Der Gesellschafter ... [Beklagte] ist berechtigt, zwei Mitglieder des Aufsichtsrats zu entsenden, der Gesellschafter P.-GmbH ist berechtigt, ein Mitglied des Aufsichtsrats zu entsenden. Das weitere Aufsichtsratsmitglied wird von der Generalversammlung gewählt.

(4) Der Aufsichtsrat kann sich seine Geschäftsordnung selbst geben.

(7) Der Aufsichtsrat ist beschlussfähig, wenn drei gemäß §8 Abs3 bestellten Mitglieder, davon der Vorsitzende oder sein Stellvertreter anwesend sind. Der Vorsitzende, im Falle seiner Verhinderung sein Stellvertreter, leitet die Sitzung. Die Art der Abstimmung bestimmt der Leiter der Sitzung.

(8) Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst. Im Falle der Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Leiters der Sitzung.

Für die Genehmigung zustimmungspflichtiger Geschäfte bedarf es überdies der Zustimmung der Aufsichtsratsmitglieder, welche von den Gesellschaftern entsandt wurden.

...“

[7] Zur Regelung der Beschickung des Aufsichtsrats schlossen die Beklagte und die P. unter Beitritt dreier Vertreter des d.-Konzerns persönlich (G. L., G. W. und G. B.) sowie der S.-AG im Jahr 1981 oder 1982 einen Syndikatsvertrag.

[8] Der Syndikatsvertrag lautet auszugsweise:

„§1. Die Syndikatspartner verpflichten sich, über das in der Generalversammlung der ... [Gesellschaft] von den Kapitaleignern zu wählende Aufsichtsratsmitglied Einvernehmen herzustellen und dem gemeinsam erstellten Wahlvorschlag in der Generalversammlung die Zustimmung zu erteilen.

Die Syndikatspartner verpflichten sich weiters, auf die von ihnen entsandten und gewählten Aufsichtsratsmitglieder einzuwirken, dass diese den Vorsitzenden und den Stellvertreter des Aufsichtsrats so wählen, dass jede dieser Funktionen von einem Aufsichtsratsmitglied ausgeübt wird, welches von jeweils einem der Syndikatspartner nominiert wird.

§2. Die Syndikatspartner verpflichten sich, sich wechselseitig von einer Übertragung bzw vertragsgemäßen Verpfändung oder sonstigen Verfügung oder Belastung ihres Geschäftsanteils rechtzeitig zu informieren.

§5. Die Syndikatspartner verpflichten sich, die mit diesem Syndikatsvertrag eingegangenen Verpflichtungen auch an ihre jeweiligen Rechtsnachfolger zu überbinden.

§6. Verstöße gegen die gegenständliche Vereinbarung bilden zwischen den Vertragspartnern einen klagbaren Anspruch.

§7. Dieser Syndikatsvertrag wird grundsätzlich auf die Dauer des Bestehens der ... [Gesellschaft] abgeschlossen. Beide Partner verzichten unwiderruflich auf die Ausübung des Kündigungsrechts auf 10 Jahre, dh bis zum 30.9.1992. Wird der Syndikatsvertrag zu diesem Termin nicht aufgekündigt, so verlängert er sich jeweils um fünf Jahre. Die jeweilige Aufkündigung ist gültig, wenn sie unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Jahr dem anderen Partner mittels eingeschriebenen Briefs mitgeteilt wird.

...“

[9] In der ersten Generalversammlung (im Folgenden: GV) der Gesellschaft am 22.1.1982 machten beide Gesellschafterinnen unter Bezugnahme auf §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages von ihrem Entsendungsrecht in den Aufsichtsrat Gebrauch. Die P. entsandte ein, die Beklagte entsandte zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat. Beide Gesellschafterinnen wählten sodann als viertes, von den Kapitaleignern zu wählendes Aufsichtsratsmitglied stimmeneinhellig den anwesenden Univ.-Prof. DDr. W. J. In diesem ersten GV-Protokoll wird sprachlich zwischen der Entsendung (betreffend die entsandten Mitglieder) und der Wahl des vierten Aufsichtsratsmitglieds differenziert.

[10] Im Protokoll über die GV der Gesellschaft vom 18.12.2001 wurde unter Pkt5. („Entsendung in den Aufsichtsrat“) festgehalten: „Herr Präsident KR L. D. erklärt, dass er sein Aufsichtsratsmandat mit Ablauf dieser Generalversammlung zurücklegt. Der Gesellschafter P.-GmbH erklärt, gemäß §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages Herrn Dr. G. D. in den Aufsichtsrat zu entsenden. Herr Dr. G. D. erklärt, diese Funktion anzunehmen.“

[11] Im Protokoll der GV der Gesellschaft vom 18.12.2003 ist zum fünften Tagesordnungspunkt („Neuwahl des Aufsichtsrats“) festgehalten: „Der Vorsitzende stellt fest, dass von dem Gesellschafter P.-GmbH weiters Herr Dr. G. D. ... und von der ... [Beklagten] weiters Herr G. L. ... und Herr G. W. ... in den Aufsichtsrat entsandt werden. Als viertes Aufsichtsratsmitglied wird von Herrn Dr. G. D. Herr Prof. DDr. W. J. ... zur Wahl vorgeschlagen. Die Wahl erfolgt stimmeneinhellig. ...“

[12] Der Gesellschaftsvertrag der Gesellschaft wurde in der GV vom 10.3.2004 in §7 Abs4 dahin geändert, dass die Höhe der Einzelinvestitionen, für die die Geschäftsführer der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen, auf 1Mio€ angehoben wurde.

[13] Der Gesellschaftsvertrag der Gesellschaft sah zu keinem Zeitpunkt vor, dass eine Gesellschafterin ihren Geschäftsanteil nur mit Zustimmung der jeweils anderen an einen Dritten übertragen könnte.

[14] Mit Spaltungs- und Übernahmevertrag vom 27.5.2004 wurde der Geschäftsanteil der P. an die B.-GmbH (im Folgenden: B.) übertragen. Mit Sacheinlage-, Übertragungs- und Abtretungsvertrag vom 27.10.2004 wurde im Zuge einer konzerninternen Umstrukturierung des S.-Konzerns der Geschäftsanteil der B. an die Klägerin übertragen.

[15] Im Protokoll der GV der Gesellschaft vom 13.12.2007 ist zum sechsten Tagesordnungspunkt („Neuwahl des Aufsichtsrats“) festgehalten:

„Der Vorsitzende stellt fest, dass von dem Gesellschafter ... [Klägerin] weiters Herr Dr. G. D. ... und von der ... [Beklagten] weiters Herr G. L. ... und Herr G. W. ... in den Aufsichtsrat entsandt werden.

Als viertes Aufsichtsratsmitglied wird von Herrn Dr. G. D. Herr Prof. DDr. W. J. ... zur Wahl vorgeschlagen. Die Wahl erfolgt stimmeneinhellig.“

[16] Das Protokoll ist von G. W. unterfertigt.

[17] Die Aufsichtsratsmitglieder der Gesellschaft (sowohl Kapitalals auch Arbeitnehmervertreter) beschlossen in der Aufsichtsratssitzung am 13.12.2007 eine Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat. Diese sieht vor:

„§1. Zusammensetzung des Aufsichtsrats

1. Der Aufsichtsrat besteht derzeit aus vier Mitgliedern, welche von der Gesellschaft bestellt sind.

2. Der Gesellschafter ... [Beklagte] entsendet zwei Mitglieder des Aufsichtsrats, der Gesellschafter ... [Klägerin] entsendet ein Mitglied des Aufsichtsrats. Das weitere Aufsichtsratsmitglied wird von der Generalversammlung gewählt.

3. Die Aufsichtsratsmitglieder werden auf längstens vier Jahre bestellt. ...“

[18] Am 14./19. 12. 2011 fassten die Gesellschafter der Gesellschaft gem §34 GmbHG folgenden Umlaufbeschluss:

„5. Neuwahl des Aufsichtsrats

Es wird der Beschluss gefasst, dass von dem Gesellschafter ... [Klägerin] weiters Herr Dr. G. D. ... und von der ... [Beklagten] weiters Herr Prof. G. W. ... sowie Herr KR G. B. ... in den Aufsichtsrat für eine Funktionsperiode entsandt werden.

292 5/2022
„...

Es wird aufgrund des Vorschlags von Herrn Dr. G. D. der Beschluss gefasst, Herrn em. Univ.-Prof. DDr. W. J. ... als viertes Aufsichtsratsmitglied für eine Funktionsperiode in den Aufsichtsrat zu wählen.“

[19] Am 16./21.12.2015 fassten die Gesellschafter der Gesellschaft abermals einen mit Pkt5. des Beschlusses vom 14./19.12.2011 wortgleichen Umlaufbeschluss gem §34 GmbHG.

[20] Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Gesellschaftern verlief von 1981 bis etwa Mitte 2017 im Wesentlichen friktionsfrei. Ab dem Frühjahr 2017 wurden zwischen ihnen anlässlich der Einführung eines Kundenbindungsprogramms durch die Gesellschaft jedoch tiefgreifende Auffassungsdifferenzen offenbar, die Gegenstand verschiedener gerichtlicher Verfahren sind.

[21] In der GV der Gesellschaft am 21.11.2017 wurde Dr. D. als Aufsichtsratsmitglied der Gesellschaft mit den Stimmen der Beklagten als Mehrheitsgesellschafterin und gegen die Stimmen der klagenden Minderheitsgesellschafterin abberufen. Dieser GV-Beschluss wurde von der Klägerin (neben weiteren Streitpunkten) in dem zu 8 Cg 88/17k des LG Salzburg (6 Ob 155/20t) geführten Verfahren angefochten.

[22] Am 10.1.2018 kündigte die Beklagte gegenüber der Klägerin für den Fall, dass wider ihr Erwarten ein Syndikatsvertrag zwischen der Beklagten und der Klägerin bestehe, diesen „höchstvorsorglich aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung auf“. Sie führte darin aus, nach den ihr vorliegenden Informationen habe zwischen der Beklagten und der Klägerin als Gesellschafter der Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt ein Syndikatsvertrag bestanden. Hilfsweise erklärte die Beklagte die Kündigung zum nächstmöglichen Kündigungstermin.

[23] Am 12.3.2018 verstarb das Mitglied im Aufsichtsrat der Gesellschaft Univ.-Prof. DDr. W. J.

[24] In der außerordentlichen GV der Gesellschaft am 12.4.2018 wurden zwei Aufsichtsratsmitglieder mit den Stimmen der Beklagten und gegen die Stimmen der Klägerin gewählt, ohne dass im Vorhinein das Einvernehmen mit der Klägerin hergestellt worden wäre. Die Klägerin focht die Wahlbeschlüsse zu 9 Cg 36/18x des LG Salzburg an (6 Ob 140/20m).

[25] Mit Urteil vom 18.2.2021 gab der Senat zu 6 Ob 155/20t dem Eventualbegehren der (auch hier) Klägerin statt und erklärte den Beschluss, mit dem Dr. G. D. als Mitglied des Aufsichtsrats abberufen worden war, für nichtig.

[26] Mit weiterem Urteil vom 18.2.2021 gab der Senat zu 6 Ob 140/ 20m dem Begehren der (auch hier) Klägerin auf Nichtigerklärung der Wahl der zwei Aufsichtsratsmitglieder in der GV der Gesellschaft am 12.4.2018 statt.

[27] Die Klägerin begehrt 1.) die Feststellung, dass der Syndikatsvertrag zwischen den Parteien ungekündigt aufrecht bestehe, hilfsweise, dass er bis zum 30.9.2022 aufrecht bestehe, 2.) die Feststellung der Haftung der Beklagten für Schäden aus der Verletzung der Bestimmungen des Syndikatsvertrages, 3.) der Beklagten zu untersagen, in einer GV der Gesellschaft ein Aufsichtsratsmitglied zu wählen, ohne vorher das Einvernehmen mit der Klägerin herzustellen, sowie 4.) die Beklagte zur Zustimmung zu den aus dem Spruch ersichtlichen Änderungen des Gesellschaftsvertrages zu verpflichten. Hilfsweise begehrt sie die Verankerung eines Nominierungs- anstelle eines Entsendungsrechts der Klägerin.

[28] Sie brachte vor, der Syndikatsvertrag sei auf die Klägerin übergegangen. Die Kündigung aus wichtigem Grund sei unwirksam, die ordentliche Kündigung widerspreche Treu und Glauben. Der Klägerin drohe beträchtlicher Schaden, weil die Beklagte ihr die Ausübung ihrer Rechte aus dem Syndikatsvertrag verweigere. Die Beklagte sei aufgrund der langjährigen gelebten Praxis aus der Treuepflicht verpflichtet, den Gesellschaftsvertrag an die tatsächlichen Gegebenheiten klarstellend anzupassen, dies im Hinblick auf das Entsendungsrecht, die Nennung der Klägerin als Gesellschafterin und die Herstellung von Einvernehmen über das zu wählende Aufsichtsratsmitglied.

[29] Die Beklagte wandte ein, eine Rechtsnachfolge der Klägerin in den Syndikatsvertrag habe nicht stattgefunden; dessen Regelungen seien auch nicht gelebt worden. Ungeachtet dessen hätten wichtige Gründe für die Vertragskündigung bestanden, weil es der Beklagten nicht zumutbar sei, an einen Vertragspartner gebunden zu sein, der gesellschaftsfremde

Interessen – jene des S.-Konzerns – verfolge. Die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung sei nicht rechtsmissbräuchlich erfolgt. Die Beklagte sei nicht verpflichtet, mit der Klägerin das Einvernehmen über die Person des zu wählenden Aufsichtsratsmitglieds herzustellen. Das Begehren auf Feststellung der Haftung sei unbegründet, weil ein solches Begehren nicht auf theoretisch denkbare Möglichkeiten zukünftiger Rechtsverletzungen gestützt werden könne. Die Beklagte habe auch kein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten gesetzt. Das Entsendungsrecht der P. sei untergegangen und nicht auf die Klägerin übergegangen, es sei auch nicht als Recht der Klägerin von Vertretern der Beklagten gewollt oder von den Parteien tatsächlich gelebt worden. Eine derartige Änderung des Gesellschaftsvertrages sei der Beklagten nicht zumutbar.  [30] Das Erstgericht wies sämtliche Klagebegehren ab und traf zusätzlich zum eingangs wiedergegebenen Sachverhalt – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – folgende Feststellungen: [31] Es ist nicht feststellbar, dass es für die damaligen Gesellschafter zum Zeitpunkt des Beginns der Zusammenarbeit 1981/1982 gleichgültig war, welche konkrete Gesellschaft des S.-Konzerns die Beteiligung an der Gesellschaft hält.

[32] Es kann nicht festgestellt werden, dass es dem gemeinsamen Verständnis der Vertragsparteien im Jahr 1981 entsprochen hätte, dass der Syndikatsvertrag nur gelten sollte, solange die Gesellschafter direkte Haftungen übernehmen.

[33] Nicht feststellbar ist weiters, dass im Zeitpunkt der Neufassung des Gesellschaftsvertrages zwischen den beiden Gesellschafterinnen die Willensübereinstimmung geherrscht hätte, dass das in §8 Abs3 enthaltene Entsendungsrecht und die Rechte aus dem Syndikatsvertrag der P. für den Fall einer Anteilsübertragung durch diese an eine andere Gesellschaft der S.-Gruppe oder auch an eine Tochtergesellschaft der S.-AG dieser anderen Gesellschaft der S.-Gruppe oder der Tochtergesellschaft der S.-AG zustehen sollten.

[34] Bei der „Vereinbarung zur Zusammenführung von D. und V.-Märkten“ vom 21.8.1981 handelt es sich um ein Zwischenergebnis auf dem Weg der Vertragsverhandlungen, das durch den Syndikatsvertrag und den Gesellschaftsvertrag umgesetzt wurde.

[35] Mit Spaltungs- und Übernahmevertrag vom 27.5.2004 übertrug die P. an die B. ua den Geschäftsanteil an der Gesellschaft, welcher einer zur Gänze erbrachten Stammeinlage von 4.185.955€ und damit 32% des Stammkapitals entsprach, „einschließlich aller damit verbundenen Rechte und Pflichten sowie Rechts- und Vertragsverhältnisse, soweit sich diese auf die Geschäftsanteile beziehen“, im Wege der Gesamtrechtsnachfolge, und zwar durch Abspaltung zur Aufnahme gem §1 Abs2 Z2 SpaltG. Die B. stimmte dieser Übertragung zu. Der Syndikatsvertrag ist in diesem Notariatsakt nicht erwähnt.

[36] Mit Sacheinlage-, Übertragungs- und Abtretungsvertrag vom 27.10.2004 übertrug dann die B. ihren Geschäftsanteil an der Gesellschaft als Sacheinlage zur Durchführung einer Kapitalerhöhung an die Klägerin. Der Syndikatsvertrag ist auch in diesem Notariatsakt nicht erwähnt.

[37] Die B. verständigte die Gesellschaft mit Schreiben vom 9.7.2004 und 29.11.2004 von beiden Übertragungsvorgängen je mit dem Ersuchen, die Änderung im Stand der Gesellschafter im Firmenbuch anzumelden.

[38] Es ist nicht feststellbar, dass die Beklagte von diesen Umstrukturierungen verständigt wurde.

[39] Es ist nicht feststellbar, dass Dr. G. D. und Mag. G. D. bei einem persönlichen Treffen 2004 mündlich vereinbart hätten, dass nunmehr die Klägerin die Rechte und Pflichten aus dem Syndikatsvertrag wahrnehmen solle. Es ist weiters nicht feststellbar, dass es ein solches Treffen gegeben habe, bei dem weiters besprochen worden sei, dass nunmehr die Klägerin entsendungsberechtigt sei, es in Ordnung sei, wenn das vierte einvernehmlich abzustimmende Mitglied auch weiterhin Prof. J. sei, und dass dabei alle Bezug habenden Verträge (Syndikatsvertrag, Grundsatzvereinbarung) auch physisch übergeben worden seien. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beklagte (namentlich durch G. W.) der Übertragung des Geschäftsanteils und/oder des Syndikatsvertrages auf die Klägerin zuge-

5/2022 293 Judikatur

Judikatur

stimmt habe und/oder mehrfach anerkannt habe, dass der Syndikatsvertrag auf die Klägerin übergegangen sei.

[40] Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Beklagte im Jahr 2004 (oder auch bis zum Eintritt der Meinungsverschiedenheiten im Jahr 2017) im Zuge der S.-internen Umstrukturierungen zu einer Abänderung des Gesellschaftsvertrages dergestalt bereit gewesen wäre, dass in §8 Abs3 statt der P. die Klägerin als Entsendungsberechtigte aufscheine, und/oder zu einer Vertragsübernahme des Syndikatsvertrages durch die Klägerin bereit gewesen wäre.

[41] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise (in den Spruchpunkten 1.b., 2., 3. und 4.a.) Folge.

[42] Es bestätigte die Abweisung des Feststellungsbegehrens, der Syndikatsvertrag zwischen den Parteien sei ungekündigt aufrecht (Spruchpunkt 1.a.), gab aber dem Eventualbegehren auf Feststellung des aufrechten Bestands bis zum 30.9.2022 statt (Spruchpunkt 1.b.).

[43] Es gab weiters dem Begehren auf Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche Schäden der Klägerin aufgrund der Verletzung des Syndikatsvertrages statt (Spruchpunkt 2.).

[44] Es untersagte der Beklagten, in einer GV der Gesellschaft ein Aufsichtsratsmitglied zu wählen, ohne vorher das Einvernehmen mit der Klägerin über dessen Person herzustellen (Spruchpunkt 3.).

[45] Zu Spruchpunkt 4. (zu dessen Auslegung unten Pkt1.1. ff) verpflichtete es die Beklagte, einer Änderung des Gesellschaftsvertrages zuzustimmen, nach der die dort genannte P. durch die Klägerin ersetzt werde, und zwar in §5 Abs1 des Gesellschaftsvertrages als Gesellschafterin, die eine Stammeinlage in bestimmter Höhe übernommen habe, sowie in §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages als Gesellschafterin, die zur Entsendung eines Aufsichtsratsmitglieds berechtigt ist (Spruchpunkt 4.a.).

[46] Hingegen bestätigte es die Abweisung des Klagebegehrens auf Änderung des Gesellschaftsvertrages dahin, dass die Wahl des vierten Aufsichtsratsmitglieds einstimmig zu erfolgen habe.

[47] Es ließ die Revision zu, weil keine höchstgerichtliche Rspr zur Zustimmungspflicht eines Gesellschafters zu einer Änderung des Gesellschaftsvertrages bestehe.

[48] Rechtlich bejahte das Berufungsgericht gestützt auf die E 6 Ob 140/20m – deren Bindungswirkung auf die an diesem Verfahren als Nebenintervenientin beteiligte (hier) Beklagte es offenließ – den Übergang des Syndikatsvertrages von der P. auf die B. sowie in der Folge auf die Klägerin. Zur von der Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen und ordentlichen Kündigung des Syndikatsvertrages erörterte es, ein Syndikatsvertrag begründe ein Dauerschuldverhältnis, das üblicherweise als GesBR qualifiziert werde. Die Auflösung aus wichtigem Grund setze nach dem hier anzuwendenden §1210 Abs1 ABGB idF des GesbR-RG, BGBl I 2014/83, eine Rechtsgestaltungsklage voraus, sodass die (bloß) mit Schreiben vom 10.1.2018 erklärte Auflösung aus wichtigem Grund unwirksam sei und es nicht auf die behaupteten Auflösungsgründe ankomme. Hingegen sei die von der Beklagten unter Einhaltung der vereinbarten Kündigungsfrist erklärte ordentliche Kündigung zum 30.9.2022 wirksam. Entgegen dem Klagevorbringen ergebe sich aus den Leistungen des S.-Konzerns und der Grundsatzvereinbarung des Jahres 1981 nicht die Sittenwidrigkeit der Kündigung, weil die Parteien die Kündigungsmöglichkeit im Syndikatsvertrag nach Abschluss der Grundsatzvereinbarung und in Kenntnis der Leistungen von S. im Syndikatsvertrag vereinbart hätten.

[49] Die Verletzung eines Syndikatsvertrages könne Schadenersatzansprüche begründen. Dies sei hier der Fall, weil die Beklagte durch ihre Stimmabgabe bei der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder Univ.-Prof. Dr. M. A. und Dkfm. Dr. D. in der Aufsichtsratssitzung am 12.4.2018 gegen §1 des Syndikatsvertrages und ihre Treuepflicht verstoßen habe und ein Schaden der Klägerin nicht bezifferbar sei. Aus dem Verstoß der Beklagten gegen ihre Pflichten aus dem Syndikatsvertrag folge auch das Verbot, ohne vorheriges Einvernehmen mit der Klägerin ein Aufsichtsratsmitglied zu wählen.

[50] Zum Entsendungsrecht führte das Berufungsgericht im Anschluss an die E 6 Ob 155/20t – deren Bindungswirkung auf die (hier) Beklagte es wiederum offenließ – aus, dieses sei in §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages der P. höchstpersönlich und nicht dem Inhaber eines Geschäftsanteils eingeräumt worden und spätestens mit der Übertragung des Geschäftsanteils auf die Klägerin am 27.4.2004 erloschen. Im vorliegenden Fall habe das Entsendungsrecht aber iZm dem faktischen Vetorecht der entsendeten Aufsichtsratsmitglieder bei zustimmungspflichtigen Geschäften dazu gedient, der Minderheitsgesellschafterin eine starke Position einzuräumen. Die Beklagte habe während 13 Jahren nach dem – den Parteien zunächst nicht bewussten – Erlöschen des Entsendungsrechts bis 2017 mehrfach zu erkennen gegeben, von einem Entsendungsrecht der Klägerin in den Aufsichtsrat auszugehen. Sie habe durch diese langjährige Übung einen Vertrauenstatbestand geschaffen, das tatsächlich nicht bestehende Entsendungsrecht der Klägerin anzuerkennen. Im vorliegenden Fall sei die Beklagte ausnahmsweise aus ihrer Treuepflicht heraus verpflichtet, die Satzung im Hinblick auf das Entsendungsrecht an die geänderten Verhältnisse anzupassen. Die weitere Anpassung des Gesellschaftsvertrages dahin, dass die Klägerin anstatt der P. als Gesellschafterin genannt werde, diene nur der Klarstellung.

[51] Hingegen bestehe keine Rechtsgrundlage, für das vierte Aufsichtsratsmitglied eine einstimmige Wahl in der Satzung zu verankern, weil die Herstellung von Einvernehmen über das vierte Aufsichtsratsmitglied nur im Syndikatsvertrag verankert sei. Insofern sei das Klagebegehren abzuweisen.

[52] Die Klägerin macht in ihrer Revision eine im Hinblick auf die Entscheidungen 6 Ob 140/20m und 6 Ob 155/20t unrichtige rechtliche Beurteilung geltend. Die ordentliche Kündigung des Syndikatsvertrages sei treu- und sittenwidrig und daher gem §879 Abs1 ABGB unwirksam. Die Beklagte habe aus der Treuepflicht der Verankerung der einvernehmlichen Wahl des vierten Aufsichtsratsmitglieds im Gesellschaftsvertrag zuzustimmen.

[53] Die Beklagte stützt ihre Revision auf die Revisionsgründe der Nichtigkeit, der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Sie macht zusammengefasst geltend, Spruchpunkt 4. des Berufungsurteils sei in sich widersprüchlich, das Berufungsgericht habe sich mit der Beweisrüge der Beklagten ungenügend auseinandergesetzt und die Rechtssache insb deshalb unrichtig beurteilt, weil es von den Entscheidungen 6Ob 140/20m und 6 Ob 155/20t abweichende Sachverhaltsfeststellungen nicht beachtet habe. Der Syndikatsvertrag sei nicht auf die Klägerin übergegangen. Sollte ein Übergang stattgefunden haben, wäre er durch die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund aufgelöst. Das Unterlassungsbegehren sei mangels aufrechten Syndikatsvertrages, aber auch deshalb abzuweisen, weil Fälle denkbar seien, in denen die Herstellung des Einvernehmens nicht erforderlich sei. Die Beklagte müsse auch einer Verankerung des Entsendungsrechts im Gesellschaftsvertrag nicht zustimmen, weil das der P. eingeräumte Entsendungsrecht untergegangen sei, die Berücksichtigung der tatsächlichen Übung der objektiven Satzungsauslegung widerspreche und kein Vertrauenstatbestand gesetzt worden sei. Die Klägerin habe auch keine Stammeinlage übernommen.

Der OGH wies die Revision der Klägerin zurück.

Der Revision der Beklagten gab er

1.) hinsichtlich der Spruchpunkte 1.2. und 1.b. des Berufungsurteils (Syndikatsvertrag) nicht Folge;

2.) hinsichtlich des Spruchpunktes 2. des Berufungsurteils (Haftung aus Verletzung des Syndikatsvertrages) Folge und stellte das klageabweisende Ersturteil wieder her;

3.) hinsichtlich des Spruchpunktes 3. des Berufungsurteils (Wahl des Aufsichtsratsmitglieds in der GV) teilweise Folge und änderte ihn folgendermaßen ab:

„3. Die beklagte Partei ist schuldig, es bis zum Ablauf des 30.9.2022 zu unterlassen, in einer Generalversammlung der d. GmbH ein Aufsichtsratsmitglied zu wählen, ohne vorher Einvernehmen mit der

294 5/2022

klagenden Partei über die Person dieses Aufsichtsratsmitglieds herzustellen.“;

4.) hinsichtlich des Spruchpunktes 4. des Berufungsurteils (Zustimmung zur Änderung des Gesellschaftsvertrages) teilweise Folge und änderte ihn folgendermaßen ab: „4.a. Die beklagte Partei ist schuldig, in einer außerordentlichen Generalversammlung, welche über Verlangen der klagenden Partei binnen drei Monaten stattzufinden hat, für einen notariell beglaubigten Beschluss über die Änderung des Gesellschaftsvertrages der d. GmbH (FN ...) dahin gehend zu stimmen, dass die in §8 Abs3 genannte P.-GmbH durch die A. AG zu ersetzen ist, sodass dieser Paragraf des Gesellschaftsvertrages in seinem geänderten Absatz zu lauten hat wie folgt: ‚§8. Aufsichtsrat

(3) Der Gesellschafter d. V.-GmbH ist berechtigt, zwei Mitglieder des Aufsichtsrats zu entsenden, der Gesellschafter A. AG ist berechtigt, ein Mitglied des Aufsichtsrats zu entsenden. Das weitere Aufsichtsratsmitglied wird von der Generalversammlung gewählt.‘

4.b. Das Mehrbegehren und das gleichlautende Eventualbegehren, die beklagte Partei zur Zustimmung zur Satzungsänderung dahin zu verpflichten, dass in §8 Abs3 letzter Satz des Gesellschaftsvertrages zwischen den Worten ‚Generalversammlung‘ und ‚gewählt‘ das Wort ‚einstimmig‘ einzufügen sei, werden abgewiesen.

4.c. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei zur Zustimmung zur Satzungsänderung dahin zu verpflichten, dass die in §5 Abs1 genannte P.-GmbH durch die A. AG zu ersetzen sei, sodass dieser Paragraf des Gesellschaftsvertrages in dem geänderten Absatz zu lauten hat wie folgt:

‚§5. Stammkapital und Stammeinlagen

[1) Das Stammkapital beträgt 13.081.110€. Auf dieses Stammkapital haben die Gesellschafter folgende Beträge als Stammeinlagen übernommen:

a) d. V.-GmbH 8.895.155€, b) A. AG 4.185.955€ ‘ wird abgewiesen.“

Aus den Entscheidungsgründen des OGH: 1. bis 2.

3. Zum Übergang des Syndikatsvertrages auf die Klägerin

[64] 3.1. Die Beklagte zieht den Übergang des Syndikatsvertrages von der P. auf die B. nicht in Zweifel. Sie steht jedoch auf dem Standpunkt, es habe keine Vertragsübernahme durch die Klägerin stattgefunden.

[65] 3.2. Der OGH hat die Frage, ob der im Jahr 1981 zwischen der Beklagten und der P. abgeschlossene Syndikatsvertrag auf die Klägerin übergegangen ist, in dem zwischen der (auch hier) Klägerin und der Gesellschaft geführten Verfahren 6 Ob 140/20m behandelt. Die (hier) Beklagte war an diesem Verfahren als Nebenintervenientin auf Beklagtenseite beteiligt.

[66] Der im vorliegenden Fall festgestellte Sachverhalt weist keine entscheidungswesentlichen Unterschiede zu den den Entscheidungen 6 Ob 140/20m und 6 Ob 155/20t zugrunde liegenden Feststellungen auf. Auf eine allfällige Bindung der Beklagten an die sie belastenden, in den Verfahren 6 Ob 140/20m und 6 Ob 155/20t getroffenen Tatsachenfeststellungen kommt es daher im vorliegenden Fall nicht entscheidend an.

[67] 3.3. Soweit die Beklagte das Fehlen eines Titels für den Rechtsübergang zwischen der B. und der Klägerin rügt (so bereits auch in ihrer Revisionsbeantwortung zu 6 Ob 140/20m),

stellte der OGH klar, dass eine Vertragsübernahme auch schlüssig iSd §863 ABGB erfolgen kann. Vor dem Hintergrund der Verpflichtung der (ausscheidenden) B., ihre Pflichten aus dem Syndikatsvertrag auf die neu eintretende Gesellschafterin, also die Klägerin, zu überbinden, hegte der OGH keine Zweifel daran, dass der Wille der Parteien des Sacheinlage-, Übertragungs- und Abtretungsvertrages vom 27.10.2004 im Zuge der Umstrukturierungen aufseiten des S.-Konzerns auch auf die Übertragung der Rechtsposition aus dem Syndikatsvertrag gerichtet war. Bei der vorliegenden Sachlage, bei der innerhalb der Unternehmensgruppe S. lediglich aus steuerlichen und unternehmenspolitischen Überlegungen eine Umstrukturierung stattfand, aufgrund derer die B. bloß für fünf Monate die Gesellschafterstellung in der Gesellschaft innehatte, wäre es lebensfremd anzunehmen, dass der Wille der vertretungsbefugten Organe der B. und der Klägerin nicht darauf gerichtet war, die mit der Ausübung der Gesellschafterstellung in der Gesellschaft verbundenen Rechtspositionen auf ihre Einzelrechtsnachfolgerin als Gesellschafterin zu überbinden. Dass der Syndikatsvertrag im Sacheinlage-, Übertragungs- und Abtretungsvertrag vom 27.10.2004 nicht ausdrücklich angeführt ist, schadet nicht, weil die Übernahme eines Syndikatsvertrages nach allgemeinen Regeln auch konkludent erklärt werden kann (6 Ob 140/20m, Rn 79).

[68] Darauf, ob es im Jahr 2004 ein Treffen zwischen Dr. G. D. und Mag. G. D. gegeben hat, bei dem der Übergang ausdrücklich vereinbart wurde – wozu das Erstgericht eine Negativfeststellung getroffen hat –, kommt es, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannte, schon deshalb nicht an, weil beiden genannten Personen nur Kollektivzeichnungsbefugnis (Dr. G. D. für die B. und Mag. G. D. für die Klägerin) zukam.

[69] 3.4. Der OGH bejahte zu 6 Ob 140/20m auch die für die Dreiparteieneinigung erforderliche konkludente Zustimmung der (hier) Beklagten zur Vertragsübernahme, weil aufgrund der konkreten Umstände des Falles bereits geringe Anhaltspunkte für die Annahme einer solchen Zustimmung ausreichten. Für die Zustimmung der Beklagten zur Vertragsübernahme fiel nämlich bereits ins Gewicht, dass in der am 15.12.2005 vom Aufsichtsrat der Gesellschaft erlassenen und vom Aufsichtsratsvorsitzenden, der gleichzeitig alleinvertretungsbefugter Geschäftsführer der Beklagten war, unterfertigten Geschäftsordnung für die Geschäftsführung ausdrücklich die Klägerin als Vertragspartnerin des Syndikatsvertrages genannt war. Insgesamt wurde die gelebte Praxis bereits zu 6 Ob 140/20m dahin verstanden, dass die (hier) Beklagte nach den 2004 erfolgten Gesellschafterwechseln mehrfach zu erkennen gegeben hatte, daraus insgesamt keine Änderung der Rechte ihrer Gesellschafterin abzuleiten.

[70] 3.5. Die Beklagte behauptet in ihrer Revision, im vorliegenden Verfahren seien Sachverhaltselemente festgestellt worden, die zu einer abweichenden Beurteilung führen würden. Dies ist nicht der Fall, wozu rechtlich Folgendes vorauszuschicken ist:

[71] Ob ein bestimmtes willentliches Verhalten nach §863 ABGB als Willenserklärung zu beurteilen ist, ist ein Ergebnis der Auslegung. Maßgeblich ist, ob nach dem objektiven Erklärungswert des Verhaltens eine die Rechtslage gestaltende

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Judikatur

Erklärung mit Bindungswirkung vorliegt (jüngst etwa 8 ObA 78/20h; RIS-Justiz RS0102748 [T1]; vgl RIS-Justiz RS0014236 [T2]). Es kommt also nicht auf das Vorhandensein einer entsprechenden Absicht an, sondern allein darauf, welchen Eindruck das Gegenüber vom Gesamtverhalten seines Partners haben musste (stRspr; s bloß 5 Ob 219/16s). Ein vom objektiven Erklärungswert abweichender Wille geht nur dann vor, wenn der andere Vertragsteil ihn erkannt hat (vgl RIS-Justiz RS0014005 [T1 und T3]) oder sich die Parteien in der Sache einig sind (6 Ob 36/20t). Soweit die von der Beklagten in ihrer Revision hervorgehobenen Feststellungen lediglich den tatsächlichen, aber gegenüber der Klägerin nicht nach außen getretenen Willen der für die Beklagte handelnden Personen betreffen, vermögen sie nichts an den bereits zu 6 Ob 140/20m angestellten Erwägungen zur konkludenten Vertragsübernahme zu ändern.

[72] 3.6. Im Einzelnen ist zu den Argumenten der Beklagten auszuführen: Bei der zu 6 Ob 140/20m (Rn 82) angesprochenen Absicht der (ursprünglichen) Syndikatspartner, grundsätzlich einen Übergang dieses Vertrages auf einen neu hinzukommenden Gesellschafter anzustreben, handelte es sich nicht um den – dem Tatsachenbereich zuzuordnenden – tatsächlichen Parteiwillen, sondern um das Ergebnis der Auslegung des Syndikatsvertrages (vgl 6 Ob 140/20m, Rn 82f), konkret der schriftlichen Vertragserklärungen der Parteien. Die Schlussfolgerung, dass die Frage, welche Gesellschaft des S.-Konzerns Mitgesellschafterin wurde, zu Beginn der Zusammenarbeit nicht entscheidend war (vgl 6 Ob 140/20m, Rn83), leuchtet aus der Grundsatzvereinbarung hervor, die durch den Syndikatsvertrag und den Gesellschaftsvertrag umgesetzt wurde. Die im vorliegenden Verfahren getroffenen Negativfeststellungen – es konnte nicht festgestellt werden, dass die Parteien eine Willensübereinstimmung dahin hatten, dass die Rechte der P. im Falle einer Anteilsübertragung übergehen sollten, dass den Parteien in den Jahren 1981/1982 gleichgültig gewesen sei, welche Gesellschaft des S.-Konzerns die Anteile halte oder dass die Beklagte zu einer Übertragung des Syndikatsvertrages auf die Beklagte bereit gewesen wäre –betreffen sämtlich den tatsächlichen, nicht den geäußerten Willen der Vertragsparteien und stehen der Beurteilung des Berufungsgerichts daher nicht entgegen.

[73] Allein der Umstand, dass sich Dr. G. D. bei einer Aufsichtsratssitzung der Beklagten (am 23.9.2010) über das Bestehen eines Syndikatsvertrages überrascht zeigte, führt unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Umstände ebenfalls noch nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Bei der für die Beurteilung nach §863 ABGB vorzunehmenden Gesamtbetrachtung kommt nämlich der Geschäftsordnung für die Geschäftsführung, die am 15.12.2005 beschlossen wurde und die ausdrücklich festhält, dass ein Syndikatsvertrag zwischen der Beklagten und der namentlich genannten Klägerin bestehe, entscheidende Bedeutung zu. So wurde bereits zu 6 Ob 140/20m klargestellt, dass die Unterfertigung dieser Geschäftsordnung durch G. W. zwar in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft – also nicht in seiner Funktion als alleinvertretungsbefugter Geschäftsführer der Beklagten – erfolgte. Ein redlicher Erklärungsempfänger in der Situation der Klägerin konnte die ausdrückliche Bezeichnung der Klägerin als Vertragspartnerin aber nur dahin auffassen,

dass die Beklagte damit dem Eintritt der Klägerin in die zuvor von der B. innegehabte Stellung als Vertragspartnerin des Syndikatsvertrages zustimmte. Ob G. W. diese Geschäftsordnung auch inhaltlich zur Kenntnis nahm oder ob er sie, wie in der Revision behauptet, ungeprüft unterfertigte, ist für den daraus ableitbaren objektiven Erklärungswert nicht entscheidend. Die festgestellte überraschte Reaktion von Dr. D. in der Aufsichtsratssitzung am 23.9.2010 beseitigt diese schlüssige Willenserklärung der Beklagten nicht. Auch der Umstand, dass G. W. in dieser Aufsichtsratssitzung behauptete, der Syndikatsvertrag gelte nicht mehr, vermag den objektiven Erklärungswert des im Jahr 2005 gesetzten Verhaltens nicht mehr zu beseitigen. Es steht nämlich nicht fest, dass G. W. seine Ansicht, der Syndikatsvertrag gelte nicht mehr, mit dem Gesellschafterwechsel begründete. Vielmehr ergibt sich aus dem eigenen Vorbringen der Beklagten, dass im Laufe der Zeit auch die Ansicht vertreten wurde, der Syndikatsvertrag solle nur so lange gelten, wie die Gesellschafter direkte Haftungen übernommen hätten, sodass sich daraus der Wegfall der Vertragsgrundlage ergebe.

[74] Dass sich ein Geschäftsführer der Beklagten im Jahr 2011 bei einem der Geschäftsführer der Gesellschaft nach dem Syndikatsvertrag erkundigte und die Auskunft erhielt, dieser sei weggefallen, ändert ebenfalls nichts an dem der Beklagten zuzurechnenden Erklärungstatbestand, der mit der Zustimmung zur Geschäftsordnung für die Geschäftsführung gesetzt wurde.

[75] 3.7. Soweit das Erstgericht ausführte, es könne nicht festgestellt werden, dass die Beklagte der Übertragung des Syndikatsvertrages auf die Klägerin zugestimmt oder den Übergang auf die Klägerin anerkannt habe, handelt es sich um Fragen der rechtlichen Beurteilung, die einer Feststellung nicht zugänglich sind.

[76] 3.8. Die in der Revision der Beklagten in den Vordergrund gerückten Feststellungen führen daher nicht zu einer von 6 Ob 140/20m abweichenden Beurteilung des Übergangs des Syndikatsvertrages auf die Klägerin als Vertragspartnerin.

4. Zur Kündigung des Syndikatsvertrages durch die Beklagte [77] 4.1. Das Berufungsgericht beurteilte die von der Beklagten mit Schreiben vom 10.1.2018 erklärte vorsorgliche Kündigung des Syndikatsvertrages aus wichtigem Grund als unwirksam, weil die Auflösung der durch den Syndikatsvertrag begründeten GesBR nach §1210 Abs1 ABGB (idF des GesbR-RG) eine Klage voraussetze, die nicht erhoben worden sei.

[78] Die Beklagte rügt in ihrer Revision, die Erhebung einer Klage sei im vorliegenden Fall nicht erforderlich gewesen, weil die Klägerin sich mit der Auflösung einverstanden gezeigt habe, indem sie der Auflösung nicht unverzüglich, sondern erst mit der Klageeinbringung im vorliegenden Verfahren am 27.3.2018 widersprochen habe.

[79] 4.2. Durch das GesbR-RG wurde klargestellt, dass die Geltendmachung des Auflösungsrechts bei der Auflösung aus wichtigem Grund durch Klage des Gesellschafters zu erfolgen hat (vgl nur Artmann in Klang, ABGB3, §1210 Rz4 und 20). Das Erfordernis der Klagsführung ist dispositiv, anstatt dessen kann eine außergerichtliche Auflösungserklärung vor-

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gesehen werden (Artmann, aaO, Rz26; Kalss in Kalss/ Nowotny/Schauer, Österreichisches Gesellschaftsrecht2 [2017] Rz2/234). Zeigen sich die anderen Gesellschafter mit der Auflösung einverstanden, soll die Notwendigkeit einer gerichtlichen Auflösung entfallen (S. Bydlinski/R. Fritz, GesbRRG [2015] §1210 ABGB Anm 4).

[80] 4.3. Eine Zustimmung der Klägerin zur Auflösung des Syndikatsvertrages kann dem festgestellten Sachverhalt jedoch nicht entnommen werden.

[81] Nach den Feststellungen fand am 12.1.2018 ein Gespräch zwischen den Verwaltungsräten der Klägerin Dr. G. D. sowie Mag. F. P. und „den Geschäftsführern der Gesellschaft Dipl.-Kfm. M. D. sowie Dipl.-Kfm. E. H.“ statt. Wie sich aus dem offenen Firmenbuch ergibt, waren Dipl.-Kfm. M. D. und Dipl.-Kfm. E. H. zu keinem Zeitpunkt Geschäftsführer der Gesellschaft (d. GmbH), sie waren vielmehr im Jänner 2018 Geschäftsführer der Beklagten. IdS, nämlich dass es sich bei den beiden genannten Personen um Geschäftsführer der Beklagten handelte, ist daher auch die Feststellung zu den Gesprächsteilnehmern zu verstehen. Bei dem Gespräch wurde versucht, eine Lösung für die offenen Konflikte herbeizuführen. Zum Syndikatsvertrag vertraten Dr. D. und Mag. P. den Standpunkt, dieser sei unverändert aufrecht und die Kündigung nicht rechtswirksam. Die Behauptung der Beklagten in ihrer Revision, die Klägerin habe der Auflösung des Syndikatsvertrages dadurch zugestimmt, dass sie seiner Beendigung nicht rechtzeitig widersprochen habe, geht daher nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.

[82] Selbst wenn Dr. D. und Mag. P. in diesem Gespräch der Kündigung des Syndikatsvertrages nicht widersprochen haben sollten (diesen Standpunkt vertritt die Beklagte in ihrer Verfahrensrüge), kann daraus nicht die von der Beklagten behauptete stillschweigende Zustimmung zur Auflösung des Syndikatsvertrages abgeleitet werden. §863 ABGB verlangt, dass mit Überlegung aller Umstände kein Zweifel an einem bestimmten Erklärungswillen bestehen kann. Nach den Feststellungen wurde bei dem Gespräch am 12.1.2018 versucht, eine Gesamtlösung für die zum Teil bereits gerichtsanhängigen Konflikte zu finden. Dieses Unterfangen scheiterte jedoch; es kam keine Einigung zustande. Allein dieses Gesprächsergebnis spricht gegen die Annahme, dass Dr. D. und Mag. P. durch bloßes Schweigen ihre Zustimmung zur Vertragskündigung erteilen wollten. Redliche Verhandlungspartner in der Rolle der Vertreter der Beklagten durften nämlich nicht annehmen, dass trotz des Scheiterns einer Gesamtlösung durch bloßes Schweigen die Zustimmung zu einer isolierten Einzelfrage erklärt werden sollte. Ebenso ist der Zeitraum bis zur Klageeinbringung nicht derart lang, um ein Schweigen der Vertreter der Klägerin trotz der offenen Konfliktsituation als zweifelsfreie Zustimmung deuten zu können.

[83] 4.4. Da die Beklagte die Kündigung der GesBR aus wichtigem Grund nicht gem §1210 ABGB gerichtlich vornahm und auch keine Zustimmung der Klägerin zur Auflösung vorlag, trifft die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass mit dem Schreiben der Beklagten vom 10.1.2018 keine sofortige Beendigung des Syndikatsvertrages bewirkt werden konnte, zu.

5. Zur ordentlichen Kündigung des Syndikatsvertrages

[84] 5.1. Die Klägerin wendet sich in ihrer Revision gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, das Schreiben der Beklagten vom 10.1.2018 bewirke die Auflösung des Syndikatsvertrages mit Ablauf des 30.9.2022. Das Berufungsgericht habe verkannt, dass die Kündigung wegen Sittenwidrigkeit unwirksam sei.

[85] 5.2. Es trifft zu, dass die Regelung des §879 Abs1 ABGB nicht nur für Verträge, sondern auch für einseitige Rechtsgeschäfte wie Kündigungen gilt (4 Ob 39/16p; RIS-Justiz RS0016534). Die Rechtswidrigkeit wegen Verstoßes gegen die guten Sitten ist aber nur dann zu bejahen, wenn eine Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen ergibt oder wenn bei einer Interessenkollision ein grobes Missverhältnis zwischen den durch die angegriffene Bestimmung verletzten und den durch sie geförderten Interessen besteht. Dies ist jeweils anhand der besonderen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen (RIS-Justiz RS0042881 [T6 und T8]; 4 Ob 39/16p).

[86] 5.3. Das Berufungsgericht erachtete als maßgeblich, dass die Klägerin im Wissen um ihre Investitionen und das kaufmännische Risiko einer Kündigungsmöglichkeit des Syndikatsvertrages zustimmte.

[87] Die Klägerin vermag nicht aufzuzeigen, dass das Berufungsgericht dadurch den ihm eingeräumten Ermessensspielraum im vorliegenden Einzelfall überschritten hätte. Im vorliegenden Fall konkretisiert der Syndikatsvertrag zwar die zwischen den Gesellschaftern bestehenden Treuepflichten insofern, als er das in der Grundsatzvereinbarung festgehaltene Verständnis der Zusammenarbeit der beiden, aus den Unternehmensgruppen S. und d. stammenden Gesellschafter umsetzte und der Minderheitsgesellschafterin aus dem S.-Konzern über den Aufsichtsrat eine wesentlich weiter gehende Einflussmöglichkeit zugewiesen wurde, als es ihrer Beteiligungsquote entspricht (6 Ob 140/20m, Rn 102). Bereits zu 6 Ob 140/20m wurde aber auch darauf hingewiesen, dass es infolge der Beendigung des Syndikatsvertrages zu einer Änderung des Inhalts der zwischen den Vertragsparteien bestehenden Treuepflichten kommen könne; diese Frage wurde ausdrücklich offengelassen (Rn 107).

[88] 5.4. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Vereinbarung einer einseitigen Beendigungsmöglichkeit den Inhalt der Treuepflicht mitprägte – nämlich dahin, dass beide Vertragspartnerinnen diese Möglichkeit für die Zukunft bedenken konnten und in Kauf nahmen – steht daher nicht im Widerspruch zur E 6 Ob 140/20m. Auch ein Widerspruch zur E 6 Ob 155/20t liegt nicht vor, weil auch in dieser Entscheidung weder die Beendigung des Syndikatsvertrages noch eine daraus abzuleitende Änderung des Inhalts der Treuepflichten zwischen den Gesellschafterinnen zu beurteilen waren. Wenn das Berufungsgericht ein Vertrauen auf die langjährige Übung – iS eines Vertrauens auf die Nichtausübung des Kündigungsrechts – nicht erkannte, liegt darin keine vom OGH aufzugreifende Fehlbeurteilung.

[89] 5.5. Soweit die Klägerin eine Schädigungsabsicht der Beklagten behauptet und auf die Entscheidungen 6 Ob 140/20m und 6 Ob 155/20t verweist, ist Folgendes klarzustellen: Die

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Judikatur

zentrale Frage, die in diesen Entscheidungen zu beurteilen war, ist, ob die langjährig gelebte Praxis nach dem Gesellschafterwechsel aufseiten der S.-Gesellschafterin dazu führte, dass die Vorgangsweisen der Beklagten im Jahr 2017 als treuwidrig anzusehen waren, weil sie der neuen Gesellschafterin implizit dieselbe Einflussposition zugestand wie der ausgeschiedenen Gründungsgesellschafterin. Diesen Entscheidungen kann aber nicht entnommen werden, dass die Beklagte die Rechte, die ihr gegenüber ihrer ursprünglichen Mitgesellschafterin aus dem Syndikatsvertrag zustanden, im Verhältnis zur Klägerin – auf die der Syndikatsvertrag übergegangen ist – nicht ausüben darf.

[90] 5.6. Soweit die Klägerin eine Interessenabwägung vermisst, lässt sie außer Acht, dass die Vereinbarung der einseitigen Kündigungsmöglichkeit die Interessenlage zwischen den Parteien dahin gestaltete, dass jede der Vertragspartnerinnen das damit verbundene Risiko in Kauf nahm. Die Beurteilung des Berufungsgerichts steht daher mit den Entscheidungen 6 Ob 140/20m und 6 Ob 155/20t im Einklang. Eine im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung der Interessenbeeinträchtigung der Klägerin wird nicht dargetan.

[91] 5.7. Die Klägerin zeigt in ihrer Revision betreffend die ordentliche Kündigung des Syndikatsvertrages daher insgesamt keine Rechtsfrage der Qualität des §502 Abs1 ZPO auf.

6. Zur Feststellung der Haftung der Beklagten

[92] 6.1. Die Beklagte wendet sich in ihrer Revision gegen die Feststellung der Haftung für Schäden der Klägerin aus der Verletzung des Syndikatsvertrages.

[93] 6.2. Wird die Feststellung der Haftung für künftige Schäden begehrt, so ist in der Klage aufzuzeigen, welcher Art die möglichen Schäden sein können (9 Ob 30/14y; RIS-Justiz RS0038949); ein Schadenseintritt bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ist nicht erforderlich (RIS-Justiz RS0038949 [T3]; 7Ob 91/14d; RIS-Justiz RS0038909). Eine derartige Feststellung ist dann möglich, wenn sich das schädigende Ereignis, das den konkreten Schaden hatte auslösen können, bereits ereignet hat und der Schaden auch ohne weiteres Zutun des Schädigers in der Zukunft eintreten kann (1 Ob 210/14k; RIS-Justiz RS0038909 [T1 und T2]; RS0040838 [T9]). Soweit ein Schaden bereits eingetreten ist, besteht für ein Feststellungsbegehren hingegen grundsätzlich kein Raum, weil diesbezüglich bereits eine Leistungsklage erhoben werden könnte (RIS-Justiz RS0038849; 6 Ob 41/18z). Wird dennoch ein Feststellungsbegehren erhoben, muss die klagende Partei dartun, weshalb ihr die Erhebung einer Leistungsklage im konkreten Fall nicht zumutbar ist (vgl RIS-Justiz RS0127761 [T1]).

[94] 6.3. Die Klägerin brachte zur Begründung ihres Anspruchs vor, ihr Schaden resultiere aus dem Verlust der Kontrollmöglichkeit „über den (nur einvernehmlich zu wählenden) Kapitalvertreter“, weshalb für sie finanzielle Nachteile bei der Festlegung der Höhe des Jahresgewinns zu erwarten seien. Weiters sei absehbar, dass sie durch die zukünftige Verletzung der im Syndikatsvertrag verankerten Vollausschüttungspflicht Schaden erleiden würde. Es hätten auch bereits Rechtsverletzungen stattgefunden, nämlich das Abstreiten der Existenz des Syndikatsvertrages, die rechtswidrige und schuldhafte Kündigung desselben sowie die Nichteinholung

des Einvernehmens über die Person des Kapitalvertreters; es drohe eine Wiederholung dieser Verhaltensweisen.

[95] Die Beklagte hielt dem Begehren zusammengefasst entgegen, die Feststellungsklage diene nicht dazu, alle theoretisch denkbaren zukünftigen Rechtsverletzungen abzuwenden.

[96] Das Vorbringen der Klägerin vermag den geltend gemachten Feststellungsanspruch nicht zu tragen. Es zielt im Kern auf befürchtete Nachteile durch zukünftige Ereignisse ab (Gewinnfeststellung, Beschlussfassung über die Gewinnausschüttung), die von der nicht weiter konkretisierten Umschreibung des rechtswidrigen Verhaltens als „Verletzung der Pflichten aus dem Syndikatsvertrag“ nicht umfasst sind. Soweit sich die Klägerin auf die unterbliebene Herstellung des Einvernehmens über die Wahl eines Kapitalvertreters stützt, hat sie nicht dargetan, welcher Art die ihr daraus drohenden Nachteile sein sollen, die mit der Anfechtung des Beschlusses über die Wahl des Aufsichtsratsmitglieds (siehe 6 Ob 140/20m) nicht beseitigt sind. Wenn die Klägerin sich auf die Kündigung des Syndikatsvertrages stützt, ist auszuführen, dass die von der Beklagten erklärte Kündigung aus wichtigem Grund keine Rechtswirkungen entfaltete, die ordentliche Kündigung hingegen – wie dargelegt – nicht als rechtswidrig beurteilt wurde. Darauf kann daher kein Schadenersatzanspruch gegründet werden. Das Abstreiten des Bestehens des Syndikatsvertrages ist vom Begehren, das auf eine Verletzung der Pflichten aus dem Vertrag abstellt, nicht umfasst. Eine Erörterung des Vorbringens mit der Klägerin war nicht erforderlich, weil bereits die Beklagte deutlich darauf hingewiesen hat, dass aus befürchteten zukünftigen Rechtshandlungen kein Anspruch auf Feststellung der schadenersatzrechtlichen Haftung abgeleitet werden kann. [97] 6.4. Die Revision der Beklagten ist daher hinsichtlich der Feststellung ihrer Ersatzpflicht berechtigt.

7. Zum Unterlassungsbegehren [98] 7.1. Die Beklagte bekämpft das Unterlassungsgebot mit der Begründung, mangels Vertragsübergangs auf die Klägerin, hilfsweise wegen erfolgter Auflösung aus wichtigem Grund, bestehe kein Syndikatsvertrag, aus dem die Pflicht zur Herstellung des Einvernehmens abgeleitet werden könne. Mit diesem Rechtsstandpunkt dringt sie nicht durch, weil die Klägerin – wie ausgeführt – Partnerin des Syndikatsvertrages wurde.

[99] 7.2. Im Weiteren steht die Beklagte auf dem Standpunkt, der Klägerin stehe kein Entsendungsrecht in den Aufsichtsrat zu, sodass ein Aufsichtsratsmitglied – nämlich jenes, für das die Klägerin ein Entsendungsrecht beansprucht – unbeschadet des Syndikatsvertrages ohne Herstellung des Einvernehmens zwischen den Parteien durch Gesellschafterbeschluss zu wählen sei. Auch dieses Argument geht ins Leere, weil die Beklagte zur Zustimmung zur Änderung des Gesellschaftsvertrages dahin, dass der Klägerin ein Entsendungsrecht für ein Aufsichtsratsmitglied zukommt, verpflichtet ist (dazu unten).

[100] 7.3. Soweit die Beklagte vorbringt, eine Wahl durch Gesellschafterbeschluss ohne vorherige Herstellung von Einvernehmen zwischen den Gesellschaftern habe auch dann zu erfolgen, wenn die Beklagte von ihrem Entsendungsrecht

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nicht Gebrauch mache, führt auch dies nicht zur Abweisung des Unterlassungsbegehrens. Das Unterlassungsgebot stützt sich auf die in §1 des Syndikatsvertrages verankerte Verpflichtung zur Herstellung des Einvernehmens zwischen den Gesellschafterinnen über „das zu wählende Aufsichtsratsmitglied“ im Gegensatz zu den von den Gesellschafterinnen zu entsendenden Mitgliedern. Nur idS, dass damit das „vierte“ Aufsichtsratsmitglied, das jedenfalls nicht entsendet werden kann, gemeint ist, kann das Unterlassungsgebot in Zusammenschau mit den Entscheidungsgründen verstanden werden. Zur Frage, ob und unter welchen Umständen eine allfällige zukünftige Nichtausübung des Entsendungsrechts durch die Klägerin zur Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds durch Gesellschafterbeschluss führt (zum Meinungsstand siehe die Nachweise bei Rauter in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §30c Rz41), ist daher hier nicht weiter Stellung zu nehmen.

[101] 7.4. Wie bereits ausgeführt, ist die von der Beklagten mit Schreiben vom 10.1.2018 erklärte ordentliche Kündigung des Syndikatsvertrages wirksam. Dieser endet daher mit Ablauf des 30.9.2022. Das Unterlassungsgebot war daher bis zu diesem Zeitpunkt zu befristen. Insofern ist die Revision der Beklagten berechtigt.

8. Zur Satzungsänderung betreffend das Entsendungsrecht (§8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages)

[102] 8.1. Das Berufungsgericht bejahte die Verpflichtung der Beklagten, für näher bezeichnete Änderungen von §5 Abs1 und §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages zu stimmen, sodass die Klägerin anstelle der P. als Übernehmerin einer Stammeinlage angeführt werde (§5 Abs1) und der Klägerin – wiederum anstelle der P. – das Recht zukomme, ein Aufsichtsratsmitglied zu entsenden (§8 Abs3). Das Mehrbegehren auf Verankerung des Einstimmigkeitserfordernisses für die Wahl des weiteren Aufsichtsratsmitglieds (§8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages) wurde abgewiesen.

[103] Die Revision der Beklagten wendet sich gegen die Klagestattgebung in beiden Punkten, die Revision der Klägerin gegen die Abweisung betreffend das Einstimmigkeitserfordernis.

[104] 8.2. Das Bestehen eines Entsendungsrechts setzt seine Verankerung im Gesellschaftsvertrag voraus (Rauter in Straube/ Ratka/Rauter, GmbHG, §30c Rz9). Bereits zu 6 Ob 155/20t wurde klargestellt, dass das Entsendungsrecht der P. nach §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages spätestens mit der Übertragung des Geschäftsanteils an die Klägerin im Wege der Einzelrechtsnachfolge am 27.10.2004 erloschen ist, weil es sich um ein höchstpersönliches Recht der P. handelte (Rn67ff). Der Klägerin steht daher im Beurteilungszeitpunkt (§193 ZPO) kein Recht zur Entsendung eines Mitglieds in den Aufsichtsrat zu.

[105] Im vorliegenden Verfahren ist daher nicht der aufrechte Bestand des Entsendungsrechts, sondern vielmehr die Frage zu beurteilen, ob die Beklagte – aus ihrer Treuepflicht –einer Satzungsänderung, mit der der Klägerin ein solches ihr bislang nicht zukommendes Entsendungsrecht eingeräumt wird, zuzustimmen hat.

[106] 8.3. Entgegen dem Revisionsvorbringen der Beklagten hat das Berufungsgericht in seiner Entscheidung weder den

Untergang des Entsendungsrechts der P. noch die Anforderungen des §49 GmbHG verkannt, weil es nicht von einem Übergang des Entsendungsrechts der P. auf die Klägerin ausging, sondern die Beklagte zur Zustimmung zu einem satzungsändernden Beschluss, der nach allgemeinen Regeln der Firmenbucheintragung nach §49 Abs2 GmbHG bedarf, verpflichtete. Die von der Beklagten ins Treffen geführten Verkehrsschutzerwägungen gehen daher ins Leere.

[107] 8.4. Soweit die Beklagte auf den Grundsatz der objektiven Auslegung korporativer Satzungsbestimmungen hinweist, ist damit nichts über eine erst vorzunehmende Satzungsänderung ausgesagt.

[108] 8.5. Der OGH hat bereits in der E 6 Ob 155/20t zu Treuepflichten im Recht der GmbH und zu den für das Verhältnis zwischen den Verfahrensparteien (die hier Beklagte war am Verfahren 6 Ob 155/20t als Nebenintervenientin beteiligt) maßgeblichen Er wägungen Stellung genommen. Dort wurde ausgeführt:

„B.I.2. Treuepflichten sind im Gesellschaftsrecht allgemein und insbesondere auch bei der GmbH in ständiger Rechtsprechung anerkannt (RIS-Justiz RS0060175; zuletzt 6 Ob 90/19g). Diese Treuepflichten können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und hängen regelmäßig von den besonderen Umständen des Einzelfalles ab (RIS-Justiz RS0106227 [T4]). Gibt es nur zwei Gesellschafter und regeln diese ihre wechselseitigen Rechte und Pflichten auch noch im Rahmen einer schuldrechtlichen Nebenvereinbarung (Syndikatsvertrag), so ist davon auszugehen, dass die Rücksichtnahmepflichten und somit auch die Treuepflichten – insbesondere im Verhältnis Gesellschafter zu Gesellschafter – noch stärker ausgeprägt sind. Mit dem Grad der personalistischen Ausgestaltung der Gesellschaft steigert sich nämlich auch die Intensität der einzuhaltenden Treuepflichten (RIS-Justiz RS0060175 [T2]; 2 Ob 46/97x; RIS-Justiz RS0079236 [T2]).

B.I.3. Im vorliegenden Fall wurde der Minderheitsgesellschafterin im Jahr 1981 (Zeitpunkt des Abschlusses des Gesellschaftsvertrages) indirekt ein Mitspracherecht für wichtige Angelegenheiten der Geschäftsführung eingeräumt. Dies ergibt sich aus §8 Abs3 iVm §8 Abs8 Satz 3 des Gesellschaftsvertrages, wonach den entsendeten Aufsichtsratsmitgliedern faktisch ein Vetorecht für zustimmungspflichtige Geschäfte eingeräumt wurde und zwischen Entsendenden und dem Entsandten regelmäßig ein ‚auftragsähnliches‘ Rechtsverhältnis besteht (vgl Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG2 [2012] §88 Rz27).

Mit dieser Regelung sollte der Minderheitsgesellschafterin, obwohl sie ‚nur‘ 32% der Geschäftsanteile hält, eine starke Position zukommen, die sie als faktisches Vetorecht in wichtigen Angelegenheiten der Geschäftsführung über das Entsendungsrecht ausüben konnte. Dem Entsendungsrecht kommt somit eine zentrale Bedeutung für die Wahrung des Einflusses auf die Geschäftsführung und somit auf die Geschicke des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens zu.

Der hohe Stellenwert des Einflusses auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats für die beiden Gesellschafter zeigt sich auch daran, dass sich die beiden Gesellschafter gleich am Anfang (§1) des Syndikatsvertrages dazu verpflichten, über die Wahl des vierten zu bestellenden Kapitalvertreters im Aufsichtsrat Einvernehmen herzustellen und dem gemeinsam

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Judikatur

erstellten Wahlvorschlag in der Generalversammlung die Zustimmung zu erteilen. Weiters sollen gemäß §2 die beiden Gesellschafter auf ‚ihre‘ Aufsichtsratsmitglieder bei der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und dessen Stellvertreter derart einwirken, dass jede dieser Funktionen von einem Aufsichtsratsmitglied ausgeübt wird, welches von jeweils einem der Syndikatspartner nominiert wird. Gemäß Abs5 verpflichten sich die Syndikatspartner weiters, ‚die mit diesem Syndikatsvertrag eingegangenen Verpflichtungen auch an ihre jeweiligen Rechtsnachfolger zu überbinden‘.

B.I.4. Hier hat die Nebenintervenientin durch 13 Jahre, nämlich vom – beiden Parteien zunächst nicht bewussten – Erlöschen des Entsendungsrechts der P. im Jahr 2004 bis zum Jahr 2017, nach den Feststellungen insgesamt zu drei Zeitpunkten zu erkennen gegeben, von einem Entsendungsrecht der Klägerin für den Aufsichtsrat und von der Entsendung von Dr. D. in den Aufsichtsrat auszugehen (Generalversammlung und Aufsichtsratssitzung vom 13.12.2007, Umlaufbeschluss 14./19.12.2011, Umlaufbeschluss 16./21.12.2015). Ungeachtet der Tatsache, dass – wie noch zu zeigen sein wird (Pkt B.II.1.) – (zumindest) die Entsendung von Dr. D. durch die P. im Jahr 2001 unbefristet erfolgte und daher eine neuerliche (befristete) Entsendung in den Jahren 2007, 2011 und 2015 nicht notwendig war und keine Wirkung zeitigen konnte, handelte es sich bei den jeweils im Einvernehmen der Gesellschafter erfolgten Entsendungen nicht bloß um Wissenserklärungen, sondern um Willenserklärungen; diese waren dem Umstand geschuldet, dass die Gesellschafter offenbar irrtümlich davon ausgingen, die Entsendung sei jeweils befristet erfolgt.

Gegenteilige Willens- oder Wissenskundgebungen von der Nebenintervenientin (oder auch der Beklagten) dahin gehend, das Entsendungsrecht der Klägerin sowie die Stellung von Dr. D. als von der Klägerin entsandtes Aufsichtsratsmitglied infrage zu stellen oder zu bestreiten, wurden für diesen Zeitraum weder behauptet noch festgestellt.

Durch diese langjährige Übung hat die Nebenintervenientin einen Vertrauenstatbestand dahin geschaffen, das – tatsächlich nicht bestehende – Entsendungsrecht der Klägerin anzuerkennen.

B.I.5. Die Gesellschafter der Beklagten hatten fast 36 Jahre lang ‚im Wesentlichen friktionsfrei‘ zusammengearbeitet. Dies änderte sich erst im Laufe des Jahres 2017, als grundlegende Meinungsverschiedenheiten über die Implementierung des Kundenbindungsprogramms zutage traten. Unter der – hier nicht zu prüfenden – Voraussetzung, dass dieses Projekt zustimmungspflichtig war (‚Einzelinvestition, die den Betrag von 1.000.000€ übersteigt‘; vgl §7 Abs4 des Gesellschaftsvertrages), konnte es kraft des Erfordernisses, dass diesfalls auch die entsendeten Aufsichtsratsmitglieder zustimmen mussten (§8 Abs8 des Gesellschaftsvertrages), gegen den Willen der Klägerin nicht durchgeführt werden.

Ein redlicher Gesellschafter hätte in diesem Fall an der Stelle der Nebenintervenientin versucht, die Klägerin doch noch vom geplanten Projekt zu überzeugen und so deren Zustimmung zu erwirken, oder wäre eben vom Projekt abgestanden.

Die Nebenintervenientin hingegen begann im Sommer 2017 nach juristischen Mitteln und Wegen zu suchen, wie sie die Klägerin entmachten und ‚ausbooten‘ könnte, um doch noch gegen deren Willen das Kundenbindungsprogramm durchziehen zu können. Mit dem gemäß §30c GmbHG (welche Bestimmung

bis dahin niemanden interessiert hatte) weggefallenen Entsendungsrecht der Klägerin in den Aufsichtsrat wurde sie schließlich ‚fündig‘.

So geht man mit einem langjährigen Geschäftspartner, mit dem man nicht nur durch einen detaillierten Gesellschaftsvertrag, sondern auch durch einen Syndikatsvertrag verbunden ist, nicht um. Mag auch der beharrliche Widerstand der Klägerin bzw von Dr. D. gegen das Kundenbindungsprogramm für die Nebenintervenientin überaus lästig und unbequem gewesen sein, so bietet entgegen der Ansicht der Beklagten das festgestellte Verhalten der Klägerin oder von Dr. D. keine Rechtfertigung für die Handlungsweise der Nebenintervenientin.

Die Treuepflicht des Gesellschafters einer GmbH gebietet eine angemessene Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Mitgesellschafter auch bei Ausübung des Stimmrechts in der Generalversammlung (RIS-Justiz RS0060175; 6 Ob 130/05v; 6Ob 90/19g). Die potenzielle Treuwidrigkeit der Stimmabgabe ist von der Judikatur anerkannt (RIS-Justiz RS0106227; RS0120599).“

[109] 8.6. Diese Erwägungen sind auch im vorliegenden Rechtsstreit maßgeblich.

[110] 8.7. Eine Entscheidung des OGH über die Verpflichtung eines GmbH-Gesellschafters, einer dem vorliegenden Fall vergleichbaren Satzungsänderung zuzustimmen, liegt zwar nicht vor. Dass aus der gegenseitigen Treuepflicht der GmbH-Gesellschafter auch die Verpflichtung folgen kann, einer Änderung des Gesellschaftsvertrages zuzustimmen, wurde vom OGH aber bereits ausdrücklich anerkannt (6 Ob 695/87).

[111] Zu 6 Ob 166/05p (JBl 2006, 521 [H. Torggler]) wurde darüber hinaus bereits eine aus der Treuepflicht abgeleitete Verpflichtung zur Zustimmung des (Mit-)Stifters zu einer Änderung der Stiftungsurkunde bejaht. Grundlage dieser Entscheidung waren die zur wechselseitigen Treuepflicht im Gesellschaftsrecht entwickelten Überlegungen, die auf die Privatstiftung übertragen wurden. Dieser Entscheidung kommt daher auch für das Verhältnis zwischen Gesellschaftern einer GmbH Bedeutung zu. [112] 8.8. Auch in der österreichischen Literatur wird eine aus der Treuepflicht abgeleitete Pflicht von GmbH-Gesellschaftern, Satzungsänderungen zuzustimmen, ganz überwiegend bejaht (Koppensteiner/Rüffler, GmbHG3, §39 Rz14; Rauter/ Milchrahm in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §92; Enzinger in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §39 Rz52; Thöni, Beschlussanfechtung und Schadenersatzhaftung im GmbH-Recht, ecolex 1993, 674 [675]; kritisch hingegen Harrer in Gruber/ Harrer, GmbHG2, §§49, 50 Rz82ff).

[113] Die Zustimmungspflicht soll ultima ratio sein (Enzinger in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §39 Rz52) und dann zum Tragen kommen, wenn sie im Gesellschaftsinteresse dringend geboten und den Gesellschaftern zumutbar ist (Koppensteiner/Rüffler, GmbHG3, §39 Rz14; Thöni, ecolex 1993, 674 [675]; Ch. Nowotny, Durchsetzung der Kapitalerhöhung auf S500.000 bei Pattstellung in der Generalversammlung? RdW 1986, 359).

[114] 8.9. Die Beklagte macht in ihrer Revision geltend, diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weil die begehrte Satzungsänderung nicht im Gesellschaftsinteresse gelegen, der

300 5/2022

Klägerin nicht zumutbar sei und in den Kernbereich ihrer Mitgliedschaft eingreife. Darüber hinaus habe die Beklagte weder den Willen gehabt noch einen Vertrauenstatbestand dahin gesetzt, ein Entsendungsrecht der Klägerin zu akzeptieren.

[115] 8.10. Diese Argumente sind nicht stichhaltig. Treuepflichten bestehen nicht nur zwischen den Gesellschaftern und der Gesellschaft, sondern auch zwischen den Gesellschaftern untereinander (ausführlich U. Torggler, Treuepflichten im faktischen GmbH-Konzern [2007] 75ff). Sie resultieren aus der zwischen den Gesellschaftern bestehenden Sonderbeziehung und sind Korrelat der durch die Mitgliedschaft vermittelten Einflussmöglichkeiten auf die Interessen der Mitgesellschafter. Solche Einflussmöglichkeiten bestehen auch, aber nicht nur bei gleichzeitiger Treuwidrigkeit gegenüber der Gesellschaft (U. Torggler, aaO, 114f).

[116] Der Verpflichtung der Beklagten, einer Änderung des §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages zuzustimmen, kann daher nicht entgegengehalten werden, dass die Gesellschaft kein Interesse an einer derartigen Satzungsänderung habe.

[117] 8.11. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Konkretisierung der Verpflichtung der Beklagten zur Wahrung der Interessen der Klägerin durch die Verpflichtung zur Satzungsänderung im konkreten Einzelfall. Diese Verpflichtung beruht, wie das Berufungsgericht bereits erkannte, auf dem von der Beklagten selbst über insgesamt 13 Jahre gesetzten Vertrauenstatbestand (vgl 6 Ob 155/20t, Rn 95) und ist der Beklagten deshalb auch zumutbar.

[118] Die konkreten Formulierungen der Protokolle der Aufsichtsratssitzungen – in denen sowohl von Entsendung als auch von Wahlen die Rede ist – wurden dabei bereits berücksichtigt. Das gilt auch für den Umstand, dass die für die Klägerin und die Beklagte handelnden Personen die Unwirksamkeit der vermeintlich von der Klägerin vorgenommenen Entsendungen nicht erkannten (vgl 6 Ob 155/20t, Rn 95).

[119] 8.12. Soweit das Revisionsvorbringen darauf abzielt, dass seitens der Beklagten (bzw der für sie handelnden Personen) kein rechtsgeschäftlicher Wille bestand oder geäußert wurde, ein Entsendungsrecht der Klägerin zu begründen, wird auch damit keine unrichtige rechtliche Beurteilung durch das Berufungsgericht aufgezeigt. Die Verpflichtung, der Satzungsänderung zuzustimmen, beruht nämlich nicht auf einer schuldrechtlichen Einigung oder einem natürlichen Konsens der Gesellschafterinnen dahin, eine entsprechende Satzungsänderung vorzunehmen, sondern auf dem durch langjährige Übung geschaffenen Vertrauenstatbestand, das – tatsächlich nicht bestehende – Entsendungsrecht der Klägerin anzuerkennen (6 Ob 155/20t, Rn 97). Dem Vertrauen der Klägerin kann im hier zu beurteilenden Fall auch nicht anders als durch die Verankerung des Entsendungsrechts im Gesellschaftsvertrag Rechnung getragen werden (ultima ratio).

[120] 8.13. Der Beklagten wird auch keine Verpflichtung auferlegt, die sie nicht erfüllen könnte. Es ist offenkundig, dass mit der Formulierung „in einer außerordentlichen Generalversammlung, welche über Verlangen der klagenden Partei binnen drei Monaten nach Rechtskraft dieses Urteils stattzufinden hat“, auf §37 GmbHG Bezug genommen und nicht – entgegen §36 Abs1 GmbHG – die Beklagte persönlich zur Einberufung verpflichtet wird.

[121] 8.14. Die Revision der Beklagten betreffend die Änderung von §8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages ist daher insgesamt nicht berechtigt.

9. Zur Satzungsänderung betreffend die Übernahme von Stammeinlagen (§5 Abs1 des Gesellschaftsvertrages)

[122] 9.1. Zutreffend wendet sich die Beklagte in ihrer Revision gegen die Änderung von §5 des Gesellschaftsvertrages („Stammkapital und Stammeinlagen“) dahin, dass die Klägerin anstelle der P. als Übernehmerin einer Stammeinlage von 4.185.955€ ausgewiesen werde.

[123] 9.2. Nach §4 Abs1 Z4 GmbHG muss der Gesellschaftsvertrag den Betrag der von jedem Gesellschafter auf das Stammkapital zu leistenden Einlage bestimmen. Der Gesellschaftsvertrag muss sich nach dieser Bestimmung zu den Einlageversprechen der Gesellschafter äußern (Koppensteiner/Rüffler, GmbHG3, §4 Rz13). Die Bestimmung zielt insofern auf den bei der Errichtung der Gesellschaft abzuschließenden Gesellschaftsvertrag ab (vgl 3 Ob 402/58, ÖBA 1960, 58). Ist die Stammeinlage von allen Gesellschaftern eingezahlt worden, verlieren die Aufzählung der ursprünglichen Gesellschafter und die Höhe der von ihnen seinerzeit zu leistenden Stammeinlagen ihre Bedeutung; es könnten auch in einer Neufassung des Gesellschaftsvertrages nur die ursprünglichen Gesellschafter und deren Stammeinlagen angeführt werden (3 Ob 402/58). Daher müssen nach Eintragung einer Gesellschaft und Erfüllung der Einlageverpflichtungen die Gesellschafter und die einzelnen Stammeinlagen nicht mehr angeführt werden (Schmidsberger/Duursma in Gruber/ Harrer, GmbHG2, §4 Rz62).

[124] 9.3. Die Klägerin begründete ihren Antrag betreffend §5 Abs1 des Gesellschaftsvertrages ausschließlich damit, dass sie (anstelle der ursprünglichen P.) die Gesellschafterstellung erlangt habe. Aus ihrem eigenen Vorbringen ergibt sich, dass die Stammeinlage in Höhe von 4.185.955€ von der P. übernommen wurde. Da die Klägerin keine Stammeinlage übernommen hat, ist sie auch nicht als Übernehmerin einer Stammeinlage im Gesellschaftsvertrag anzuführen (vgl 3 Ob 402/58). Die Revision der Beklagten ist in diesem Umfang berechtigt.

10. Zur Satzungsänderung betreffend das Einstimmigkeitserfordernis für die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds in der Satzung (§8 Abs3 des Gesellschaftsvertrages)

[125] 10.1. Der Inhalt der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht lässt sich nicht allgemein umschreiben. Ob ein bestimmtes Verhalten eines Gesellschafters gegen seine Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft oder Mitgesellschaftern verstößt oder ob die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht eine bestimmte Handlungsweise gebietet, hängt daher von den besonderen Umständen des Einzelfalles ab (6 Ob 37/08x; 6 Ob 190/08x; vgl 6 Ob 155/20t; RIS-Justiz RS0106227 [T4]; RS0060175 [T3]). Auch die Frage, ob durch eine über einen bestimmten Zeitraum hinweg geübte Praxis ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, aus dem ein Mitgesellschafter Rechte ableiten kann, ist von den konkreten Umständen des Einzelfalles abhängig.

[126] 10.2. Nach §1 des Syndikatsvertrages – der, wie oben ausgeführt, zwischen der Klägerin und der Beklagten bis zum Wirksamwerden der von der Beklagten ausgesprochenen or-

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dentlichen Kündigung aufrecht besteht – sind die Syndikatspartner verpflichtet, über das in der GV der Gesellschaft von den Kapitaleignern zu wählende Aufsichtsratsmitglied Einvernehmen herzustellen und dem gemeinsamen Wahlvorschlag ihre Zustimmung zu erteilen. Diese Regelung hat im Gesellschaftsvertrag keinen Niederschlag gefunden. Dort ist in §8 Abs3 vielmehr nur vorgesehen, dass das nicht zu entsendende weitere Aufsichtsratsmitglied von der GV gewählt wird.

[127] 10.3. Ausgehend von diesen zwischen den Gesellschafterinnen bestehenden Vereinbarungen folgerte das Berufungsgericht, dass für eine auf die Treuepflicht oder einen Vertrauenstatbestand gestützte Ergänzung des Gesellschaftsvertrages dahin, dass die Wahl des vierten Aufsichtsratsmitglieds einvernehmlich zu erfolgen habe, keine Grundlage bestehe, weil sich diese Pflicht nur im kündbaren Syndikatsvertrag finde. Damit hat es den ihm eingeräumten Beurteilungsspielraum im vorliegenden Einzelfall nicht überschritten.

[128] 10.4. Im vorliegenden Fall konkretisiert der Syndikatsvertrag insofern die zwischen den Gesellschaftern bestehenden Treuepflichten, als er das in der Grundsatzvereinbarung festgehaltene Verständnis der Zusammenarbeit der beiden, aus den Unternehmensgruppen S. und d. stammenden Gesellschafter umsetzt (6 Ob 140/20m, Pkt5.5.). Die Erwägung, dass auch die Vereinbarung einer einseitigen Beendigungsmöglichkeit den Inhalt der Treuepflicht mitgestaltet, steht daher im Einklang mit der E 6 Ob 140/20m.

[129] 10.5. Soweit sich die Klägerin auf die Grundsatzvereinbarung bezieht, lässt sie außer Acht, dass diese vom Syndikatsvertrag – der die Kündigungsmöglichkeit vorsieht – konkretisiert wurde. Eine tatsächlich gelebte Praxis, die im Syndikatsvertrag verankerten Rechte trotz Kündigung dieses Vertrages weiter zu respektieren, vermag sie nicht aufzuzeigen.

10.6. bis 12.

Anmerkung:

Der OGH befasste sich in dieser Entscheidung erneut mit dem Verhältnis zwischen Syndikatsvertrag und Gesellschaftsvertrag in der GmbH. Ausgangspunkt war ein weiterer Teilaspekt des Streits zweier Joint-Venture-Partner, der bereits in verschiedenen höchstgerichtlichen Entscheidungen mündete, ua zum Interessenkonflikt im Aufsichtsrat (OGH 23.5.2019, 6 Ob 1/19v), zum Kartellrecht (OGH 19.12.2019, 6 Ob 105/19p), zum Syndikatsvertrag (OGH 18.2.2021, 6 Ob 140/20m, GesRZ2021, 175 [Natlacen]; 18.2.2021, 6Ob 155/20t, GesRZ2021, 164 [Leonhartsberger]) sowie zur Feststellung des Stimmrechts in der GV (OGH 2.2.2022, 6 Ob 213/21y).

Die GmbH diente seit Anfang der 1980er-Jahre der Umsetzung der Joint-Venture-Unternehmung zweier großer Konzerne. Beteiligungsmäßig stellte ein Konzern den Mehrheitsgesellschafter (zirka 68%), der andere den Minderheitsgesellschafter (zirka 32%). In einer Grundsatzvereinbarung und einem darauf aufbauenden Syndikatsvertrag wurde diese ungleiche Kapitalverteilung zu einem gewissen Grad aufgelöst und ein Gleichgewicht der Joint-VenturePartner erreicht. Konkret wurden die Einflussmöglichkeiten der Gesellschafter durch die Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder abgesichert, welchen jeweils ein Zustimmungsrecht bei Beschlüssen über zustimmungspflichtige Geschäfte und damit ein bedeutender Einfluss in der GmbH zukam. Dabei sollte der Mehrheitsgesellschafter zwei Aufsichtsratsmitglieder und der Minderheitsgesellschafter ein Aufsichtsratsmitglied entsenden. Das vierte Aufsichtsratsmitglied sollte im Einvernehmen der beiden Joint-VenturePartner durch die GV gewählt werden.

Inhalt des Gesellschaftsvertrages wurden schließlich die Entsendungsrechte zugunsten der jeweiligen Konzerngesellschaften zum damaligen Zeitpunkt sowie das Zustimmungsrecht der Aufsichtsratsmitglieder, nicht aber die einvernehmliche Wahl des vierten Aufsichtsratsmitglieds. Die Beteiligungsgesellschaft des Minderheitsgesellschafters änderte sich infolge konzerninterner Umstrukturierungsmaßnahmen im Wege der Einzelrechtsnachfolge. Eine Anpassung des höchstpersönlichen Entsendungsrechts im Gesellschaftsvertrag unterblieb (die Anteile waren nicht vinkuliert), weshalb dieses spätestens im Jahr 2004 erlosch (OGH 18.2.2021, 6Ob 155/20t).

Die Zusammenarbeit der Joint-Venture-Partner funktionierte über 35 Jahre weitgehend gut und entsprach jahrzehntelang den Regelungen aus Grundsatzvereinbarung, Syndikats- und Gesellschaftsvertrag. Unterschiedliche Auffassungen über eine strategische Frage (Einführung eines Kundenbindungsprogramms) führten schließlich zum Streit der Joint-Venture-Partner und zum drohenden Veto durch das Aufsichtsratsmitglied des Minderheitsgesellschafters.

Auf seiner Suche nach einer Möglichkeit, die drohende Blockade durch das Aufsichtsratsmitglied zu umgehen, entdeckte der Mehrheitsgesellschafter 13 Jahre später das formale Erlöschen des gesellschaftsvertraglichen Entsendungsrechts und setzte sogleich gem §30c Abs4 GmbHG die Abberufung dieses Aufsichtsratsmitglieds in der GV durch. Als schließlich das einvernehmlich bestellte Aufsichtsratsmitglied verstarb, besetzte der Mehrheitsgesellschafter die zwei freien Aufsichtsratsmandate neu und stellte damit im Ergebnis alle vier Aufsichtsratsmitglieder.

Das Erlöschen des gesellschaftsvertraglichen Entsendungsrechts bestätigte der OGH in der E 6 Ob 155/20t zwar, hob jedoch die darauf aufbauende Abberufung des ehemals entsendeten Aufsichtsratsmitglieds aufgrund einer Verletzung der mitgliedschaftlichen Treuepflicht wieder auf (Leonhartsberger, GesRZ2021, 171). Ebenfalls aus Treuepflichterwägungen aufgehoben wurden die Bestellungen der zwei neuen Mitglieder durch den Mehrheitsgesellschafter: Einerseits war die vorangegangene Abberufung des entsendeten Mitglieds bereits unwirksam, andererseits wurde kein Einvernehmen bei der Bestellung des anderen Mitglieds hergestellt (OGH 18.2.2021, 6 Ob 140/20m; dazu Natlacen, GesRZ2021, 180).

Die mitgliedschaftliche Treuepflicht wurde in diesen Fällen insb durch die Regelungen des Syndikatsvertrages über die Einflussmöglichkeiten (allen voran jene des Minderheitsgesellschafters) aufgeladen. Durch die jahrelange Übung schuf der Mehrheitsgesellschafter Vertrauenstatbestände, weshalb sein widersprüchliches Stimmverhalten 13 Jahre später treuwidrig war (Kraus, Keine Berufung auf die objektive Auslegung des Gesellschaftsvertrags!? JBl 2022, 341 [346f]).

Die nun vorliegende Entscheidung baut inhaltlich auf der E 6Ob 155/20t auf und verpflichtet den Mehrheitsgesellschafter, für eine Änderung des Gesellschaftsvertrages zur erneuten Einführung des gesellschaftsvertraglichen Entsendungsrechts zugunsten der derzeitigen Beteiligungsgesellschaft des Minderheitsgesellschafters zu stimmen (Reparaturpflicht). Schließlich gab der Mehrheitsgesellschafter durch sein Verhalten (langjährige Übung) zu erkennen (Vertrauenstatbestand), das – gesellschaftsvertraglich nicht mehr bestehende – Entsendungsrecht des Minderheitsgesellschafters weiterhin anzuerkennen.

Eine solche positive Stimmpflicht eines Gesellschafters aufgrund der mitgliedschaftlichen Treuepflicht ist nach Literatur und Rspr zu bejahen, sofern diese im Gesellschaftsinteresse liegt und den einzelnen Gesellschaftern zugemutet werden kann (Rauter/ Milchrahm in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §49 Rz92; E. Gruber in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG3 [2021] §146 Rz22; OGH 18.12.1987, 6 Ob 695/87; zur Zustimmungspflicht bei der Änderung der Stiftungsurkunde OGH 9.3.2006, 6 Ob 166/05p).

Der vorliegende Fall geht insofern darüber hinaus, als eine positive Stimmpflicht – so der OGH – auch dann bestehen kann, wenn diese im Interesse der Gesellschafter (und nicht nur der Gesellschaft selbst) liegt. Das Höchstgericht begründet dies insb mit der horizontalen Wirkung der mitgliedschaftlichen Treuepflicht unter den Gesellschaftern, welche neben der vertikalen Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft besteht (vgl Fleischer, Mitgliedschaftliche

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Treuepflichten: Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven, in Kalss/U. Torggler, Treuepflichten [2018] 43 [44]).

Die Entscheidung bietet auch Anhaltspunkte für eine Klärung, wann die mitgliedschaftliche Treuepflicht zu einer Zustimmungspflicht zur Gesellschaftsvertragsänderung führt und wann dies nicht der Fall ist. Der Mehrheitsgesellschafter wurde vom OGH nur verpflichtet, für die Einführung eines neuen gesellschaftsvertraglichen Entsendungsrechts zu stimmen, nicht aber für die gesellschaftsvertragliche Festsetzung, dass das vierte Aufsichtsratsmitglied im Einvernehmen zu wählen ist.

Zwar begründete der OGH sowohl die Treuwidrigkeit der Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds entgegen dem gesellschaftsvertraglich nicht mehr bestehenden Entsendungsrecht (OGH 18.2.2021, 6 Ob 155/20t) als auch die Wahl des neuen Aufsichtsratsmitglieds ohne Herstellung eines Einvernehmens (OGH 18.2.2021, 6Ob 140/20m) sowie die Zustimmungspflicht zur Gesellschaftsvertragsänderung im vorliegenden Fall im Ergebnis mit denselben Argumenten (mit der jahrelangen Übung, mit der die Inhalte des Syndikatsvertrages gelebt wurden, und den Vertrauenstatbeständen, die auf dieser Basis geschaffen wurden). Letztlich war für die Entscheidung aber ausschlaggebend, dass das Entsendungsrecht – anders als eine Regelung zum Einvernehmen – bereits einmal Inhalt des Gesellschaftsvertrages war. Das Verhalten des Mehrheitsgesellschafters über die 13 Jahre war darauf gerichtet, ein gesellschaftsvertragliches Entsendungsrecht anzuerkennen. Die Pflicht zur Herstellung des Einvernehmens bei der Wahl des vierten Aufsichtsratsmitglieds war hingegen lediglich im Syndikatsvertrag geregelt. Einen entsprechenden Willen, diese Regelung in den Gesellschaftsvertrag aufzunehmen, gab es gerade nicht. Die Frage, ob ein solcher Wille zur Aufnahme oder Änderung einer Regelung im Gesellschaftsvertrag gebildet wurde, ist damit stets im konkreten Einzelfall zu beurteilen.

Das bedeutet keineswegs, dass die syndikatsvertragliche Regelung über die Herstellung eines Einvernehmens auf Ebene der GmbH keine Rolle spielt. Dies zeigt zum einen die E 6 Ob 140/20m, nach der die Bestellung des vierten Aufsichtsratsmitglieds ohne die Herstellung eines Einvernehmens treuwidrig und damit anfechtbar war. Zum anderen wird dies auch durch die ebenfalls in der vorliegenden Entscheidung enthaltenen Feststellungen sichtbar, wonach bis zum Ende der Laufzeit des – inzwischen gekündigten – Syndikatsvertrages ein Einvernehmen bei der Wahl des vierten Aufsichtsratsmitglieds herzustellen ist.

Im Ergebnis bildet diese Entscheidung damit einen weiteren Baustein in der Entscheidungsreihe zum Verhältnis zwischen Syndikatsvertrag und Gesellschaftsvertrag. Über die Brücke der mitgliedschaftlichen Treuepflicht bejaht der OGH unterschiedliche Einflusswirkungen des Syndikatsvertrages auf den Gesellschaftsvertrag der GmbH oder AG. Dies gilt sowohl für die Auslegung des Gesellschaftsvertrages (Natlacen, Das Verhältnis zwischen Syndikat und Hauptgesellschaft [Dissertation, Wirtschaftsuniversität Wien 2022] 91) als auch – wie hier – für die mitgliedschaftliche Zustimmungspflicht zu einer Änderung des Gesellschaftsvertrages. Der Syndikatsvertrag und die darauf aufbauende Übung sowie daraus resultierende Vertrauenstatbestände führten in der vorliegenden Entscheidung zur Begründung echter positiver Handlungspflichten der Syndikatsmitglieder.

Sophie Natlacen

Dr. Sophie Natlacen war Universitätsassistentin am Institut für Unternehmensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien und ist zurzeit als Rechtspraktikantin am BGHS Wien tätig.

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Zur Ersatzerwerbernominierung nach §62 Abs3 letzter Satz AktG

§62 Abs2 und 3 sowie §95 Abs5 AktG

§77 GmbHG

§§6 und 863 ABGB

1. In aller Regel kann aus einem Schweigen des Gesetzgebers bzw der Materialien keine bestimmte Absicht des Gesetzgebers abgeleitet werden (§§6 und 863 ABGB).

2. Die Mitteilung nach §62 Abs3 letzter Satz AktG kann durch den Vorstand erfolgen.

3. Die Mitteilung nach §62 Abs3 letzter Satz AktG kann die dort normierte Wirkung nur entfalten, wenn tatsächlich ein dazu bereiter und fähiger Ersatzerwerber vorhanden ist, die Gesellschaft diesem gegenüber die „Gestattung“ des Aktienerwerbs erklärt und der Ersatzerwerber die gleichen Bedingungen innerhalb angemessener Frist erfüllt.

4. Die Möglichkeit, den Gesellschaftern die Kompetenz zur Entscheidung über die Person eines neu hinzutretenden Gesellschafters einzuräumen, hat bei GmbH und AG denselben Zweck, nämlich den Gesellschaftern die Entscheidungsgewalt über die Eigentümerstruktur der Gesellschaft zu geben und ihr möglicherweise vorhandenes, gesetzlich als schutzwürdig erachtetes Interesse, „unter sich“ zu bleiben, wahren zu können.

5. Ist für die Zustimmung zur Veräußerung von vinkulierten Aktien nach der Satzung die Hauptversammlung zuständig, so bedarf es auch für die Nominierung eines Ersatzerwerbers gem §62 Abs3 letzter Satz AktG der entsprechenden Zustimmung der Hauptversammlung.

6. Deren Fehlen bewirkt die Unwirksamkeit der Ersatzerwerbernominierung nach §63 Abs3 letzter Satz AktG.

7. Sowohl die Bestimmungen über Zustimmungsrechte des Aufsichtsrats (§95 Abs5 AktG) als auch die Verpflichtung der Befassung der Hauptversammlung bei der Ersatzerwerbernominierung (bei entsprechender Satzungsbestimmung) bezwecken primär den Schutz der Gesellschaft, sekundär auch den Schutz der Öffentlichkeit, der Arbeitnehmer und der Gläubiger, nicht aber der Schutz eines Aktionärsanwärters.

OGH 6.4.2022, 6 Ob 108/21g (OLG Graz 3 R 131/20i; LG Klagenfurt 28 Cg 3/20g)

[1] Die Beklagte ist eine österreichische AG, deren Grundkapital 1.905.000€ beträgt und in 190.500 auf Namen lautende Stückaktien zerlegt ist. Alleinvorstand der beklagten Partei ist C. K., der die Gesellschaft seit 1.5.2019 selbständig vertritt.

Die Satzung der Beklagten enthält ua folgende Bestimmungen: „I.

2. Gegenstand des Unternehmens

2.1. Gegenstand des Unternehmens ist die weitere Aufschließung der Erholungsgebiete S. und P. in touristischer Hinsicht; insbesondere durch die Errichtung und den Betrieb von Seilbahnanlagen und anderen Aufstiegshilfen sowie Skipisten, von allgemein benützbaren Verkehrseinrichtungen, Garagen, Sportstätten und -anlagen und von Gastronomiebetrieben in jeder denkmöglichen Art und Betriebsform und überhaupt die Durchführung aller Maßnahmen, die der Verbesserung der touristischen Infrastruktur dieses Erholungsgebiets dienen.

II.

4.4. Die Übertragung von Namensaktien bedarf der Zustimmung der Gesellschaft.

... V.

23.2. Zwischen dem Tag der Einberufung und dem Tag der Hauptversammlung müssen mindestens vier Wochen liegen.

23.6. Die Hauptversammlung ist beschlussfähig, wenn mehr als drei Viertel des Grundkapitals vertreten sind.

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23.7. Im Falle der Beschlussunfähigkeit einer Hauptversammlung ist unverzüglich mit gleicher Tagesordnung eine Hauptversammlung einzuberufen, wobei zwischen dem Tag der Einberufung und dem Tag dieser Hauptversammlung mindestens sieben Tage liegen müssen. Diese Hauptversammlung ist dann ohne Rücksicht auf die Zahl der erschienenen oder vertretenen Aktionäre beschlussfähig.

26.2. Die nachstehend angeführten Beschlüsse bedürfen einer Mehrheit von mehr als drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals ...

e) die Zustimmung zur Übertragung von Aktien; ...“

[2] Die H. und die G. (beide in der Folge als „Veräußerer“ bezeichnet) beabsichtigten, ihre Anteile an der Beklagten (V. 29,52% und G. 3,81%, zusammen 33,33%) zu veräußern, und schlossen zu diesem Zweck einen Aktienkaufvertrag vom 5.2.2018 mit der Klägerin ab, sodass diese insgesamt 63.500 Aktien der Beklagten von den Veräußerern erwerben sollte. Der vereinbarte Kaufpreis für diese Aktien betrug 4,7Mio€, wobei 4.162.127,56€ auf die vertragsgegenständlichen 56.233 Aktien der V. (Sammelurkunde Nr2) und 537.872,44€ auf die vertragsgegenständlichen 7.267 Aktien der G. (Sammelurkunde Nr12) entfallen sollten.

[3] Der Kaufpreis war binnen 10 Tagen nach Unterzeichnung des Vertrages (signing) auf ein Treuhandkonto beim Vertragsverfasser zu erlegen. In Pkt XI. wurden folgende Bedingungen aufgenommen:

„1. Die Rechtswirksamkeit des vorliegenden Vertrages steht unter nachfolgenden aufschiebenden Bedingungen:

lita: Die Vorlage der in Anlage ./XI., 1.a., angeführten Dokumente und Informationen durch die Käuferin und deren wirtschaftliche Eigentümer betreffend ‚AML-Background Check‘ und ‚Source of Funds Assessment‘ zur Bestätigung vonseiten der V., wonach diese Unterlagen unbedenklich sind;

litb: Zustimmung der Hauptversammlung der Gesellschaft zum gegenständlichen Verkauf mit einer Mehrheit von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals oder im Falle der Nichtzustimmung der Hauptversammlung Vorliegen des rechtskräftigen Beschlusses des zuständigen Firmenbuchgerichts betreffend das Ersetzen der Zustimmung der Hauptversammlung gemäß §62 AktG und Nichtnamhaftmachung eines anderen Erwerbers gemäß §62 Abs3 AktG durch die Gesellschaft innerhalb eines Monats ab Rechtskraft der Entscheidung des Gerichts. Wird hingegen gemäß §62 Abs3 AktG von der Gesellschaft fristgerecht ein anderer Erwerber namhaft gemacht, tritt die aufschiebende Bedingung gemäß diesem Punkt auch dann ein, wenn 1.) der namhaft gemachte Erwerber nicht bereit ist, den Vertrag binnen angemessener Frist abzuschließen, 2.) der abgeschlossene Vertrag nicht rechtswirksam wird oder der abgeschlossene Vertrag vom namhaft gemachten Erwerber nicht binnen angemessener Frist erfüllt wird.

litc: Hinterlegung der in zwei einzelnen Aktienurkunden verbrieften vertragsgegenständlichen Aktien mit jeweils einem Indossament, das auf die Käuferin ausgestellt ist, beim Treuhänder durch die Verkäufer.“

[4] In der außerordentlichen Hauptversammlung (im Folgenden: HV) der Beklagten vom 16.3.2018 wurde über den Antrag auf Zustimmung der Übertragung gemäß dem vorbezeichneten Kaufvertrag abgestimmt, wobei das nach der Satzung erforderliche Konsensquorum von 75% der Stimmen nicht erreicht wurde. Der Aktionär (und Alleinvorstand der Beklagten) C. K. (0,28% der abgegebenen Stimmen) enthielt sich der Stimme, die A. GmbH, Dipl.-Ing. C. H., Dipl.-Ing. E. H., H. L. und N. S. (insgesamt 26,90% der abgegebenen Stimmen) stimmten dagegen.

[5] Am 20.3.2018 beantragten die Veräußerer die Gestattung der Übertragung der Aktien gem §62 Abs3 AktG beim LG Klagenfurt, das dem Antrag mit Beschluss vom 27.7.2018 Folge gab. Den dagegen erhobenen Rechtsmitteln gab das OLG Graz als Rekursgericht hingegen mit Beschluss vom 14.11.2018 nicht Folge; der OGH bestätigte die Entscheidung mit Beschluss vom 27.6.2019, 6 Ob 18/19v. Dieser Beschluss wurde den Parteien am 30.7.2019 zugestellt.

[6] In der außerordentlichen HV vom 16.5.2019 sollte unter Tagesordnungspunkt 3. die Beschlussfassung über die Gestattung der Über-

tragung der streitgegenständlichen Aktien an die Nebenintervenientin als Ersatzerwerber gem §62 Abs3 letzter Satz AktG abgehandelt werden. Der Vorsitzende der HV ließ die Abstimmung über diesen Tagesordnungspunkt aber nach Diskussion über Stimmverbote für die Veräußerer nicht zu, weil er die Auffassung vertrat, „dass die Hauptversammlung hinsichtlich der Beschlussfassung des Ersatzwerbers über keine Zuständigkeit und Kompetenz verfügt“ und die Entscheidung hierüber allein der Gesellschaft, und zwar vertreten durch den Vorstand, zustehe. Ausdrücklich wurde über die Frage der Kompetenz für die Zustimmung zur Ersatzerwerbernominierung in dieser HV gesprochen, jedoch keine Einigkeit darüber erzielt.

[7] Im Anschluss an diese außerordentliche HV entbrannte eine Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Klägerin einerseits und der Beklagten und den Vertretern der Nebenintervenientin andererseits über die Frage, welches Organ die Ersatzerwerbernominierung rechtsgültig vollziehen könne, wobei die Klägerin ihre Eintragung als Aktionärin im Aktienbuch forderte. Eine solche Eintragung wurde bis heute nicht vorgenommen.

[8] Mit Schreiben vom 27.8.2019 benannte die Beklagte durch ihren Alleinvorstand gegenüber den Veräußerern die Nebenintervenientin als Ersatzerwerberin gem §62 Abs3 letzter Satz AktG für die von den Veräußerern gehaltenen 63.500 Aktien.

[9] Mit Schreiben vom 28.8.2019 ersuchte der Vertreter der Nebenintervenientin den Klagevertreter um Übermittlung eines entsprechenden und auf die Nebenintervenientin adaptierten Aktienkaufvertrages samt Beilagen und einer Treuhandkontonummer, auf die der Kaufpreis zu entrichten sei, und erklärte, die Nebenintervenientin sei bereit, den vereinbarten Kaufpreis ab sofort zur Anweisung zu bringen, und damit erfüllungsbereit. Weiters wurde um Offenlegung aller Vertragsinhalte zwischen den Veräußerern und der Klägerin ersucht.

[10] Der Aktienkaufvertrag zwischen den Veräußerern und der Klägerin wurde in Pkt XI.2. („Long-Stop-Date“) geschwärzt.

[11] Am 28.8.2019 schlossen die durch den Vorstand vertretene Beklagte und die durch deren Alleingeschäftsführer Dipl.-Ing. C. H. vertretene Nebenintervenientin eine Vereinbarung betreffend die Benennung als Ersatzerwerber iSd §62 Abs3 letzter Satz AktG, in dem die Nebenintervenientin festhielt, dass sie verpflichtet sei, die vertragsgegenständlichen Aktien zu denselben Bedingungen zu erwerben wie im Aktienkaufvertrag vorgesehen, wobei in Pkt1.2. festgehalten wurde:

„Die in Punkt 1.1. verwendete Formulierung ‚zu denselben Bedingungen wie im Aktienkaufvertrag vorgesehen‘ umfasst nicht nur den im Aktienkaufvertrag vereinbarten Kaufpreis und Aktienzahl, sondern auch alle anderen Bestimmungen des Aktienkaufvertrages, wobei dazu festgehalten wird, dass eine Offenlegung aller Vertragsbedingungen (das sind die Anlagen zum Aktienkaufvertrag sowie das ‚Long-Stop Date‘ gemäß PunktXI. Abs2 des Aktienkaufvertrages) bis dato verweigert wurde. Von der Formulierung: ‚zu denselben Bedingungen wie im Aktienkaufvertrag vorgesehen‘ sind jedoch solche Bestimmungen des Aktienkaufvertrages ausgenommen, die I.) bis dato unbekannt sind und auf Treue und Glauben erwartbar nicht erfüllt werden können oder II.) ausschließlich von der ... [Klägerin] (und somit weder von der ... [Nebenintervenientin] oder einem sonstigen Dritten) rechtlich und/oder faktisch erfüllt werden können.“

[12] Festgehalten wurde in dieser Vereinbarung auch, dass eine Weiterübertragung des in Rede stehenden Aktienpakets an erwerbswillige Aktionäre zu den Bedingungen des Aktienkaufvertrages der Klägerin ermöglicht werden solle. Die Kauffinanzierung war sichergestellt.

[13] Dass der Vorstand der Beklagten bewusst entgegen dem Gleichbehandlungsgebot und im kollusiven Zusammenwirken mit der Nebenintervenientin zum Nachteil der anderen Aktionäre gehandelt hatte, nämlich mit dem Interesse, den durch die Nebenintervenientin repräsentierten Aktionärsgruppen einen Sondervorteil zu gewähren, steht nicht fest.

[14] Die Klägerin begehrt, 1.) zwischen den Streitteilen festzustellen, dass die Aktien Nr2 (mit der 56.233 auf Namen lautende Stückaktien verbrieft werden) und Nr12 (mit der 7.267 auf Namen lautende Stückaktien verbrieft werden) am 19.11.2019 rechtswirksam an die Klägerin übertragen worden seien und

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Judikatur

diese somit Aktionärin der Beklagten im Ausmaß von 63.500 auf Namen lautenden Stückaktien sei;

2.) die Beklagte schuldig zu erkennen, die Bezug habenden Eintragungen im Aktienbuch der Beklagten vorzunehmen;

3.) festzustellen, dass die Beklagte ihr darüber hinaus für alle zukünftigen Schäden hafte, die daraus resultierten, dass die Beklagte die Übertragung der Aktien Nr2 und Nr12 nicht anerkannt und/oder die Klägerin nicht als Aktionärin in das Aktienbuch eingetragen habe.

[15] Die Ersatzerwerbernominierung zugunsten der Nebenintervenientin durch die Beklagte gem §62 Abs3 Satz 3 AktG sei infolge Nichteinhaltung der gesetzlichen Bestimmungen gescheitert. ... Der Ersatzerwerber könne die Aktien nur zu gleichen Bedingungen wie der gerichtlich genehmigte Erwerber kaufen. Die Nebenintervenientin habe die Erfüllung der Verkaufsbedingungen laut Aktienkaufvertrag zwischen den Veräußerern und der Klägerin verweigert. Die vom Ersatzerwerber einzuhaltenden Bedingungen des Aktienkaufvertrages benötigten daher die Zustimmung der HV der Beklagten. Durch eine Übertragung der Aktien an die Nebenintervenientin habe die Beklagte gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz der Aktionäre gem §47a AktG verstoßen, sodass auch die Benennung der Nebenintervenientin als Ersatzerwerberin unwirksam sei. ... Die Bestimmungen des §62 Abs3 AktG und des §77 GmbHG seien gleich zu interpretieren. Die Entscheidung über die Person des Ersatzerwerbers habe jenes Organ zu treffen, das gemäß der Satzung auch für die Erteilung der Zustimmung zur Übertragung der Aktien zuständig sei. Wenn die HV die Zustimmung zur Übertragung der Aktien zu erteilen habe, sei auch die HV für die Bestimmung des Ersatzerwerbers zuständig. Da die Satzung der Beklagten die Zustimmungskompetenz der HV zuweise, sei diese auch für die Auswahl des Ersatzerwerbers zuständig. Eine solche HV habe nicht stattgefunden. Es liege weiters eine außerordentliche Maßnahme der Geschäftsführung vor, die über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehe und daher der Entscheidung des Aufsichtsrats vorbehalten sei. Unabhängig von der höchstgerichtlich noch nicht geklärten Frage, welches Organ für die Auswahl des Ersatzerwerbers und die Zustimmungserteilung für die Übertragung an diesen zuständig sei, liege ein mehrfacher Verstoß gegen die Satzung und die Geschäftsordnungen des Aufsichtsrats und des Vorstands durch die Nichtbefassung des Aufsichtsrats vor.

Die Beklagte habe diese Vorschriften rechtswidrig und schuldhaft missachtet und hafte der Klägerin für den daraus künftig entstehenden Schaden, wie etwa entgangene Dividendenansprüche. Deshalb habe die Klägerin ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Haftung der Beklagten.

[16] Die beklagte AG wendete ein, die Kompetenz zur Entscheidung, ob und wer als Ersatzerwerber benannt werden solle, komme ausschließlich und zwingend dem Vorstand der AG zu. Durch die form- und fristgerechte Benennung der Ersatzerwerberin für die gegenständlichen Aktien sei ex lege eine Veräußerung an den ursprünglich geplanten Erwerber unwirksam geworden, sodass der veräußerungswillige Aktionär die Aktien entweder an den Ersatzerwerber veräußern oder vom Verkauf gänzlich Abstand nehmen könne. §62 Abs2 AktG enthalte eine Öffnungsklausel, die aber in §62 Abs3 AktG nicht enthalten sei. Eine Kompetenzverschiebung zwischen den Organen der AG (Vorstand, Aufsichtsrat und HV) setze eine gesetzliche Grundlage voraus. ... Eine wirksame Übertragung der Aktien an die Klägerin im Rahmen des closing sei nicht erfolgt, sodass die Beklagte zu Recht die Eintragung der Klägerin im Aktienbuch verweigere. Die Klägerin habe demnach die verfahrensgegenständlichen Aktien nicht wirksam erwerben können und sei auch nicht Aktionärin der Beklagten. Da die Beklagte auf Grundlage einer vertretbaren Rechtsansicht gehandelt habe, treffe sie kein Verschulden, sodass das Feststellungsbegehren betreffend die Haftung der Beklagten nicht berechtigt sei.

 [18] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. ...

 [19] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Die Zuständigkeit der HV für die Benennung des Ersatzerwerbers würde zu einer Beeinträchtigung der Rechtssicherheit führen, zumal ein Beschluss der HV über die Benennung eines Ersatzerwerbers angefochten werden könnte. Ein stattgebendes rechtskräftiges Anfechtungs-

urteil würde den angefochtenen HV-Beschluss ex tunc beseitigen. Bis zur Rechtskraft eines Anfechtungsprozesses bestünde somit Unsicherheit über die Person des Erwerbers. Auch die einzuhaltenden Fristen für die Einberufung einer HV nach §107 Abs1 AktG (28 bzw 21 Tage) sprächen gegen eine notwendige Befassung der HV. Der Vorstand könnte in diesem Fall bis zur HV keine ernsthaften Verhandlungen mit Interessenten führen und hätte nur noch wenige Tage Zeit, um mit den von den Aktionären bestimmten Interessenten zu verhandeln und bis zum Ablauf der Frist dem veräußerungswilligen Aktionär mit eingeschriebenem Brief den Ersatzerwerber bekannt zu machen. ... Die Benennung eines Ersatzerwerbers gem §62 Abs3 AktG stelle keine außergewöhnliche Maßnahme der Geschäftsführung dar. Eine Zustimmung des Aufsichtsrats gem Pkt18.2. der Satzung, Pkt8.2. der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats und Pkt9.1. der Geschäftsordnung des Vorstands sei daher nicht erforderlich. ... Zusammenfassend sei daher in der Benennung der Nebenintervenientin als Ersatzerwerberin durch den Vorstand der Beklagten kein Verstoß gegen §62 Abs3 AktG zu erblicken und eine Aktivlegitimation zur Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz gem §47a AktG durch die Klägerin zu verneinen. [20] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil höchstgerichtliche Rspr zur Frage fehle, welchem Organ einer AG das Recht zukomme, gem §62 Abs3 AktG einen Ersatzerwerber zu benennen.

 Der OGH änderte die Urteile der Vorinstanzen dahin gehend ab, dass er den ersten beiden Begehren (Feststellung der Aktionärseigenschaft der Klägerin und Verpflichtung der Beklagten zur Eintragung der Klägerin in das Aktienbuch der Beklagten) stattgab und das dritte Begehren (Feststellung der Haftung der Beklagten für Schäden der Klägerin) abwies.

Aus den Entscheidungsgründen des OGH:

1. Ergänzende Tatsachenfeststellungen [22] Aufgrund der im Akt befindlichen, in ihrer Echtheit unbestrittenen Urkunden (RIS-Justiz RS0121557 [T3]) sowie von Außerstreitstellungen werden folgende weitere Umstände festgehalten:

Die Satzung der Beklagten enthält ua noch folgende Bestimmungen:

„IV. Aufsichtsrat

...

18. Aufgaben des Aufsichtsrats/Kompetenzvorbehalt ...

18.2. Der Entscheidung des Aufsichtsrats bleiben vorbehalten:

d) der Abschluss von Verträgen mit Mitgliedern des Aufsichtsrats, durch die sich diese außerhalb ihrer Tätigkeit im Aufsichtsrat gegenüber der Gesellschaft oder einem Tochterunternehmen (§228 Abs3 HGB) zu einer Leistung gegen ein nicht bloß geringfügiges Entgelt verpflichten. Dies gilt auch für Verträge mit Unternehmen, an denen ein Aufsichtsratsmitglied ein erhebliches wirtschaftliches Interesse hat.

e) alle Geschäftsführungsmaßnahmen, die nicht im Budget Deckung finden oder über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehen,

j) alle Vertragsabschlüsse mit ... Aktionären sowie mit allen Gesellschaften, an oder in denen diese Personen zu mehr als 50% beteiligt sind oder sonst einen beherrschenden Einfluss auf die Geschäftsführung ausüben, ...“

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Judikatur

[23] Der Aufsichtsrat der Beklagten besteht aus sechs Personen. Dipl.-Ing. C. H. ist seit 2003 Mitglied des Aufsichtsrats der Beklagten.

[24] Die Nebenintervenientin ist eine GmbH mit einem Stammkapital von 35.000€. Einziger, seit 13.4.2019 selbständig vertretungsbefugter Geschäftsführer ist Dipl.-Ing. C. H. Ihre Gesellschafter sind die Sp. GmbH mit einer Stammeinlage von 17.500€, die A. GmbH mit einer Stammeinlage von 12.110€ sowie die C. GmbH mit einer Stammeinlage von 5.390€, deren Alleingesellschafter Dipl.-Ing. C. H. ist. Weder die Sp. GmbH noch deren Alleingesellschafter, eine natürliche Person, sind Aktionäre der Beklagten. Die A. GmbH ist mit einem Anteil von 17,55%, Dipl.-Ing. C. H. ist mit einem Anteil von 7,84% an der Beklagten beteiligt.

Der Gesellschaftsvertrag der Nebenintervenientin enthält in §10 (Generalversammlung) folgende Bestimmung:

„e) Für alle Beschlussfassungen gilt: Werden gleich viele Pround Kontra-Stimmen abgegeben, gilt jene Entscheidung als getroffen, der sich die Mehrheit der Gesellschafter angeschlossen hat.“

[25] Die HV der Beklagten hat keinen Beschluss über die Gestattung der Übertragung der Aktien der Veräußerer an die Nebenintervenientin gefasst.

[26] Der zwischen den Veräußerern und der Klägerin abgeschlossene Aktienkaufvertrag wurde mit closing vom 19.11.2019 vollzogen und die Aktien wurden mit Indossament übergeben. Die Beklagte wurde über die Übertragung der Aktien durch Übermittlung der Aktien samt Indossament informiert.

2. Normen

§62 AktG lautet: „(1) ...

(2) Die Satzung kann die Übertragung von Namensaktien an die Zustimmung der Gesellschaft binden. Die Zustimmung gibt der Vorstand, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt. Die Zustimmung darf nur aus wichtigem Grund verweigert werden.

(3) Ist nach der Satzung die Zustimmung der Gesellschaft zur Übertragung der Aktien notwendig, so ist, falls die Zustimmung versagt wird, dem Aktionär bei Nachweis der Einzahlung des auf die Einlage eingeforderten Betrags vom Gericht die Übertragung der Aktie zu gestatten, wenn kein wichtiger Grund für die Verweigerung der Zustimmung vorliegt und die Übertragung ohne Schädigung der Gesellschaft, der übrigen Aktionäre und der Gläubiger erfolgen kann. Das Gericht hat vor der Entscheidung den Vorstand zu hören. Ungeachtet der erteilten Zustimmung des Gerichts zur Übertragung kann diese dennoch nicht wirksam stattfinden, wenn die Gesellschaft innerhalb eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung dem Aktionär durch eingeschriebenen Brief mitteilt, daß sie die Übertragung der Aktie zu den gleichen Bedingungen an einen anderen von ihr bezeichneten Erwerber gestatte.“

3. Normengeschichte

[27] §62 Abs2 Satz 1 und 2 AktG entspricht inhaltlich §61 Abs3 Satz 1 und 2 dAktG 1937, Satz 2 ist überdies wortgleich.

[28] §62 Abs3 AktG hat hingegen keine Entsprechung im deutschen AktG 1937, das Vorbild für das österreichische

AktG 1965 war (ErlRV 301 BlgNR 10. GP, 62), ebenso wenig im nunmehr geltenden deutschen AktG (vgl 6 Ob 18/19v, Pkt4.2.1.). Auch das deutsche GmbHG hat keine entsprechende Bestimmung. Deutsche Rspr oder Literatur kann daher zur Auslegung dieser Bestimmung nicht herangezogen werden.

[29] §62 Abs3 AktG wurde bei der Erlassung des AktG 1965 weithin wort- und sinngleich (vgl 6 Ob 18/19v, Pkt4.1.2.) von §77 letzter Satz GmbHG übernommen. Die Materialien zum AktG erschöpfen sich in folgendem Hinweis (ErlRV 301 BlgNR 10. GP, 68):

„Die die Übertragung einer Namensaktie regelnden Vorschriften wären durch sinngemäße Übernahme der für gebundene (vinkulierte) Geschäftsanteile an der Gesellschaft mbH geltenden zweckentsprechenden Regelungen (§76 Abs4, §77 GesmbHG) zu ergänzen.“

[30] §77 letzter Satz GmbHG wurde durch die Herrenhaus-Kommission in das GmbHG in der Stammfassung eingefügt. Der HHB (272 BlgHH 17. Sess, 14) gibt lediglich folgenden Aufschluss:

„Selbst wenn das Gericht die Zustimmung schon erteilt hat, so soll der Gesellschaft noch immer das Recht zustehen, sich einen ihr nicht genehmen Gesellschafter fernzuhalten; sie braucht nur einen andern Erwerber zu den gleichen Bedingungen zu stellen, muss dies aber dem betreffenden Gesellschafter binnen Monatsfrist nach Rechtskraft der Entscheidung durch rekommandierten Brief mitteilen.“

4. Meinungsstand

4.1. Kommentarliteratur

[31] Nach hA in der Kommentarliteratur zum GmbHG kommt die Entscheidung über den Ersatzerwerber den Personen zu, die hinsichtlich der Übertragung zustimmungsbefugt seien, weil andernfalls der Zweck des Entscheidungsvorbehalts verfehlt werde. Dabei werde auch die für die Gestattung der Veräußerung erforderliche Beschlussmehrheit einzuhalten sein (Rauter in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG [2020] §77 Rz34f; Schopper in Gruber/Harrer, GmbHG2, §77 Rz8; Hoffenscher-Summer in H. Foglar-Deinhardstein/ Aburumieh/Hoffenscher-Summer, GmbHG, §77 Rz27).

[32] Obliege die Entscheidung der Gesellschaft, sind nach Schopper (aaO) die Geschäftsführer entscheidungsbefugtes Organ. Dabei hätten sie den Gesellschaftern die Möglichkeit zum Erwerb der frei werdenden Anteile zu ermöglichen (§52 Abs3 GmbHG analog). Machten die Gesellschafter von ihrem Recht keinen Gebrauch, erfolge die Willensbildung der Gesellschaft mittels eines Gesellschafterbeschlusses, wobei dem veräußerungswilligen Gesellschafter kein Stimmrecht zukomme (so auch Rauter, aaO, Rz36; Hoffenscher-Summer, aaO). In Ermangelung einer gesonderten Regel im Gesellschaftsvertrag sei jene Beschlussmehrheit heranzuziehen, die für die Gestattung der Veräußerung gelte.

[33] Haberer/Zehetner (in Artmann/Karollus, AktG6, §62 Rz63) meinen, die Gesellschaft müsse entsprechend dem Gleichbehandlungsgebot den anderen Aktionären die Möglichkeit geben, die Aktien anteilsmäßig zu erwerben, sofern es keine sachlichen Gründe für eine abweichende Vorgangsweise gebe.

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[34] Nach Eckert/Schopper/Reheis (in Eckert/Schopper, AktG-ON, §62 Rz29f, unter Berufung auf Schopper, NZ2019, 365 [siehe unten Pkt4.2.8.]) liegt die Entscheidungskompetenz zur Nominierung des Ersatzerwerbers zwingend beim Vorstand; ohne Vereinbarung in der Satzung bestehe kein generelles Bezugsrecht der Altaktionäre gem §153 AktG (analog), weil mit Übertragung der Aktien an den Ersatzerwerber kein Verwässerungseffekt verbunden sei.

4.2.

Monografien und Aufsätze

[35] 4.2.1. Reich-Rohrwig (Übertragung vinkulierter Anteile, ecolex 1994, 757 [759]) vertritt die Auffassung, bei der Ersatzerwerbernominierung müsse den bisherigen Gesellschaftern (Aktionären) die Möglichkeit gegeben werden, die „frei werdenden Anteile“ zu erwerben. Im Zweifel stehe dieses Recht den bisherigen Anteilsinhabern im Verhältnis der Nennbeträge ihrer Beteiligung zu (§52 Abs3 GmbHG; §153 Abs1 AktG). Die Gesellschafter bzw Aktionäre wollten sich durch die satzungsmäßige Vinkulierung zusätzlich gegen das Eindringen dritter Personen schützen und unter sich bleiben. Es wäre nicht einsichtig, warum Geschäftsführer oder Vorstand in dieser innersozietären Frage Einfluss nehmen können sollten, wo diese Frage doch primär die Gesellschafter bzw Aktionäre betreffe. In allfälligen Gesellschafterbeschlussfassungen über das Verfahren beim Firmenbuchgericht und über die Ausübung dieses Bezugsrechts der verbleibenden Gesellschafter sei der veräußerungswillige Gesellschafter nicht stimmberechtigt, weil er einerseits Verfahrensgegner sei, andererseits aber auch kein schutzwürdiges Interesse daran habe, wie sich der Kreis der Gesellschafter nach seinem Ausscheiden zusammensetze.

4.2.2. Fantur/Zehetner (Vinkulierte Geschäftsanteile, ecolex 2000, 428 [432]) vertreten (zur GmbH) die Auffassung, das Nominierungsrecht komme den die Zustimmung verweigernden Gesellschaftern zu. Folge man der Ansicht ReichRohrwigs, so werde die Gesellschaft im Verfahren über die Ersetzung der Zustimmung durch das zustimmungsberechtigte Organ vertreten, dem in der Folge somit auch das Nominierungsrecht zukomme. Dies begründen die genannten Autoren auch mit der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung, wonach das Gericht vor seiner Entscheidung über die Gestattung „die Geschäftsführer“ (§77 Satz 2 GmbHG; vgl dem entsprechend §62 Abs3 Satz 2 AktG: „den Vorstand“) zu hören hat, welche Regelung überflüssig wäre, wenn die Gesellschaft im Verfahren ohnehin stets durch die Geschäftsführer vertreten würde.

[36] 4.2.3. Nach Auer (Doppelvinkulierung bei GmbH & Co KG, WBl 2002, 253 [255]) hat der Zustimmungsberechtigte das Nominierungsrecht.

[37] 4.2.4. Gurmann/Sakowitsch (Vinkulierung von Geschäftsanteilen und Rechtsfolgen der Umgehung, GES2008, 136 [137f]) gehen davon aus, dass primär die bisherigen Gesellschafter die Möglichkeit zum Erwerb der nun „frei werdenden Anteile“ erhalten, wobei eine Generalversammlung einzuberufen und die Erklärungen der Gesellschafter einzuholen seien, ob die Gesellschafter ihr Bezugsrecht ausüben und als Nomine genannt werden wollen; werde das Bezugsrecht nicht ausgeübt, sei mit Gesellschafterbeschluss über die Nominierung eines

Dritten als Erwerber zu entscheiden, wobei dem abtretungswilligen Gesellschafter kein Stimmrecht zukomme. [38] 4.2.5. Weismann (Übertragungsbeschränkungen bei GmbH-Geschäftsanteilen [2008] 117f) führt aus, das Nominierungsrecht sei bei individuellen Zustimmungsrechten einzelner Gesellschafter den zustimmungsberechtigten Gesellschaftern und nicht der Gesellschaft als solcher einzuräumen. Das ergebe sich auch aus dem Zweck und der Wirkungsweise der Vinkulierungsbestimmungen und insb des Nominierungsrechts. Werde einzelnen Gesellschaftern durch eine Vinkulierungsklausel ein individuelles Zustimmungsrecht zur Anteilsübertragung eingeräumt, dann solle diesen Gesellschaftern die Entscheidung über die Zustimmungserteilung oder -verweigerung bei Übertragung eines Geschäftsanteils und damit die Kontrolle über den Gesellschafterkreis zukommen. Die gerichtliche Ersetzung einer grundlos verweigerten Zustimmung gem §77 GmbHG habe den Zweck, den übertragungswilligen Gesellschafter nicht unlösbar an die Gesellschaft zu ketten. Nach gerichtlicher Ersetzung der Zustimmung bleibe dem Nominierungsberechtigten aber noch das Recht, einen Ersatzerwerber zu benennen. Der Sinn dieses Nominierungsrechts liege wiederum darin, einen gänzlich unerwünschten Erwerber doch noch aus der GmbH fernzuhalten. Die Entscheidung, ob auf eine Nominierung verzichtet werde, sei damit letztlich eine Entscheidung darüber, wer neuer Mitgesellschafter werde. Diese Entscheidung und damit das Nominierungsrecht könne konsequenterweise aber nur demjenigen zukommen, dem über das vinkulierungsmäßige Zustimmungsrecht gesellschaftsvertraglich die Kontrolle über den Gesellschafterkreis zugestanden worden sei. [39] 4.2.6. Grassner (Immobilisierungsmaßnahmen bei GmbH-Geschäftsanteilen [2010] 230f) vertritt die Meinung, aus dem Zweck der Vinkulierungsklausel leite sich ab, dass den einzelnen zustimmungsberechtigten Gesellschaftern auch das Nominierungsrecht zuzugestehen sei. Sei in der Vinkulierungsklausel einzelnen Gesellschaftern die Entscheidung über die Genehmigung zur Anteilsübertragung eingeräumt gewesen, sei damit auch intendiert gewesen, dass diesen die Kontrolle über den Gesellschafterbestand zukommen solle. IdS müssten es auch diese Gesellschafter sein, die nach der Ersetzung der Zustimmung durch das Gericht einen Ersatzerwerber bestimmten. Die Ansicht Reich-Rohrwigs vom Ausschluss des veräußerungswilligen Gesellschafters vom Stimmrecht stehe mit der hL im Widerspruch, die diesem sein Stimmrecht auch bei der Beschlussfassung über die Erteilung der Zustimmung zur Anteilsübertragung nicht aberkenne. Bei der Suche nach einem Ersatzerwerber sei zuerst in den eigenen Reihen zu suchen. So solle vorrangig vor allem den übrigen Gesellschaftern Gelegenheit gegeben werden, den Geschäftsanteil (im Zweifel iSd §52 Abs3 GmbHG aliquot) zu übernehmen. [40] 4.2.7. Die Klagevertreter (und Antragstellervertreter im Verfahren 6 Ob 18/19v) Hochfellner/F.-X. Moser (Gerichtliche Gestattung der Übertragung von vinkulierten Aktien und Ausübung des Nominierungsrechts, GesRZ2019, 316 [319f]) meinen, es bestehe kein Grund, die Übertragung der Aktien an einen von der Gesellschaft ausgewählten Ersatzerwerber nicht auch dem Zustimmungsregime der jeweils vereinbarten

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Judikatur

Vinkulierungsklausel zu unterziehen. Eine außerordentliche HV könne nach §107 Abs1 AktG innerhalb der Monatsfrist des §62 Abs3 letzter Satz AktG fristgerecht angekündigt und durchgeführt werden. Sofern die Satzung eine die Monatsfrist überschreitende Einberufungsfrist vorsehen sollte und die Gesellschaft die Möglichkeit, einen Ersatzerwerber namhaft zu machen, nutzen möchte, werde der Vorstand bereits vor Vorliegen der rechtskräftigen Entscheidung eine HV einzuberufen haben. Aufgrund des eingeleiteten Verfahrens werde die Gesellschaft ohnehin bereits vor der rechtskräftigen Gerichtsentscheidung den Erwerb der Aktien mit möglichen Ersatzerwerbern sondieren. Die HV würde diesfalls vorsorglich über die mögliche Übertragung der Aktien an einen Ersatzerwerber entscheiden. Bei HV-Beschlüssen über die Zustimmung zur Übertragung der Aktien an einen Ersatzerwerber sei der veräußerungswillige Aktionär stimmberechtigt. Wenn der gerichtlich genehmigte Erwerber oder der Ersatzerwerber bereits Aktionär sei, könnten auch diese ihr Stimmrecht ausüben. Ein Fall des in §125 AktG normierten Stimmverbots liege nicht vor. Das Aktienrecht kenne auch kein generelles Stimmverbot bei Interessenkollisionen.

[41] 4.2.8. Schopper (Gerichtliche Gestattung der Übertragung von vinkulierten Aktien und Benennung eines Ersatzerwerbers durch die AG – zugleich eine Besprechung von OGH 6 Ob 18/19v, NZ2019, 365), der nach der von der Beklagten nicht bestrittenen und von der Nebenintervenientin implizit zugestandenen Behauptung der Klägerin für die Beklagte im vorliegenden Verfahren ein Rechtsgutachten erstattet hat (was in der Publikation allerdings nicht offengelegt wird), vertritt folgende Auffassung (aaO, 370 bis 373): Obwohl §77 GmbHG Vorbild für §62 Abs3 AktG gewesen sei, habe der Gesetzgeber die GmbH-Regelung nur „sinngemäß“ in das Aktienrecht übernehmen wollen. Damit brächten die Gesetzesmaterialien deutlich zum Ausdruck, dass die GmbH-rechtliche Regelung und die dazu entwickelte Lehre nicht mechanisch und unbesehen in das Aktienrecht übertragen werden dürften, sondern stets die Besonderheiten der AG zu berücksichtigen seien. Die in §76 Abs2 GmbHG nicht, in §62 Abs2 AktG aber schon enthaltene „Öffnungsklausel“ („wenn die Satzung nichts anderes bestimmt“) müsse auch bei der systematischen Interpretation von §62 Abs3 AktG berücksichtigt werden. Dass der Gesetzgeber in §62 Abs3 AktG keine Öffnungsklausel vorgesehen habe, spreche dafür, dass er bewusst bei der Benennung eines Ersatzerwerbers keinen Gestaltungsspielraum für die Satzung einräumen habe wollen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sich das Kompetenzgefüge einer AG – auch einer personalistischen, nicht börsenotierten – wesentlich von dem einer GmbH unterscheide. Als gesetzlicher Regelfall entscheide der Vorstand der AG in allen Belangen der Gesellschaft alleine und weisungsfrei. Nur in Ausnahmefällen bedürfe es auch einer Entscheidung anderer Organe. Im Rahmen des grundsätzlich zwingenden Kompetenzgefüges bei der AG komme dem Vorstand insoweit eine zwingende Restkompetenz zu, als alle Zuständigkeiten, die das AktG keinem anderen Organ einräume, durch den Vorstand zu erledigen seien. §62 Abs2 AktG wiederhole dieses bei der AG vorgegebene Kompetenzgefüge, eröffne aber auch die Möglichkeit zur Schaffung von statutarischen Abweichungen und schaffe damit die Ausnahme von der aktien-

rechtlichen Kompetenzordnung. §62 Abs3 AktG spreche dagegen nur von der „Gesellschaft“, ohne ein bestimmtes Organ zu nennen. Daher komme hier der aktienrechtliche Regelfall zur Anwendung, dh, der Vorstand entscheide alleine und weisungsfrei, ob und wer als Ersatzerwerber benannt werde. Für eine zwingende Zuständigkeit des Vorstands bei der Benennung des Ersatzerwerbers ließen sich außerdem auch objektiv-teleologische Argumente ins Treffen führen. Die Zuständigkeit der HV führte angesichts der Anfechtbarkeit eines HV-Beschlusses zu einer massiven Beeinträchtigung der Rechtssicherheit. Sei die Anfechtung am Ende erfolgreich und führe sie zu einer Vernichtung des HV-Beschlusses mit Wirkung ex tunc, dann dürfte ein zwischenzeitlich bereits erfolgter Verkauf an den im HV-Beschluss benannten Ersatzerwerber gegen die Vinkulierung verstoßen. In einem solchen Fall dürfte wohl nur an jenen Erwerber verkauft werden, den das Gericht nach §62 Abs3 Satz 1 AktG genehmigt habe, sofern dieser dann überhaupt noch ein Interesse am Erwerb habe. Überdies wäre die Monatsfrist für die HV angesichts der Fristen des §107 Abs1 AktG viel zu kurz bemessen. Einer Zustimmung anderer Organe bedürfe es nicht. Es liege auch keine Geschäftsführungsmaßnahme vor, weshalb auch kein Zustimmungsrecht des Aufsichtsrats nach §95 Abs5 AktG bestehe. Bei der Auswahl des Ersatzerwerbers habe der Vorstand grundsätzlich freies Ermessen, müsse aber dann, wenn der Ersatzerwerber aus dem Kreis der Altaktionäre stamme, das Gleichbehandlungsgebot nach §47a AktG beachten. [42] 4.2.9. Haberer wägt in seiner Anmerkung zu 6 Ob 18/19v (GesRZ2019, 347 [352f]) ab, ob das Nominierungsrecht dem Vorstand oder der HV zusteht, wobei diesfalls für den veräußerungswilligen Aktionär kein Stimmverbot bestehe, und kommt zum Ergebnis, ein Alleinentscheidungsrecht des Vorstands könnte im Ergebnis die vorige Entscheidung der HV über die Verweigerung der Zustimmung unterlaufen; auch wenn die Gesetzeslage diesbezüglich nicht eindeutig sei, tue der Vorstand auch zu seiner eigenen Absicherung gut daran, einen solchen Ersatzerwerb nur dann vorzunehmen, wenn diesem auch das zur Entscheidung über die Vinkulierung zuständige Organ zustimme.

4.2.10. Reich-Rohrwig/Zimmermann (Zur Benennung eines Ersatzerwerbers für vinkulierte Aktien, ecolex 2021, 438) meinen, es wäre offenkundig wertungswidrig, wenn bspw die Gesellschafterversammlung oder die HV die Übertragung des Geschäftsanteils an einen Außenstehenden verhindern wolle, dann vor Gericht damit scheitere und in der Folge Geschäftsführer oder Vorstand im freien Ermessen einen beliebigen Ersatzerwerber – bspw einen Konkurrenten oder eine andere den Gesellschaftern noch weit missliebigere Person –als Erwerber benennen könnte. Auch die Haftung der Geschäftsführer oder des Vorstands für die Nominierung eines schädlichen Ersatzerwerbers erscheine insoweit kein hinreichendes Korrektiv, als ein Schaden bspw durch den Eintritt eines Konkurrenten oder die Störung des vertrauensvollen Gesellschaftsverhältnisses durch Eintritt eines charakterlich oder aufgrund seiner Reputation ungeeigneten Mitgesellschafters kaum bewertbar sei. Übertrüge man allein der Generalversammlung oder HV per Mehrheitsbeschluss das Recht, einen Ersatzerwerber zu benennen, drohe ein ebenso unbil-

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liges Ergebnis. Diesfalls hätte nämlich bspw der Mehrheitsaktionär nicht nur de facto ein alleiniges Vorkaufsrecht – da er jederzeit grundlos die Übertragung verhindern könnte, um dann sich selbst als Ersatzerwerber zu nominieren –, sondern könnte auch beliebige Eigeninteressen durch die Nominierung eines der Gesellschaft und den übrigen Minderheitsaktionären schädlichen Ersatzerwerbers fördern. Das in §62 AktG zum Ausdruck kommende Gesellschaftsinteresse, welches der gerichtlichen Überprüfung unterliege, würde diesfalls überhaupt nicht berücksichtigt werden. Im Ergebnis würde der gerichtlich als für das Gesellschaftsinteresse unschädlich befundene Erwerber durch einen solchen ersetzt werden können, auf den die Schädlichkeit oder Interessenwidrigkeit in hohem Maße zutreffe. Sachgerecht sei daher ein aliquotes Bezugsrecht der bestehenden Aktionäre. Würden nicht alle Aktien aufgegriffen, könne eine Nominierung eines Gesellschaftsfremden durch den Vorstand erwogen werden. Ein Zustimmungsvorbehalt könne durch die Satzung auch (ausdrücklich oder schlüssig etwa durch Wendungen wie „wesentliche Geschäfte“ oder „Geschäfte, die über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehen“) dem Aufsichtsrat eingeräumt werden.

5. Stellungnahme

5.1. Zur Organkompetenz für die Ersatzerwerbernominierung [43] 5.1.1. Wie die Normengeschichte zeigt, kann den Materialien zum GmbHG 1906 nur die Absicht entnommen werden, dass nicht das (die verweigerte Zustimmung der Gesellschaft ersetzende) Gericht, sondern die Gesellschaft das „letzte Wort“ bei der Benennung der Person des Erwerbers von vinkulierten Geschäftsanteilen haben sollte. Absichten des Gesetzgebers dazu, wie diesbezüglich die Willensbildung in der Gesellschaft erfolgen sollte oder – mit anderen Worten – welches Organ in der GmbH für die Entscheidung über die Person des Erwerbers zuständig sein sollte, lassen sich den Materialien nicht entnehmen. Es muss aus diesem Schweigen der Materialien im Zweifel vermutet werden, dass die maßgeblichen Personen im Gesetzwerdungsprozess sich darüber keine Gedanken gemacht haben. §6 ABGB stellt auf die „klare Absicht des Gesetzgebers“ ab. Sind die Absichten des Gesetzgebers aus dem Gesetzeswortlaut oder den Materialien nicht eindeutig, so kann man für deren Erforschung daher auf den Maßstab des §863 ABGB an schlüssige Willenserklärungen („keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln“) sowie den allgemeinen Grundsatz, dass Schweigen grundsätzlich keinen Erklärungswert hat, zurückgreifen. Somit kann in aller Regel aus einem Schweigen des Gesetzgebers bzw der Materialien eben keine bestimmte Absicht des Gesetzgebers abgeleitet werden. Dasselbe gilt angesichts der diesbezüglich nichtssagenden Materialien für den Gesetzgeber des AktG 1965.

5.1.2. Zu §62 Abs3 letzter Satz AktG ist zunächst festzuhalten, dass die Bestimmung nur von der „Gesellschaft“ spricht, ohne das handlungsbefugte bzw handlungspflichtige Organ zu bezeichnen. Dieser Satz normiert bei genauer Betrachtung kein Rechtsgeschäft der Gesellschaft. Es ist nämlich nur von der „Mitteilung“ einer „Gestattung“ an den veräußerungswilligen Aktionär die Rede. Diese Mitteilung ist aber keine Willens-, sondern eine (freilich Rechtsfolgen auslösende) Wissenserklärung, auf die etwa §71 Abs2 AktG, der Willens-

erklärungen behandelt, unmittelbar gar nicht anwendbar ist. §62 Abs3 letzter Satz AktG regelt somit die Ersatzerwerbernominierung durch die Gesellschaft gar nicht, sondern setzt diese voraus. Dabei legt sich die Bestimmung nicht fest, ob diese Nominierung vor oder nach der Mitteilung erfolgen kann, soll oder muss und wie die Willensbildung in der Gesellschaft erfolgt. Die Frage, wem in der Gesellschaft die Willensbildung über die Person des Ersatzerwerbers zukommt, ist somit überhaupt ungeregelt.

[44] 5.1.3. Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass die Mitteilung nach §62 Abs3 letzter Satz AktG durch den Vorstand erfolgt, kommen doch die HV und der Aufsichtsrat als nicht ständig tagende Organe dafür realistischerweise nicht infrage. Damit ist aber über die Willensbildung in der Gesellschaft noch nichts gesagt.

[45] 5.1.4. Weiters ist mit der insoweit einhelligen Literatur (Reich-Rohrwig, ecolex 1994, 757; Weismann, aaO, 120; Grassner, aaO, 231; Rauter, aaO, Rz40; Hochfellner/F.-X. Moser, GesRZ2019, 319) festzuhalten, dass die Mitteilung nach §62 Abs3 letzter Satz AktG die dort normierte Wirkung nur entfalten kann, wenn tatsächlich ein dazu bereiter und fähiger Ersatzerwerber vorhanden ist, die Gesellschaft diesem gegenüber die „Gestattung“ des Aktienerwerbs erklärt und der Ersatzerwerber die gleichen Bedingungen innerhalb angemessener Frist erfüllt. Bei dieser Erklärung der Gesellschaft handelt es sich um eine Willenserklärung, zu deren Abgabe gem §71 AktG der Vorstand zuständig ist.

[46] 5.1.5. Das formale Argument Schoppers (NZ2019, 365), mangels „Öffnungsklausel“ in §62 Abs3 AktG (im Gegensatz zu dessen Abs2) komme die gesellschaftsinterne Willensbildung über den Ersatzerwerber zwingend dem Vorstand zu, überzeugt nicht: Dass §62 Abs2 AktG (anders als §77 GmbHG) ausdrücklich erlaubt, dass für die Zustimmung die Satzung anderes als die Zuständigkeit des Vorstands vorsehen kann, ist aus der wörtlichen Übernahme dieser Bestimmung aus dem deutschen AktG 1937 (vgl Pkt3.) zu erklären.

[47] Im österreichischen GmbHG war seit jeher die Möglichkeit, die Kompetenz zur Zustimmung zur Person des Ersatzerwerbers der Beschlussfassung durch die Gesellschafter einzuräumen, völlig klar: Der Gesellschaftsvertrag kann nämlich – abgesehen von den zwingend erforderlichen Bestimmungen (§4 Abs1 GmbHG) – grundsätzlich alles regeln, was keinen (zwingenden) Normen des GmbHG widerspricht (§4 Abs2 GmbHG). Nach §35 Abs2 Satz 1 GmbHG (Stammfassung) können die Gegenstände, die der Beschlussfassung durch die Gesellschafter unterliegen sollen, im Gesellschaftsvertrag vermehrt oder verringert werden. Dies wird in der Lehre dahin verstanden, dass die Gesellschafter ihren eigenen Entscheidungsbereich durch Einführung eines grundsätzlich umfassenden Zustimmungsvorbehalts ausdehnen können (Koppensteiner/Rüffler, GmbHG3, §20 Rz8 und §35 Rz47; Enzinger in Straube/Ratka/Rauter, GmbHG, §35 Rz112). Somit war in §77 GmbHG bereits in der Stammfassung die Erwähnung der Möglichkeit, dass der Gesellschaftsvertrag sowohl für die Zustimmung zur Übertragung als auch für die Ersatzerwerbernominierung die Beschlussfassung durch die Gesellschafter vorsehen kann, gar nicht nötig.

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Wie dargestellt (Pkt3.), wurde ohne erkennbare Reflexion des Gesetzgebers des AktG 1965 betreffend die (interne) Zuständigkeit über die Ersatzerwerbernominierung fast wortgleich von §77 GmbHG als §62 Abs3 AktG in das AktG 1965 übernommen. Wenn nun die in §77 GmbHG nicht vorhandene (weil nicht notwendige) „Öffnungklausel“ des §62 Abs2 AktG in Abs3 der Bestimmung ebenso nicht vorkommt, so kann daraus entgegen Schopper aus den dargestellten Gründen nicht geschlossen werden, für die Ersatzerwerbernominierung sei zwingend (auch betreffend die gesellschaftsinterne Willensbildung) der Vorstand zuständig.

[48] 5.1.6. Mangels – jedenfalls eindeutiger – gesetzlicher Regelung ist nach dem Sinn und Zweck der Norm zu fragen. Die Möglichkeit, den Gesellschaftern die Kompetenz zur Entscheidung über die Person eines neu hinzutretenden Gesellschafters einzuräumen, hat in beiden Rechtsformen denselben Zweck, nämlich den Gesellschaftern die Entscheidungsgewalt über die Eigentümerstruktur der Gesellschaft zu geben und ihr möglicherweise vorhandenes, gesetzlich als schutzwürdig erachtetes Interesse, „unter sich“ zu bleiben, wahren zu können (vgl 3 Ob 223/11g, Pkt V.1.). Mag auch die Einflussnahme der Aktionäre auf die Geschicke „ihrer“ AG im AktG weniger direkt und gewissermaßen „mediatisierter“ ausgestaltet sein als diejenige der Gesellschafter einer GmbH nach dem GmbHG, so ist doch nicht erkennbar, dass oder warum Aktionäre ein geringeres Interesse an der personellen Zusammensetzung der Eigentümer der Gesellschaft haben sollten. Als Eigentümer „ihrer“ Gesellschaft haben Aktionäre letztlich ebenso das letzte Wort darüber, was mit und in ihrer Gesellschaft zu geschehen hat, wie Gesellschafter einer GmbH. Die unterschiedliche (Organ-)Struktur beider Kapitalgesellschaften rechtfertigt daher keine unterschiedliche Sichtweise betreffend die Frage der Zuständigkeit für die Ersatzerwerbernominierung (so auch Reich-Rohrwig/Zimmermann, ecolex 2021, 441). Zur GmbH vertrat Schopper (vgl Pkt4.1.) aber noch das Gegenteil von dem, was er zuletzt zur AG (NZ2019, 365ff) ausführte. Auch die übrigen Autoren zum GmbHG verneinen praktisch einhellig eine völlige Freiheit des Geschäftsführers bei der Auswahl des Ersatzerwerbers selbst dann, wenn der Gesellschaftsvertrag dazu gar nichts vorsieht (vgl die Darstellung in Pkt4.1. und 4.2.1. bis 4.2.6.).

[49] 5.1.7. Von Schopper (NZ2019, 365ff) wird weiters als systematisches Argument ins Treffen geführt, die Abhaltung einer HV zur Abstimmung über den Ersatzerwerber würde sich wegen der vorgeschriebenen Einberufungsfristen von drei bis vier Wochen (§107 Abs1 AktG) mitsamt der Zeit für die notwendige Suche nach einem Ersatzerwerber und sonstigen Vorbereitungen in der Monatsfrist nach §62 Abs3 letzter Satz AktG zeitlich praktisch gar nicht ausgehen. Daher könne dies vom Gesetzgeber nicht intendiert gewesen sein.

[50] Dem ist zunächst zu entgegnen, dass die Norm – wie ausgeführt – praktisch unbesehen von §77 GmbHG in das AktG 1965 übernommen wurde. Nach §38 Abs1 GmbHG beträgt die Mindestfrist zwischen Ankündigung und Abhaltung der Generalversammlung sieben Tage. Im GmbHG stellen sich daher die Zeitprobleme jedenfalls nicht in der Schärfe wie im AktG. Überdies betrug die Mindesteinberufungsfrist für die HV nach §107 Abs1 AktG 1965 in der Stammfassung

nur 14 Tage. Da sich der Gesetzgeber des AktG 1965 bei der Übernahme der einschlägigen GmbH-Norm keine besonderen Gedanken gemacht haben dürfte, ist das Zeitproblem im AktG kein tragfähiges Argument für eine etwa bestehende Absicht des Gesetzgebers, der HV bei der Nominierung des Ersatzerwerbers jedenfalls keine Kompetenz einräumen zu wollen.

[51] Weiters ist zu bedenken, dass der Vorstand ja nicht gehindert ist, schon vor Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts über die Ersetzung der Zustimmung planend tätig zu werden und unter Umständen auch eine HV darüber abzuhalten (genau dies war hier im Übrigen ja sogar ursprünglich für die HV vom 16.5.2019 vorgesehen). Ein vorausschauender Vorstand wird dies auch tun: Sobald er von einer Antragstellung nach §62 Abs3 Satz 1 AktG erfährt (und zwar schon zu Beginn des Verfahrens durch Zustellung des Antrags an die AG als Antragsgegnerin; vgl überdies §63 Abs3 Satz 2 AktG), weiß er von der „Gefahr“ der Ersetzung der Zustimmung durch das Gericht. Er weiß daher auch, dass bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung bei einem durchlaufenen dreistufigen Instanzenzug bis zu einer Entscheidung des OGH schon allein wegen der einzuhaltenden Verfahrensfristen zumindest mehrere Monate vergehen werden. In dieser Zeit kann er handeln und auch eine HV abhalten. Er weiß schon von Beginn des Gerichtsverfahrens an, dass sich im Falle der späteren rechtskräftigen Ersetzung der Zustimmung durch das Gericht (wie in 6 Ob 18/19v) aufgrund der Abneigung der Gesellschaft bzw der HV gegen den Erwerbswilligen die Notwendigkeit ergeben kann, einen Ersatzerwerber binnen Monatsfrist zu nominieren. Einen solchen kann er schon während des Gerichtsverfahrens suchen und ihn der HV zur Abstimmung für den Fall der gerichtlichen Ersetzung der Zustimmung vorlegen (ähnlich Reich-Rohrwig/Zimmermann, ecolex 2021, 438).

[52] Zusammenfassend kann daher weder nach historischer Auslegung noch vom realistisch zu erwartenden Zeitablauf her gesagt werden, dass die Abhaltung einer HV zur Einholung der Zustimmung für einen Ersatzerwerber vom Gesetzgeber nicht gewollt oder zeitlich nicht möglich wäre. [53] 5.1.8. Weiters wird gegen eine Befassung der HV von Schopper ins Treffen geführt, diese führe zu einer massiven Rechtsunsicherheit, könnte doch ein HV-Beschluss angefochten werden, sodass bis zur Rechtskraft des über eine Anfechtungsklage ergehenden Urteils Unsicherheit über die Person des „richtigen“ Aktionärs bestünde.

[54] Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Anfechtungsgefahr genauso bei der ersten Namhaftmachung einer erwerbswilligen Person durch den verkaufswilligen Aktionär besteht, wenn nach der entsprechenden Satzungsbestimmung ein HV-Beschluss gefasst wird. Ein HV-Beschluss bei der Ersatzerwerbernominierung erhöht daher die Unsicherheit nicht, sondern verlängert sie allenfalls. Dass diese unter Umständen mehrere Jahre dauernde Unsicherheit für die erwerbswilligen Prätendenten lästig ist, mag zwar zutreffen; dieses Risiko war für die Prätendenten jedoch voraussehbar.

[55] Für die Gesellschaft hingegen bringt die Anfechtung eines HV-Beschlusses keine Unsicherheit: Konsequenz eines stattgebenden Anfechtungsurteils betreffend die Zustimmung zum Erwerb vinkulierter Aktien kann zwar sein, dass –

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ex tunc – der andere Prätendent Aktionär war bzw werden kann. Insofern könnten zwischenzeitliche HV-Beschlüsse unter der Teilnahme des – ex post betrachtet – „Scheinaktionärs“ mangelhaft sein. Da kein Nichtigkeitsgrund nach §199 AktG vorliegt, sind davon betroffene HV-Beschlüsse jedenfalls nicht nichtig. Einer Anfechtbarkeit wird jedoch in aller Regel der Ablauf der Monatsfrist nach §197 Abs2 AktG entgegenstehen. Abgesehen von rezenten HV-Beschlüssen, bei denen die Monatsfrist noch offen ist, ist daher für die Gesellschaft selbst keine Unsicherheit durch die Kompetenz der HV zur Zustimmung betreffend den Ersatzerwerber gegeben.

[56] Sich aus einem stattgebenden Anfechtungsurteil ergebende bereicherungsrechtliche Ausgleichsansprüche sind nur zwischen den Prätendenten auszutragen, tangieren die Gesellschaft aber nicht.

[57] 5.1.9. Die von Schopper gegen die Zuständigkeit der HV bei gegebener Satzungsbestimmung auch für die Ersatzerwerbernominierung vorgetragenen Argumente erweisen sich daher nach Ansicht des Senats bei näherer Betrachtung als nicht gewichtig genug, um für die Ersatzerwerbernominierung zwingend und ausschließlich den Vorstand als zuständig anzusehen. Nochmals ist auf den schon erörterten Sinn und Zweck der Bestimmung zurückzukommen: Wenn der Gesetzgeber es in die Ingerenz der Eigentümer stellt, auch die HV als zustimmungsberechtigtes Organ und somit die Eigentümer selbst als mitwirkungsberechtigt bei der Frage des Erwerbers der Aktien zu konstituieren, ist mangels tragfähiger Argumente dagegen nicht ersichtlich, dass dies bei der Ersatzerwerbernominierung nicht gelten soll.

[58] 5.1.10. Als Ergebnis ist somit festzuhalten: Ist für die Zustimmung zur Veräußerung von vinkulierten Aktien nach der Satzung die HV zuständig, so bedarf es auch für die Nominierung eines Ersatzerwerbers gem §62 Abs3 letzter Satz AktG der entsprechenden Zustimmung der HV.

5.2. Rechtsfolgen

[59] Ist die Abtretung von Geschäftsanteilen im Gesellschaftsvertrag gem §76 Abs2 GmbHG an weitere Voraussetzungen gebunden, so führt deren Fehlen, solange sie noch erfüllt werden können, zur schwebenden Unwirksamkeit und, wenn ihr Nichteintreten feststeht, zur endgültigen Unwirksamkeit einer dennoch vorgenommenen Abtretung (8 Ob 547/92; RIS-Justiz RS0039034 [T1]).

[60] Nichts anderes kann bei vergleichbarer Rechtslage im Aktienrecht gelten. Da für den Erwerb der Aktien durch die Nebenintervenientin die erforderliche Zustimmung durch die HV nicht vorliegt, hat sie die Aktien nicht erworben. Dieser HV-Beschluss kann auch nicht nachgeholt werden, weil die einmonatige Frist des §62 Abs3 letzter Satz AktG schon abgelaufen ist. Somit steht das Nichteintreten der Voraussetzungen für den Erwerb durch die Nebenintervenientin endgültig fest.

6. Ergebnis zu Klagebegehren 1. und 2. [61] Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Ersatzerwerbernominierung der Nebenintervenientin unwirksam war. Daraus folgt, dass die Klägerin kraft der gesetzten Übertragungsakte und der vom Gericht ersetzten Zustimmung zum Erwerb der Aktien (6 Ob 18/19v) Aktionärin der Beklagten ist. Daher ist dem entsprechenden Feststellungs-

begehren stattzugeben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin als Aktionärin in das Aktienbuch einzutragen.

7. Wirkung für die Nebenintervenientin [62] Die Rechtswirkung dieses Urteils (Feststellung der Aktionärseigenschaft und Verpflichtung zur Eintragung in das Aktienbuch) wirkt auch für die Nebenintervenientin (RISJustiz RS0018558; 1 Ob 218/97h; 1 Ob 292/00y; 6 Ob 140/12z; 5 Ob 68/11b).

8. Zum Klagebegehren 3. (Feststellung der Haftung der Beklagten) [63] 8.1. Aufgrund der Berechtigung des Begehrens auf Feststellung der Aktionärseigenschaft sowie auf Eintragung in das Aktienbuch ist das die Schadenersatzverpflichtung der Beklagten betreffende Feststellungsbegehren zu prüfen.

[64] 8.2. Die Beklagte muss sich für ihre allfällige Schadenersatzpflicht das Verschulden ihres Vorstands zurechnen lassen (RIS-Justiz RS0009113 [T16 und T33]; 6 Ob 12/05g).

[65] 8.3. Die Klägerin hat ihren Anspruch ua darauf gestützt, der Vorstand habe gegen – näher bezeichnete – Vorschriften der Satzung sowie der Geschäftsordnungen für den Aufsichtsrat und den Vorstand verstoßen. Insb hat sie auf Pkt18.2. litj der Satzung hingewiesen.

[66] Gegen diese Bestimmung hat der Vorstand verstoßen, weil die Vereinbarung zwischen Beklagter und Nebenintervenientin vom 28.8.2019 unter diese Bestimmung subsumierbar ist: Es liegt ein Vertrag zwischen der Beklagten und einer Gesellschaft vor, in der Aktionäre einen beherrschenden Einfluss auf die Geschäftsführung ausüben. Dieser beherrschende Einfluss ist dadurch gegeben, dass Dipl.-Ing. C. H. (Aktionär und Aufsichtsratsmitglied) alleiniger, selbständig vertretungsbefugter Geschäftsführer der Nebenintervenientin ist, kraft der 50%-Beteiligung gegen den Willen der Aktionäre nicht abberufen werden kann und diese mit ihrer Kopfmehrheit nach §10 lite des Gesellschaftsvertrages auch jederzeit die Person des Geschäftsführers bestimmen können.

[67] Daraus folgt, dass der Vorstand diese Vereinbarung dem Aufsichtsrat der Beklagten zur Entscheidung vorlegen hätte müssen.

[68] 8.4. Eine Haftung der Beklagten wegen Verletzung der von der Klägerin ins Treffen geführten Normen scheitert aber aus nachstehenden Erwägungen am fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhang.

[69] 8.4.1. Nach stRspr sind die Satzungen von AGs nach §§6 und 7 ABGB auszulegen (1 Ob 586/94; 6 Ob 169/16w). Ähnliche, ja sogar im Wesentlichen gleichlautende (§95 Abs5 Z12 AktG bspw entspricht Pkt18.2. litd der Satzung) Bestimmungen wie in der vorliegenden Satzung der Beklagten über die Entscheidungsbefugnis kennt das AktG im Katalog der zustimmungspflichtigen Geschäfte nach §95 Abs5 AktG. Es kann daher auf den Schutzzweck der Zustimmungspflichten nach §95 Abs5 AktG zurückgegriffen werden.

[70] 8.4.2. In der oberstgerichtlichen Rspr wurde bisher ausgeführt, §30i Abs3 GmbHG (entspricht §94 Abs3 AktG: Verpflichtung des Aufsichtsrats zur Abhaltung von mindestens drei bzw vier Sitzungen jährlich) lasse sich die Wahrung der Interessen der Gesellschaft angelegen sein, weshalb die Vorschrift als Schutzgesetz zu werten sei (1 Ob 144/01k).

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[71] In der E 6 Ob 58/20b (Pkt1.3.) wurde klargestellt, dass bei den zustimmungspflichtigen Geschäften des §95 AktG der Aufsichtsrat insb die Auswirkungen auf die künftige Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft und die Veränderung der Risikoposition durch das Geschäft als Kriterien heranzuziehen hat. Der Aufsichtsrat habe zu prüfen, ob die geplante Maßnahme dem Wohl des Unternehmens entspreche. Sei der Aufsichtsrat nicht der Auffassung, dass die Maßnahme dem Wohl des Unternehmens entspreche, dürfe er der Maßnahme nicht zustimmen.

[72] 8.4.3. Nach Kalss (in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG3, §95 Rz24) ist die oberste Richtschnur pflichtgemäßen Verhaltens auch für die Überwachungstätigkeit das Wohl des Unternehmens. Alle anderen Interessen seien daher untergeordnet. In Anlehnung an §70 AktG seien dabei nicht nur die Gesellschaftsinteressen, sondern auch die Interessen der Öffentlichkeit, der Arbeitnehmer und der Gläubiger in die Entscheidung bei der Beurteilung des Unternehmenswohls miteinzubeziehen (ähnlich zum deutschen Recht Hopt/Roth in Großkomm AktG5, §93 Rz28 bis 30 und §111 Rz78).

[73] 8.4.4. §84 AktG normiert Schadenersatzansprüche der Gesellschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern. Aus Abs5 leg cit ist ersichtlich, dass die Verhaltensvorschriften für die Vorstandsmitglieder auch den Schutz der Gesellschaftsgläubiger bezwecken.

[74] 8.4.5. Zusammengefasst bezwecken daher die hier von der Klägerin ins Treffen geführten Bestimmungen über Zustimmungsrechte des Aufsichtsrats (die Geschäftsordnungen für den Vorstand und den Aufsichtsrat normieren insoweit nichts anderes als die Satzung) primär den Schutz der Gesellschaft, sekundär auch den Schutz der Öffentlichkeit, der Arbeitnehmer und der Gläubiger; die Klägerin als Aktionärsanwärterin gehört hingegen nicht zum genannten Kreis der Geschützten.

[75] 8.5. Weiters erweist sich im Lichte der hier vorgenommenen rechtlichen Beurteilung der Umstand, dass der Vorstand für die Nominierung der Nebenintervenientin als Ersatzerwerberin nicht die HV konsultiert hat, zwar als rechtswidrig. Die Erwägungen zum Schutzzweck der Normen, die die Befassung des Aufsichtsrats vorschreiben, treffen jedoch auch hier zu: Die Verpflichtung zur Befassung der HV bei der Ersatzerwerbernominierung bei entsprechender Satzungsbestimmung bezweckt (primär) den Schutz der Gesellschaft und der (Alt-)Aktionäre, nicht aber denjenigen einer Aktionärsanwärterin. Somit kann offenbleiben, ob den Vorstand angesichts der bis zu dieser Entscheidung nicht klaren Rechtslage diesbezüglich überhaupt ein Verschulden trifft (vgl RIS-Justiz RS0089613).

[76] 8.6. Damit bestehen die von der Klägerin angedachten Schadenersatzansprüche schon dem Grunde nach nicht, weshalb das diesbezügliche Feststellungsbegehren abzuweisen ist.

9.

Anmerkung:

1.

Ausgangslage

In der vorliegenden Entscheidung beschäftigt sich der OGH ausführlich mit der Frage, ob die Ersatzerwerbernominierung (§62

Abs3 letzter Satz AktG) eines Beschlusses der HV bedarf, wenn die Satzung die vorangegangene Entscheidung hinsichtlich der Übertragung der Aktien der Zustimmung der HV unterwirft.

Folgender Sachverhalt liegt der Entscheidung im Wesentlichen zugrunde: Die B. AG betreibt ein Skigebiet. Ihre Aktionärinnen H. GmbH (Tochter einer Abbaueinheit nach dem GSA) und G. AG wollten ihre Aktien (gemeinsam rund 33%) an die S. GmbH veräußern. Die Übertragung der Namensaktien war in der Satzung an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden (Vinkulierung). Die Satzung der B. AG sah vor, dass die HV der Übertragung mit einer Dreiviertelmehrheit des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals zustimmen muss. Diese qualifizierte Mehrheit wurde in der HV nicht erreicht, weshalb die veräußerungswilligen Aktionärinnen die gerichtliche Ersetzung der Zustimmung anstrebten und schließlich auch erwirkten (siehe dazu OGH 27.6.2019, 6 Ob 18/19v, GesRZ2019, 347 [Haberer]; Hochfellner/F.-X. Moser, Gerichtliche Gestattung der Übertragung von vinkulierten Aktien und Ausübung des Nominierungsrechts, GesRZ2019, 316).

Es sollte ein Ersatzerwerber nominiert werden, um doch noch zu verhindern, dass die S. GmbH die Aktien erwirbt. In der (außerordentlichen) HV ließ der Aufsichtsratsvorsitzende in seiner Funktion als Versammlungsleiter eine Abstimmung über die Ersatzerwerbernominierung nicht zu. Vielmehr übermittelte der Vorstand der B. AG den veräußerungswilligen Aktionärinnen ein Schreiben, wonach der L. GmbH der Erwerb der Aktien gem §62 Abs3 letzter Satz AktG gestattet werde. Die L. GmbH stand im Einflussbereich eines an der B. AG beteiligten Aktionärs, der zudem im Aufsichtsrat vertreten war. Jedoch verlangte die S. GmbH die Übertragung der Aktien und klagte die Übertragung – erfolglos – vor dem LG Klagenfurt ein. Das OLG Graz bestätigte die abweisende Entscheidung und ließ die ordentliche Revision mangels höchstgerichtlicher Rspr zur Frage der innergesellschaftlichen Zuständigkeit zur Ersatzerwerbernominierung gem §62 Abs3 AktG zu.

2. Mitspracherecht der Aktionäre?

Der OGH stellt eingangs fest, dass die Kompetenz für die gesellschaftsinterne Willensbildung zur Ersatzerwerbernominierung nicht geregelt sei. Vielmehr setze der Gesetzeswortlaut diese voraus, wenn §62 Abs3 AktG der Gesellschaft aufträgt, innerhalb eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung dem veräußerungswilligen Aktionär mitzuteilen, dass sie die Übertragung der Aktien zu den gleichen Bedingungen an einen anderen von ihr bezeichneten Erwerber gestatte. Dem OGH ist zuzustimmen, dass es sich bei dieser Mitteilung um eine vom Vorstand zu überbringende Wissenserklärung handelt, die vernünftigerweise weder von der Aktionärsversammlung noch vom Kollegialorgan Aufsichtsrat vorzunehmen ist. Von dieser Kompetenz zur Willensübermittlung ist jedoch die vorangehende gesellschaftsinterne Willensbildung zu trennen.

Hinsichtlich der Zuständigkeit zur Willensbildung erteilt der OGH dem formalen Argument, wonach mangels einer §62 Abs2 AktG vergleichbaren Öffnungsklausel („wenn die Satzung nichts anderes bestimmt“) nur der Vorstand gemeint sein könne, eine Absage (siehe dazu Schopper, Gerichtliche Gestattung der Übertragung von vinkulierten Aktien und Benennung eines Ersatzerwerbers durch die AG, NZ2019, 365 [370ff]).

Vielmehr orientiert sich der OGH bei der Beantwortung der Frage der Zuständigkeit für die gesellschaftsinterne Willensbildung für die Ersatzerwerbernominierung am „Sinn und Zweck“ der Norm. Dieser ziele darauf ab, den Aktionären die Möglichkeit zu geben, sich die Kompetenz einzuräumen, in letzter Instanz darüber zu entscheiden, was mit ihrer Gesellschaft geschieht und wer ihre Mitaktionäre sind.

Davon ausgehend kommt der OGH letztlich zum Ergebnis, dass für die Willensbildung hinsichtlich der Ersatzerwerbernominierung dieselben Anforderungen gelten, die für die vorangegangene (verweigerte) Zustimmung zur Übertragung maßgeblich sind. Dh für den gegenständlichen Fall: Da die Vinkulierungsklausel in der Satzung die HV als zustimmungsberechtigtes Organ vorsah, hätte auch die Nominierung der L. GmbH als Ersatzerwerberin von der Aktionärsversammlung abgesegnet werden müssen. Für diese Willensbildung hätten dieselben Mehrheitserfordernisse zu gelten wie für die

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vorangehende Beschlussfassung über die Aktienübertragung. Somit hätte der Beschluss eine Zustimmung von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals der B. AG benötigt.

Es würde einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn in einem ersten Schritt die Aktionäre die Übertragung an eine bestimmte Gesellschaft ablehnen, das Gericht darauffolgend keinen wichtigen Grund für die Verweigerung der Übertragung erkennt und im Anschluss dem Vorstand völlige Freiheit bei der Entscheidung über die Übertragung der Aktien zukommen würde (Reich-Rohrwig/ Zimmermann, Zur Benennung eines Ersatzerwerbers für vinkulierte Aktien, ecolex 2021, 438 [439]; OGH 27.6.2019, 6 Ob 18/19v; Haberer, GesRZ 2019, 353).

ME zu Recht sieht der OGH auch in der (relativ langen) Einberufungsfrist für eine HV kein tragfähiges Argument gegen die Zuständigkeit dieses Organs. Vom Vorstand darf die rechtzeitige Einberufung einer HV erwartet werden. Schließlich muss er spätestens ab Einbringung eines Antrags gem §62 Abs3 Satz 1 AktG damit rechnen, dass die Zustimmung gerichtlich ersetzt werden könnte und die Gesellschaft einen Ersatzerwerber namhaft zu machen hat, um eine Übertragung an den unerwünschten Käufer doch noch zu verhindern (Hochfellner/F.-X. Moser, GesRZ2019, 320).

Im konkreten Fall scheiterte es aber ohnehin nicht an der Einberufungsfrist. Vielmehr wurde der entsprechende Antrag in der HV schlichtweg nicht zur Abstimmung gebracht. Bemerkenswert ist, dass der Aufsichtsratsvorsitzende als Leiter der HV die Abstimmung über die Ersatzerwerbernominierung nicht zugelassen hat. Nach Diskussionen über einen allfälligen Stimmrechtsausschluss der veräußerungswilligen Aktionäre stellte der Versammlungsleiter während der außerordentlichen HV fest, dass diese nicht befugt sei, über die Ersatzerwerbernominierung Beschluss zu fassen.

Tatsächlich wären die veräußerungswilligen Aktionäre stimmberechtigt gewesen. §125 AktG war nicht einschlägig und das AktG sieht kein grundsätzliches Stimmverbot aufgrund von Interessenkollisionen vor (Haberer/Zehetner in Artmann/Karollus, AktG6 [2018] §62 Rz46; Hochfellner/F.-X. Moser, GesRZ2019, 320; OGH 27.6.2019, 6 Ob 18/19v; Haberer, GesRZ 2019, 353) Eine nach der Satzung erforderliche Dreiviertelmehrheit wäre aller Voraussicht nach bei Zulassung der Abstimmung nicht zustande gekommen und der Ersatzerwerbernominierung daher auch bei rechtskonformem Vorgehen der Erfolg versagt geblieben.

3. Ausblick

Ist in der Satzung ein Zustimmungsrecht der HV bei Aktienübertragungen vorgesehen, gilt dieses Mitspracherecht der Aktionäre im Zweifel auch für eine nachfolgende Ersatzerwerbernominierung. In der Praxis empfiehlt es sich, für den Fall der gerichtlichen Ersetzung der Zustimmung in der Satzung Vorsorge zu treffen. Neben klaren Zuständigkeiten sollte auch festgelegt werden, ob den verbleibenden Aktionären die Aktien anzubieten sind (vgl dazu Zimmermann, ecolex 2022, 723).

Dr. Alexander Leonhartsberger ist Notariatskandidat bei Dr. Christoph Mondel, MBL in Klosterneuburg und Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien. *

3. Auch bei einer Beteiligung von Obsorgeberechtigtem und Kind an einer Gesellschaft ist grundsätzlich ein Interesseneinklang zu erwarten, ist doch das Wohlergehen der Gesellschaft im Interesse beider.

OGH 23.2.2022, 3 Ob 204/21b (LG Wels 21 R 176/21p; BG Grieskirchen 1 Pg 179/17g)

[1] Die beiden Minderjährigen sind nach dem Ableben ihres Vaters sehr vermögend. Sie sind jeweils – wie auch ihre Mutter und zwei bereits erwachsene Halbbrüder – zu 20% Gesellschafter einer GmbH; ihr Geschäftsanteil hat jeweils einen Wert von vielen Millionen Euro. Die Obsorge kommt ihrer Mutter zu. Für die Verwaltung und Veranlagung bestimmter Vermögensteile – darunter die Geschäftsanteile an der GmbH – wurde mit Beschluss des Erstgerichts vom 7.5.2019 rechtskräftig für jeden der beiden Minderjährigen bis zu seiner Volljährigkeit ein Rechtsanwalt zum Kollisionskurator bestellt. Die Interessenkollision zwischen der Mutter und den Minderjährigen wurde damit begründet, dass auch sie Gesellschafterin der GmbH ist. Mit ebenso unangefochten gebliebenem Beschluss vom 5.6.2019 wurde der Beschluss vom 7.5.2019 dahin gehend konkretisiert, dass die Kuratoren auch zur Verwaltung und Veranlagung der auf die Minderjährigen entfallenden ausgeschütteten Gewinne der GmbH bestellt werden. Mit gleichfalls in Rechtskraft erwachsenem Beschluss vom 6.2.2020 wurde der Wirkungskreis der Kuratoren dahin gehend erweitert, dass diese auch für die Verwaltung und Veranlagung des jeweiligen Pflichtteils der Minderjährigen, den diese nach der väterlichen Großmutter erhalten haben, bestellt werden.

[2] Mit Schriftsatz vom 23.4.2021 stellte die Mutter „im eigenen Namen sowie als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder“ einen ua auf gänzliche Beendigung beider Kuratelen abzielenden Antrag. Zwischen ihr und den Minderjährigen bestehe keine materielle Interessenkollision, eine Gefährdung der Interessen der Minderjährigen sei nicht zu besorgen. Deren Interessen könnten vom Gericht ausreichend wahrgenommen werden; all dies stehe den Kollisionskuratelen entgegen. Auch aufgrund des konfliktfreien Verlaufs seit der im Mai 2019 erfolgten Kuratorbestellung habe eine Beendigung der Kuratelen nach §284 ABGB zu erfolgen.

[3]  [4] Das Erstgericht gab dem Antrag so weit statt, als er „die Enthebung ... [der Kuratoren] vom Wirkungskreis der Verwaltung und Veranlagung des jeweiligen Pflichtteils der beiden Minderjährigen, den diese nach ihrer Großmutter erhalten haben, betrifft“; im Übrigen wurde der Antrag abgewiesen.  [5] Das Rekursgericht gab dem auf gänzliche Beendigung der beiden Kuratoren abzielenden, von der Mutter wiederum „im eigenen Namen sowie als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder“ erhobenen Rekurs dahin Folge, dass es die beiden Kuratoren „mit Ausnahme des Wirkungskreises ‚Verwaltung der Geschäftsanteile der Pflegebefohlenen an der ... GmbH sowie Ausübung des Stimmrechts‘“ ihres Amtes enthob.

[8] In dem von der Mutter im eigenen Namen und im Namen der beiden Minderjährigen aus dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs wird ein auf gänzliche Beendigung der beiden Kuratelen gerichteter Abänderungsantrag, hilfsweise ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. ...

§277 Abs2 und §284 Abs2 ABGB

1. Eine denkbare, aber noch in keiner Weise konkret indizierte Möglichkeit, dass es später zu einem Interessenkonflikt kommen könnte, reicht nicht hin, um allein aufgrund der gemeinsamen Gesellschafterstellung von Obsorgeberechtigtem und Kind die Bestellung eines Kurators rechtfertigen zu können.

2. Es muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Obsorge entsprechend den Interessen des Kindes ausgeübt wird.

Der OGH gab dem Revisionsrekurs Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahin ab, dass die beiden Kuratelen zur Gänze beendet und die Kuratoren ihres Amtes enthoben werden.

Aus der Begründung des OGH:

I. bis II.2.

II.3.

[22] Voraussetzung für diese Kuratorbestellung ist nach allgemeiner Ansicht eine Kollision im formellen und im ma-

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Zum Erfordernis eines Kollisionskurators bei gemeinsamer Gesellschafterstellung von Obsorgeberechtigtem und Schutzbedürftigem

Judikatur

teriellen Sinn. Kollision im formellen Sinn liegt vor, wenn ein zufolge Gesetz oder behördlicher Verfügung Vertretungsbefugter in bestimmten Angelegenheiten nicht nur zu vertreten, sondern auch im eigenen oder im Namen Dritter zu handeln hätte. Kollision im materiellen Sinn liegt vor, wenn bei Kollision im formellen Sinn zusätzlich noch ein Interessenwiderspruch besteht. Dieser kann sich auch aus den Interessen anderer Personen als des Vertretungsbefugten ergeben, wenn Letzter geneigt sein könnte, diese Interessen denen des von ihm Vertretenen vorzuziehen (RIS-Justiz RS0058177).

[23] Üblicherweise wird formuliert, der Kollisionskurator sei schon dann zu bestellen, wenn aufgrund eines objektiv gegebenen Interessenwiderspruchs eine Gefährdung der Interessen des Pflegebefohlenen möglich ist (RIS-Justiz RS0107600 [T1]). Es wird auf eine mögliche Interessenkollision abgestellt oder – mit anderen Worten – die Gefahr einer Interessenkollision als ausreichend betrachtet (zB 4 Ob 72/18v, Pkt2.; 7 Ob 42/20g, Pkt2. und 3.). Zum Teil wird sogar gesagt, es sei ex ante zu beurteilen, ob Interessenwidersprüche denkbar sind (so 4 Ob 72/18v, Pkt9.).

[24] Häufig wird auch dahin argumentiert, es sei zu beurteilen, ob genügend Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Kollisionskurators vorliegen (RIS-Justiz RS0127193; zB 4 Ob 72/18v, Pkt7.), und es wird die materielle Interessenkollision als konkrete Gefährdung der Interessen des Pflegebefohlenen definiert (zB 10 Ob 23/08t, Pkt4.2.). Es wird auch ausgesprochen, es sei kein Kollisionskurator zu bestellen, wenn kein Interessengegensatz zu befürchten ist (RIS-Justiz RS0049033) oder wenn die Interessen des Vertretenen ausreichend vom Gericht wahrgenommen werden können (zB 6 Ob 14/21h, Rn 20).

II.4. ...

[44] II.5.1. Der gesellschaftsrechtliche Meinungsstand zur Vertretung Minderjähriger, deren Obsorgeberechtigter so wie sie selbst einer Gesellschaft angehört, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Überwiegend wird es nur für besondere Situationen – so für den Abschluss des Gesellschaftsvertrages mit dem Kind, für eine Satzungsänderung und für den Abschluss einer Auseinandersetzungsvereinbarung – als unabdingbar angesehen, für das Kind einen Kollisionskurator zu bestellen. Dies impliziert, dass grundsätzlich für den laufenden Geschäftsbetrieb einer Gesellschaft ein Kollisionskurator nicht als erforderlich betrachtet wird. In Deutschland wird ebensolches explizit ausgesprochen.

II.5.2. ...

[46] II.5.3. Nach Ansicht des Senats reicht eine denkbare, aber noch in keiner Weise konkret indizierte Möglichkeit, dass es später zu einem Interessenkonflikt kommen könnte, nicht hin, um allein aufgrund der gemeinsamen Gesellschafterstellung von Obsorgeberechtigtem und Kind und damit gleichsam prophylaktisch die Bestellung eines Kurators rechtfertigen zu können.

[47] Die gegenteilige Auffassung stünde zum einen in Konflikt mit der herrschenden gesellschaftsrechtlichen Auffassung, die etwa erst bei einer anstehenden Satzungsänderung oder Auflösungsvereinbarung die Bestellung eines Kollisionskurators für nötig hält.

[48] Zum anderen muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Obsorge entsprechend den Interessen des Kindes ausgeübt wird. Auch bei einer Beteiligung von Obsorgeberechtigtem und Kind an einer Gesellschaft ist grundsätzlich ein Interesseneinklang zu erwarten, ist doch das Wohlergehen der Gesellschaft im Interesse beider. Dass etwa hinsichtlich Gewinnausschüttung unterschiedliche Interessen von Obsorgeberechtigtem und Kind denkbar sind –etwa wenn nur Ersterer einen gewissen Geldbedarf hat –, rechtfertigt noch nicht die Kollisionskuratel, wird doch in solchen Fällen mit dem Instrumentarium der §181 Abs1 ABGB und §133 Abs2 und 4 AußStrG, insb mit Auftragserteilungen, und erforderlichenfalls mit einer Kuratorbestellung ad hoc in aller Regel das Auslangen gefunden werden können. Es gilt dabei der Grundsatz der Anwendung des gelindesten zur Erreichung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks geeigneten Mittels auf dem Bereich der Vermögensverwaltung (6Ob 12/04i; Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 [2019] §133 Rz43; Täubel-Weinreich in Schneider/Verweijen, AußStrG [2019] §133 Rz12f).

[49] II.5.4. Dass ein Obsorgeberechtigter ein großes Kindesvermögen verwaltet, ist auch durchaus vom Gesetz gedeckt, schränkt dieses doch die Vermögensverwaltung der Eltern dem Wert nach in keiner Weise ein (vgl §§158, 164 und 165 ABGB), sondern knüpft an das Vorliegen eines „nennenswerten Vermögens“ nur eine besondere pflegschaftsgerichtliche Überwachung (§133 AußStrG; vgl Hopf/Höllwerth in Koziol/ Bydlinksi/Bollenberger, ABGB6 [2020] §§164 – 165 Rz3).

[50] II.5.5. Sollten einem Obsorgeberechtigten die Fähigkeiten fehlen, das große Vermögen seines Kindes zu verwalten, und sollte daraus eine Gefährdung von dessen materiellem Wohl resultieren, und kann das Manko nicht durch besondere pflegschaftsgerichtliche Maßnahmen (vgl §181 ABGB; §133 AußStrG) ausgeglichen werden, so wäre nicht mit Bestellung eines Kollisionskurators, sondern – als ultima ratio – mit teilweiser Entziehung der Obsorge vorzugehen (vgl Hopf/ Höllwerth in Koziol/Bydlinksi/Bollenberger, ABGB6, §§181 –182 Rz4).

[51] II.5.6. Dass im vorliegenden Fall die Mutter grundsätzlich nicht in der Lage wäre, im Interesse ihrer minderjährigen Kinder deren Geschäftsanteile zu verwalten, ist nicht ersichtlich. Ebenso liegt nach der zwischenzeitlichen Entwicklung kein Hinweis vor, dass sie in Hinsicht auf Gewinnausschüttung oder Geschäftspolitik derzeit Interessen hat, die jenen der Minderjährigen zuwiderlaufen. Das Vorliegen einer konkreten, nicht bloß abstrakt denkbaren Interessenkollision in der Vergangenheit oder in der absehbaren Zukunft zwischen der Mutter und den beiden Kindern wurde von den Kollisionskuratoren auch weder in ihren Äußerungen zum Enthebungsantrag noch im Revisionsrekursverfahren behauptet. Ebenso ist – jedenfalls derzeit – nicht ersichtlich, dass die Interessen der beiden minderjährigen Kinder untereinander iSd §277 Abs2 ABGB konfligierten oder in absehbarer Zeit konfligieren werden. Es ist aber vor allem auch nicht ersichtlich, warum nicht mit Maßnahmen wie etwa einer der Mutter vom Erstgericht erteilten Berichtspflicht vor Beschlussfassungen der Gesellschafter und erforderlichenfalls einer Kuratorbestellung ad hoc das Auslangen gefunden werden kann.

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[52] In einem Fall wie dem vorliegenden ist daher nach Beurteilung des Senats die Beendigung der Kollisionskuratel sachgerecht. Es war aus diesem Grunde dem Revisionsrekurs Folge zu geben und in Beendigung der Kuratelen die Enthebung der Kuratoren zu beschließen.

Anmerkung:

Zentrale Frage der gegenständlichen Entscheidung war, ob sich alleine aus dem Umstand, dass sowohl das Kind als auch der obsorgeberechtigte Elternteil Gesellschafter einer GmbH sind, bereits eine Interessenkollision ergibt, die eine Bestellung eines Kollisionskurators iSd §277 Abs2 ABGB erforderlich macht.

Der OGH fasst zunächst zusammen, dass es für die Bestellung eines Kollisionskurators stets einer Kollision im formellen und materiellen Sinn bedarf. Eine formelle Kollision liegt vor, wenn „ein ... Vertretungsbefugter in bestimmten Angelegenheiten nicht nur zu vertreten, sondern auch im eigenen oder im Namen Dritter zu handeln hätte.“ Die Kollision im materiellen Sinn stellt auf eine mögliche Interessenkollision ab. Ausreichend ist daher grundsätzlich die Gefahr einer Interessenkollision. Bislang war sogar bloß ex ante zu beurteilen, ob Interessenwidersprüche denkbar sind. Sprich: Das Gericht durfte nicht abwarten, bis eine konkrete materielle Interessenkollision auftritt, sondern es reichte eine abstrakte Gefährdung der Interessen des Schutzberechtigten aus (vgl etwa OGH 23.10.2018, 4 Ob 72/18v). In der gegenständlichen Entscheidung geht der OGH aber einen anderen Weg: Eine denkbare, aber noch in keiner Weise konkret indizierte Möglichkeit, dass es später zu einem Interessenkonflikt kommen könnte, lässt er nicht als Rechtfertigung für die Bestellung eines Kollisionskurators gelten. Eine solche konkrete Gefährdung ergebe sich alleine aus der parallelen Gesellschafterstellung des Obsorgeberechtigten (Vater oder Mutter) und des Schutzberechtigten (minderjähriges Kind) an derselben Gesellschaft aber gerade nicht.

Grundsätzlich sind an die Gesellschafterstellung Rechte und Pflichten geknüpft, die über die bloße Gewinnverwaltung hinausgehen. Mit der Ausübung des Stimmrechts sind wichtige Entscheidungen verbunden, weshalb sich die Mitgliedschaft an einer Gesellschaft grundlegend von anderen Rechtspositionen (etwa jener der Miterben) unterscheidet. Wie der OGH richtigerweise betont, ist zunächst davon auszugehen, dass alle Gesellschafter im Interesse der Gesellschaft handeln. Dem Obsorgeberechtigen ist daher zuzumuten, dass er im Interesse der Gesellschaft und somit mittelbar im Interesse des Kindes handelt. Es kommt ihm daher ein Vertrauensvorschuss zu, der sich zum einen aus seinen gesellschaftsrechtlichen (Treue-)Pflichten und zum anderen aus seiner Stellung als gesetzlicher Vertreter ableiten lässt. Insofern ist dem OGH darin zuzustimmen, dass sich aus der gemeinsamen Gesellschafterstellung alleine noch keine konkrete Gefährdungslage ableiten lässt.

Offen bleibt, wann eine konkrete Interessenkollision gegeben ist. Vergleichbare Sachverhaltskonstellationen finden sich in erbrechtlichen Verfahren, aus deren rechtlichen Beurteilung aber nichts gewonnen werden kann. So bejaht der OGH aufgrund der notwendigen Erbteilung im Falle von Miterben zwar eine Interessenkollision (RIS-Justiz RS0099395). Gleichzeitig begründet die Tatsache, dass sowohl Eltern als auch Kinder als mögliche Erben in Betracht kommen, aber bloß eine formelle Kollision, die noch keinen Vertretungsbedarf auslöst. Erst wenn tatsächlich widerstreitende Erbantrittserklärungen abgegeben werden, liegt eine Kollision im materiellen Sinn vor und eine Kollisionskuratel wird erforderlich (RIS-Justiz RS0127587).

Hinsichtlich gesellschaftsrechtlicher Maßnahmen differenziert der OGH: Es sei stets darauf abzustellen, ob durch das konkrete Rechtsgeschäft eine materielle Kollision zwischen dem Obsorgeberechtigten und der schutzberechtigten Person geschaffen wird. Eine solche könne etwa vorliegen, wenn der Obsorgeberechtigte an einer Gewinnausschüttung interessiert ist, der Schutzberechtigte aber nicht. Anders als die Literatur, die für „besondere Situationen“ (etwa den Abschluss des Gesellschaftsvertrages, Satzungsänderungen oder den Abschluss einer Auseinandersetzungsvereinbarung) das Erfordernis eines Kollisionskurators bejaht (vgl die in Rn 30 bis

43 der vorliegenden Entscheidung [oben aus Platzgründen nicht abgedruckt] genannten Literaturstellen), stellt der OGH nicht auf bestimmte gesellschaftsrechtliche Maßnahmen, sondern auf den konkreten Einzelfall ab. Es kann daher auch nicht pauschal beantwortet werden, wann eine konkrete Interessenkollision gegeben ist und ein Kollisionskurator bestellt werden muss.

Dieses Ergebnis mag große Rechtsunsicherheit nach sich ziehen, ist aber aufgrund der vielfältigen Konstellationen, die sich aus einem Gesellschaftsverhältnis ergeben, notwendig. Ein Herunterbrechen auf bestimmte gesellschaftsrechtliche Maßnahmen (wie etwa alle Satzungsänderungen) ist schlichtweg nicht möglich (anders bei Vorliegen einer Erbengemeinschaft; vgl etwa Mondel, Das Recht der Kuratoren3 [2021] Rz10.1455ff). So ist eine Kollision im materiellen Sinn aufgrund der naturgemäß gegensätzlichen Interessen des ausscheidenden und verbleibenden Gesellschafters im Falle einer Auseinandersetzungsvereinbarung sicherlich evident. Gleiches gilt auch bei der Kapitalerhöhung ohne Bezugsrecht des minderjährigen Gesellschafters. Eine Firmenänderung oder Firmensitzänderung birgt aber wenig bis gar kein Konfliktpotenzial in sich, weshalb hier eine Kollisionskuratel mE nicht zwingend erforderlich ist.

Der Wechsel von einer prophylaktischen zur bloßen Ad-hocBestellung eines Kollisionskurators wirft in der Praxis aber zwei gewichtige Probleme auf: Zunächst fehlt es an Rechtssicherheit, dass eine Maßnahme ohne Beiziehung eines Kollisionskurators auch tatsächlich zulässig ist. Gerade im Falle der Stimmrechtsausübung stellt sich vor jeder Abstimmung die Frage, ob nun ein Kollisionskurator für den jeweiligen Beschlussgegenstand bestellt werden muss oder nicht. Der gefasste Beschluss ist ohne die erforderliche Mitwirkung eines Kollisionskurators ungültig, und zwar trotz Erteilung der notwendigen pflegschaftsbehördlichen Genehmigung (RIS-Justiz RS0049030; OGH 4.4.1991, 7 Ob 1533/91; Mondel, Kuratoren3, Rz3.121). Eine nachfolgende Eintragung in das Firmenbuch führt auch nicht zur Heilung (OGH 12.8.2004, 1 Ob 166/04z, GES2004, 475 [N. Arnold]). Das Risiko eines unwirksamen Gesellschafterbeschlusses kann daher nur mit entsprechendem Antrag auf Bestellung eines Kollisionskurators beim Pflegschaftsgericht bereits vor der Generalversammlung vollständig eliminiert werden. Es ist somit sinnvoll, vor jeder gesellschaftsrechtlichen Maßnahme, die das Interesse des minderjährigen Gesellschafters berührt (berühren kann), mittels Antrags die Entscheidung an das Pflegschaftsgericht zu übertragen. Dafür muss die in Aussicht genommene Rechtshandlung bereits ausreichend präzisiert sein (Mondel, Kuratoren3, Rz3.18), etwa der Beschlussgegenstand feststehen. Es kann zwar grundsätzlich auch nachträglich ein Kollisionskurator beigezogen werden, im Falle von Gesellschaftsbeschlüssen ist aber schon die Teilnahme an der Generalversammlung durch den Kollisionskurator zweckmäßig.

Schließlich stellt sich auch die Frage, wie aus Sicht des Schutzberechtigten sichergestellt werden kann, dass Maßnahmen nicht ohne erforderlichen Kollisionskurator gesetzt werden. Im vorliegenden Fall unterliegt die Mutter vor jeder Beschlussfassung einer vom Erstgericht auferlegten Berichtspflicht, was dazu führt, dass das Pflegschaftsgericht schon im Vorfeld kontrollierend eingreifen kann (Stabentheiner in Rummel/Lukas, ABGB4, §§271, 272 Rz8; OGH 27.7.1967, 7 Ob 116/67, JBl 1969, 93; 14.11.1984, 3 Ob 588/84; 24.7.2012, 10 Ob 26/12i). Ansonsten ist jede im Bestellungsverfahren parteifähige Person antragsberechtigt, somit der Schutzberechtigte (OGH 18.1.1967, 6 Ob 390/66), der Obsorgeberechtigte (OGH 18.1.1967, 6 Ob 390/66; Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB5, §277 Rz24), nicht aber Dritte (OGH 8.10.1991, 5 Ob 541/91). Allenfalls kann aus dem Rekursrecht naher Angehöriger für Fälle, in denen die Interessen des Schutzberechtigten nicht anders gewahrt werden können (OGH 8.10.1991, 5 Ob 541/91), eine entsprechende Antragslegitimierung abgeleitet werden. Mitgesellschaftern kommt aber kein solches Antragsrecht zu. Das alleinige Antragsrecht des Obsorgeberechtigten und Schutzberechtigten stellt jedenfalls keinen ausreichenden Schutz zur Vermeidung von Kollisionsfällen dar. Gerade wenn der Obsorgeberechtigte seine eigenen Interessen vor Augen hat und der minderjährige Gesellschafter noch sehr jung ist und nicht erfassen kann, ob und wie seine Interessen

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beeinträchtigt werden können, entsteht eine Rechtsschutzlücke. Allenfalls kann man sich dadurch behelfen, dass bei Antrag eines nicht berechtigten Mitgesellschafters das Gericht Kenntnis vom Kollisionsfall erhält und in der Folge von Amts wegen tätig werden muss (Mondel, Kuratoren3, Rz3.14). Dies setzt selbstverständlich voraus, dass es neben dem Obsorgeberechtigten und Schutzbedürftigen noch weitere Gesellschafter gibt.

Im Ergebnis mag die Entscheidung vor allem für Familienunternehmen begrüßenswert erscheinen, da sie die Verwaltung von Gesellschaftsanteilen durch den Obsorgeberechtigten zur Regel und die Bestellung eines Kollisionskurators nur in besonderen (Gefahren-)Situationen erforderlich macht. In der Praxis ist aber eine rechtssichere Beantwortung der Frage, ob für die konkrete gesell-

schaftsrechtliche Maßnahme nun ein Kollisionskurator zu bestellen ist, aufgrund der fehlenden Konkretisierung des OGH nicht möglich. Im Zweifel sollte die Entscheidung daher immer dem Pflegschaftsgericht auferlegt und ein Antrag auf Bestellung eines Kollisionskurators gestellt werden. Gleichzeitig kann die vorliegende Entscheidung aber im Einzelfall dazu führen, dass trotz Vorliegens einer Kollision im materiellen Sinn kein Kollisionskurator bestellt wird, da es schlichtweg niemanden gibt, der einen entsprechenden Antrag stellt.

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