philou. #2 Thinking the Future

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AUSGABE 2

THEMA: THINKING THE FUTURE?

ZWISCHEN NACHHALTIGKEIT UND WACHSTUM

Unabhängiges Studierendenmagazin an der RWTH Aachen University


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Editorial

Thinking the Future?

Zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum „Man kann ein Problem nicht mit der gleichen Denkweise lösen, mit der es erschaffen wurde.“

– Albert Einstein

Liebe Leser_innen, Wachstum und Nachhaltigkeit. Oftmals rein ökonomisch interpretiert, sind beide Begrifflichkeiten nicht nur Teil einer empirisch argumentierten Debatte – sie sind ein scheinbar ideologischer Widerspruch.

sondere an Schulen und Hochschulen sollte die Weiterentwicklung ökonomischer Theorien zunehmend mit den ökologischen Grenzen des Wachstums und deren Signifikanz für weitere Ziele und Strukturen des Wirtschaftens diskutiert werden.

Seitdem der Begriff der Nachhaltigkeit ein fester Bestand des öffentlichen Dialogs ist, muss er sich gegen ein vermeintliches Dogma des Wachstums, der Steigerung, der Mehrung durchsetzen. Wir leben jedoch im Zeitalter des Anthropozäns: Der Mensch definiert auf seine progressive Art die Welt. Sind die beiden augenscheinlich gegensätzlichen Begriffe also in der Praxis vereinbar? Können Ökonomie und Ökologie zusammengeführt werden? Wie lässt sich ein neu strukturierter Wandel mit allen gesellschaftlichen Akteuren in Richtung nachhaltigen Wirtschaftens umsetzen? Kann Wirtschaft hinsichtlich des globalen Wandels im Rahmen von z.B. Klimawandel, Ressourcenknappheit oder Verteilungsproblemen nachhaltig wachsen und stabilisiert werden? Im Hinblick auf viele zukünftige Entwicklungen sind elaborierte Lösungskonzepte dringender denn je, um ein nachhaltiges Leben innerhalb der Reproduktionskapazität der Erde zu ermöglichen.

Die Interdisziplinarität ist für das Elementarste an unserer Arbeit. Die Angehörigkeit zu der forschungsstarken und international renommierten RWTH Aachen University bestärkt uns in der Sichtweise, dass das interuniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten genießen muss. Um als Studierende der Verantwortung gerecht zu werden – die Zukunft zu gestalten und globale Herausforderungen zu meistern –, reicht die derzeit vorherrschende Fokussierung auf technische Entwicklungen und deren Realisierbarkeit nicht aus. Es handelt sich um ein multidimensionales Problem. Deshalb müssen wir zusammen denken, hinterfragen, wissenschaftlich diskutieren und versuchen, differenzierte Ansätze, Systemzusammenhänge und Argumente zu erarbeiten und zu erkennen. Umso mehr freuen wir uns, dass ihr nun eben diesen Versuch vor euch liegen habt. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass die zweite Ausgabe euch genauso gefällt wie uns!

Nach dem einschlägigen Erfolg der Erstausgabe zu dem Leitthema Bildung präsentieren wir euch nun mit Stolz ! Thinking the und Freude die zweite Ausgabe von Future? Zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum greift das Motto der RWTH Aachen University auf und versucht, euch die thematische Diskrepanz zwischen den beiden abstrakten Begrifflichkeiten und ihren Dimensionen näher zu bringen.

Eure

Ein breites Spektrum von ökonomischen, ökologischen, technischen, politischen und letztlich auch sozialen und philosophischen Positionen, muss die nötige Grundlage der Diskurse bilden, um dem Gehalt des universalen Charakters dieser Thematik gerecht zu werden. Insbe3

Redaktion


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INHALT Wissenschaft

Feuilleton

Wie weiter?

8

Zukunft vorausdenken

Moral in der Klimadebatte

32

Interview mit Prof. Dr. rer. pol. Harald Dyckhoff

Erde an Steak

10

Ausbeutung durch Ideenschutz

13

Kurzsichtige Photovoltaik

17

Morgen schon besser als heute

20

Zu viel Nachhaltigkeit?

35

Interview mit Dr. Raphaela Kell

Das Projekt Leonardo

38

Zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum

Zwischen Kunst und Klimaschutz

40

Zwischen Selbstentwurf und Optimierungsdrang

Moderne Stadtentwicklung im globalen Zeitalter

Tomaten über den Wolken

Urban Gardening

22

Vertical farming

42

Im HirschGrün und Vielfeld

Nachhaltigskeitspolitisierung

24

Das Prinzip Verantwortungslosigkeit 27

Perspektivwechsel in der Energiepolitik

45

Unser Januskopf

48

Zum Thema Nachhaltigkeit und Wachstum

Thinking the Future?

50

Wir fragen, Prof. Dr.-Ing. Schmachtenberg antwortet

Neue Köpfe dahinter

3

2 Sarah gibt Artikeln ein schönes Zuhause

1 1 Thomas liebt Menschen, hasst die Menschheit

3

Nils will seinem Weltschmerz Ausdruck verleihen

/philoufs7

2

5


Nachhaltigkeit

Status Quo

Nachhaltig ist eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ (Brundtland Bericht 1987)

Derzeit leben 7,3 Milliarden Menschen auf der Welt; die UN prognostiziert einen weiteren Anstieg bis zu 9,7 Milliarden Menschen im Jahre 2050.

Wachstum ungleich Fortschritt

Ungefähr ein Drittel (1,3 Milliarden Tonnen) der weltweit produzierten Lebensmittel werden jedes Jahr weggeworfen oder verschwendet. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt fast die Hälfte der Vermögen.

Die Gesellschaft ist gekennzeichnet von einer Wachstumsideologie, die auf einer rein kapitalistischen Denkweise basiert. Allerdings kann die derzeitige Wachstumsorientierung so nicht beibehalten werden, sie widerspricht dem Begriff des Fortschritts – vielmehr erfährt sie einen Rückschritt. Fortschrittlich hingegen wäre eine Entwicklung in Richtung einer wechselseitigen Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, in der Gewinne bereits umweltfreundlich und sozialverträglich statt konventionell erwirtschaftet werden.

Der „Earth Overshoot Day“ war im letzten Jahr bereits am 19. August. An diesem Tag im Jahr haben die Menschen bereits so viele Ressourcen verbraucht, wie die Erde in einem Jahr produzieren kann. 20% der Weltbevölkerung verbrauchen 80% der Ressourcen.

Persönliches Glück

Bereits Ende 1980 wurde die Tragfähigkeit der Erde überschritten. Heute übersteigt der ökologische Fußabdruck die Biokapazität der Erde um fünfzig Prozent. Anders formuliert: Es werden 1,5 Erden benötigt, um den derzeitigen Konsumbedarf gewährleisten zu können.

Steigende Wachstumsraten gehen nicht länger zwingend mit einer Verbesserung der Lebensqualität einher, da das BIP, als grundlegende Maßeinheit der Wirtschaftsleistung einer Nation, viele Faktoren außer Acht lässt und ausschließlich die finanzielle Wirtschaftsleistung beschreibt. Acht von zehn Bürgern wünschen sich laut einer Umfrage der Bertelsmanns Stiftung eine neue Wirtschaftsordnung: „Sie soll vor allem den Umweltschutz stärken, den sorgsamen Umgang mit Ressourcen sicherstellen und den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft stärker berücksichtigen.“

Die 500 größten Unternehmen kontrollieren heute etwa die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. 1,2 Milliarden Menschen leben in extremer Armut (< 1,25 Dollar pro Tag). Der Wasserverbrauch je Einwohner und Tag liegt in Deutschland bei 121 Liter.

Ökologischer Fußabdruck

Der ökologische Fußabdruck misst die biologisch produktive Land- und Wasserfläche, die notwendig ist, um die vom Menschen genutzten erneuerbaren Ressourcen bereitzustellen und um durch menschliche Aktivitäten verursachtes Kohlendioxid (CO2) zu absorbieren. Damit fungiert der ökologische Fußabdruck als ein Indikator der Nachhaltigkeit, bzw. zeigt er gleichzeitig ökologische Defizite auf.

Sustainable Development Goals (SDG)

S N

E S IS

T F A

H C

17 Ziele nachhaltiger Entwicklung der UN: https://sustainabledevelopment.un.org/sdgs

W

6


Erneuerbare Energien Photovoltaik Treibhausgasemissionen

Ernährungskonzepte Fleischkonsum

Klimawandel Flächenverbrauch Biokapazität

Vertical Farming

Entsorgung

Ökologie

Kapitalismuskritik

Generationenkonflikt

Alternativwährungen

Politik Patente

Nachhaltigkeit

Gesundheit

Soziales

Ökonomie

Verantwortung Moral

Entwicklungshilfe

Homo Oeconomicus Leistungsgesellschaft

7

Wirtschaftswachstum Konsum Wettbewerb


Artikel

WIE WEITER? Moral in der Klimadebatte...

von Katrin Klubert Trotz oder wegen des technischen Fortschritts ist der Klimawandel eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Zugleich ist er hochkomplex. Der Mensch sieht sich mit einem Phänomen konfrontiert, das der Philosoph Günther Anders als „prometheische[s] Gefälle“ (Anders 1961: 16) bezeichnete: Die Kluft zwischen dem, was der Mensch herstellen und tun kann, und zwischen dem, was er sich vorstellen und verantworten kann. Wir sind heute mit einer überbordenden Kontingenz der Welt konfrontiert und können zeitgleich auf Hochtechnologie zurückgreifen, über deren Folgen wir uns nur teilweise bewusst sind. Dazu ist der Klimawandel ein globales Problem: Wie kann man weltweiten Konsens zu Entscheidungen finden, welche die Auswirkungen der Erderwärmung vorbeugen sollen? Angesichts dieser Ungewissheit und des zeitgleich dringenden Entscheidungsbedarfs wird 8

nicht selten moralisch argumentiert. Laut sind die Forderungen nach einer neuen Umweltethik. Kann die Moral also richtungsweisender Impulsgeber für die politische, persönliche u.a. Entscheidungsfindung sein? Oftmals dient der moralische Maßstab als Gegenentwurf zum ökonomischen Primat. Zu prüfen ist, ob er auf der Suche nach einer Richtung des Fortschrittsbegriffs – zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum gerade im Klimawandel – zielführend ist. Bei Moral handelt es sich um einen sehr ambivalenten Wirkmechanismus. Darauf wies bereits Niklas Luhmann hin (vgl. Luhmann 2008: 102). Kommuniziert man moralisch, werden Streit und Kampf wahrscheinlicher. Denn: Moral ist mit Achtungszuweisung und -entzug gekoppelt. Sie betrifft außerdem die ganze Person („Können wir diese Person noch zum Essen einladen?“).


Moralische Kommunikation funktioniert mit den Kategorien gut und böse; sie integriert die Guten, zu denen sich der Sprecher meist selbst zählt, und pathologisiert nahezu das andersartige Böse. Dabei ist die Kategorienbildung höchst subjektiv, denn es gibt keine letzte, höchste Instanz, die über alle richtet und ein globales Moralverständnis inklusive näherer Handlungsanweisungen geben kann. Was für den einen gut ist, ist für den anderen böse. Besteht jedoch moral common sense, erbringt Moral eine beachtliche Integrationsleistung und gewährleistet Stabilität. Sie kann außerdem Motor für Reformprozesse sein, wenn der Veränderungswille hinreichend groß ist und gesellschaftliche Lernerfahrungen dauerhaft sichern (vgl. Schrape nach Gouldner 1960: 176). Dabei hat die Moral eine außerordentliche Reichweite in die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme hinein, kann aber selbst keine Lösung produzieren, sondern ist auf die Programme unserer ausdifferenzierten Gesellschaft angewiesen – beispielsweise auf die Wissenschaft oder auf die Wirtschaft (Zivilklausel oder Sozialhilfe). Sie integriert und exkludiert, sie stabilisiert und verändert, sie generalisiert und individualisiert (vgl. Luhmann 2008, Schrape 1988). Dieses dem Umfang des Artikels geschuldeten lückenhaftes Mosaik der Argumentationen für und wider Moral offenbart zumindest, dass ebenjene nicht eindimensional als angemessenes Mittel zur Debattenführung zu bewerten ist. Schon an der RWTH Aachen University herrscht großes Potenzial zur Diskussion über die Schwerpunkte, die wir zum Maß-

stab des Fortschrittes nehmen sollen: Ökologische Nachhaltigkeit und/ oder ökonomisches Wachstum? Wir bewegen uns hier, was den moralischen Konsens angeht, auf unbekanntem Terrain. Global ist es diesbezüglich noch unsicherer. Warten wir darauf, dass sich ein Wandel der (globalen) Moralvorstellungen hin zur Einmütigkeit einstellt? Angesichts der Dringlichkeit und des Handlungsbedarfs bezüglich des Klimawandels droht Zeitknappheit. Anstatt durch moralische In- und Exklusion in Debatten, die letztendlich zum unproduktiven Streit führen, wäre es womöglich an der Zeit über Alternativen nachzudenken: Welche Lernprozesse könnten Moral reformerisch verändern? Welche Formate für moralische Diskurse wären sinnvoll, um Kommunikation über moralische Vorstellungen ohne Achtungszuweisung und Achtungsentzug möglich zu machen? Und in Anbetracht des Klimawandels: Welcher Handlungsantrieb böte, ließe man moralische Argumentationen aufgrund der zu großen Divergenzen außen vor, eine ähnlich einigende und starke Motivationsleistung und wären im gleichen Maße anschlussfähig? Davon zu unterscheiden ist freilich das Nachdenken über Moral unter Berücksichtigung der Begrenztheit der eigenen Perspektive und ebenso der lebensweltliche moralische Konsens, der stabilisiert und ordnet. Um jedoch eine Lösung oder einen Ansatz für Veränderung zu finden, bedarf es mehr als die „Ökoromantikerin“ oder den „Finanzhai“. Es braucht eine differenzierte und respektvolle Auseinandersetzung. 9

Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: C. H. Beck. Gouldner, Alvin W. (1960): The Norm of Reciprocity: A Preleminary Statement. In: American Sociological Review, 25. Jhg., Nr.2, S.161-178. Luhmann, Niklas (2008): Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schrape, Klaus (1978): Theorien normativer Strukturen und ihres Wandels, Teil II: Zur Rekonstruktion und Kritik der Theorie von Talcott Parson, Ralf Dahrendorf und Niklas Luhmann. In: Paul Trappe (Hg.), Social Strategies. Monographien zur Soziologie und Gesellschaftspolitik, Bd. 9. Basel: Peter Lang.


Artikel

ERDE AN STEAK von Ann-Kristin Winkens Vielen Menschen ist mittlerweile bewusst, dass beispielsweise Autos, Kraftwerke oder eine falsche bzw. keine Mülltrennung nicht besonders gut für die Umwelt sind. Dass insbesondere der Fleischkonsum die Umwelt im erheblichen Maße beeinträchtigt, ist vielen Menschen allerdings nicht klar. Hiermit sind ökologische Auswirkungen, wie zum Beispiel Flächenverbrauch, Treibhausgasemissionen oder Biodiversitätsverluste verbunden, die durch eine Reduzierung des Pro-Kopf-Verbrauches eingeschränkt werden könnten. Weltweit beträgt der durchschnittliche Fleischkonsum pro Person 115 g pro Tag (42 kg pro Jahr). Dieser beansprucht knapp 4 Mrd. Hektar (ha) Fläche. Der Verbrauch von Fleischerzeugnissen in Deutschland liegt bei ca. 241 g pro Tag und Person; dies entspricht 88 kg pro Jahr und Kopf. In Deutschland kommen jährlich 8,42 Mio. ha auf den Teller; etwa die Größe Tschechiens. Von dieser Flächenbeanspruchung entfallen 6,8 Mio. ha auf die Flächennutzung im Ausland, weitestgehend in Südamerika. Würde in Deutschland lediglich einmal wöchentlich auf Fleisch verzichtet werden, könnte eine Fläche von 595.000 ha – dies entspricht etwa der Größe Madrids – für andere Nutzungen frei werden. (vgl. UNEP 2012)

Darüber hinaus ist die Viehwirtschaft mit 18% der weltweiten Treibhausgasemissionen eine der größten Emittenten und hat daher einen erheblichen Einfluss auf den globalen Klimawandel (FAO 2013). Allerdings trägt die Viehwirtschaft weniger als 1,5 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung bei. Hinsichtlich der Treibhausgasemissionen kann der Verzehr von einem Kilogramm Rindfleisch mit einer Autofahrt von 160 Kilometern gleichgesetzt werden (UNEP 2012). Außerdem benötigt die Erzeugung desselben 16.000 Liter Wasser; dies entspricht etwa dem Fassungsvermögen eines Gartenteichs (vgl. Mekonnen und Hoekstra 2010). Anders formuliert: Jeder Deutsche müsste im Durchschnitt jährlich 88 Gartenteiche leer trinken, um seinem Konsummuster gerecht zu werden. Hinsichtlich der wachsenden Weltbevölkerung und des kontinuierlich zunehmenden Fleischkonsums werden weitere Ressourcen benötigt, um den globalen Bedarf decken zu können. Daher bedarf es Maßnahmen, die einen nachhaltigen Fleischkonsum begünstigen oder gewährleisten können. Der Fleischkonsum und die daraus resultierenden Umweltauswirkungen werden weitestgehend durch die Ausprägung der Verbraucherprä10

ferenzen sowie die zur deren Realisierung bestimmenden Angebotsund Preisrelationen determiniert. Eine mögliche Maßnahme, um den Fleischkonsum zu reduzieren, ist daher die Erhöhung der Preise tierischer Produkte, beispielsweise durch staatliche Abgaben. Des Weiteren wären Preise, die die mit der Herstellung verbundenen Umweltauswirkungen reflektieren, wünschenswert. Durch solch eine Internalisierung externer Kosten können negative Effekte, die aus der Fleischproduktion resultieren, korrigiert werden. Anhand von Lenkungsabgaben, sogenannten Pigou-Steuern, werden zusätzliche Preise festgesetzt, die bei einer Verursachung eines negativen Effektes, wie beispielsweise Treibhausgasemissionen, zu zahlen sind. (vgl. Feess, Seeliger 2013) Dabei tragen Produzenten und Konsumenten die zusätzlichen Kosten zu gleichen Teilen. Bei einer korrekten Berechnung der Steuern kann das Ausmaß der aus der Fleischproduktion resultierenden Umweltauswirkungen relativiert werden. Problematisch dabei ist jedoch, dass sich die Relation der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Ländern verändern könnte. In Südamerika wird eine solche Internalisierung nicht angewandt. Bei einem unveränderten Fleischkonsum könnten dadurch ökologische Probleme ins Ausland verschoben werden, indem beispiels-


weise in Südamerika die Produktion zunimmt, was wiederum mit einem zunehmenden Flächenverbrauch und den daraus resultierenden Umweltauswirkungen verbunden ist. Auf diese Weise hätte eine Veränderung der Preise in Deutschland deutliche negative Auswirkungen auf die Umwelt im Ausland; ein sogenannter Rebound-Effekt. Ökonomische Instrumente bieten grundsätzlich die Möglichkeit, über preisliche Anreize ein umweltfreundlicheres Verhalten zu generieren. Dies setzt allerdings voraus, dass sich ökonomische Systeme innerhalb ökologischer Grenzen bewegen. Die grundlegende Maßeinheit der Wirtschaftsleistung einer Nation ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Bei der Berechnung des BIPs wird allerdings nicht der ökologische Verlust einer Nation mit einberechnet, sondern lediglich die finanzielle Wirtschaftsleistung. Als Beispiel kann die Waldrodung in Südamerika dienen. Jene Hektar, die in einem Jahr gerodet werden, gehen als Einnahmen aus dem Verkauf des Holzes als Gewinn in die Jahresbilanz des Landes ein. Dies bedeutet, dass ein Flächenverbrauch von Milliarden Hektar Regenwald, der für die Fleischpro-

„Der für die Fleischproduktion benötigte Flächen­ verbrauch von Milliarden Hektar Regenwald stellt ökonomisch betrachtet einen Gewinn dar.“ duktion benötigt wird, ökonomisch betrachtet einen Gewinn darstellt. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass es für die Wirtschaft zwar effektiv, aber nicht nachhaltig ist, wenn ausschließlich die ökonomische und damit finanzielle Seite betrachtet wird. Es bedarf daher einer grundsätzlichen Änderung der Perspektive, seitens der Verbraucher, der Politik sowie der Ökonomie. Die Erwirtschaftung von Gewinnen auf Kosten der Umwelt, um diese gegebenenfalls in Umweltprojekte zu investieren, ist nicht zielführend. Gewinne sollten bereits umweltfreundlich erwirtschaftet werden. Hinsichtlich der oben beschriebenen ökologischen Beeinträchtigungen empfiehlt sich grundsätzlich eine veränderte Ernährungsweise, die mit einer Reduzierung des Fleischkonsums einhergeht. Es bedarf weiterhin einer kritischen Auseinandersetzung mit der Art und Qualität des Fleisches, dem Herkunftsland und der damit verbundenen Produktionskette. Insbesondere eine Reduzierung von Rindfleisch wäre

11

empfehlenswert, da die Herstellung dieses Fleisches einerseits aufgrund des erheblichen Methanausstoßes der Tiere maßgeblich für die sektoralen Treibhausgasemissionen ist und andererseits bedeutende Mengen Wasser benötigt. Außerdem ist der Flächenverbrauch bei der Herstellung von Rindfleisch vergleichsweise hoch (vgl. Abbildung), was vor allem auf die zusätzliche Sojaproduktion in Südamerika zurückzuführen ist. An dieser Stelle sollte jedoch betont werden, dass die Sojaproduktion zwar ebenfalls einen bedeutenden Flächenverbrauch aufweist, dieser aber in keiner Relation zu dem von Fleisch steht. Die hohe Flächenbeanspruchung tierischer Produkte resultiert aus dem erheblichen Energie- und Proteinverlust bei der Fütterung mit ca. 90%. Daher erfordert die Herstellung von Fleisch und Milch eine wesentlich größere Fläche pro Kalorie als zum Beispiel Getreide. Nach einer Berechnung des UN-Umweltprogramms könnten aus dem Verlust der Kalorien, der bei der Umwandlung von pflanzlichen


Getreide

0,12

Geflügelfleisch

0,54

Abbildung Flächenbedarf von ausgewählten Lebensmitteln (verändert nach SRU

0,72

Kuhmilch

2012: 106).

0,79

Schweinefleisch

2,09

Rindfleisch 0,0

0,5

in tierische Produkte entsteht, theoretisch 3,5 Milliarden Menschen ernährt werden (vgl. UNEP 2009). Darüber hinaus ist es aber auch eine zentrale Aufgabe der Politik, diese Thematik öffentlich zu fokussieren, um den Einzelnen verstärkt darauf hinzuweisen, zu motivieren und aufzuklären. Die kurzfristigen individuellen Interessen stehen grundsätzlich den langfristigen globalen oder kollektiven Interessen gegenüber. Daher sollte der Verbraucher durch Transparenz, Aufklärung, Kommunikation sowie direkter Einflussnahme der Politik in eine nachhaltige Richtung gelenkt werden. Veränderungen der Preisrelationen sind insofern positiv zu bewerten, als dass Fleischprodukte verteuert werden und ökologische und umweltfreundliche Produkte dadurch einen größeren Anreiz zum Kauf darstellen, ohne die Probleme ins Ausland zu verlagern. Es bedarf zwangloser Maßnahmen, ohne dass der Verbraucher sichtlich in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird. Es ist weder nachhaltig noch zielführend, wenn ausschließlich der unmittelbare Nutzen analysiert wird, ohne die langfristigen Folgen zu berücksichtigen.

1,0

1,5

2,0

m 2 /Megajoule

2,5

Erst wenn der Mensch sich selbst und andere aufklärt, die eigene Beanspruchung der Ressourcen reduziert und somit Verantwortung übernimmt, ist es möglich, von einem nachhaltigen Wachstum innerhalb ökologischer Grenzen zu sprechen. Letztlich liegt es an uns selbst, unser Verhältnis zur Umwelt verantwortlich einzuleiten und zu manifestieren. Denn „die Vorstellung von der Einmaligkeit der menschlichen Person ist nur eine pathetische Absurdität“ (Houellebecq 2004: 173).

FAO, Steinfeld, H. et al. (2013): Greenhouse gas emissions from ruminant supply chains – A global life cycle assessment. Rom: Food and Agriculture Organization of the United Nations. Feess, E., Seeliger, A. (2013): Umweltökonomie und Umweltpolitik. München: Vahlen, 4. Aufl. Houellebecq, M. (2004): Plattform. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Sonderausgabe Mekonnen, M.M. und Hoekstra, A.Y. (2010): The green, blue and grey water foot-print of farm animals and animal products. In: Value of Water Research Report Series No. 48. Delft: UNESCO-IHE.

12

SRU (Hg.) (2012): Umweltgutachten 2012 – Verantwortung in einer begrenzten Welt. Berlin: Sachverständigenrat für Umweltfragen. UNEP, Nellemann, C. et al. (2009): The environmental food crisis – The environment’s role in averting future food crises. A UNEP rapid response assessment. Arendal: United Nations Environment Programme. UNEP, Schwarzer, S. (2012): Growing greenhouse gas emissions due to meat production. In: UNEP Global Environmental Alert Service


Artikel

AUSBEUTUNG DURCH IDEENSCHUTZ von Thomas Ruddigkeit

Welches Wachstum begünstigen Patente?

Im Rahmen der ökologischen Krise unserer Zeit werden zahlreiche Stimmen lauter, die zugunsten eines ökologisch nachhaltigen Wirtschaftens eine Abkehr vom ökonomischen Wachstumsimperativ fordern. Doch trotz zumeist westlicher Forderungen nach global nachhaltigen Entwicklungen, bleibt materielles Wachstum gerade für Entwicklungsländer weiterhin entscheidend. Denn nach wie vor fehlen einem Großteil der Menschen in Entwicklungsländern wesentliche existentielle Lebensgrundlagen: sauberes Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, ausreichend Nahrung, medizinische Grundversorgung (vgl. Club of Rome 2012: 6). Entwicklungsländern aufgrund globaler Nachhaltigkeitsbemühungen ein solches Wachstum zu verwehren, würde zum einen bezüglich der dortigen Armutsbekämpfung ein gravierendes Problem darstellen und wäre zum anderen, gemessen am westlichen Wohlstand und Anteil am globalen Emissionsausstoß, an Scheinheiligkeit kaum zu übertreffen. Materielle Wachstumsbemühungen in Entwicklungsländern aus ökologischen Gründen zu beschneiden, stellt sich also als moralisch zwiespältig heraus und kommt somit nicht in Frage. Doch wie steht es um die reellen Chancen dortigen Wachstums und steigenden Wohlstands? Diesbezüglich haben Entwicklungsländer auf globaler Ebene 13

nach wie vor das Nachsehen. Neben geografisch-klimatisch bedingten Widrigkeiten (z.B. tropische Krankheiten, Dürren oder Überschwemmungen) und politischen Problemen (z.B. Kriege und Korruption), sind international gestaltete rechtliche Rahmenbedingungen ein entscheidender Faktor für die stark eingeschränkten Möglichkeiten von Entwicklungsländern, ihren Wohlstand tatsächlich zu steigern. Diesbezüglich spielen vor allem geistige Eigentumsrechte eine entscheidende Rolle, insbesondere in Form des Patentrechts. Im Gegenzug zur Offenlegung der technischen Details erhalten die Entwickler_innen eines technischen Fortschritts ein zeitlich befristetes, exklusives Vermarktungsrecht. Egal, wie man es nun rhetorisch drehen und wenden mag: Das Patent war und ist somit in vielerlei Hinsicht ein Monopol bzw. eine wirtschaftlichen Monopolen den Weg bereitende Rechtsinstitution (vgl. Mersch 2013: 35). Als wirtschaftliches Monopol wird es vor allem von großen multinationalen Unternehmen (nord-)westlicher Herkunft missbraucht – zum Leidwesen von Entwicklungsländern und deren Bevölkerung. Die Übernahme westlich geprägter Patent- und Urheberrechte, im Rahmen der Globalisierung geistiger Eigentumsrechte, hatte für Entwicklungsländer schwerwiegende Folgen hinsichtlich der Grundversorgung


mit Nahrung und der Zugänglichkeit von lebensrettenden Medikamenten. Um vollständig nachvollziehen zu können, wie gravierend die Auswirkungen des Patentrechts auf die Versorgung in Entwicklungsländern sind, muss beachtet werden, wie die dortige Wissensorganisation vor der Einführung der heutigen patentrechtlichen Rahmenbedingungen aussah. Die Sicherung der medizinischen und ernährungstechnischen Grundbedürfnisse von Entwicklungsländern im Süden war vor allem deshalb möglich, weil Wissen geteilt und kollektiv weiterentwickelt wurde: Saatgut wurde frei getauscht und immer wieder an die lokalen klimatischen und ökologischen Bedingungen angepasst, während eine auf Mischanbau basierte Landwirtschaft, die durch den Nachbau aus der eigenen Ernte keine Kosten für Saatgut generierte, das Risiko von Schädlingsbefall und Ernteausfall auf natürliche Art senken konnte. Darüber hinaus nutzten ca. 80 Prozent der ländlichen Bevölkerung der Dritten Welt traditionelle Heilmittel. (vgl. Heineke 2006: 143) Dessen waren sich die jeweiligen Regierungen bewusst, weshalb bis zur Übernahme der westlich geprägten Patentrechte im Rahmen des internationalen TRIPS-Abkommens biologisches

Material (z.B. Saatgut) und Medikamente von der Patentierbarkeit ausgenommen waren, um die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Ein gutes Beispiel für diese Politik war Indien, das in seinem erst 23 Jahre nach der Unabhängigkeit 1970 verabschiedeten Patentgesetz Ausnahmen bei der Patentierung von Medikamenten festlegte, was der indischen Pharmaindustrie ermöglichte, lebenswichtige Nachahmermedikamente (Generika) herzustellen, die im Vergleich zu den westlichen Originalpräparaten zu einem drastisch reduzierten Preis verkauft werden konnten (vgl. ebd.: 149). Auch in vielen OECD-Ländern werden pharmazeutische und chemische Substanzen erst seit den sechziger und siebziger Jahren patentiert, entsprechend der steigenden Zahlungskraft der Konsument_innen (vgl. ebd.: 143). Doch solche Ausnahmeregelungen sind leider nicht der Normalfall, was dazu führt, dass die Möglichkeiten, preisgünstige Generika herzustellen, bis zum Auslaufen eines Patents durch strenge Auflagen extrem begrenzt sind und die Kosten für dringend benötigte Medikamente aufgrund von Lizenzzahlungen in die Höhe getrieben werden. Neben die14

ser erheblichen Einschränkung der medizinischen Versorgung sorgt die stetige Patentierung einheimischer Nutzpflanzen („Biopiraterie“) durch transnationale Unternehmen dafür, dass es lokalen Gemeinschaften in vielen Fällen verboten ist, ihre Ernte oder Heilpflanzen selbst zu verkaufen oder zu exportieren, weil das exklusive Vermarktungsrecht bei einem Unternehmen oder Forschungsinstitut im Norden liegt. Dieser Vorgang gleicht einer Privatisierung von über Jahrhunderte von lokalen und indigenen Gemeinschaften gepflegten und weiterentwickelten Kultur- und Heilpflanzen. Darüber hinaus sind mittlerweile nach jahrzehntelanger Umstellung auf Monokulturen viele Bauern und Bäuerinnen abhängig von der Saatgutindustrie und ihren eigentumsrechtlich geschützten Sorten. Sie müssen daher in vielen Fällen jährlich teures Saatgut kaufen, weil ihre traditionellen Sorten, die frei getauscht und lokal verkauft werden konnten, verloren gegangen sind. (vgl. ebd.: 152) Vor zehn Jahren kontrollierten die zehn größten Saatgutunternehmen die Hälfte des weltweiten Saatgutverkaufs (vgl. ebd.). Heute sind es die größten drei (vgl. ETC Group). Wessen Wachstum wurde begünstigt? Angesichts solcher Verhältnisse, in der wirtschaftlich starke und wissenschaftlich hoch entwickelte Exportnationen und Großkonzerne mit Hilfe des Patentsystems und auf Kosten von Entwicklungsländern monopolistische Macht auszuüben scheinen, lässt sich feststellen, dass das Patentsystem zumindest auf


Artikel

Es kommt nicht darauf an, den Menschen in der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen.“ – Jean Ziegler

globaler Ebene erheblich aus dem Gleichgewicht geraten ist und seiner ursprünglichen Idee in weiten Teilen nicht gerecht wird. Patente sollten dem Gemeinwohl dienen, indem sie Innovation fördern: „Ideen müssen sich frei ausbreiten vom einen zur anderen über die Welt, zur gegenseitigen Belehrung der Menschen. Frei wie die Luft, in der wir atmen, uns bewegen, ja unsere ganze physische Existenz haben, ganz und gar ungeeignet für ein Eingesperrtsein oder exclusive Aneignung. Deswegen können Erfindungen niemals Eigentum von irgendjemand auf diesem Erdball werden. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich kann die Gesellschaft irgendwelche Regeln setzen, die einem Erfinder exclusive Rechte verleihen. Aber es handelt sich nicht um ein natürliches Recht, es geht alleine um den Nutzen für die Gesellschaft“  (Jefferson 1813, zitiert nach: Lutterbeck 2006: 327).

Aber der Begriff des „geistigen Eigentums“ scheint immer mehr die Rolle eines ideologischen Kampfbegriffs einzunehmen, der aufgrund seiner Suggestivkraft einen wesentlichen Grund für das zunehmende Ausufern von immateriellen Schutzrechten darstellt (vgl. Mersch 2013: 71). Und solange Großkonzerne auf Kosten des Gemeinwohls und nachhaltiger Entwicklungsmöglichkeiten ihre wachstums- bzw. profitorientierten Interessen mit Hilfe von Patenten in solch einem überzogenen Ausmaß durchsetzen können, besteht dringender Nachholbedarf bei der

Gestaltung dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen. Patente dürfen kein wirtschaftlicher Selbstzweck sein. Ebenso wenig wie Wachstum. Als Grundbedingung für materiellen Wohlstand in armen Regionen verstanden, bleibt wirtschaftliches Wachstum wünschenswert. Als tumorartig ausartender Wirtschaftsimperativ hingegen wirkt es nur schädlich, insofern es globale Strukturen begünstigt, die das erstgenannte Wachstum immens erschweren. Milliarden an Entwicklungshilfe wirken angesichts solcher Ausbeutungsstrukturen wie der Tropfen auf dem heißen Stein. „Es kommt nicht darauf an, den Menschen in der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen“ (Ziegler 2005).

Deutsche Gesellschaft Club of Rome (Hg.) (2012): Wachstum? Ja bitte – aber 2.0! 7 Thesen zur Wachstums-Diskussion. 40 Jahre nach den „Grenzen des Wachstums“. In: Deutsche Gesellschaft Club of Rome. Online verfügbar unter: http://www.clubofrome.de/sup2012/ wachstumsthesen.pdf [Zugriff am 30.04.2016] ETC Group (2016): Factoids. In: ETC Group. Online verfügbar unter: http:// www.etcgroup.org/factoids [Zugriff am 30.04.2016] Heineke, Corinna (2006): Adventure TRIPS - Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte im Nord-Süd-Konflikt. In: Jeanette Hofmann (Hg.): Wissen und Eigentum. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung, 552), S. 141–163.

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Jefferson, Thomas (1813): No patents on ideas. Brief an Isaac McPherson vom 13. August 1813. In: American History. From Revolution to Reconstruction and beyond. Online verfügbar unter: http://odur.let. rug.nl/~usa/P/tj3/writings/brf/jefl220.htm [Zugriff am 30.04.2016] Lutterbeck, Bernd (2006): Die Zukunft der Wissensgesellschaft. In: Jeanette Hofmann (Hg.): Wissen und Eigentum. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung, 552), S. 319–340. Mersch, Christian (2013): Die Welt der Patente. Bielefeld: Transcript. Ziegler, Jean (2005): Das Imperium der Schande. München: Bertelsmann.


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KURZSICHTIGE PHOTOVOLTAIK von Aike Jeutes Die Nutzung von Solarenergie ist aus ihrem Nischendasein herausgerückt und fester Bestandteil der Stromgewinnung geworden. Solarenergie zeichnet sich durch emissionsfreie Energiegewinnung und dezentrale Nutzbarkeit aus. Gleichzeitig ist in Verbindung mit Offshore-Windparks eine stabile Stromversorgung möglich. Zusätzlich ist in der Gesellschaft ein Umdenken hin zu umweltfreundlicher Energieproduktion festzustellen. Auch in der Politik ist eine Entwicklung zu sehen, hin zu erneuerbaren Energien, weg von Atom-, Kohle- und Gaskraftwerken. Der Fortschritt in der Forschung und Entwicklung von Solarzellen mündete in einer effektiveren Produktion sowie einer Leistungssteigerung der einzelnen Module. Der europäische Trend hin zum Ausbau der Nutzung von erneuerbarer Energien beeinflusst auch die Märkte in den USA und China. Im Vergleich zu anderen Energieträgern ist ihr Anteil an der gesamten Stromerzeugung jedoch eher von marginaler Bedeutung.

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Diese Entwicklung hat jedoch auch eine Kehrseite. Ein Recycling der Photovoltaikmodule findet weltweit nicht statt. Es stellt sich die Frage, ob die Photovoltaik derzeit nachhaltig ist. Im Jahre 2007 haben sich in Europa Photovoltaik-Hersteller zum Verbund PV Cycle mit Sitz in Brüssel zusammengeschlossen. Ziel dieser Organisation ist der Aufbau eines flächendeckenden Rücknahme- und Recyclingsystems beschädigter PV-Module. Inzwischen sind über 90 Prozent der europäischen Hersteller Mitglieder des Verbundes. Die Gründung wurde in Anbetracht der zu erwartenden Umsetzung der EU-Richtlinie (WEEE – Waste of electrical and electronic equipment) für PV-Module und aus Imagegründen initiiert. Schließlich versteht sich die Branche als ökologisch, in der das Thema Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle einnimmt. Das 2010 gestartete Sammelsystem umfasst mittlerweile 353 Sammelstellen in ganz Europa. Der Großteil der Altmodule stammt aus Deutschland (57 Prozent). Dahinter haben Italien, Spanien und Polen das höchste Aufkommen. Aufgrund der hohen Rückführung in Deutschland wurde


Der Unterschied zur Atomindustrie ist hinsichtlich des produzierten Abfalls, der bis auf Weiteres eingelagert wird, derzeit nicht besonders groß.“

2013 ein Tochterunternehmen mit Sitz in München gegründet. Weitere Standorte gibt es in Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien. In den Tochterunternehmen werden vor allem strategische und rechtliche Konzepte für die nationalen Märkte erstellt. Die Gesamtkoordination obliegt weiterhin der Zentrale in Brüssel. Anhand dieser Organisation kann sichergestellt werden, dass das Recycling für die Betreiber kostenlos ist und von den Importeuren und Herstellern finanziert wird. Das System garantiert außerdem den Transport der Altmodule zu den Recyclingfirmen. Aufgrund der verschiedenen Bauformen kann nicht jede Firma jedes beliebige Modul recyceln. (vgl. PV Cycle Germany 2014) Der Verbund PV Cycle hatte im Vorfeld zwar ambitionierte Ziele, allerdings kann die Umsetzung der Organisation auch in vielen Punkten kritisch betrachtet werden. Beispielsweise ist die Idee Altmodule von Italien nach Belgien zu transportieren weder ökologisch noch wirtschaftlich sinnvoll, da die Transportkosten und die Emissionen den Recyclingeffekt negieren. Außerdem kann die Vorstellung, dass sich das Recycling alleine durch die Glasgewinnung der zurückgeführten Module finanzieren ließe, zumindest als leichtgläubig bezeichnet werden. Schlussendlich ist wohl eher ein grobes Sammelsystem entstanden, das den wirtschaftlichen Anforderungen nur teilweise gerecht wird. Aufgrund der nicht zufriedenstellenden Umsetzung sollte seit dem 14. Februar 2014 die Behandlung, Beförderung und Sammlung von Photovoltaikmodulen in jedem Land der Europäischen Union gesetzlich geregelt sein. Diese Regelung geht auf die Richtlinie über Elektro- und Elektronikgeräte-Abfall (WEEE) zurück, die 2003 in Kraft trat. In ihr

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werden zehn Produktgruppen unterschieden. Die Richtlinie hat zum Ziel, Elektronikschrott zu vermeiden, zu verringern oder diesen zumindest einer umweltverträglichen Entsorgung zuzuführen. Erst 2012 wurde mit Solarmodulen eine elfte Produktgruppe erschaffen. Die Richtlinie verlangt das Einsammeln von 85 Prozent aller verkauften Module und das Recyceln von insgesamt 80 Prozent dieser Module. Dies hat dadurch, dass die grundsätzliche Lebensdauer von PV-Modulen auf 25 Jahre angesetzt ist, eine Dringlichkeit erreicht. Im Zuge der Energiewende wurden vor ca. 25 Jahren die ersten Module verbaut, sodass ab sofort regelmäßig Module zur Entsorgung anfallen. Bisher wurden nahezu ausschließlich Module mit Installations- oder Transportschäden zurückgeführt. Die Sammlung ist laut der EU-Richtlinie über ein Sammelstellensystem zu organisieren, welches die Sammlung von Elektroschott und PV-Modulen verbindet. Die Verantwortung hierfür tragen die Hersteller. Bis Anfang 2015 setzten nur Bulgarien und das Vereinigte Königreich die Richtlinie um. (vgl. Wirth 2014) Deutschland setzte die WEEE-Richtlinie dagegen erst zum 01. Februar 2016 mittels neuem Elektrogesetz (EletroG) um (vgl. Esselmann 2016). Um die nur vorsichtigen Fortschritte im Recycling aufzuzeigen, gilt eine Pilotanlage in Freiberg, die 2004 eröffnet wurde, als gutes Beispiel. Sie diente der Erforschung des Recyclings von Photovoltaikmodulen. Da es sich um eine Pilotanlage handelte, lag die Kapazität bei nur 200 Tonnen pro Jahr. Dies war unter anderem darin begründet, dass die Module von Hand sortiert und aufs Band gelegt wurden. Die aufs Förderband gelegten Glasteile wurden zur ersten Stufe transportiert. Durch Erhitzung auf 500 °C konnten die Folien und das Glas abgetrennt und dann wieder von Hand sortiert werden. Dabei mussten Temperatur und Durchsatz je nach Hersteller des


Moduls variiert werden. Die Siliciumbruchteile wurden danach in einem chemischen Prozess gemeinsam mit unzerstörten Siliciumscheiben gereinigt. Die Bruchteile wurden anschließend im Lichtbogenofen zu neuen Blöcken verarbeitet, die wieder zu Wafern zerschnitten wurden. Dafür wurde herkömmlicher Strom genutzt. Gemeinsam mit den noch intakten Scheiben konnten wieder Leitungen und Werkstoffe aufgebracht werden. Auf diese Weise konnte Glas mit einer Reinheit von 99,99975 Prozent gewonnen werden, bei einem Austrag von 96 Prozent. Kupfer (99,99 Prozent) und Siliciumzellen (99,995 Prozent beziehungsweise 99,9999 Prozent) wiesen ebenfalls hohe Austräge (84,6 Prozent und 77,78 Prozent) auf. (vgl. Hahne und Hirn 2010) Allerdings wurde die Pilotanlage 2012 geschlossen. Als Gründe gelten die sehr energieintensiven Verfahren und die anfallenden horrenden Kosten, die in keinem Verhältnis zum Wert der gewonnenen Materialien standen. Für das Jahr 2013 wurde von der Solarworld AG gemeinsam mit der Preiss-Daimler-Gruppe eine automatisierte Anlage in Bitterfeld-Wolfen geplant. Diese Planungen wurden aber nach der finanziellen Krise der Solarworld AG auf Eis gelegt. Bis heute. (vgl. Hahne und Hirn 2010) Zusammenfassend ergibt sich für das Recycling von Photovoltaikmodulen ein ernüchterndes Bild, kein nachhaltiges. Es gibt zwar Ansätze, doch alles ist weit davon entfernt, technisch oder wirtschaftlich umsetzbar zu sein, geschweige den erwartend hohen Massen Herr zu werden. Aufgrund des nicht funktionierenden Verbunds PV Cycle umgehen inzwischen viele Firmen inzwischen den Verbund und wenden sich direkt an die wenigen in Deutschland existierenden Recycler, wie die Reiling Glas Recycling GmbH und Co. KG,

die Exner Trenntechnik GmbH oder die Loser Chemie GmbH (Anonymus / Reiling Glas GmbH & Co. KG 2014; Anonymus / Deutsche Gesellschaft für Sonnenenergie e.V. 2014; Anonymus / Loser Chemie GmbH (2014)). Diese betreiben bisher allerdings wenig umweltfreundliches Downcycling. Bis auf die Gewinnung von minderwertigem Glas ist es nur im Kleinen möglich, andere Bestandteile herauszufiltern. So landen die meisten Alt-Module in Lagerhallen, wie z. Bsp. alle Dünnschichtmodule von FirstSolar Inc., in der Hoffnung, dass „jemand anderes“ ein geeignetes Verfahren entwickelt. Sobald die Lagerkapazitäten erreicht sind, werden die geshredderten Materialien im besten Falle dem Straßenbau oder direkt der Verbrennung zugeführt. Beides ist weder in Anbetracht der Ressourcenschonung noch aus ökologischer Sicht sinnvoll. Die gesamte Branche befindet sich in einer Starre. Einerseits sind in Folge der Krise die finanziellen Mittel schlicht nicht da, andererseits fehlt es an Ideen. In dieser Konstellation verharrend, wartet jeder auf den anderen. Davon abgeschreckt drückte sich die Politik darum, die WEEE umzusetzen, was den Innovationsdruck der Industrie weiter senkt. Es bleibt zu hoffen, dass ehemalige Projekte wie die automatisierte Anlage in Bitterfeld-Wolfen doch noch umgesetzt werden, dass anderen Firmen Durchbrüche gelingen oder sie sich trauen, diese anzustreben. Sollte dies kurzfristig nicht geschehen, ist davon auszugehen, dass die gesamte Solarbranche stark in Verruf gerät. Der umweltfreundlichen Energiegewinnung würden dann unzumutbare Abfallmassen entgegenstehen. Salopp gesagt, der Unterschied zur Atomindustrie hinsichtlich des produzierten Abfalls, der bis auf Weiteres eingelagert wird, ist derzeit nicht besonders groß.

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Anonymus / Deutsche Gesellschaft für Sonnenenergie e.V. (2014): Stand des PV-Recyclings in Deutschland. Aachen, 24.10.2014. Telefonat an Aike Jeutes. Anonymus / Loser Chemie GmbH (2014): Recycling der Loser Chemie GmbH. Aachen, 12.12.2014. Telefonat an Aike Jeutes. Anonymus / Reiling Glas GmbH & Co. KG (2014): Recyclingverfahren der Reiling Glas GmbH & Co. KG. Aachen, 11.12.2014. Telefonat an Aike Jeutes. Esselmann kommunikation GmbH (2016): Das Elektrogesetz. Esselmann kommunikation GmbH, Aachen, www. elektrogesetz.de Online verfügbar unter: http://www.elektrogesetz.de [Zugriff am 15.04.2016] Hahne, Axel; Hirn, Gerhard (2010): Projektinfo: Recycling von PhotovoltaikModulen. Hg. v. BINE Informationsdienst. Online verfügbar unter: http://www.bine. info/fileadmin/content/Publikationen/ Projekt-Infos/2010/Projektinfo_02-2010/ projekt_0210_internetx.pdf, zuletzt aktualisiert am 10.02.2010 [Zugriff am 09.12.2014] PV Cycle Germany (2014): PV CYCLE/ PV Rücknahme und Recycling. Online verfügbar unter: http://germany.pvcycle. org/ [Zugriff am 11.12.2014] Wirth, Harry (2014): Aktuelle Fakten zur Photovoltaik in Deutschland. Online verfügbar unter: http://www.ise. fraunhofer.de/de/veroeffentlichungen/ veroeffentlichungen-pdf-dateien/studienund-konzeptpapiere/aktuelle-fakten-zurphotovoltaik-in-deutschland.pdf [Zugriff am 09.12.2014]


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MORGEN SCHON BESSER ALS HEUTE Zwischen Selbstentwurf und Optimierungsdrang

von Yannic Hoffmann Die meisten Menschen würden wohl mit der Aussage konform gehen, dass wir in einer sich immer weiter beschleunigenden Zeit leben. Aber woraus resultiert die Beschleunigung? Geht es ausschließlich um beschleunigte wirtschaftliche Prozesse und welche Rolle spielt das Subjekt in diesem Kontext? Denker wie ByungChul Han und Slavoj Žižek stehen für ein radikales Denken und bieten mit ihren aktuellen Analysen alternative Perspektiven auf Problemstellungen unserer Zeit. Byung-Chul Han ist Philosoph, Essayist und lehrt an der Universität der Künste Berlin Philosophie und Kulturwissenschaft. Slavoj Žižek ist ebenfalls Philosoph, aber auch bekannt als Kulturkritiker und Theoretiker der lacanianischen Psychoanalyse. „Wir unterstützen den Turbokapitalismus und die neoliberale Leistungsgesellschaft, indem wir alle zur Ware werden. Der einzige Wert, der noch existiert, ist der Ausstellungswert. Das ist eine dramatische Reduktion des Lebens und des Daseins.“  (Han 2012: 3)

Das Leistungssubjekt zerbricht an den immer wieder auftretenden Forderungen, neue Leistungen zu produzieren, weiterhin dem entkernten, bloßen Leben und dem paradoxen Imperativ des „Sei frei!“. Um zu verstehen, welche Folgen eine wachs-

tumsorientierte Gesellschaft nach sich zieht, betrachten wir einmal die dahinterliegende Anerkennungslogik des narzisstischen Leistungssubjektes, welche Han in seinem Werk „Agonie des Eros“ zeichnet: Der Andere wird degradiert zum Spiegel des einen, wobei der Andere die Bestätigung für das Ego des einen ist, als Folge eines Erfolges innerhalb der Leistungsgesellschaft (vgl. Han 2012: 7). Diese Anerkennungslogik ist es, welche das Leistungssubjekt immer tiefer in sein Ego zieht und ferner als Ursache für die Entwicklung einer Erfolgsdepression gesehen werden kann. Die Gründe für die gesundheitliche Ausbeutung des Leistungssubjektes können durch die Unterscheidung von Können und Sollen erklärt werden: Die Leistungsgesellschaft ist durchzogen von dem Modalverb Können. Im Gegensatz dazu ist die Disziplinargesellschaft, welche Verbote ausspricht, ganz auf dem Sollen aufgebaut. Zur Steigerung der Produktivität wird ab einem gewissen Punkt das Sollen in ein Können überführt. Das „du kannst“ erzeugt massive Zwänge, an denen das Leistungssubjekt zerbricht. Die Aufforderung nach mehr Motivation, Eigeninitiative und selbstständig organisierten Projekten ist viel effektiver für die Ausbeutung als Be20

„Weil wir ständig wachsen, werden wir.an diesem Wachstum zugrunde gehen.“ – Byung-Chul Han..


strafung, Anweisung und Führung. Als eigenständiger Unternehmer ist das Leistungssubjekt zwar befreit von einem übergeordneten Anderen, der es unterwirft und ausbeutet. Die Problematik geht aber noch tiefer: Das Leistungssubjekt ist nicht wirklich frei, es beutet nun sich selbst aus (vgl. Han 2012: 15). Ausbeutender und Ausgebeuteter sind nun im Leistungssubjekt vereinheitlicht: „Der Ausbeutende ist der Ausgebeutete. [...] Die Selbstausbeutung ist viel effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht. Möglich wird dadurch die Ausbeutung auch ohne Herrschaft.“  (Han 2012: 15)

Han deutet auf die Idee des Homo Oeconomicus bei Michel Foucault hin. Han zeigt, Foucault sei der Überzeugung, dass sich der Homo Oeconomicus wirklich frei bewegen würde. Diese These ist jedoch blind gegenüber der Selbstausbeutung, welche wirksam ist, sobald sich der Homo Oeconomicus in Freiheit wähnt (vgl. Han 2012: 16). Da kein Aufstand gegen sich selbst möglich sei, ist Selbstzwang für das Leistungssubjekt fataler als Fremdzwang. Das moderne Leistungssubjekt kann als Analogie zum Hegelschen Knecht gesehen werden, bis auf dies: Es arbeitet nicht für einen Herrn. Als sich selbst freiwillig Ausbeutender ist es Herr und Knecht zugleich (vgl. Han 2012: 30). Von einem Ende der Geschichte der Freiheit kann somit noch keine Rede sein, wir sind lediglich Herrenknechte oder Knechtsherren, keine freien Menschen, wir können erst frei sein, wenn wir die Einheit von Herr und Knecht überwinden. Die Zwangsstrukturen verbergen sich hinter der scheinbaren Freiheit des einzelnen Individuums, welches sich nun als entwerfendes Projekt begreift (vgl. Han 2012: 17). Das Problem ist folgendes: Wer an den Leistungsanforderungen und -aufforderungen scheitert, kann niemand anderen verantwortlich machen, als sich selbst. Das Leistungssubjekt trägt diese Schuld ab

sofort mit sich herum. Das Perfide an dieser Situation: „Es gibt [...] keine Möglichkeit der Entschuldung und Entsühnung mehr.“ (Han 2012: 17) Gerade in diesem Sinne ist der Kapitalismus entgegen der populären Ansicht keine Religion, er ist nämlich nur verschuldend (vgl. ebd.). Gerade diese Unmöglichkeit der Entschuldung ist unter anderem verantwortlich für die Depression des Leistungssubjektes (vgl. Han 2012: 17f.). Depression und Burnout stellen zusammen ein „[...] unrettbares Scheitern am Können, d.h. eine psychische Insolvenz dar.“ (Han 2012: 18) Für Aristoteles ist der bloße Kapital­ erwerb gerade deshalb so verwerflich, weil er sich im Wesentlichen um das bloße Leben kümmert und nicht um das gute Leben (vgl. Han 2012: 31). Diese Fixierung auf das bloße Leben ist es, welche hier als Ursache für die massive Beschleunigung der Kapital- und Produktionsprozesse gesehen wird. Was ist also zu tun? „[...] Wir brauchen Mechanismen internationaler Kooperation jenseits der Märkte.“ (Žižek 2016: 1) Fraglich bleibt an dieser Stelle, ob und wie ein solches Internationales Wir handlungsfähig sein soll, wenn es nur aus für sich isolierten Leistungssubjekten besteht. Eros und Depression sind entgegengesetzte Konzepte: Eros zieht den Menschen zum Anderen hin, die Depression zieht das Subjekt in sich selbst. Vielleicht ist es an der Zeit den Anderen zu erkunden, hinaus aus der Höhle der Herren-Knecht-Dualität. Byung-Chul Han schlägt hier kein neues Konzept, keinen neuen Gesellschaftsentwurf vor, welcher den Kapitalismus ablösen könnte, doch aber eine scharfsinnige Perspektive auf die noch nicht genauer absehbaren Folgen einer Wachstums- und Fortschrittsgesellschaft für das Individuum. Die oftmals chaotisch anmutenden Zusammenhänge unserer globalisierten Zeit rufen zum Denken, zu einer Re-Interpretation und Reflexion der Umstände auf, um anhand dieser Prozesse besser 21

entscheiden zu können, ob wir noch in einem angemessenen Verhältnis zu den uns verbindenden Systemen leben können. Han positioniert sich klar für einen alternativen Umgang mit denen das Leistungssubjekt umgebenden Wachstums- und Beschleunigungstendenzen. Dieser kann meines Erachtens anhand eines Beispiels aus der Literatur skizziert werden: Fernando Pessoa zeichnet in seinem Werk „Genie und Wahnsinn“ den modernen Menschen als auf einem Weg, der ihn nicht zu sich selbst führen wird (vgl. Pessoa 2010: 42). Er plädiert dafür, dass wir erst langsamer, entschleunigt, zu dem werden, was wir sind und unterstellt dem modernen Individuum, dass es schnell werden musste, was es nicht ist.

Han, Byung-Chul (2012): Agonie des Eros. Berlin: Matthes & Seitz. Han, Byung-Chul (2012): Wir steuern auf eine Katastrophe zu. In: Süddeutsche Zeitung, 2012. Online verfügbar unter: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/ texte/anzeigen/39059/3/1 [Zugriff am 10.04.2016]. Pessoa, Fernando (2010): Genie und Wahnsinn. Zürich: Ammann Verlag & Co. Žižek, Slavoj (2016): Meine Kraft kommt von heillosem Pessimismus. In: Zeit Online, 2016. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/campus/2016/02/ slavoj-zizek-krise-terrorismus-europa [Zugriff am 10.04.2016]


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TOMATEN ÜBER DEN WOLKEN VERTICAL FARMING

von Jana Weber Bereits im Jahr 2050 wird unsere Erde laut dem mittleren Abschätzszenario der UN von 9,6 Milliarden Menschen bevölkert sein (Klingholz 2014). Vor dem Hintergrund der aktuellen Problematik der Nahrungsmittel- und Wasserversorgung stellt sich nicht nur die Frage, wie dieser Planet die Menschenmassen ernähren soll, sondern auch die, wie er im Zuge dessen selbst bestehen kann. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden bereits 800 Millionen Hektar als landwirtschaftliche Nutzfläche beansprucht, was einem prozentualen Anteil von 38% der gesamten Oberfläche der Landmassen entspricht. Durch die prognostizierte Zunahme der Bevölkerung wird eine zusätzliche Fläche von 109 Hektar notwendig sein, um die Bäuche der 9,6 Milliarden Menschen zu füllen. Diese Fläche wäre größer als Brasiliens gesamte Staatsfläche (vgl. Despommier 2010). Die heutige Landwirtschaft zeichnet sich nicht nur durch ihren immensen Flächenverbrauch aus, sie gilt auch als Hauptverursacher der Wasserverschmutzung. Sie begünstigt durch ihre Monokulturen die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Tollwut, Malaria und Gelbfieber und führt zu unerforschten Gesundheitsrisiken durch den Einsatz von 22

Pestiziden, Fungiziden und Herbiziden. Schlechte Arbeitsbedingungen auf den Feldern der Bauern, geringe Bezahlung, die Gefahr des Angriffs von wilden Tieren und die sich stetig vergrößernde Kluft zwischen Arm und Reich sind nur einige zusätzliche Argumente dafür, dass die heutigen Landwirtschaftsmethoden dringend hinterfragt werden müssen. Im Jahr 1999 entwickelte ein amerikanischer Professor der Columbia University in New York, Dr. Dickson Despommier, zusammen mit seinen Student_innen ein vielversprechendes, später unter dem Namen „Vertical Farming“ bekanntes, Anbaukonzept. Die Studierenden erhielten die Aufgabe, ein Szenario zu entwerfen, in dem die Bewohner_innen Manhattans durch Nutzpflanzen auf den Dächern versorgt werden sollten. Es zeigte sich, dass die verfügbare Anbaufläche nicht genügte. Die Idee, inmitten der Stadt auf den Dächern Manhattans weitere Stockwerke zu installieren und somit eine Vergrößerung der verwendbaren Fläche herbeizuführen, wurde geboren. (vgl. Ressourceneffizienzatlas 2011) Diese sogenannten Farmscraper, ausgestattet mit modernsten Technologien, sind landwirtschaftliche Hochhäuser, die zukünftig in den


Metropolen der Welt integriert werden könnten. Unterschiedliche Stockwerke bieten eine sterile und regulierbare Umgebung für verschiedene Nutzpflanzen. Die Technologien sind simpel aufgebaut. Im Fokus stehen erdlose Anbaumethoden und eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft. Die Pflanzen werden in so genannten Hydrokulturen angebaut. Das heißt, die Wurzeln der Pflanze befinden sich in einem wässrigen Substrat, statt im Erdboden. Abhängig von der Art der Pflanze ist hier bereits eine Flächenersparnis von mindestens 1:4 zu erzielen. Weitere Effizienzsteigerungen sind über die Reglung von Parametern wie des pH-Wertes, der Temperatur sowie der optimalen Lichtintensität zu erreichen (vgl. Cox 2009). Nährstoffüberwachungssysteme, Messapparaturen, die Aussagen über den Reifezustand der Pflanzen geben, und Frühwarnsysteme, die den Ausbruch von Krankheiten überwachen, vervollständigen die Technologie und sorgen für den bestmöglichen Ertrag pro Flächeneinheit (vgl. Ressourceneffizienzatlas 2011).

Zuchtbecken für Forellen wird in einem anderen Stockwerk Tomatenpflanzen zugeführt und deren transpiriertes Wasser kann als Frischwasser zurück ins Forellenbecken geleitet werden. Der Stromkreislauf einer vertikalen Landwirtschaft funktioniert ganz ähnlich. Die für die Beleuchtung und den Betrieb der Geräte erforderliche Energie lässt sich intern durch die Vergasung anfallender Pflanzenreste gewinnen. Reicht der im Kreislauf fließende Strom nicht aus, kann eine zusätzliche Einspeisung von außen durch regenerative Energien (Installation von Windrädern, Solarzellen, Wasserkraftwerken) erfolgen.

Eben genannte Einstellungen schaffen in jedem Stockwerk und auch für einzelne Pflanzen ideale Bedingungen. Durch die aufwändige Anlagentechnik scheinen auf den ersten Blick die Kosten für zum Beispiel Strom und Wasser am meisten ins Gewicht zu fallen. Hierbei kommt nun der Gedanke der Kreislaufwirtschaft ins Spiel.

Schließlich bleibt die Frage offen, ob die auf diese Weise produzierte Nahrung den Gelüsten der heutigen Gesellschaft genügt und auch geschmacklich überzeugen kann. Mithilfe der gerätetechnischen Installationen kann nicht nur Einfluss auf den Ertrag genommen werden, sondern es ist beispielsweise auch eine Steuerung der Flavonoidkonzentration möglich. Diese ist für die Süße der einzelnen Pflanzen zuständig und damit bei vielen Arten hauptverantwortlich für den Geschmack (vgl. Cox 2009). Auch sorgen kurze Transportwege und die Vermeidung von langen Kühlungs- und Lagerzeiten für die Frische der Lebensmittel - ein weiteres Qualitätskriterium ist erfüllt.

Das Wasser durchfließt in einem Kreislauf verschiedene Stockwerke und befriedigt dort unterschiedliche Bedürfnisse der Pflanzen und Tiere. Stockwerke mit Fischzucht bedürfen Frischwasser und produzieren nährstoffreiches Abwasser durch die Ausscheidung der Fische von Ammonium als Endprodukt. Der Kreislauf schließt sich durch ein die einzelnen Stockwerke verbindendes Leitungssystem. Hier eine Veranschaulichung des Prinzips: Das Wasser aus einem

Vertical Farming besitzt also ein bedeutendes Potenzial, die städtische Bevölkerung von Metropolenregionen nachhaltig zu ernähren. Gleichzeitig wird durch den Wegfall benötigten Ackerlandes eine Rückführung großflächiger Landschaften in den ursprünglichen Zustand ermöglicht. Der großflächige Einsatz von Pestiziden und Herbiziden wird durch die sterile Umgebung und eingebaute Überwachungssysteme überflüssig. Auch die Abhängigkeit 23

fossiler Rohstoffe ist geringer, da landwirtschaftliche Fahrzeuge im Rahmen des Vertical Farming nicht von Nöten sind. Das Konzept des Vertical Farmings scheint hinsichtlich eines nachhaltigen Wachstums perfekt auf die Bedürfnisse der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts abgestimmt zu sein; dennoch bleiben einige Fragen bis heute offen. Wie ist der finanzielle und ökologische Aufwand bei dem Bau der Hochhäuser zu bewerten? Noch sind keine offiziellen Vergleiche mit der heutigen Landwirtschaft möglich. Auch der Mehraufwand für Beleuchtung und Bewässerung in großen Höhen ist nicht geklärt und kann zusätzliche technische Probleme hervorrufen. Ferner gilt es, Fragen der Ethik zu stellen. Inwiefern ist Tierhaltung in Farmscrapern umzusetzen und zu verantworten? Letztendlich trägt die Bevölkerung die entscheidende Rolle dazu bei, ob die Nahrung aus dem Wolkenkratzer akzeptiert wird und in den Supermärkten von morgen zu finden ist. Cox, J. (2009): What is Vertical Farming? In: On earth. 06.11.2009 Online verfügbar unter: http://archive.onearth.org/blog/ what-is-vertical-farming [Zugriff am 20.04.2016] Despommier, D. (2010): The Vertical Essay. Abstract. In: The Vertical Farm. Feeding the World in the 21st Century. Online verfügbar unter: http://www. verticalfarm.com/?page_id=36 [Zugriff am 20.04.2016] Klingholz, R. (2014): Absage an den Untergang. Warum noch in diesem Jahrhundert die Weltbevölkerung zu schrumpfen beginnt – auf die Hälfte von heute. Ein Szenario. In: Zeit Online. 06.02.2014. Ausgabe 07. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2014/07/ szenario-schrumpfende-weltbevoelkerung [Zugriff am 19.04.2016] Ressourceneffizienzatlas (Hg.) (2011): Vertical Farming. In: Ressourceneffizienzatlas. Online verfügbar unter: http://www. ressourceneffizienzatlas.de/beispiele/ detail/article/vertical-farming.html [Zugriff am 20.04.2016]


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NACHHALTIGKEITSPOLITISIERUNG? von Thomas Bausch

Über die politische Vereinbarkeit von „Nachhaltigkeit“ und „Wachstum“

Seit Längerem schwebt eine Frage über den Köpfen der Menschen (post-)industrieller Gesellschaften. Sie kreist um den Begriff der Nachhaltigkeit. Ist er vereinbar mit dem Wachstumsbegriff? Jedenfalls ermöglicht der heutige Wissens- und Technikstand ein nie gekanntes Wirt­schaftswachstum und einen vergleichsweise hohen Lebensstandard. Wie kann es da sein, dass inzwischen enorm angewachsenes menschliches Wissen nicht dazu beiträgt, auf globaler Ebene nachhaltig zu wirtschaften? Bedeutet Nachhaltigkeit lediglich die Moralisierung künftiger Technikfolgenabschätzung, die dann als „Thinking the Future“ getarnt wird? Man kommt nicht umhin, über die gesellschaftlichen Folgen technologischer Innovation nachzudenken, die im Verdacht steht, durch Wachstum Wohlstand zu reproduzieren. Ebenso steht sie im Verruf, negative Folgen für die Umwelt und ungleiche Konsequenzen für Gesellschaften mit sich zu bringen. Während die Entwicklung neuer Technologien spezialisierten Eliten obliegt, tragen Gesellschaften deren Folgen, z.B. Umweltzerstörung oder Wegfall von Arbeitsplätzen. Ist der Nachhaltigkeitsbegriff also nicht nur ein ökonomischer Begriff, sondern gleichzeitig auch immer ein politischer? Die gesellschaftspolitische Tauglichkeit dieses Begriffes zu durchleuchten, ist 24

Ziel dieses Artikels; auch um meine These zu stützen, dass Nachhaltigkeit als gesellschaftlicher Konflikt interpretierbar ist. Um es mit den Worten Hessels zu formulieren: „Höchste Zeit also Ethik, Gerechtigkeit und nachhaltiges Gleichgewicht zum Anliegen politischer Werte zu machen“ (Hessel 2011: 20). Immerhin ist die Erkenntnis vorhanden, dass die Maschinerie des „Immer noch mehr“ (ebd.: 20) sich selbst zerstört, da sie mit jenen Ressourcen gefüttert wird, die immer schwieriger vorzufinden sind. „Noch marschieren materielle Wohlstandsmehrung und Zerstörung der Lebensgrundlagen im Gleichschritt nebeneinander […]“, konstatieren Miegel und Brand (2012: 4) und deuten an, dass wir an einen Punkt gelangen, uns vom Wachstumsparadigma loszulösen. Denn soziale Probleme entstehen, weil der Durst nach stetigem Wachstum nicht zu stillen ist, zumindest nicht bei allen gleichermaßen: Soziale Ungleichheit, Konkurrenz und Konsumbedürfnis nehmen zu (vgl. ebd.: 9). Was sind also Alternativen nach einem Vierteljahrtausend der Industrialisierung? Eine Frage, die sich die Autoren ebenfalls stellen, jedoch lediglich zwei alternativlos wirkende Auswahlmöglichkeiten übrig lassen: Ein weiterhin komfortables Leben mit guter Bildung und Wohlstand


bei weiterer Plünderung des Planeten oder Schutz der Ressourcen und damit einhergehend ein Leben, das im Sinne Hobbes einsam, armselig, ekelhaft und kurz ist? Die postindustriellen Länder, die auch durch alternde Bevölkerung gekennzeichnet sind, haben sich kurzerhand für Ersteres entschieden, da deren größte Sorgen nicht die mangelnden Ressourcen der Zukunft sind. Es scheint, als ginge es bei der Nachhaltigkeitsfrage paradoxerweise nicht um Nachhaltigkeit, sondern um steigendes Wachstum und Konsum. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Kurzfristig erleichtert mehr Wachstum älter werdenden Gesellschaften die Finanzierung ihrer Rentensysteme erheblich (vgl. ebd.). Die Autoren Miegel und Brand liefern mit „kurzfristig“ das Stichwort: Die Frage, wie unsere Lebensgrundlagen geschützt werden können, ohne dabei Einbußen beim Wirtschaftswachstum hinzunehmen, ist eben eine auf ihre endgültige Lösung hinausgeschobene politische Frage. Es geht nicht, wie im genannten Rentenbeispiel, um die Sicherung der Renten oder auch der Lebensgrundlagen kom-

mender Generationen, sondern um die Renten und den Lebensstandard der heutigen Generation. Die in die Nachhaltigkeitsdebatte eingebettete Rentenproblematik eignet sich instrumentell als Wahlkampfthema der Parteien (vgl. Woratschka/Eubel 2016). Damit manövrieren sie sich allerdings in ein Dilemma: „Sie haben ihr Wohl und Wehe von einer Voraussetzung [Wachstum] abhängig gemacht, die zu gewährleisten sie außerstande sind“ (Miegel/Brand 2012: 6), solange sie in ihrer Logik des stetigen Wachstums verharren. Die Ressourcenfrage ist kein ökonomisches Problem mehr, wenn zu ihrer Beantwortung Wachstum und Nachhaltigkeit zwingend verbunden werden müssen (vgl. Bettzüge/ Schneidewind 2012). Diese Verbindung durch die große „politische“ Erzählung von „Verantwortung für Morgen“ verliert den Blick für die Zukunft, da sie Instrument zur Erhaltung gegenwärtiger Lebensstandards ist, nicht der künftigen. Die Debatte um Nachhaltigkeit ist daher eine Form des Generationenkonflikts, der sich zu verschärfen droht, je länger sie gemieden wird. Ist Nachhaltigkeit also die soziale Frage 2.0?

Die Debatte um Nachhaltigkeit ist daher eine Form des Generationenkonflikts, der sich zu verschärfen droht, je länger sie gemieden wird.“

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Sie ist eigentlich eine Sache der Mentalität; nicht nur, weil immer größere Teile des Verbrauchs für unhinterfragte, persönliche Eitelkeiten aufgewendet werden. Konsum ist „Stilisierung des Selbst“ (Tully 2012: 53). Viele Bedürfnisse sind von Werbung bestimmt sowie „sachlich, zeitlich und lokal entgrenzt“ (ebd.: 55f.). Grenzen zu setzen, vermag nur die gesellschaftliche Verpflichtung zur Nachhaltigkeit. Diese Verpflichtung macht sie aber nicht per se politisch, nur, weil sie nicht ökonomisch argumentiert. Sie ist unpolitisch, weil sie rein moralisch begründet ist, oder zumindest den Anschein erweckt, als müsse man für die Lebensgrundlagen derer, die heute aus allen Vollen schöpfen, auf seine eigenen verzichten. Über diese moralisierte Verantwortung muss es eine bisher vertagte Abstimmung zwischen den Generationen geben. Es bedarf also politischer Grundwerte. Daran erinnert auch Art. 20a des Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen […]“. Die


Bedeutet Nachhaltigkeit lediglich die Moralisie­ rung künftiger Technikfolgenabschätzung, die dann als ‚Thinking the Future‘ getarnt wird?“

Betonung liegt auf „auch“. Er stellt damit also auch Nachhaltigkeit als ein politisches Ziel von vielen fest. Wie Art. 20a beschreibt, handelt es sich bei dem Versuch, ein Nachhaltigkeitsparadigma zu schaffen, lediglich um eine wohlklingende Leitidee. Wie bspw. in der Schweizer Bundesverfassung könnte es durch einen normierten Verfassungsrang an Profil gewinnen (vgl. Probst 2013: 50). Art. 73 trägt sogar den Namen „Nachhaltigkeit“: „Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits an.“ Dieser Artikel impliziert bereits „Erneuerungsfähigkeit“ als ein über die Gegenwart hinausreichendes Ziel und will nicht nur Lebensgrundlagen schützen. Ein großer Unterschied zu Art. 20a GG, der die Lebensgrundlagen nur zu schützen ermahnt.

Überspitzt formuliert geht es letztlich um Freiheit. Freiheit vom Wachstumsparadigma der „Alten“, das den (jungen) Menschen übermäßigen Konsum, maßlose Konkurrenz und die Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen aufzwingt, weshalb die Frage der Nachhaltigkeit demokratisiert werden muss, aber dazu nicht moralisch-instrumentell betrachtet werden kann. Sie verspricht mit einem Nachhaltigkeitsparadigma, eingeschlafene demokratische Prozesse zu wecken, um den Streit beizulegen, wie aus einem als „Thinking the Future“ getarntes Wachstumsparadigma ein echter politischer Grundwert in einer künftig demokratischen Nachhaltigkeitsdebatte werden könnte.

Bettzüge, M. O./Schneidewind, U. et al. (2012): Wohlstand und Umweltverbrauch entkoppeln; in: APuZ 27-28/2012, S. 23-27.

Miegel, M./Brand, U. (2012): Kritik am Wachstumsparadigma. Zwei Positionen; in: APuZ 27-28/2012, S. 3-7.

Selbstverständlich darf die Gesellschaft ihre Probleme nicht nur an die Politik weiterreichen und einen Durchbruch erwarten. Dies bedingt einen Mentalitätswechsel im Konsum- und Werteempfinden, der den drohenden Ressourcenverlust nicht nur in seiner ökonomischen Dimension wahrnimmt. Er ist gerade in Bezug auf die Verantwortung für nachkommende Generationen ein Politikum, welches nur politisch bzw. demokratisch zu lösen ist.

Brand, U. (2012): Wachstum und Herrschaft; in: APuZ 27-28/2012, S. 8-14.

Probst, L. (2013): Nachhaltigkeit; in: APuZ 34-36/2013, S. 48-52.

Der Bundesrat. Das Portal der Schweizer Regierung (2016): Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 09.04.2016. Online verfügbar unter: www.admin.ch/opc/de/classifiedcompilation/19995395/index.html [Zugriff am 15.04.2016].

Tully, C. J. (2012): Nachhaltiger Konsum; in: APuZ, 27-28/2012, S. 51-56.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (2011), 43. Auflage, München. Hessel, S. (2011): Empört euch! Berlin.

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Woratschka, R./Eubel, C. (2016): Die Politik entdeckt die Rente als Wahlkampfthema. 13.04.2016. Online verfügbar unter: http://www. tagesspiegel.de/politik/altersvorsorgedie-politik-entdeckt-die-rente-alswahlkampfthema/13444082.html [Zugriff am 15.04.2016].


Artikel

DAS PRINZIP

VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT von Nils Honkomp „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“  (Jonas 1979: 36)

Wahrscheinlich würden die meisten Menschen dem Zitat des deutschen Philosophen Hans Jonas, der von 1955 bis 1976 als Professor an der New School for Social Research in New York lehrte, zustimmen. Sein Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung gilt bis heute als ein einflussreiches Werk in der Ethik und wird besonders im Kontext von Nachhaltigkeitsdebatten angeführt. Viele berücksichtigen dabei aber nicht, dass Jonas‘ sogenanntem „ökologischen Imperativ“ ein Subjektivi-

tätsverständnis zugrunde liegt, das ursprünglich auf René Descartes zurückzuführen ist. Immanuel Kant entwickelte wiederum das kartesische Subjektivitätsverständnis innerhalb seiner Kritiken insofern weiter, als dass es den Rang einer Zentralkategorie des philosophischen Denkens erreichte und den Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts maßgeblich prägte. Nun stellt sich die Frage, welche Implikationen mit den verschiedenen Begriffen von Descartes und Kant einhergehen. Ferner geht es dabei um Eigenschaften wie Autonomie, Willensfreiheit und die Fähigkeit zu eigenen moralischen Urteilen, die den Subjekten a priori zugeschrieben werden (vgl. Rohlf 2016: Abs. 5.1). Genauer geht es hier

um den Menschen als „[…] freies, vernünftiges, selbstwerthaftes Subjekt mit definierbaren, in sich konsistenten und relativ stabilen Werten, Bedürfnissen und Interessen[…].“ (Blühdorn 2012: 75) Was ist aber, wenn der bisherige Begriff von Subjektivität auf Individuen moderner Massengesellschaften nicht mehr zutrifft? Was ist, wenn das Subjekt nicht mehr frei, vernünftig und selbstwerthaft ist? Versetzen wir uns einmal in die Lage einer Person, die gegenwärtig in einer modernen Industrienation, wie beispielsweise den Vereinigten Staaten von Amerika, den meisten europäischen Ländern oder Japan lebt. Einerseits wird sie mit vielen verschiedenen Werten

Was ist, wenn das Subjekt nicht mehr frei, vernünftig und selbstwerthaft ist?“

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und Normen konfrontiert, die sich untereinander häufig widersprechen und somit unmöglich gleichzeitig erfüllt werden können. Andererseits muss sie sich entscheiden, welche Ideale sie innerhalb ihrer Biografie anstreben möchte, um sich mehr oder weniger selbst zu verwirklichen. Diese ambivalente Situation äußert sich insbesondere am Konflikt zwischen dem Aspekt des Gesundheitsimperativs und des weitläufig bekannten Akronyms YOLO (engl. „you only live once“) . Zum einen ist Gesundheit in modernen Massengesellschaften, im Zuge der Umlagefinanzierung von Krankenkassen, nicht mehr ausschließlich eine Sache der einzelnen Menschen, sondern bezieht sich, ähnlich wie die Moral, auf ein Kollektiv von Menschen, also den Nutzen für andere (vgl. Jessen 2016). Zum anderen zeigen Ausdrücke wie YOLO, dass individuelle Genusskulturen bzw. hedonistische und risikofreudige Lebensstile auch zu Tugenden erhoben werden können (vgl. Langenscheidt 2012). Aber wie lässt sich die offensichtliche Diskrepanz zwischen ethischem Anspruch und Leitkultur erklären? Ein lohnenswerter Ansatz könnte Ulrich Becks Theorie der „reflexiven Modernisierung“ sein, da sie „[…] nicht mehr dem Prinzip des »Entweder-Oder«, sondern dem des »Sowohl-als-Auch« folgt.“ (Beck et

al. 2004: 16) Nach Beck treffen die standardisierten Normen und Werte der Ersten Moderne immer weniger auf die pluralistischen Lebensformen der Menschen sowie ihrer kulturellen Identitäten zu, sodass der Versuch, „[…] komplexe, reflexive Lösungen zu entwickeln, die den neuen, Makro- und Mikrobereichen durchdringende Ungewißheiten und Ambivalenzen gerechter werden“ (Beck et al. 2004: 19), unabdingbar erscheint. Angesichts unserer zu Anfang erwähnten Subjekte hieße das im Konkreten, dass sich das von Descartes und Kant entwickelte Subjekt (mit Eigenschaften wie Autonomie oder relativ stabiler Ideale und Werte) hin zu einem flexiblen und heteronomen Subjekt entwickelt hat, das sich nicht außerhalb von gesellschaftlichen Institutionen sowie der ökonomischen Warenwelt entwickeln bzw. konstituieren kann (vgl. Blühdorn 2012: 76f.). Problematisch wird es, wenn die bereits zuvor erwähnte Person einer ausdifferenzierten Dienstleistungsbzw. Industriegesellschaft, sich einen mit Fair-Trade-Siegel versehenen Kaffee bei einer großen Kaffeekette, ein mit dem Biosiegel versehenes Steak, Honig, o.a. im örtlichen Supermarkt kauft. Mal abgesehen davon, dass die Sinnhaftigkeit des Fair-Trade-Siegels zumindest öffentlich umstritten (vgl. Hansen 2014)

und die schiere Anzahl der Biosiegel für den Verbraucher irritierend ist (vgl. Bäurle et al. 2014), können wir diesbezüglich aus kulturkritischer Perspektive wohl von einer zum Konsumprodukt reduzierten Nachhaltigkeit sprechen. Falls das zutrifft, stellt es für unsere Person keinen Widerspruch dar, gleichzeitig anderswertige Lebensstile zu verfolgen, da seine Identität durch den Kauf des Produkts „Nachhaltigkeit“ oberflächlich erfüllt erscheint. Nachhaltigkeit ist ein Produkt unter vielen geworden und in die Sphäre individueller Verantwortung gerückt, da das „Nichtfunktionieren“ auf den Anderen – aus der eigenen Verantwortung in die des Anderen – verlagert werden kann. Zu sagen, dass nur die Veränderung der individuellen Konsummuster eine Entwicklung hin zum nachhaltig und ressourcenschonendem Leben anstoßen kann, greift als Lösungsansatz mit Blick auf ein global agierendes und funktionierendes Wirtschaftssystem viel zu kurz. Wenn wir uns ausschließlich darüber Gedanken machen, welche (Kauf-) Entscheidungen mit einem ethisch korrekten und nachhaltigen Lebenswurf vereinbar sind, führt das geradeweegs in eine eindimensionale Betrachtung moralischer Grundsätze, die sich im Prinzip der Verantwortungslosigkeit aufheben;

Aus kulturkritischer Perspektive können wir diesbezüglich wohl von einer zum Konsumprodukt reduzierten Nachhaltigkeit sprechen.“

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ein Prinzip in dem jeder und gleichzeitig niemand Verantwortung über die Handlungen aller Menschen insgesamt tragen könnte. Der ökologische Imperativ versucht gerade das zu überwinden. Daher fragt Jonas konsequent: „Und wie, wenn die neue Art menschlichen Handelns bedeuten würde, daß mehr als nur das Interesse »des Menschen« allein zu berücksichtigen ist – daß unsere Pflicht sich weiter erstreckt und die anthropozentrische Beschränkung aller früheren Ethik nicht mehr gilt?“  (Jonas 1979: 29)

Es reicht nun mal nicht aus, wenn Hans, Marie und Peter Bio- und Fairtrade-Produkte kaufen, gegenseitig ihr „ach-so-ökologisch-nachhaltiges“ Leben lobpreisen und damit nicht über die Illusion von Verantwortung hinausgehen, sondern sich dem trügerischen Gefühl von verantwortungsbewusstem Handeln hingeben. Im Gegenteil benötigen wir doch viel eher starke politische Lösungen, die auf kollektiv verbindlichen Entscheidungen beruhen und damit das Potenzial haben, relevante Veränderungen herbeizuführen. Es ist äußerst wichtig, dass wir einander helfen, gemeinsam agieren und nicht vereinzelt auf verlorenem Posten verharren.

Bäurle, Anne; Lerche, Jelka (2014): Biosiegel. In: Zeit Online, 11.11.2014, Nr. 38, Online ver-fügbar unter: http:// www.zeit.de/2014/38/biosiegel-eu-oekoverordnung [Zugriff am 26.04.1] Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang; Lau, Christoph (2004): Entgrenzung erzwingt Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? In: Entgrenzung und Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag. S. 13–65. Blühdorn, Ingolfur (2012): Die Postdemokratische Konstellation. Was meint ein soziologisch starker Begriff der Postdemokratie? In: Demokratie! Welche Demokratie? Postdemokratie kri-tisch hinterfragt. Marburg: Metropolis-Verlag. S. 69–92. Hansen, Axel (2014): Wenn Kaffee bitter schmeckt. In: Zeit Online, 18.08.2014, Online verfügbar unter: http://www.zeit. de/wirtschaft/2014-08/fairetrade-kaffee [Zugriff am 26.04.16] Jessen, Jens (2016): Ruiniert eure Körper! In: Zeit Online, 11.04.2016, Nr. 14, Online verfüg-bar unter: http://www. zeit.de/2016/14/gesundheit-mitarbeitervegetarier-rauchen-arbeitsplatz-fitnessunternehmen [Zugriff am 26.04.16]

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Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main. Insel-Verlag. Langenscheidt (2012): The Winner is…, In: Langenscheidt Online Wörterbuch, 09.11.2012, Online verfügbar unter: https://www.langenscheidt.de/ Pressemeldungen/The-Winner-is [Zugriff am 26.04.2016] Rohlf, Michael (2016): Immanuel Kant. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Frühling 2016, Online verfügbar unter: http://plato.stanford.edu/ entries/kant/ [Zugriff am 26.04.2016]


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Interview

ZUKUNFT VORAUSDENKEN Herr Professor Dr. rer. pol. Harald Dyckhoff ist Lehrstuhlinhaber für Unternehmenstheorie, insbesondere nachhaltige Produktion und industrielles Controlling. Er gründete den Lehrstuhl in Hinblick auf die Erweiterung von Nachhaltigkeitsaspekten innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, die bis dato nur unzureichend erforscht wurden. Dyckhoff forscht übergeordnet in den Gebieten der Produktions- und Entscheidungstheorie, nachhaltiger industrieller Wertschöpfung sowie Performance- und Effizienzmessung. Außerdem thematisiert er in seinen Lehrveranstaltungen auch nicht-wirtschaftliche Aspekte wie persönliche Moral und Verantwortungsethik im Bereich der Unternehmensführung. Jan Korr und Nina Lentzen haben für mit ihm über Wachstumsmechanismen und ihre Grenzen gesprochen:

Herr Prof. Dr. Dyckhoff, zu allererst eine definitorische Frage: Wie verstehen Sie die Begriffe Wachstum und Nachhaltigkeit? Glauben Sie, dass diese korrelieren können? Dyckhoff Der sächsische Forstwirt Hans Carl von Carlowitz hat 1713 in seinem Buch „Sylvicultura oeconomica“ den Begriff der Nachhaltigkeit eingeführt, nämlich „daß es eine continuirliche und nachhaltende Nutzung gebe, weil es eine unentbehrliche Sache ist“. Schon der Titel dieser Gründungsschrift der modernen Forstwirtschaft benennt eine für die Betriebswirtschaftslehre (leider nicht für die Volkswirtschaftslehre) typische Sichtweise: Man kann auf Dauer nur von den Zinsen und nicht von dem Vermögen leben! Der Bestand einer „unentbehrlichen Sache“, wie der Wald auf den Kontinenten oder den Fischschwärmen im

Ozean, kann sogar zunehmen, wenn sie regenerierbar ist und man weniger als die „Zinsen“ für den menschlichen Konsum entnimmt. Derartiges Wirtschaften wäre demnach mit Wachstum vereinbar. Ein solchermaßen nachhaltiges Wirtschaftswachstum korreliert dann letztendlich mit der Wachstumsrate der unentbehrlichen natürlichen Ressource. Auf dem „Raumschiff Erde“ ist allerdings jegliches materielle Wachstum begrenzt. Durch technologischen Fortschritt lassen sich diese „Grenzen des Wachstums“ immer mal wieder mehr oder minder hinausschieben, aber meist nur zu Lasten der Fauna und Flora unserer ökologischen Umwelt. Das starke wirtschaftliche Wachstum im 20. Jahrhundert bildet historisch eine ungewöhnliche Ausnahme, bedingt durch den, mittels technologischer Innovationen in großem 32

Auf dem ‚Raumschiff Erde‘ ist allerdings jegliches materielle Wachstum begrenzt.“


Umfang, möglichen Abbau von Kohle, Öl und Gas innerhalb weniger Jahrzehnte, welche sich als fossile Primärenergieträger vor Jahrmillionen gebildet haben. Für solche erschöpfbaren Rohstoffe unterscheidet man die Konzepte der starken und der schwachen Nachhaltigkeit. Erstes verbietet die vollständige Ausbeutung „unentbehrlicher“ Rohstoffe gemäß einem Vorsichtsprinzip, während das zweite, optimistische Konzept auf ihre totale Substituierbarkeit durch künstliches Kapital mittels technischen Fortschritts vertraut. Effizienz und Ressourcenoptimierung sind Grundbedingungen eines funktionierenden Wirtschaftswachstums. Inwieweit können nationale Unternehmen in einer globalisierten Weltwirtschaft diesen Grundbedingungen gerecht werden ohne nationale oder europäische Standards in Bereichen wie Ökologie- oder Lohnsektoren zu umgehen? Dyckhoff Insoweit wie ökologische und soziale Nachhaltigkeitsaspekte in weltweit gültige Regeln und Standards integriert und diese auch beachtet werden würden. Regelkonformes wirtschaftliches Verhalten nationaler Unternehmen wie auch multinationaler Konzerne würde automatisch nicht nur effizient und ressourcenoptimierend, sondern sogar nachhaltig sein. Die sogenannten externen (oder sozialen) Kosten von Produktion und Konsum werden dann nämlich

von den verursachenden Wirtschaftsakteuren internalisiert und spiegeln sich in den Marktpreisen wider. Angesichts sozialer Dilemmata der nationalen und internationalen Politik, welche zu individuellem Trittbrettfahrerverhalten etlicher Akteure (insbesondere auch Nationen) führen, ist aber kaum zu erwarten, dass kollektiv wünschenswerte weltweite Regeln in absehbarer Zeit aufgestellt und durchgesetzt werden. Die Wirtschafts- und Unternehmensethik verpflichtet die Wirtschaftsakteure dann zu eigenverantwortlichem Handeln, welches über die Einhaltung bestehender Regeln (Legalität) hinaus auch Legitimität durch die moralische Abwägung konfligierender Interessen erfordert („Corporate Responsibility“). Denken Sie, dass das Wirtschaftlichkeitsprinzip ökologische Nachhaltigkeit in das Paradigma der Zweckrationalität implementieren kann? Dyckhoff Ja, falls, wie zuvor erläutert, alle relevanten Aspekte ökologischer Nachhaltigkeit in weltweite Regeln und Standards integriert sind, sodass über die Internalisierung der externen Kosten „die Preise die ökologische Wahrheit sagen.“ Andernfalls möchte ich hinsichtlich der Zweckrationalität auf deren Autor Max Weber selber verweisen. Er schreibt: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zwecken, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl 33

Wirtschaftlichkeitsprinzip

Ein ökonomisches Prinzip, in dem ein Ergebnis, wie zum Beispiel Gewinn, mit dem geringstmöglichen Einsatz von Mitteln den größtmöglichen Erfolg erreichen soll.

Club of Rome

Eine Vereinigung von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik. Er wurde 1968 von dem FIAT-Manager Aurelio Peccei und dem OECD-Generaldirektor Alexander King in Rom ins Leben gerufen, mit dem Ziel, sich für eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft der Menschheit einzusetzen.

die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.“ Was zweckrational ist, hängt somit davon ab, welche (wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen oder sonstigen) Zwecke, Mittel und Nebenfolgen man als relevant erachtet! Die Variablen sind in dieser Kosten-Leistung-Kalkulation also flexibel austauschbar und nicht zwangsläufig auf monetäre Rechnungsprozesse beschränkt. Dyckhoff Das traditionelle Wirtschaftlichkeitsprinzip stellt so gesehen nur denjenigen Spezialfall des Paradigmas der Zweckrationalität dar, bei dem lediglich wirtschaftliche Zwecke, Mittel und Nebenfolgen berücksichtigt werden.


Ausgehend von der 1972 erschienenen Studie „Die Grenzen des Wachstums“, welche vom Club of Rome in Auftrag gegeben wurde, scheint die kontroverse Postwachstumsdebatte aktueller denn je. Wie bewerten Sie die Position des „Wachstumszwangs“ und seiner exponentiellen Ausrichtung? Dyckhoff Wenn es stimmt, dass unser aktuelles Finanz- und Bankensystem „Wachstum erzwingt“ oder, besser gesagt, nur bei Wachstum gut funktioniert, so sollte seine Konstruktion hinterfragt und an eine zukünftige Welt ohne exponentielles Wachstum angepasst werden. Eine konstante Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von g = 7%, wie in Deutschland zu Zeiten des „Wirtschafts­wunders“, oder gar von g = 14%, wie etwa in China für zwei Jahrzehnte seit dem Ende des Kalten Kriegs, bedeutet eine Verdopplung des BIPs alle (70/g =) zehn bzw. fünf Jahre. Deshalb kann exponentielles Wachstum bei endlichen Kapazitäten allein aus mathematischen Gründen immer nur ein vorübergehendes Phänomen sein, etwa als Teil einer logistischen Kurve, deren Wachstumsrate am Ende gegen Null konvergiert (oder sogar negativ wird). Wem

das nicht klar ist, dem empfehle ich das Video auf YouTube: The most important video you‘ll ever see. Die RWTH Aachen University wirbt mit dem Leitspruch „Thinking the Future“. Wie sehen Sie die Rolle der Universitäten, insbesondere der RWTH, als „Denk­fabrik“ einer Verbindung aus Wachstumskonzept und Nachhaltigkeitsdebatte?

Empfohlene Medien & Literatur Dr. Albert Allen Bartlett „The most

Dyckhoff Wenn angewandte Wis- important video You‘ll ever see“ – senschaft außer „wahrem“ auch Vorlesung zu: „Arithmetic, Population, „nützliches“ Wissen hervorbringen and Energy,“ Online verfügbar will, muss sie sich zwangsläufig unter: https://www.youtube.com/ mit der für Menschen relevanten watch?v=eOykY2SMbZ0. Zukunft befassen, also die Zu- Dyckhoff, Harald/ Souren, kunft vorausdenken (wobei man Rainer (2008): Nachhaltige Unternehmensführung -Grundzüge trotzdem aus der Vergangenheit industriellen Umweltmanagements: und geeigneten Theorien lernen Springer-Verlag. muss). Technische Universitäten, wie die RWTH mit ihren ange- Neumayer, Eric (2004): Weak versus strong sustainability – exploring the wandten Disziplinen sollten nicht limits of two opposing paradigms. nur technologische, sondern darü- Cheltenham: Edward Elgar Publishing Ltd. ber hinaus auch organisatorische, Cook, John/ Farmer, G. Thomas politische, gesellschaftliche und (2013): Climate change science: A modern moralische Möglichkeiten und synthesis – Volume 1: The physical Zwänge einer zukünftigen nach- climate. New York Springer-Verlag. haltigen Entwicklung erforschen Hall, Charles/ Klitgaard, Kent A. sowie deren Chancen und Risiken. (2012): Energy and the wealth of nations Dringend nötig wäre es, ein neues – understanding the biophysical economy. Fach „Macroeconomics of Sustain- New York: Springer-Verlag. ability“ zu entwickeln, das es bis- Aleklett, Kjell (2012): Peeking at peak oil. lang leider nur in Ansätzen gibt. New York: Springer-Verlag.

Harald Dyckhoff wurde 1951 in Rheine geboren. Er studierte an der RWTH Aachen University zunächst Mathematik und Physik und danach Betriebswirtschaftslehre und Operations-Research. An der Fernuniversität Hagen promovierte er über Wirtschaftstheorie und habilitierte sich für BWL. Nach einer Professur für Operations-Research an der Universität Essen wurde Dyckhoff 1988 an seinen heutigen Lehrstuhl an der RWTH Aachen University berufen.

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Interview

ZU VIEL NACHHALTIGKEIT

DAS SCHRECKGESPENST DER POLITISCHEN AGENDA? Frau Dr. Raphaela Kells Forschungsschwerpunkte sind politische Ökonomie, Entwicklungspolitik und Entwicklungsökonomie. Dabei behandelt sie in ihren Lehrveranstaltungen aktuelle Inhalte wie die der Postwachstumsdebatte sowie ökologischer Transformationsprozesse auf nationaler und internationaler Ebene. Jan Korr und Nina Lentzen von haben sich mit Frau Dr. Kell getroffen und sich mit ihr über ihre kritische Forschung in den Bereichen Wachstum und Nachhaltigkeit unterhalten.

Frau Dr. Kell, Sie sind Lehrbeauftragte im Bereich Internationale Beziehungen und politischer Ökonomie. Zu Beginn unsere definitorische Rahmenfrage: Wie verstehen Sie die Begriffe Wachstum und Nachhaltigkeit? Glauben Sie, dass diese korrelieren können? Kell Die Definition im Hinblick auf den Begriff Wachstum ist relativ griffig, da reicht tatsächlich ein Blick ins Lexikon. Wirtschaftswachstum heißt immer die Zunahme von Wirtschaftsleistungen innerhalb eines volkswirtschaftlichen Raumes. Wo also Geld zwischen Akteuren fließt, nimmt die Wirtschaftsleistung, die im sogenannten BIP ausgedrückt wird, zu. Wenn das BIP zunimmt – also eine expansive Wirtschaft verzeichnet wird – ist die Politik beruhigt und attestiert sich eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Anders der Begriff der Nachhaltigkeit. Zum ersten Mal verwendet wurde der Begriff bereits Anfang des 18. Jahrhunderts in der Forstwirtschaft. Wirtschaftliches Verhalten wurde erstmalig auf seine „Enkeltauglichkeit“ hin überprüft. Neben diesem Begriff reden wir zur Erfassung des Nachhaltigkeitsbegriffs auch von Gleichgewichtser-

haltung. Das Problem ist nur, dass der Begriff der Nachhaltigkeit mittlerweile stark verwässert wurde. Schaut man sich die Homepages großer, expansiver Konzerne an wie z.B. BASF oder Voith, wird überall das Nachhaltigkeitsparadigma postuliert. Tatsächlich werden hier auch zum Teil positive Anstrengungen unternommen, um die ökologische Bilanz des Konzerns zumindest statistisch zu verbessern. Aber letztlich stellt sich die Frage, ob ein expandierendes Unternehmen überhaupt im ursprünglichen Sinne „nachhaltig“ produzieren kann. Wenn ich expandiere, steht am Ende meiner Bilanz doch immer auch eine Zunahme meines Rohstoffverbrauchs. Die Überzeugungsstrategie, durch effizientere Produktionsmethoden oder durch ökologisch verträglichere Ersatzstoffe (Konsistenz), Wachstum grüner zu machen (wir sprechen auch gerne vom „qualitativen Wachstum“), läuft dabei ziemlich an der Realität vorbei. Effizientere Produktionsmethoden mögen dabei partiell zu Rohstoffeinsparungen pro produzierter Einheit beitragen, aber bislang beobachten wir hier meistens den sogenannten Rebound-Effekt. Dieser äußert sich insofern, als dass die einbehaltenen Rohstoffe, z.B. Stahl 35

pro Auto, dafür dann zu einer Produktion von mehr bzw. größeren Autos, also zu einer Aushebelung der Nachhaltigkeit, führen. Die Nachhaltigkeit wird aber auch in einer anderen Form ausgehebelt. Jedes unternehmerische Wachstum (also auch „Grünes Wachstum“) generiert letztlich immer die Schaffung eines Mehrwertes in Form von Gewinn- bzw. Kapitalzuwächsen, die ja letzten Endes irgendwo hin fließen wollen bzw. sollen. Am Ende wird jeder erwirtschaftete Kapitalzuwachs oder unternehmerischer Gewinn entweder in den Konsum von Industrie- oder von Freizeitgütern fließen, wenn auch oft über den Umweg der Finanzmärkte, in den vor allem größere Unternehmen gerne ihre Gewinne fließen lassen. Die Reichsten der Reichen reichern ihre Kapitalgewinne auch nicht zum Selbstzweck an, sondern lassen das Geld in ressourcenintensive und damit ökologisch bedenkliche Aktivitäten fließen, wie jeder andere Konsument auch. Unterm Strich bleibt fragwürdig ob expandierende Unternehmen, die ja die Lieblingskinder der Politik sind, tatsächlich nachhaltig produzieren können.


Die Nachhaltigkeitsdebatte entstand als Reaktion auf die Folgen einer kapitalistischen Wirtschaft und exponentiellen Wachstumsentwicklung. Wachstumskritik ist heutzutage ein Sammelbegriff für eine breite Masse von Ökologie-, Ökonomieund Sozialkritiken. Wie können diese untereinander oft zwiespältigen Kritiken auf breiter Basis greifen, ohne sich gegenseitig auszuhebeln? Kell Hier stellt sich die Frage: Was sind die unterschiedlichen Kritik- bzw. Lösungsansätze? Zum einen sind das die gerade angesprochenen Konzepte des „Grünen Wachstums“, die bis heute politisch den meisten Raum einnehmen. Aber damit bleiben wir in dem Teufelskreis der Expansion hängen. Grünes Wachstum bedeutet immer noch Expansion und damit mehr Konsum, mehr Ressourcenverbrauch, auch wenn der relativ gesehen, pro produzierter Einheit geringer ausfallen sollte. Und damit wären wir beim zweiten Lösungsansatz, der den gerade beschriebenen eigentlich ausschließt. Wir müssen uns von unseren konsumistischen Lebenskonzepten lösen. Das politisch propagierte Ziel ist bislang immer noch die Konsumund damit die Absatzsteigerung und das wird definitiv nicht funktionieren, wenn wir sieben, bald acht und neun Milliarden Menschen auf unser Konsummodell einnorden, wie es unsere gigantische Werbeindustrie gerade versucht. Wir müssen genügsamere Lebensmodelle entwickeln. Die beiden Lösungsansätze hebeln sich also tatsächlich gegenseitig aus. Denkbar wäre möglicherweise, dass wir zunächst noch als Übergangsstrategie die Errungenschaften der „Green Economy“ einsetzen müssen oder sollten, da ihre Technologiefortschritte ohne Zweifel mehr Effizienz und Kon-

sistenz in der Produktion erzielen können. Insofern ist sie vielleicht eine Übergangsformel und hilft dabei, Unternehmen und Konsumenten für die Nachhaltigkeitsziele zu sensibilisieren. Aber letztlich steht ein dringend benötigter Paradigmenwechsel an, weg von unserem konsumistischen, leistungsorientierten Wohlstandsmodell und hin zu einer auf Suffizienz basierten Gesellschaft.

Grassroots Movement oder auch Graswurzelbewegungen sind politische, soziale oder gesellschaftliche Bürgerinitiativen, auch bekannt als Basisbewegungen. Ein lokales Beispiel dafür ist die Future-Blog AG in Aachen. Sie wurde am Institut für Politische Wissenschaft gegründet und hat als Zielsetzung den Aufbau regionaler Resilienz gegenüber Unwägbarkeiten einer ökologischen und finanzpolitischen Weltkrise.

Die Kritik am „Wachstumsimperativ“ ist aktueller denn je. Prominente Volkswirte wie Dr. Niko Paech sehen für westliche Volkswirtschaften den strukturellen Wachstumsrückgang als einen möglichen Ausweg aus diversen sozialen und ökologischen Problemen. Wie können diese Konzepte im Hinblick auf die Abhängigkeit nationaler Märkte zur Weltwirtschaft greifen?

wird und Welträte wie die UNO ihre Mitglieder auf ein globales Nachhaltigkeitskonzept einnorden. Das passiert zum Teil auch, wenn wir uns die Sustainable Development Goals ansehen oder die Klimaschutzvereinbarungen. Die Frage ist nur, ob die Zeit ausreicht mit Hilfe der langsam mahlenden Mühlen internationaler Vereinbarungen eine Weltgesellschaft zu verändern. Wenn also die Furcht vor dem Ausscheren aus den internationalen Verflechtungen so groß ist, brauchen wir vielleicht andere Akteure. Meines Erachtens ist hier die Dynamik der sogenannten „Grassroots Movements“, die weltweit enormen Zuwachs erfahren, zu einem signifikanten Motor innerhalb der Post-Wachstums-Debatte geworden. Sie bereiten der ängstlichen Politik weltweit den gesellschaftlichen Boden vor, um dann vielleicht in einigen, hoffentlich wenigen, Jahren politische Korrekturen mit Blick auf ein suffizienteres Leben vorzunehmen, ohne die Angst vor Wählerverlusten zu haben. Es ist die internationale Vernetzung und Kooperation der „Grassroots Movements“, die viele Post-Wachstums-Ökonomen zuversichtlich macht. Hier setzt man offenbar auf die Dynamik der wachsenden Bürgerbewegungen, die sich vom Gespenst der internationalen Marktverflechtungen nicht so treiben lassen wie die Politik.

Kell Die Abhängigkeit nationaler Märkte von den weltwirtschaftlichen Verflechtungen ist aus Sicht unserer Politiker das Hauptproblem für die Umsetzung tatsächlich effektiver Nachhaltigkeitsstandards. Die Angst, durch zu viel Nachhaltigkeit international nicht mehr konkurrenzfähig zu sein und einen Wachstumseinbruch zu provozieren, ist das große Schreckgespenst, seit wir die ökologischen Themen auf die politische Agenda gesetzt haben. Die Politik hält am „Grünen Wachstum“ fest, weil die Alternative „Suffizienz“ in einem konsumistischen Gesellschaftskonzept schwer zu verkaufen ist, wenn andere Volkswirtschaften weiterhin Wohlstandsmehrung mit Konsummehrung gleichsetzen. Eine direkte politische Durchsetzung von Suffizienz würde im Empfinden der Gesellschaft schnell als „Öko-Diktatur“ wahrgenommen. Daher hofft die Politik, dass das Thema auf globaler Ebene forciert 36


Wenn man die Wachstumsraten im Westen mit denen noch von vor 50 Jahren vergleicht, sind diese drastisch gesunken. Das Wachstum war damals bedingt durch eine hohe Nachfrage in fast allen gesellschaftlichen Sektoren. Wie kann eine globale Nachhaltigkeitspolitik entstehen, wenn Schwellen- und Entwicklungsländer gleiche Wachstumsraten für sich einfordern wollen? Kell Die Beförderung der Entwicklungsländer auf das gleiche Konsumniveau wie die Industrieländer, ohne den ökologischen und rohstoffpolitischen Kollaps zu riskieren, kommt einer „Quadratur des Kreises“ gleich. Die Frage ist nur, ob unser desaströses Konsummodell wirklich ein Synonym für Wohlstand ist, denn Wohlstand wünschen wir schließlich allen Menschen. Mehr und mehr Konsum heißt nicht zwingend Wohlstand. Das begreifen immer mehr Menschen und empfinden den Aufwand, sich durch immer mehr Arbeiten vorgegebene Konsumwünsche erfüllen zu können, zunehmend als ein sich beschleunigendes Hamsterradlaufen. Aus soziologischer Sicht schauen manche Menschen hier neidvoll auf das stärker ausgeprägte Miteinander einiger Völkergruppen in den Entwicklungsregionen, die ein suffizienteres Leben führen und uns teilweise glücklicher erscheinen, ohne den von uns definierten Konsumhintergrund. Wohlstand muss neu

definiert werden, was ja im Übrigen bereits mit der Verfassung neuer Wohlfahrtsindizes anstelle des BIP geschehen ist. Ein Überdenken unseres Wohlstands heißt nicht zwingend auf technologischen und medizinischen Fortschritt zu verzichten. Aber wir müssen vor allem in den Industrieländern lernen, zu hinterfragen, welche Technologien und Konsumaktivitäten wirklich lebenserleichternd und „glücklich machend“ sind. Diese Güter gilt es dann nachhaltig - das heißt effizient und langlebig - zu produzieren, sodass auch genügend Produkte für 9 Milliarden Menschen ohne ökologisches Desaster produziert werden können. Nun zu unserer obligatorischen Abschlussfrage: „Thinking the Future“ ist der Leitspruch der RWTH Aachen. Wie sehen Sie die Rolle der Universitäten, insbesondere der RWTH, als „Denkfabrik“, einer Verbindung aus Wachstumskonzept und Nachhaltigkeitsdebatte? Kell Die Kooperation sowie der gedankliche Austausch zwischen den Geistes- und Ingenieurswissenschaften müsste deutlich stärker ausgebaut werden. Bislang habe ich das Gefühl, dass die Geisteswissenschaft nur auf die technologischen Fortschritte reagiert, weil sie zu selten bei deren Entwicklung einbezogen wird bzw. sich selber einbezieht. Wir rennen oft den

Folgewirkungen von Technik hinterher. Wünschenswert wäre, wenn die Geisteswissenschaften künftig den möglichen Rahmen technologischer Machbarkeiten rechtzeitig erkennen würde. Gemeinsam mit den ingenieurwissenschaftlichen Kollegen könnte man beraten, was gesellschaftlich sinnvoll ist und welche technologischen Entwicklungen sich mit einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel hin zu mehr Suffizienz vereinbaren lassen. Das ist natürlich eher eine Vision als eine politisch realistische Wunschäußerung, da auch die Universitäten Teil unseres expansiven, konsumorientierten Wirtschaftskonzeptes sind und Forschung auch dem Rentabilitätsaspekt unterliegt.

Literaturempfehlungen

Binswanger, Hans Christoph (2010): Vorwärts zur Mäßigung. Perspektiven einer nachhaltigen Wirtschaft. Hamburg Felber, Christian (2012): Gemeinwohlökonomie. Wien Jackson, Tim / Leipprand, Eva (2011): Wohlstand ohne Wachstum: Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. München Paech, Niko (2013): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die PostWachstumsÖkonomie. München: 4. Auflage. Oekom Verlag Seidl, Irmi / Zant, Angelika (2010): Postwachstumsgesellschaft, Konzepte für die Zukunft. Marburg Welzer, Harald / Wiegandt, Klaus u.a. (Hg.) (2013): Wege aus der Wachstumsgesellschaft. Frankfurt a.M.

Raphaela Kell studierte von 1988 bis 1994 Politische Wissenschaft, Geschichte und Volkswirtschaft an der RWTH Aachen University. Dort promovierte sie 2011 mit ihrer Dissertation: Die strukturelle Reformunfähigkeit der Weltbank. Seit 1994 ist sie Lehrbeauftragte am Institut für Politische Wissenschaft und leitet u.a. die Future-Blog AG.

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Reportage

DAS PROJEKT LEONARDO

Zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum

von Ann-Kristin Winkens und Oliver Oschmann Die Köpfe hinter „Leonardo“ waren so freundlich, sich mit uns zu einem Gespräch über das Projekt im Rahmen unserer aktuellen Ausgabe „Thinking the Future? – Zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum“ zu treffen. Im Institut für Politische Wissenschaften (IPW) entwickelte sich bei einem Glas Wasser eine spannende Unterhaltung mit Claudia Lürken, Professor Dr. Richter und Professor Dr. Kerner.

Ein Studium an der renommierten RWTH Aachen University gleicht einem Balanceakt zwischen totaler Verzweiflung, Wissensdurst und dem ZPA. Leider gerät dabei die Fähigkeit, Probleme ganzheitlich zu betrachten, kritisch zu hinterfragen und wie auch Prof. Kerner betonte: „über den Tellerrand des einzelnen Faches hinaus zu schauen“ leicht in den Hintergrund. In der Schule hingegen war dies kaum zu umgehen, die zu leistenden Kurse waren vielseitig und vor allem interdisziplinär. Insbesondere in den technisch orientierten Studiengängen scheint diese fächerübergreifende Betrachtungsweise nicht ausreichend im Vordergrund zu stehen.

Um dieser monoperspektivischen Betrachtungsweise entgegen zu wirken, wurde im Herbst 2008 das Projekt Leonardo an der RWTH ins Leben gerufen. Kennzeichnend für das Projekt ist insbesondere die Interdisziplinarität, welche eben in vielen Studiengängen auf der Strecke bleibt. In einem Leonardo-Seminar bieten typischerweise zwei Dozenten aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen, wie z.B. Gesellschaftswissenschaften, Ingenieurswissenschaften oder Medizin, ein Lehrmodul an. Dabei werden die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit, zum Beispiel in den Bereichen Weltbevölkerung/ Gesundheit, Klimawandel, Energie,

Claudia Lürken zum Projekt Leonardo: „Das Projekt Leonardo bietet nicht nur den Studierenden interessante Perspektiven. Auch als Dozent lernt man andere Sichtweisen kennen und kann sich über die oft freiwillige Leistung der Studierenden freuen. Die Organisation des Ganzen scheint manchmal etwas schwierig zu sein, trägt aber dazu bei, die Hochschule in all ihren Facetten kennenzulernen. Die Nachfrage von Seiten der Studieren­ den steigt und im Sinne des Wachstums hoffe ich, weitere Professorinnen und Professoren als Dozenten für neue Leonardo-Module gewinnen zu können.“

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Projekt Leonardo Wasser und Mobilität, thematisiert. Allein diese Themenauswahl zeigt, dass das Projekt im besonderen Maße den Diskurs über die globalen Herausforderungen, den sich die RWTH mit ihrem Zukunftskonzept „Meeting Global Challenges“ auf die Stirn geschrieben hat, aufgreift. Dass die verschiedenen Module jedes Semester gut besucht sind, verdeutlicht ebenfalls das große Interesse an Interdisziplinarität. „Das Bedürfnis der Ingenieure und Naturwissenschaftler geht zunehmend in eine nachhaltige Richtung. Sie werden unsicher bezüglich des technischen Wachstums und wollen eine Reflexion: ‚Was bringt uns diese Technik?

Welche Probleme erzeugt sie?‘ Es geht vielmehr darum, Dinge selbstkritisch infrage zu stellen, denn die Entwicklung von Technologien ist nicht nur aus einer reinen Fortschritts- und Wachstumsperspektive zu betrachten“ betont Prof. Richter.

Aus unserer Perspektive bietet euch das Leonardo-Projekt die Möglichkeit, euer Wissen zu erweitern, das

Wenn etwas Zukunft ist, dann sind Sie es!“ (Prof. Kerner)

Das Motto der RWTH ist „Thinking the Future“, also „Zukunft denken”. Auch wenn diese Formulierung eher vage ist, können die interdisziplinären Ansätze einen Beitrag dazu leisten, sie mit Leben zu füllen. „Denn Zukunftsfragen globalen Ausmaßes können nicht in nur einer Disziplin behandelt werden“, verdeutlicht Prof. Richter.

Gelernte in einen größeren Kontext zu setzen und infrage zu stellen. Daher schließen wir uns Prof. Kerner an, der jedem Studierenden empfiehlt, einmal in seinem Studium ein Leonardo-Modul zu besuchen.

Leonardo Preis:

Leonardo Lecture:

Alle Studierenden, die regelmäßig eine Leonardo-Veranstaltung besucht haben, können teilnehmen. Dazu wird eine knapp zehnseitige Seminararbeit verfasst, die sich mit einer Fragestellung aus den behandelten Modulthemen bzw. der global challenges differenziert auseinandersetzt.

Ein jährlich stattfindender öffentlicher Vortrag mit ausgewählten Studierenden, in dem eine prominente Persönlichkeit eine gesellschaftliche Herausforderung im globalen Zusammenhang thematisiert.

Preisgeld: 1. Platz: 1000€

2. Platz: 700€

3. Platz: 500€

Weitere Informationen unter www.leonardo.rwth-aachen.de

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Lecture 2016 (am 15.11.2016): Referent wird der Staatsrechtler Prof. Dr. Udo Di Fabio sein


Reportage

ZWISCHEN KUNST UND KLIMASCHUTZ

Moderne Stadtentwicklung im globalen Zeitalter

„Aber ob Puff Daddy sich damit einen Gefallen getan hat, seinen Namen in P. Diddy umzubenennen, weiß man ja auch nicht“, sagt Ingo Nordmann grinsend, als er uns enthusiastisch über den Namen der Organisation ICLEI aufklärt. von Elina Raddy und Nils Honkomp

ICLEI ist mit 17 Büros auf allen Kontinenten vertreten, wobei das Weltsekretariat in Bonn eine koordinierende Funktion innehat. Die über 1.000 Mitgliedsstädte verteilen sich global auf 86 Länder. Die Rechtsform ICLEIs entspricht in Deutschland der eines eingetragenen Vereins. Der große Teil der Mitglieder setzt sich aus Kommunen, Städten, oder Regionen zusammen. Die Organisation wird allerdings nicht von Regierungen gefördert oder finanziert, sodass sie als eine Non-Profit-Organisation bezeichnet werden kann.

Wir befinden uns in der Stadt des alten Regierungssitzes und der Vertretung der Europäischen Kommission: Bonn. Internationaler Charme und Historizität sind allgegenwärtig, während wir über den Campus zum Treffpunkt des Interviews flanieren. Wir warten schon ungefähr eine Stunde in einem gut besuchten koreanischen Restaurant im Viktoriaviertel, als die erleichternde Rückmeldung kommt, dass das Treffen doch, wie geplant, stattfindet. Die Lokalität wirkt so farbenfroh und offen wie ihre Gäste. Zwar sei Nachhaltigkeit ein zentraler Aspekt der inhaltlichen Ausrichtung von ICLEI, die früher unter dem Namen „International Council for Local Environmental Initiatives“ bekannt war, allerdings wollte sich die Organisation von ihrem Namen nicht vollständig trennen, da sie bis dato bereits akkreditierte Beobachterin bei der UN war und das Kürzel „ICLEI“ schon ein großes Maß an Bekanntheit erlangt hatte. Heute nennt sie sich „ICLEI - Local Governments for Sustainability“, um auch der Erweiterung ihrer Aufgabenfelder Rechnung zu tragen. 40

Nach Ingos geisteswissenschaftlichem Studium absolvierte er einige Praktika und stieg schließlich bei ICLEI über ein Traineeship ein. Neben seinem Beruf als Assistent des Generalsekretärs, ein passender Job für einen Generalisten, hat er auch Zeit für seine spannenden Hobbys Poetry Slam und das Musiker-Duo „Simon & Ingo“. Morgens ins Büro, abends auf die Bühne. Man kann sich gut vorstellen, warum das anstrengend sein kann. „Und was bedeutet die Arbeit bei ICLEI genau?“ Ingo holt zwei Exemplare des Jahresberichts 2014 hervor und erklärt geduldig. ICLEI arbeitet weltweit an unterschiedlichen Projekten, die Agenden zugeordnet werden. So wird etwa in Städten Nordamerikas oder Afrikas daran gearbeitet, den Verkehr in den Innenstädten nachhaltiger und umweltfreundlicher zu machen, (EcoMobile City Agenda), während in vielen Ländern Asiens dazu beigetragen wird, den CO2-Ausstoß der Städte zu reduzieren (Low-carbon City Agenda). Welche Projekte initiiert werden, hängt also von regionalen Standortbedingungen ab. Und was macht Ingo selbst? „Ich fahr‘ jeden Tag mit dem Skateboard zur Arbeit. Mein persönlicher Beitrag zum Klimaschutz. Klingt wie ein Scherz, aber so funktioniert das tatsächlich, wenn man versucht, ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu schaffen.“ Er hat sein Skateboard an den Tisch gelehnt,


Die Zielsetzung ICLEI‘s lässt sich anhand

von zehn Agenden einteilen, die inhaltlich von verschiedenen Teams bearbeitet werden. Darunter fallen beispielsweise: Resilient City (Katastrophenmanagement), BiodiverCity (städtische Biodiversität) und Smart City (intelligente Infrastruktur).

auf dem Deck klebt ein kleiner Pinguin. Er sagt: „Yuppies destroyed my hood“. Wir schlendern zum Bahnhof zurück. Zum Glück ist in Bonn alles fußläufig erreichbar. Als wir Ingo über mögliche politische Ansätze zur Verbesserung moderner Stadtentwicklung befragen, nennt er den Ausbau der vertikalen Integration von Städten, Regionen und Staaten (City-Region-Cooperation) als einen möglichen Ansatz. „Es müsste eine effizientere und wechselseitige Zusammenarbeit von Staaten, Regionen und Städten geben“, beantwortet er zielgerichtet und konsequent. Da wir uns zufällig in der Nähe der Infobox des bürgernahen Vereins Viva Viktoria befinden, fragen wir, ob der lokal ansässige Bürger insgesamt bei ICLEI auch berücksichtigt wird. „Wir sind global tätig. Lokale Bürgerinitiativen fallen nicht direkt in unseren Aufgabenbereich, auch wenn wir die politische Beteiligung der Bevölkerung unterstützen.“ Viva Viktoria e.V. hat erfolgreich den Bau eines weiteren Einkaufszentrums in der Bonner Innenstadt verhindert.

Ingo Nordmann ist 29 Jahre alt und absolvierte den Masterstudiengang Global Studies in Breslau (Polen), Stellenbosch (Südafrika) und Leipzig. Jetzt arbeitet und lebt er in Bonn. Die Reportage basiert auf dem Interview, das am 29. April 2016 geführt wurde.

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Interview

URBAN GARDENING im HirschGrün und Vielfeld

von Nico Riedemann und Stefan Heidrich Urbaner Gartenbau, auch Urban Gardening genannt, ist die meist kleinräumige, gärtnerische Nutzung städtischer Flächen innerhalb von Siedlungsgebieten oder in deren direkten Umfeld. Diese Gärten befinden sich nicht in Privatbesitz, sondern sind für die gesamte Gesellschaft zugänglich. Jeder kann dort hingehen und gärtnern wie er möchte. Eine nachhaltige Bewirtschaftung, umweltschonende Produktion und ein bewusster Konsum von landwirtschaftlichen Erzeugnissen stehen dabei im Vordergrund. Das Interessante an dieser Form des Gärtnerns ist die zentrale Lage in der Stadt und der damit verbundene Kontrast zur städtischen Bebauung. Die Gärten können gerade die Interkulturalität und das Zusammenleben im Quartier fördern, da sie einen Raum für Kommunikation bieten, der in einem regulär geplanten Stadtteil sonst so nicht vorhanden ist. Das HirschGrün in der Richardstraße und das Vielfeld im Stadtpark Aachen bewirtschaften nunmehr seit drei Jahren diese zwei Flächen, um Anwohnern die Idee und Praxis des urbanen Gartenbaus nahezubringen. Im Jahr 2012 entstand aus verschiedenen Bürgerinitiativen die Idee, urbane Stadtgärten in Aachen zu etablieren, sodass sich im Mai 2013 der Verein „Urbane Gemeinschaftsgärten e.V.“ gründete. Natürlich steht dem Verein ein Vorstand vor, aber eine feste Mitgliederstruktur gibt es nicht. Es muss nichts unterschrieben oder bezahlt werden, um mitgärtnern zu können. Neben den verschiedenen Pflanzenkulturen befindet sich im HirschGrün noch eine Give-Box, in der gebrauchte Gegenstände abgegeben oder mitgenommen werden können, sowie ein Food-Sharing-Fairteiler, Sitz- und Liegegelegenheiten. Im Westpark wurden von der Bleiberger Fabrik zusammen mit dem Verein Urbane Gemeinschaftsgärten e.V. Hochbeete aufgestellt und im Driescher Hof wird ein neuer interkultureller Gemeinschaftsgarten errichtet. Das Potenzial für neue Gemeinschaftsgärten in Aachen ist groß, denn auch die Bezirksvertretung Mitte stellte jüngst einen Antrag an die Stadtverwaltung, neue potenzielle Flächen zu sichten. Vor allem vor dem globalen Hintergrund der Versiegelung und Erosion der Böden und dem gleichzeitigen Anstieg der Bevölkerung in Städten gerät urbanes Gärtnern vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit. Aachen

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Wir trafen Alexandra Kessler vom HirschGrün zum Interview: Was sind die Ziele des Projektes? Was ist deine persönliche Motivation, Urban Gardening zu unterstützen? Kessler Grundsätzlich hat der Garten das Ziel zu zeigen, dass Gemüseanbau auch in der Stadt möglich ist. Außerdem verfolgen wir einen großen Lehrauftrag insbesondere gegenüber Kindern, aber natürlich auch gegenüber Erwachsenen. Es gibt immer wieder Kinder, die verwirrt sind, weil die Möhre aus der Erde gezogen wird. Daher arbeiten wir auch mit Schulen zusammen. In erster Linie wollen wir also einen Lehreffekt schaffen. Was mit dem Garten nicht geht, ist eine komplette Selbstversorgung für größere Massen. Es ist eher ein Schauobjekt und ein Genussgarten. Wir wollen damit einen nachhaltigen Beitrag zur Stadtentwicklung leisten. Wir finden es wichtig, zu zeigen, dass Flächen im Stadtbild vielfältig grün genutzt werden können. Es soll Liege- und Erholungsflächen geben, aber genauso auch Obstbäume und -sträucher und natürlich Gemüsepflanzen. Diese Pflanzen bereichern besonders die Biodiversität, indem sie viele Tierarten anlocken. Wenn man sich die Qualität der Fläche

am Anfang anguckt und mit dem jetzigen Zustand vergleicht, wird sichtbar, dass dort aus totem Boden eine lebendige Fläche geworden ist. Der Boden hat zwar noch immer keine perfekte Qualität, aber wir arbeiten daran, diese stetig zu verbessern. Die Bürger können sich dort austoben und einen persönlichen Beitrag zur Stadtgestaltung leisten.

logischer Bewirtschaftung schaffen. Das HirschGrün kann auch ein Gedankenanstoß sein, selbst Gemüse im Garten oder auf dem Balkon anzubauen oder die solidarische Landwirtschaft zu unterstützen . Da gibt es sehr viele Möglichkeiten.

Ihr versucht also die Menschen auf den natürlichen Gemüseanbau aufmerksam zu machen, weg von den Supermärkten hin zu einer selbstständigen Versorgung. Inwieweit ist es möglich, damit einen gesellschaftlichen Transformationsprozess einzuleiten?

Kessler Im ersten Jahr war es zunächst wichtig, dem Garten überhaupt eine Form zu geben, die von den umliegenden Bewohnern – auch aus ästhetischen Gründen – akzeptiert wird. Je stärker der Garten gewachsen ist, desto mehr haben wir versucht, über den Garten hinaus aktiv zu werden und bei Veranstaltungen wie dem Lothringair teilzunehmen. Im zweiten Jahr begannen wir mit Schulen zusammen zu arbeiten und der Generierung von Fördermitteln. Wir sind also

Kessler Ja, das ist vielleicht sehr groß gedacht. Aber es ist schon so, dass wir mit dem Garten einen Beitrag zur Sensibilisierung der Menschen hin für mehr Naturschutz und öko-

Was habt ihr bisher mit euren Projekten erreicht?

Solidarische Landwirtschaft

Bei dem Konzept der solidarischen Landwirtschaft tragen mehrere Haushalte die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs, wofür sie im Gegenzug dessen Ernteertrag erhalten. Die Lebensmittel der Landwirtschaft werden dabei nicht mehr über den Markt vertrieben, sondern fließen in einen eigenen, von Teilnehmerseite mit organisierten und finanzierten, durchschaubaren Wirtschaftskreislauf ein. Auf dem Solawi-Hof „Gut Wegscheid“ am Aachener Stadtrand wählt man zwischen einem kleinen bzw. großen Anteil und bekommt dementsprechend wöchentlich seinen Anteil an der Ernte.

Vielfeld

HirschGrün

Originalkarte © Stamen Design (stamen.com), verfügbar unter CC BY 3.0. Daten © OpenStreetMap-Mitwirkende, verfügbar unter CC BY-SA.

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jedes Jahr etwas professioneller geworden. Auf die Kooperation mit den Schulen sind wir besonders stolz. Besonders die Schule in der Beekstraße kommt regelmäßig in den Garten. Die Kinder sind sehr begeistert, daher macht uns diese Zusammenarbeit unheimlich viel Spaß. Wir wollen dieses Projekt nun auch auf unbegleitete, minderjährige Geflüchtete ausweiten, als Teil der Freizeitangebote für Geflüchtete des pädagogischen Zentrums Aachen. Insgesamt versuchen wir, verschiedene Zielgruppen anzuziehen und damit einen gesamtgesellschaftlichen Austausch zu etablieren. Welche Zustimmung habt ihr bei den Projekten erfahren und welche Seiten stehen euch kritisch gegenüber? Kessler Der CDU-Politiker Ralf Otten hat einen Antrag an die Stadtverwaltung gestellt, in dem nach Alternativflächen für das HirschGrün gesucht werden soll. Das wurde dann nochmal geändert, weil auch über die Medien Druck ausgeübt wurde. Im Bebauungsplan der Stadt hat dieser Garten bereits einen festen Platz. Wir werden im Moment stets beruhigt, dass alles in

Ordnung wäre, dennoch herrscht immer noch ein gewisses Gefühl der Unsicherheit. Die Kritik betraf besonders den optischen Zustand des Gartens, der natürlich aufgrund der bestehenden Baustelle nach dem Winter schwierig aufzuwerten war. Der Garten ist ein Experimentierfeld, wo man auch mal alternative Formen ausprobiert und diese treffen nicht den ästhetischen Geschmack aller Menschen. Wir versuchen, den Garten möglichst vielfältig zu gestalten, sodass sich dort viele Menschen wiederfinden. Ansonsten gibt es eigentlich keinen Widerspruch. Wir haben eine sehr breite Front hinter uns, die uns Zuspruch gibt. Das Leitthema dieser Ausgabe lautet „Thinking the future? – zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum“. Welchen Beitrag leistet das HirschGrün zur Nachhaltigkeit – auch im Sinne der Postwachstumsökonomie? Kessler Die Frage, die sich die Postwachstumsökonomie stellt, ist, in gewisser Weise, wie man einen bestimmten Lebensstandard halten kann – mit angenehmen Verzicht. Ich glaube, dass da ein Garten einen großen Beitrag leisten kann.

Er symbolisiert den Beweis dafür, dass man sich den Großteil des Jahres mit Nahrungsmitteln aus dem eigenen Garten versorgen kann. Wir lernen neue und alte Anbauweisen, reproduzieren Techniken zum Bau von Hochbeeten oder Komposthaufen. Außerdem lehren wir die Pflege von Bienenvölkern oder die Düngung mit Hilfe einer Trockentoilette. Weiterhin reparieren wir sehr viel und achten darauf, möglichst wenige neue Materialien zu verbrauchen. Vielen Dank, Alexandra. Hast du noch ein Anliegen? Kessler Wir haben gemerkt, dass es sehr wichtig ist, von uns aus einen Dialog zu führen. Das fiel auf, als die Politik nicht direkt auf uns zukam, als es Kritik am HirschGrün gab, sondern wir den Entwicklungen hinterherlaufen mussten. Es ist für alle zivilgesellschaftlichen Initiativen, die etwas im partizipativen Bereich machen, von großer Bedeutung, dass man an die Öffentlichkeit geht und mit allen denkbaren Akteuren einen Dialog führt. Das war eine wichtige Lektion in dieser politischen Debatte. Es ist nicht einfach nur ein Garten, sondern ein riesiges Projekt mit sehr vielen bürokratischen Hürden, vielen Kommunikationsaspekten und eben auch mit dem eigentlichen Thema Nachhaltigkeit und ökologischer Gartengestaltung.

Quellen Aachener Stiftung Kathy Beys: ‚Solidarische Landwirtschaft’ im Lexikon der Nachhaltigkeit. Online unter: https://www.nachhaltigkeit. info/artikel/solidarische_ landwirtschaft_2020.htm [Zugriff am 28.04.2016] Gut Wegscheid: Produkte in der Solawi. Online unter: http://gutwegscheid.net/produkte/ [Zugriff am 28.04.2016] Mehr Informationen zum Thema solidarische Landwirtschaft und Urban Gardening bietet der Dokumentarfilm „Die Strategie der krummen Gurken“.

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Reportage

PERSPEKTIVWarum Zukunft in Hinblick auf Klimawandel und Globalisierung neu gedacht werden muss

WECHSEL IN DER ENERGIEPOLITIK

von Katrin Klubert Aachen liegt in der Nähe zweier umstrittener Energiequellen: Im Westen Tihange, im Osten der Tagebau Hambach. Wir sprachen mit Sabine Bausch, ehemals wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissen­ schaft mit den Schwerpunkten Energiepolitik sowie Wissenschafts- und Tech­ nikforschung, nun im Integration-Team der RWTH Aachen University tätig, über Begrifflichkeiten, Protest und Wandel in der Debatte rund um Energie. An Aachens Fenstern prangen die Plakate mit dem Atomkraft-Symbol auf gelbem Grund. Sie fordern: „Tihange abschalten!“ Nur knapp 60km entfernt von der Kaiserstadt steht ein belgischer Reaktor, der – so die Kritik – erhebliche Sicherheitsmängel aufweist. Nach mehreren Zwischenfällen, zuletzt im Februar 2016, und der erneuten Entscheidung, die Atomanlage wieder ans Netz zu nehmen, ist die Ablehnung der Bevölkerung in der Grenzregion mittlerweile groß. Nutzen und Risiko der Atomkraft Warum ist dieser Reaktor noch in Betrieb oder was sind die Vorteile der Atomkraft? „Atomstrom hilft, sich unabhängig von Rohstoffimporten zu machen und CO2 einzusparen, das sind energie- und umweltpolitisch zunächst klare Vorteile“ erklärt Sabine Bausch. „Allerdings ist schon durch Tschernobyl 1986 und spätestens seit Fukushima 2011 die Gefahreneinschätzung präsenter geworden. Heute wird offen über 45

das Risiko von Endlagerung und unvorhergesehenen Katastrophenfällen diskutiert. Dennoch steht Deutschland in Europa mit seiner atomkritischen Haltung weitgehend alleine da, obwohl u.a. auch Belgien den Atomausstieg beschlossen hat. Tihange allerdings ist ein Spezialfall. Die Kritik richtet sich gegen das Alter und den Zustand des Reaktors und der damit verbundenen Unsicherheit. Es verlagert sich hier die Diskussion über Atomkraft generell hin zum Ringen um Expertenwissen: Die Prüfungskommission, die die Inbetriebnahme von Tihange wieder genehmigt hat, ist mit internationalen Wissenschaftlern besetzt, und dennoch wird Belgien von Deutschland und der hier tätigen Reaktorsicherheitskommission für den Weiterbetrieb kritisiert.“ Wer hat also Recht? Wessen Maßstab ist der adäquateste? Auf europäischer Ebene fließt die Risikobewertung unterschiedlich gewichtet in das Kosten-Nutzen-Kalkül mit ein.


morgen bewältigt werden müsse. Demzufolge droht der Begriff sozial-ökologisch zum Oxymoron zu werden, zumindest für die Verlierer der Umstrukturierung. Außerdem ist die Versorgungssicherheit das Standard-Argument gegen den Ausstieg aus der Braunkohle. Grüner Energiemarkt? Als Alternative aus dem Dilemma der Stromversorgung könnten grüne Energien mithilfe sogenannter smart-grid-Technologien den Strommarkt effizienter und flexibler machen und damit eine Alternative auf Augenhöhe der klassischen Energielieferanten werden. Also sind Elektromobilität und Solarzellen die Lösung? „Auf einmal ist die Wissenschaft mittendrin im politischen Konflikt. Viel zu selten wird die vermeintliche Objektivität bei der Berechenbarkeit von gegenwärtigen und zukünftigen Faktoren und Kosten thematisiert.“, kritisiert die Politikwissenschaftlerin. Protest am Hambacher Forst Ebenfalls nicht weit von Aachen entfernt befindet sich der Tagebau Hambach. Das Loch im Erdboden ist an der tiefsten Stelle 370m tief und erstreckt sich schon heute über eine Fläche von 4300 Hektar, was etwa 6000 Fußballfeldern entspricht. Hier hat sich der Protest manifestiert: Lokale und internationale Aktivisten halten den Hambacher Forst besetzt, um das Abholzen zwecks Kohlegewinnung und -verstromung zu verhindern. Es sind Baumhäuser und ein Camp entstanden, welche auch als Protest gegen die Energiepolitik insgesamt zu verstehen sind. Aachen liegt damit an der Schnittstelle zwischen Atomkraft und Braunkohle; verschiedene Formen des Protests entzünden sich an den Folgen der Energiepolitik.

Das Risiko der Braunkohle ist von einer anderen Qualität als das der Atomkraft: „Obwohl Rekultivierungen ja schon durchgeführt wurden, ist das Versprechen der ‚blühenden Landschaften nach dem Wiederaufbereiten’ so natürlich auch noch nicht eingelöst worden“, erläutert Bausch. Die Ewigkeitskosten tragen ihren Namen nicht umsonst, die Folgen in die weit entfernte Zukunft hinein abzuschätzen, wäre anmaßend und nicht zuletzt sind die Treibhausgasemissionen durch Braunkohle beträchtlich. Beachtlich ist auch der Aspekt der Wirtschaftlichkeit deutscher Kohleproduktion: Im internationalen Vergleich ist die Qualität im Verhältnis zu den Produktionskosten zumindest ernüchternd. Warum hält man dennoch weiterhin an der Braunkohle fest? Laut Bausch ließe die Bergbautradition den Kohleabbau zur „gefühlten Notwendigkeit“ werden. Dabei würde das Schließen dieses Industriesektors strukturell einen massiven Wandel bedeuten, der jedoch nicht von heute auf 46

Hier mahnt die Politikwissenschaftlerin zur Vorsicht: „Unter dem Aspekt der Emissionslosigkeit ist das sicherlich eine passende Antwort. Allerdings steigt der Bedarf für andere Ressourcen, wie beispielsweise Silizium. Und auch da wissen wir: Die Rohstoffe der Erde sind erschöpflich und eine direkte Lösung des Klimaproblems können wir damit auch nicht herbeiführen. Vielmehr steigt unser Stromverbrauch mit unseren Möglichkeiten. Wo kommt der Strom für Elektroautos her? Smarttechnologien brauchen ebenfalls Ressourcen und sind wenig recyclebar.“ Es scheinen also alle Zeichen auf Verbrauchsreduzierung zu stehen, zumindest als Ergänzung zu neuen Energiekonzepten. Das heißt in der Konsequenz Fahrrad und ÖPNV statt Elektroautos? Soziale Dimension „Da ist der Link zur Wirtschaftsordnung natürlich offensichtlich, deren Grundlage Wachstum und Konsum ist. Verzicht, Teilen, Reduktion lassen sich damit schwer vereinbaren. Auch, weil die Folgen


dieser Art des Wirtschaftens für uns nicht gut sichtbar sind. Im Prinzip müsste die soziale Frage, die durch den Klimawandel noch verstärkt wird, noch einmal global verhandelt werden. Das Elend ist vielleicht nicht mehr direkt für uns präsent, aber nicht verschwunden. Es gibt immer wieder Ansätze, das zu thematisieren, aber die Mechanismen sind sehr wirkmächtig. Mittlerweile gibt es neuere Ansätze des Mittelwegs, das heißt, wir gehen weiterhin den Weg des Konsums, aber überlegen uns, wie man z.B. Komponenten in Elektrogeräten austauschbar machen oder längere Produktzyklen einrichten kann. Das erfordert aber vermutlich auch höhere Preise.“ Im Alltäglichen sei man, laut Bausch, mehr mit seinen aktuellen Bezügen als mit der globalen Energie- und Klimasituation konfrontiert. Trotzdem komme man an der Verantwortung des Einzelnen nicht vorbei. Diesen Widerspruch auszuhalten – zwischen persönlichem Leben und Anspruch – sei schwierig. Die Protestierenden am Hambacher Forst haben sich entschieden, diesen Widerspruch für sich persönlich konsequent aufzulösen, indem sie eine Zeit ihres Lebens in Baumhäusern oder im Protestcamp verbringen.

Entscheidungsfindung bei Energiefragen Wie wirksam ist aber eine solche Form des Protestes? „Das Energiethema ist abstrakt und so provoziert es radikale Haltungen.“, setzt Bausch an, „ Die Bewegung am Hambacher Forst ist sowohl ökologisch als auch antikapitalistisch zu verorten, es gibt durchaus unterschiedliche Strömungen. Eine derart radikale Form des Protests bringt sicher keinen Systemumschwung mit sich. Vielleicht wird am Ende eine breite Bewegung gar verhindert, weil viele eine solche Kompromisslosigkeit nicht mittragen wollen. Leer stehende Autos anzuzünden, was dort auch geschieht, scheint ja geradezu pubertär, Bäume zu besetzen hingegen könnte sicher eher toleriert werden von einer breiteren Schicht der Aachener Bürger und Bürgerinnen.“ Was aber tun, wenn tagtäglich Fakten geschaffen werden? Braunkohle und Atomkraft, seien, so Bausch, langwierig angelegte Technologien. In einer Demokratie müsse ja eigentlich alles revidierbar sein. „Aber was machen wir mit Dingen, die langfristig und in ihren Folgen nahezu irreversibel sind?“, fragt sie. Es gebe eine Spannung zwischen der repräsentativen Demokratie und den Anforderungen

an großtechnische Lösungen. Die Politik befinde sich in einem Lernprozess: Spätestens seit Stuttgart 21 wisse man, dass die Planung von Großprojekten von Anfang an in einen öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess eingebunden werden sollte. Müsste demnach am Ende der Gemeinwohlbegriff, mit dem vor etlichen Jahren die Kohleförderung oder die Atomkraft legitimiert wurde, aktualisiert werden? Vor dem Hintergrund, dass inzwischen der Klimawandel und die Globalisierung zu politischen Tatsachen geworden sind, die in jegliches Nachdenken über Energiefragen einfließen sollten, kann Gemeinwohl nicht mehr national gedacht werden. Der Protest ist dabei der Stachel, der permanent darauf hinweist, dass Diskussionsbedarf besteht und im besten Fall konstruktive Debatten auslöst.

SMART-GRID

Ein Smart Grid, auch „Intelligentes Stromnetz“, ist ein Stromnetz, das nicht nur elektrische Energie verteilt, sondern zugleich über Datenkommunikation und elektronische Steuerung Erzeugung und Verbrauch von Strom aufeinander abstimmt. So können Lastspitzen zu ungünstigen Zeiten vermieden und die notwendigen Reserven bei der Stromerzeugung und -verteilung reduziert werden. Im herkömmlichen Stromnetz wird lediglich die Stromerzeugung an den Verbrauch angepasst.

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Sabine Bausch vom Integration-Team der RWTH Aaachen University


Januskopf

SAGT DIE EINE SEITE „Thinking the Future? Zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum“... Klar schreien derzeit quer durch die Gesellschaft Millionen von Menschen nach Nachhaltigkeit und dem Ende des bösen Wachstumsimperativs – die Realität unserer Wirtschaftsordnung sieht aber nun einmal anders aus! Wirtschaftliches Wachstum war, ist und wird immer ein entscheidender Faktor für gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt bleiben: Bei konstant gleichbleibender volkswirtschaftlicher Produktion, muss diese im weltweit mehr als zutreffenden Falle von Bevölkerungswachstum auf eine größere Anzahl von Personen verteilt werden. Ein stabiles pro-Kopf-BSP oder -BIP bei stetigem Bevölkerungswachstum setzt daher zur Aufrechterhaltung des bisherigen

Es hilft weder uns noch den ärmeren Regionen dieser Welt, wenn wir uns zurück in vorindustrielle Verhältnisse runterwirtschaften“ Lebensstandards wirtschaftliches Wachstum voraus. Ohne Wachstum bleiben unsere Kapital- und Produktionsressourcen ungenutzt, was zu Arbeitslosigkeit, geringeren Staatseinnahmen und entsprechend geringeren Staatsausgaben führt. Niedrigere staatliche Ausgaben für Infrastruktur, Bildung und Soziales verursachen wiederum eine Einschränkung der wirtschaftlichen Nachfrage, sodass sich schließlich eine verheerende Abwärtsspirale in Gang setzt, die die gesamtwirtschaftliche Aktivität auf ein immer geringeres Niveau fallen lässt. Was bringt nachhaltiges Wirtschaften

ohne Wachstum, wenn wir uns dadurch unseres eigenen materiellen Wohlstands und allen weiteren damit einhergehenden technologischen, sozialen und kulturellen Errungenschaften berauben? Es hilft weder uns noch den ärmeren Regionen dieser Welt, wenn wir uns zurück in vorindustrielle Verhältnisse runterwirtschaften. Mehr Wachstum bedeutet mehr materiellen Wohlstand, der verteilt werden kann und den vor allem Entwicklungsländer nach wie vor brauchen! Darüber hinaus stellt Wirtschaftswachstum einen wichtigen Motor für technischen Fortschritt dar: Technische Innovationen sind Voraussetzung für steigende Produktionsmöglichkeiten bei gleichbleibend beschränkten Ressourcen. Mit weiteren Innovationen werden letztendlich auch nachhaltigere Lösungen kommen. Ohne die zahlreichen technischen Innovationen, vor allem die des letzten Jahrhunderts, wären wir außerdem nie in der Lage gewesen, die stetig steigende Weltbevölkerung zu ernähren – moderne Trawlerflotten holen mittlerweile das Hundertfache der über Jahrhunderte hinweg üblichen Fischmenge ein. Doch die durch den technologischen Fortschritt ermöglichte zunehmende Rationalisierung, Automatisierung und Substitution der menschlichen Arbeit führt auch zur stetigen Freisetzung von Arbeitskräften. Und auch hier bleibt Wachstum die Lösung: Wirtschaftswachstum, im Sinne der Entstehung neuer Produkte und Sektoren, ermöglicht die Weiterbeschäftigung von solch freigesetzten Arbeitskräften. Neben den oft unbedacht wirkenden Schreien nach Nachhaltigkeit, dürfen wir auf keinen Fall die harte, wirt48

schaftliche Realität vergessen. Wir alle wollen Arbeit und Wohlstand. Wenn die Weltbevölkerung wächst, muss die Wirtschaft mitwachsen, um uns diese Arbeit und diesen Wohlstand geben zu können. Dafür müssen wir unseren Wirtschaftsmotor am Laufen halten, indem wir ihn weiter mit Rohstoffen und Anreizen füttern: Der Markt gibt, der Markt nimmt. Wir brauchen Wirtschaftswachstum – es ist alternativlos. Ob wir es wollen oder nicht: Der Markt diktiert.


SAGT DIE ANDERE SEITE „Thinking the Future? Zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum“... Um konstruktiv über unsere Zukunft reden zu können, müssen wir verdammt nochmal nachhaltig denken! Ich meine: Die stetige Klimaerwärmung und das Schmelzen der Polarkappen, die immer weiter schwindenden fossilen Rohstoffe und das sture Beharren auf jenen, der munter sämtlichen Wohlstand akkumulierende Raubtierkapitalismus und die dadurch stetig auseinanderdriftende Kluft zwischen Arm und Reich – reicht das nicht? Das alles und trotzdem scheint ein Großteil unserer Gesellschaft nach wie vor am wirtschaftlichen Wachstumsimperativ festhalten zu wollen. Was zur Hölle soll das?!

Wirtschaftswachstum mag zwar in mancherlei Hinsicht ein wichtiger Motor für steigenden Wohlstand und Fortschritt gewesen sein, doch bedeutet der weiterbestehende blinde Glaube an grenzenloses Wachstum in einer Welt mit endlichen Ressourcen zukünftig nicht grenzenlosen Fortschritt und Wohlstand, sondern ganz im Gegenteil: Es bedeutet nichts Geringeres als unseren langfristig nicht zu vermeidenden Niedergang. Ob nun Klimakatastrophen oder durch untragbar gewordene, soziale Ungleichheiten befeuerte zivile Unruhen unsere bisherige Ordnung erschüttern werden, sei dahingestellt, aber klar ist: Unsere ökologischen und sozialen Probleme werden nicht weniger, wenn wir nicht bald umdenken und lernen, nachhaltig zu wirtschaften! Die Belastungsgrenze unserer Umwelt ist schon lange bei Weitem überschritten und trotzdem verschlingen, verbrennen und verschwenden wir weiterhin Unmengen von immer knapper werdenden und ohnehin schon begrenzten Ressourcen. Der unstillbare Hunger unserer kapitalistischen Wirtschaftsordnung nach mehr Wachstum ist nichts weiter als eine hohle Ideologie, die der Totengräber für den Fortschritt und Wohlstand sein wird, den sie zu erreichen und zu wahren sucht. Die neoliberalen Wachstumsstrategien der vergangenen Jahrzehnte waren auf kurzfristigen Profit ausgelegt, haben aber bereits genug langfristigen Schaden angerichtet und zahlreiche, mehr als bedenkliche Strukturen verfestigt, die unsere Existenz in ihrer heutigen Form gefährden. Und warum? Weil die Wirtschaft immer mehr zum bloßen Selbstzweck verkommt – eine gigantische Maschinerie, die für den maßlosen Profit 49

der Wenigen arbeitet, auf Kosten der restlichen Gesellschaft und der Umwelt. Was bringt steigender materieller Wohlstand, wenn er sich in völlig überzogenem Maß auf einige Wenige verteilt? Die Wirtschaft sollte als gesellschaftliche Institution ein Werkzeug sein, welches angesichts begrenzter Ressourcen für die Befriedigung der Bedürfnisse aller Menschen arbeiten sollte. Doch immer mehr verschiebt sich die Logik dieses Systems in eine groteske Richtung. Zum Zwecke des kurzfristigen Profits werden der Mensch und seine Umwelt entbehrlich und überflüssig für eine „funktionierende“ Wirtschaft. Sie sind nichts weiter als ersetzbare Faktoren einer eindimensionalen Kosten-Nutzen-Rechnung. Wir arbeiten nicht mehr, um leben zu können, sondern leben, um zu arbeiten. Und das nicht mal mehr für uns selbst, sondern für die Knochenmühle des Wachstums- und Profitmaximierungswahns.

Wir arbeiten nicht mehr, um leben zu können, sondern leben, um zu arbeiten“ Aber was interessiert es euch, die ihr von diesem System profitiert? Ist doch egal! Hauptsache Milliarden­ summen auf euren Konten – nach euch die Sintflut! Und was gibt es schon am täglichen saftigen Steak auszusetzen? Nichts! Nach euch die Sintflut! Vormittags im Büro zur Profitmaximierung die letzten Ressourcen aus der ausgelaugten Umwelt pressen und nachmittags den eigenen Kindern ins Gesicht lügen, dass man ihnen nur das Beste für die Zukunft wünscht? Egal... Nach euch die Sintflut.


Interview

WIR FRAGEN,

PROF. DR.-ING. SCHMACHTENBERG ANTWORTET

Herr Professor Dr. Schmachtenberg, was verstehen Sie unter dem Leitspruch der RWTH Aachen University „Thinking the Future“? Wir verstehen es als eine unserer Aufgaben, uns den „Global Challenges“, den großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen. Wir wollen die Zukunft gestalten – dafür müssen wir sie denken. Die RWTH Aachen University will Antworten auf die relevanten Fragen der Gesellschaft finden – deswegen haben wir acht Profilbereiche gebildet, die solchen Fragen sehr konzentriert und im Zusammenspiel vieler Disziplinen auf dem Fundament exzellenter Grundlagenforschung nachgehen. Unsere Universität forscht im Rahmen der Exzellenzinitiative an vielen innovativen Projekten im Bereich der Nachhaltigkeit. Glauben Sie, dass ökologische Faktoren unabhängig von der Drittmittelfrage eine zentrale Rolle für die RWTH darstellen? Ich bin davon überzeugt, dass wir unsere Gesellschaft und Wirtschaft viel nachhaltiger und ganzheitlicher denken müssen. Deshalb sind ökologische Faktoren essenziell in unserer Forschung. Denken Sie an die Energiewende. In unserem Profilbereich „Energy, Chemical & Process Engineering“ stellen wir uns unter anderem die Frage, wie wir künftig mit nachhaltiger Energie und nachhaltigen Materialien wirtschaften können. Seine Hauptforschungsfelder wie Stoffumwandlung, Energiegewinnung und -speicherung lassen sich ohne den Aspekt der Nachhaltigkeit nicht bearbeiten. Welche interdisziplinären Projekte werden an der RWTH künftig angeboten, um gesamtgesellschaftliche Themen gemeinschaftlich und ergebnisorientiert zu bearbeiten? Da gibt es eine ganze Reihe sehr guter Beispiele. Besonders anschaulich lässt sich diese Frage am Beispiel der Mobilität der Zukunft beantworten. Die RWTH Aachen University ist einer der maßgeblichen Treiber im Bereich des Elektromobils ebenso wie im Bereich des autonomen Fahrens. Stellen Sie sich vor, Sie werden in absehbarer Zukunft vor dem SuperC in ein Fahrzeug steigen, das Sie autonom und allein mit Strom angetrieben, der auch noch aus regenerativen Energiequellen stammt, auf den Campus fahren wird. Reizvoll, oder? Den Weg zu dieser neuen Form der Mobilität können Ingenieure aber nicht alleine gehen. Da sind gleichermaßen ethische – etwa zur Verantwortung –, betriebswirtschaftliche, politische und viele weitere Fragen von verschiedenen Seiten zu klären. Impulse werden an dieser Stelle ganz gewiss die neuen Professuren in unserem Projekthaus HumTec geben. Interdisziplinärer geht es kaum!

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AUSBLICK: AUSGABE 3 Ein unabhängiges Studierendenmagazin innerhalb der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen University. Kontakt: https://www.facebook.com/philoufs7 info@philou.rwth-aachen.de

Organisation Caner Dogan Stefan Heidrich Jan Korr Nina Lentzen Thomas Ruddigkeit Sascha Zantis

Lektorat Nils Honkomp Elinor Lazar Mareike Rhiemeier Annika Vogelbacher Ann-Kristin Winkens Bünyamin Yuvarlak

Layout Sarah Hilker Oliver Oschmann Nico Riedemann Robert Terasa

Öffentlichkeitsarbeit Defne Erel Katrin Klubert

Hauptverantwortlicher Jan Korr Studierendenmagazin philou. e.V. Hohenstauffenallee 58 52074 Aachen Im Namen der gesamten Redaktion bedanken wir uns herzlich bei mehr leben, dem Studierendenparlament, dem Philosophischen Institut, Leylas Kulturkeller, allen Fachschaften der RWTH Aachen University, Alexandra Vent, Michael Lazar und allen anderen Mitwirkenden, die Zeit, Rat und Geld zur Verfügung gestellt haben.

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SCHÖNE NEUE WELT? Mensch und Maschine im digitalen Zeitalter Hinsichtlich der rasant voranschreitenden technischen Entwicklung und der damit einhergehenden Innovationen stehen uns tiefgreifende Veränderungen bevor. Die Folgen der technischen Revolution, der „Industrie 4.0“, werden die uns geläufigen gesellschaftlichen Strukturen epochal infrage stellen. Dieser Prozess führt zwangsläufig zu bedeutenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, in zwischenmenschlichen Beziehungen und der allgemeinen Kommunikation. Um nur einige Beispiele zu nennen: Bereits im Jahre 2030 sollen kleine Roboter in unseren Blutbahnen Krebszellen bekämpfen und die künstliche Intelligenz soll bis dahin soweit ausgereift sein, dass sie menschliche Intelligenz sinnvoll ergänzen könnte. Doch wo führt diese Entwicklung zwischen Social Media und Entfremdung hin? Leben wir in einer „Gesellschaft 4.0“? Wie werden die Menschen in Zukunft ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn die stetige Automatisierung ihre Arbeitsplätze verdrängt? Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf das soziale Verhalten? Wo befinden wir uns in der technologisch biologischen Evolution und wohin führt sie uns?


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