revue 2021/28

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Mare Monstrum Flucht und Migration gehören zu den beherrschenden Fragen und Herausforderungen der Zukunft. Statt Scheinlösungen bedarf es konkreter Maßnahmen. Zweiter Teil der Serie. Oktober 2013: Bei der Seenotrettungszentrale in Rom geht um 12 Uhr 39 ein Hilferuf ein. 61 Meilen von der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa und 118 Meilen von Malta entfernt haben Maschinengewehrsalven libyscher Milizen ein Fischerboot getroffen. An Bord sind etwa 480 Personen, vorwiegend syrische Flüchtlinge. Obwohl ein Patrouillenschiff der italienischen Marine in der Nähe ist, bleibt rechtzeitige Hilfe aus. Erst nach fünf Stunden, als das Flüchtlingsboot kentert, werden Schwimmwesten ins Wasser geworfen. Etwa 300 Menschen ertrinken, darunter 60 Kinder. Einige Tage nach dem Schiffsunglück startet die italienische Regierung das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“. Dessen Ziel ist es, mit Schiffen und Flugzeugen des Militärs in der Nähe der nordafrikanischen Küste aktiv nach Booten mit Migranten Ausschau zu halten. Das italienische Militär rettet in einem Jahr bei Hunderten von Einsätzen 82.000 Menschenleben. Die Mission, die im Oktober 2013 begonnen hat, dauert zwölf Monate. Später zieht sich die italienische Regierung wieder aus der aktiven Seenotrettung zurück. „Mare Nostrum“ hat seine Schattenseiten: Von Mai bis Oktober 2014 sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 3.029 Menschen im Meer zwischen Nordafrika und Italien ums Leben gekommen, damit handelt es um das tödlichste Halbjahr in Friedenszeiten in der Geschichte des zentralen Mittelmeers. Die Zahl der Ertrunkenen 2016 erreicht mit 4.581 Toten einen neuen Höchststand binnen eines Jahres. Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega gibt den anderen europäischen Regierungen die Schuld. Seine zynische Rechnung: Je mehr Menschen sich in die Holz- und Schlauchboote setzen, desto mehr sterben.

In der Diskussion über die Seenotrettung gibt es zwei entgegengesetzte Positionen: Die eine besagt, dass sie die Menschen auf den Booten vor dem sicheren Tod rettet und das es keinen Pull-Faktor gibt; die andere geht von einem PullFaktor aus und beinhaltet die Forderungen, die Zahl der Rettungsboote zu reduzieren, denn dann würden sich weniger Menschen in Boote setzen und demnach auch weniger ertrinken. Der österreichische Soziologe und Migrationsexperte Gerald Knaus schreibt in seinem kürzlich erschienenen Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“ über die Asylpolitik: „Beide Positionen sind irreführend.“ Denn schon vor „Mare Nostrum“ habe es zu viele Tote im Mittelmeer gegeben. Aus ihm ist für viele Flüchtlinge ein „Mare Monstrum“ geworden. Von diesem Einwand will aber zu diesem Zeitpunkt von offizieller Seite kaum jemand wissen. Die öffentliche Stimmung wendet sich gegen die Boat People. Eine Mehrheit der Italiener spricht sich in Umfragen 2018 dafür aus, die Flucht über das Mittelmeer ganz zu stoppen. Im selben Jahr erreicht die Lega bei den Parlamentswahlen ihr bisher bestes Resultat und bildet mit dem Movimento 5 Stelle eine Koalition. Und Salvini, der die Seenotrettung jahrelang bekämpft hat, wird Innenminister. Derweil hat sich der Fokus auf das Geschehen im östlichen Mittelmeer verlegt – vor allem im „Flüchtlingssommer“ 2015: Noch nie haben so viele Menschen in kleinen Booten die Flucht in Richtung Europa angetreten wie in der zweiten Jahreshälfte 2015, verursacht durch den 2011 in Syrien ausgebrochenen Krieg. Die Situation gerät außer Kontrolle. 2015 zählt Griechenland 856.723 irreguläre Ankünfte über die Ägäis, mehr als 20 Mal so viel wie im Jahr zuvor, allein im

Oktober sind es 211.663. Wer Lesbos, Chios oder andere Inseln erreicht, wird mit einer Fähre nach Athen gebracht und zieht weiter über die Balkanroute nach Ungarn und Kroatien, um schließlich nach Deutschland oder Schweden zu gelangen. Bis im März 2016 der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu in Brüssel führenden EU-Politikern einen Vorschlag unterbreitet. Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei vom 18. März 2016 soll die Fluchtbewegung über die Türkei in die EU unterbinden oder zumindest reduzieren. Die EU mobilisiert sechs Milliarden Euro für Syrer in die Türkei. Diese verspricht im Gegenzug, Maßnahmen zu ergreifen, um zu


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