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«Ein System, das Missbrauch und Gewalt begünstigt» Asylunterkunft In Schweizer Bundesasylzentren kommt

es laut Amnesty International immer wieder zu Gewalt gegen Asylsuchende durch Sicherheitsleute. INTERVIEW SIMON JÄGGI

Alicia Giraudel, Sie haben ein Jahr lang zu Fällen von Gewalt in Bundesasylzentren recherchiert. Die Ergebnisse seien «alarmierend», sagen Sie. Weshalb? Die Recherche von Amnesty ergab das Bild eines verbreitet respektlosen und gewalttätigen Umgangs mit schutzsuchenden Menschen. Die Übergriffe reichen von psychischer Gewalt und Diskriminierung bis hin zu Fällen von massiver körperlicher Misshandlung. Können Sie uns Beispiele nennen? Ein minderjähriger Asylsuchender ging nach einem Angriff durch Sicherheitsleute zu Boden. Die Angestellten traktierten ihn mit Tritten gegen Kopf und Bauch, bis er bewusstlos wurde. Ein anderer Mann wurde bei Minustemperaturen in einen Container gesperrt, bis er das Bewusstsein verlor und mit starker Unterkühlung hospitalisiert werden musste. Das sind nur zwei Beispiele. Wir haben mit insgesamt vierzehn betroffenen Menschen gesprochen. In mehreren Fällen kam es zu massiver Gewalt, woraufhin die Opfer im Spital versorgt werden mussten. Bei den schwersten Misshandlungen könnten die Kriterien für Folter erfüllt sein. Das verantwortliche Staatssekretariat für Migration SEM kritisiert, Amnesty International stelle die Schweiz mit diesem Vorwurf «auf eine Stufe 20

mit Unrechtsregimes» und das habe «nichts mit der Realität in den Bundesasylzentren zu tun». Folter ist nicht nur, was anderswo passiert. Gemäss Völkerrecht ist Folter das vorsätzliche Zufügen von grossen körperlichen oder seelischen Schmerzen oder Leiden. Zum Beispiel um eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund. Dabei wird die Verletzlichkeit eines Menschen, der sich in der Obhut des Staates befindet, gezielt ausgenutzt. In einigen der von uns dokumentierten Fälle ist es durchaus angebracht, von Folter zu sprechen. Abschliessend beurteilen könnte das aber nur der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte oder ein Uno-Ausschuss. Klar ist, dass es immer wieder zu schwerer Gewalt gegen Asylsuchende kommt. Es ist traurig, dass der Bund dabei über den Wortgebrauch diskutieren will. Statt Vorwürfe pauschal zurückzuweisen, sollte das SEM dringend das System in den Bundesasylzentren hinterfragen und grundlegend verbessern.

den sich zuerst die Opfer, in diesem Fall war es umgekehrt. Zuerst dachten wir, es handle sich um Einzelfälle. Die Recherche weitete sich dann immer mehr auf die gesamte Schweiz aus.

Wie wurde Amnesty auf das Thema aufmerksam? Am Anfang standen Beschwerden von Betreuer*innen und Sicherheitsangestellten, die Fehlverhalten von Arbeitskolleg*innen bei uns gemeldet haben. In der Regel mel-

Welche Faktoren begünstigen aus Sicht von Amnesty Gewalt gegen Asylsuchende? Das ganze System fusst auf der Annahme, dass Asylsuchende gefährlich seien. Alles beginnt mit dem Umgang mit den Menschen, die in den Bundesasylzentren un-

Insgesamt stellten im vergangenen Jahr rund 15 000 Personen ein Asylgesuch, Sie haben mit 14 Asylsuchenden gesprochen. Sind das mehr als Einzelfälle? Wir haben insgesamt mit 32 Personen Interviews geführt. Darunter ehemalige und aktuelle Mitarbeiter*innen der Bundesasylzentren. Wir haben von ihnen zahlreiche Hinweise auf weitere Fälle erhalten. Diese konnten wir jedoch nicht näher untersuchen, da die Betroffenen die Schweiz inzwischen wieder verlassen mussten und nicht auffindbar waren. Zudem wissen die meisten Asylsuchenden nicht, an wen sie sich wenden sollen. Viele haben auch Angst davor, Misshandlungsvorfälle zu melden, weil sie glauben, eine Beschwerde könnte ihr Asylverfahren negativ beeinflussen. Während der Recherche zeigte sich insgesamt ein System, das solche Fälle von Missbrauch und Gewalt begünstigt.

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