Surprise 502/21

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ILLUSTRATION: DINAH WERNLI

Verkäufer*innenkolumne

Der Mann in Orange Orange Mütze, oranger Pullover, orange Jacke, orange Hose, orange Schuhe, oranger Rucksack. Welche Farben er drunter trägt, kann ich leider nicht sagen, aber ich tippe, so wie Sie vielleicht auch, auf – Orange. Immerhin bemühe ich mich redlich, mal einen Blick auf seine Socken zu erhaschen, doch blieb mir diese Offenbarung bisher verwehrt. Aber genug der Spekulationen. Ich wende mich wieder den gegebenen Tatsachen zu. Von Kopf bis Fuss ganz in Orange gekleidet, samt Accessoires. So kennt man ihn, den Mann um die vierzig. Mit erhobenem Haupt und verschmitztem Lächeln, so, als wollte er sagen, ach rutscht mir doch alle den Buckel runter, bahnt er sich während der Rushhour in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil seinen Weg durch die Menge, wohlwissend, dass er in seinem Aufzug einen unübersehbaren 6

Blickfang abgibt. Selbst im Winter, wenn sich die meisten in dunkle Farben kleiden, gibt er sich ganz in Orange, ohne Scheu, ohne Scham, wie eine wandelnde Litfasssäule. Er wäre unzweifelhaft der ideale Werbeträger für jede Firma, die auffallen will. Doch neulich geschah das völlig Unerwartete, das Undenkbare, das Unvorstellbare. Und wenn das Unvorstellbare wahr wird, ist die Wirkung um ein Vielfaches stärker, als wenn das Vorstellbare wahr wird. Er kommt. Mütze, Pullover, Jacke, Schuhe, Rucksack, wie gehabt und stilsicher in Orange. Aber was ist mit seiner Hose passiert? Trägt der Mann doch tatsächlich eine Jeans in schnödem Blau! Tags darauf thront auf seinem Kopf eine Mütze in einem undefinierbaren Graublau, und noch einen Tag später erscheint er in hellblauen Sneakers, die auch schon

bessere Tage gesehen haben. Und ich sehe ihm tatenlos zu, wie er sein Image bröckeln lässt. Doch ich frage mich: Was ist bloss mit ihm passiert? Einst Stilikone und Trendsetter. Und jetzt? So verändern wir Menschen uns stetig. Stets sind wir im Wandel begriffen. Was gestern gut für uns war, muss es morgen nicht mehr sein. Ich geniesse diesen Wandel. Ich möchte keinen Tag zurück. URS HABEGGER, 65, verkauft Surprise seit dreizehn Jahren in der Bahnhofunterführung von Rapperswil. Er schreibt nicht nur Kolumnen, sondern auch Kinderlieder. Und entwickelt sich dabei stetig weiter: Seit ein paar Tagen ist sein erstes Video mit fünfzehn seiner Kinderlieder auf YouTube zu finden: «Kinderlieder von Urs».

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Surprise 502/21


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