Surprise 507/21

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«Eine Investition in die soziale Gleichheit» Wer überschuldet ist, wird zur Passivität erzogen, sagt Forscher Christoph Mattes. Er fordert ein Entschuldungsverfahren, damit Betroffene wieder an der Gesellschaft teilnehmen können. INTERVIEW  ANDRES EBERHARD

Herr Mattes, wie sollten wir unseren Kindern den Umgang mit Geld beibringen? Gute Frage …

für ein solches Restschuldbefreiungsverfahren. Ob das Verfahren sein Ziel erreicht, wird davon abhängen, wie es ausgestaltet wird.

Wie wäre es damit: «Lieber sparen als alles gleich ausgeben.» Nein. Das ist total moralisierend. Kinder sollen ihr Sackgeld ruhig ohne Bedenken ausgeben. Vielleicht können wir ihnen vorleben, dass wir nicht bei allem mitmachen. Dass wir unsere Kaufentscheidungen autonom und unabhängig fällen und dass wir kein Geld in Stresssituationen ausgeben. Denn das sind immer unwirtschaftliche Entscheidungen. Und ja, besser ansparen und erst dann kaufen, wenn man das Geld zusammen hat. Wer Geld leiht, bezahlt dafür einen Preis. Aber diese Diskussion geht in die falsche Richtung.

Was sind die Optionen? Entweder haften Schuldner*innen eine gewisse Zeit für ihre Schulden wie in Österreich oder Deutschland. Oder man sagt sich wie in Frankreich oder den USA: «Es haben alle am meisten davon, wenn die Schulden möglichst schnell weg sind, damit alle wieder mitmachen können.»

Warum? Wir sollten davon wegkommen, uns die Schuldfrage zu stellen. Also ob die Menschen selbst schuld sind, wenn sie sich verschulden. Verschuldung ist ja gesellschaftlich gewollt und erwünscht. Es braucht sie, damit genügend konsumiert wird und die Wirtschaft wächst. Und beim Konsum verhält sich niemand rational. Würden wir das tun, dann bräche die Wirtschaft zusammen. Verschuldung hilft auch, Benachteiligungen zu bewältigen. Wer sich einen Fernseher nicht leisten kann, kauft ihn auf Kredit. Solche spezifischen Kreditangebote gab es schon früher, zum Beispiel für sogenannte Gastarbeiterfamilien, die sich einen Kühlschrank kaufen wollten. Verschuldung ist also nicht nur schlecht – auch wenn der Preis für die Teilhabe durch Zinsen und andere Kosten sehr hoch ist. Wenn nicht die Schulden bekämpfen, was sollten wir stattdessen tun? Wir müssen den Menschen helfen, die Schulden loszuwerden. Damit sie wieder an der auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft teilnehmen können. In den meisten europäischen Ländern gibt es zum Beispiel ein gerichtliches Entschuldungsverfahren (dazu Seite 20). In der Schweiz noch nicht. Die Politik arbeitet derzeit an einem Vorschlag 18

Wofür plädieren Sie? Für das Letztere. Also für ein Verfahren ohne Hürden, das ausserdem nicht zu lange dauert. Es soll schliesslich darum gehen, die Schuldner*innen zu befreien und nicht die Gläubiger*innen zu befriedigen. Wenn am Ende für letztere etwas rausspringen muss – also die Schuldner*innen für das Verfahren bezahlen müssen –, dann wird es nicht funktionieren. Eine rechtliche Verpflichtung zur Entschuldung stärkt übrigens auch aussergerichtliche Lösungen: weil die Gläubiger*innen merken, dass es sich lohnt, bei Schuldensanierungen mitzumachen. Ein solches Signal fehlt zurzeit. Sie forschen zu Schulden. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse? Beim Thema Schulden zeigt sich die soziale Ungleichheit. Denn es überschulden sich immer jene Menschen, die sich den Konsum ansonsten nicht leisten könnten. Das ist der Grund, warum man die Einführung eines effizienten Entschuldungsverfahrens als Investition in die soziale Gleichheit der Menschen sehen muss. Unsere Untersuchungen zeigen aber auch, dass unser Schuldensystem Anreize zur Passivität bietet: Schulden halten Menschen davon ab, Arbeit zu finden. Ausserdem ziehen sich soziale Institutionen zurück, sobald Schulden im Spiel sind. Dabei wären diese ja dazu da, den Betroffenen zu helfen. Warum denn das? Weil Überschuldung nicht lösbar ist. Steckt man den Betroffenen Geld zu, fliesst das gleich wieder ab in die Surprise 507/21


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