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Strassenmagazin Nr. 507 27. Aug. bis 9. Sept. 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Schulden-Serie

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Raus da! Wege aus dem Schuldendickicht. Seite 8


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L‘Ultimo Bacio, Güterstr. 199 | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth‘s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Länggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont/Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN BURGDORF Specht, Hofstatt 5 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt, Baselstr. 66 & Alpenquai 4 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Bistro Quai4, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WIL Caritas Markt, obere Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 | Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


TITELBILD: MARCEL BAMERT

Editorial

Raus aus der Schuldenfalle – aber wie? Irgendwie ist es absurd: Unsere Gesell­ schaft leistet sich Schulden, um sich Wohl­ stand zu gönnen. Natürlich nicht nur per Schulden, aber auch. Wer sich verschuldet, tut dies nämlich häufig, weil er mehr kon­ sumieren möchte. Und es heisst, dies sei gut für die Wirtschaft. Tatsache ist aber auch: Es verschulden sich immer mehr Menschen, die ohnehin nicht viel haben. Sie können sich dadurch zwar neue Dinge leisten, am sozialen Leben teilhaben oder anderes mehr. Doch die mittel- und lang­ fristigen Folgen sind häufig fatal – sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesell­ schaft. Was das genau bedeutet, haben wir in unserer Schulden-Serie, die wir mit diesem Heft abschliessen, im Detail zu be­ leuchten versucht. Am Ende steht eine womöglich simple, aber dringende Erkenntnis: Wann immer wir über Schulden nachdenken, müssen wir auch über soziale Ungerechtigkeit nachdenken. Und darüber, wie wir sie beheben können.

In unserem letzten Teil der Schulden-Serie machen wir dazu zehn Vorschläge. Manche könnten schon heute leicht umgesetzt werden (so denn der politische Wille da wäre), andere sind grundsätzlicher Natur, wieder andere mögen provokativ erschei­ nen. In jedem Fall aber machen sie deutlich: Jeder noch so verschlungene und oft auch dornige Weg aus den Schulden heraus ist ein wirksames Mittel, um die Situation von armutsbetroffenen Menschen nachhaltig zu verbessern. Die einzelnen Hefte zur Schulden-Serie (Ausgaben 500, 502, 505, 507) können bei der Redaktion nachbestellt werden, das gesamte Dossier lässt sich auch online unter www.surprise.ngo/schulden nachlesen. Zu guter Letzt werden wir diesen Oktober in Basel ein Podium zum Thema «Schulden und Armut» organisieren; nähere Informationen folgen.

KL AUS PETRUS

Redaktor

4 Aufgelesen

18 «Eine Investition in

die soziale Gleichheit»

5 Was bedeutet eigentlich …?

20 Und jetzt?

Care Work

24 Inklusion

5 Vor Gericht

Benzinknatsch im Friaul 6 Verkäufer*innenkolumne

Aura der Herzlichkeit 7 Moumouni …

... und Stress ohne Grund

8 Schulden-Serie – Teil 4

Weniger Schulden, weniger Armut 10 Fatale Rechenfehler 14 Wer klagt, gewinnt

«Auf der Bühne wird die Utopie vorgelebt» 25 Kino

Selbstfindung durch Wrestling 25 Buch

Lauter Abschiede

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Birsfelden 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Mir ist es wichtig, selbständig zu bleiben»

16 Der Preis für den

Konsum auf Pump

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Aufgelesen

FOTO: MIKE GRAEME

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Kampf um Urwald und Identität An der Ostküste von Vancouver Island liegt der letzte intakte Ur- und Regenwald der Region. Auf 2000 Hektar Land kämpfen dort Indigene und Umweltaktivist*innen gegen die Abholzung von Douglasien und Gelben Zedern durch die Holzindustrie. Ihr Kampf ist auch einer gegen koloniale Strukturen und sich reproduzierende Muster weisser Vorherrschaft, die die indigenen Communitys zerreisst und ihren immer noch prekären Status im kanadischen Staatsgefüge aufzeigt. Schliesslich sehen sich die Indigenen als Folge der Koloni­ alisierung ihrer Territorien dazu gezwungen, ihren Lebensunterhalt über den Verkauf des Holzes zu bestreiten, obwohl dies gegen ihre eigenen Gesetze und Werte verstösst. MEGAPHONE, VANCOUVER

Eine Stadt für Kinder

Viel Geld fürs Wohnen

Über die Zukunft der deutschen Städte machen sich die Politiker*innen im Parlament Gedanken. Jetzt aber sind die Kinder dran: Während zehn Tagen dürfen sie in Hamburg im Umfeld des Museums für Arbeit ihre eigene urbane Zivil­ gesellschaft planen und bauen; sogar eine Stadtzeitung soll es geben.

Nach einer Studie der HU Berlin gibt fast die Hälfte aller Ein­ wohner*innen von deutschen Grossstädten mehr als ein Drittel ihres Einkommens für die Miete aus. Besonders Haushalte mit niedrigem Einkommen haben eine hohe Mietbelastung: Bei Einkommen an der Armutsgrenze liegt sie durchschnittlich bei 46 Prozent.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

BODO, DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Care Work Mit Care Work werden Menschen umsorgt, die Alltagstätigkeiten nicht selbst erledigen können. Beispiele sind das Waschen und Anziehen, das Beaufsichtigen oder Kochen. Die meiste Sorgearbeit wird für Kinder geleistet, und zwar unbezahlt: von Eltern, Partner*innen, Verwandten oder Freund*innen. Private übernehmen auch einen gros­ sen Teil der Pflege kranker, behin­ derter und betagter Menschen. Den Rest übernehmen professionelle Pflegekräfte – entweder vor Ort in einem Pflegeheim oder zuhause durch die gemeinnützige Spitex. Die meisten Pflegeheime und Kran­ kenhäuser operieren vermehrt als private Unternehmen. Dies hat zur Folge, dass ein Teil der Sorgearbeit zurück in private Haushalte verlagert wird. Das verschärft die soziale Un­ gleichheit. Denn nur wer es sich leis­ ten kann, wird Pflegekräfte als Haushalthilfe, Tagesbetreuung oder fürs Bewegungstraining anstellen können. Menschen mit geringem Ein­ kommen dagegen müssen sich auf ihre ohnehin schon überbeanspruch­ ten Verwandten verlassen. Ein weiteres gesellschaftliches Pro­ blem: Den überwiegenden Teil der Sorgearbeit erledigen Frauen. Diese sind dadurch sozial weniger gut abgesichert. Eine mögliche Lösung wären Zeitgutschriften, wie sie in einem Pilotprojekt der Stadt St. Gallen geprüft werden. Von einer globalen Sorgekrise wird auch deshalb gesprochen, weil vermehrt Frauen aus Niedriglohn­ ländern die gestiegene Nachfrage nach Langzeitpflege und 24-Stun­ den-Betreuung abdecken. Diese Care-Migrantinnen fehlen dafür in ihren Heimatländern, wo wiederum Versorgungslücken entsteht. EBA Quelle: Ulrike Knobloch: Care-Work. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 507/21

Vor Gericht

Benzinknatsch im Friaul Billiges Benzin: In den Debatten rund um die Abstimmung über das CO2-Gesetz vor ein paar Wochen konnte man den Eindruck gewinnen, es sei ein Menschenrecht. Um billiges Benzin ging es auch in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Luxem­ burg von diesem Januar. Und der Fall er­ laubt einen hübschen Einblick in die ganz kleinen Murkse der grossen EU. Der Anfang der Geschichte reicht weit zurück in die Neunzigerjahre. Weil die Men­ schen der norditalienischen Region Fri­ aul-Julisch Venetien wegen der viel niedri­ geren Benzinpreise stets im angrenzenden Slowenien tankten, beschloss die Regional­ regierung, ihren Bürger*innen einen Nach­ lass auf den Benzinpreis zu gewähren. Im technischen Sinn handelte es sich dabei um eine Verbrauchsteuerermässigung – die in der EU aber nicht einfach national verfügt werden kann, sondern nur mit dem Segen des Europarats. Den erhielten die Italie­ ner*innen, befristet von 1996 bis 2006. Doch auch danach kamen die Friau­ ler*innen weiter in den Genuss eines Preis­ nachlasses an der Zapfsäule. Nun aber nicht mehr im Rahmen einer Steuerermässigung, sondern aufgrund eines 2010 eingeführten Zuschusssystems. Demnach gewähren die Tankstellen den Einwohner*innen der Re­ gion als Endverbraucher einen Nachlass auf den Benzinpreis. Danach erstattet die Verwaltung den Tankstellen die gewährten Rabatte zurück. Das passte der zuständigen EU-Kom­ mission überhaupt nicht und sie klagte vor dem Europagericht. Indirekt sei das neue Rückerstattungssystem doch nichts ande­

res als eben doch eine Verbrauchsteuerer­ mässigung. Italien habe diese eigenmäch­ tig nach Ablauf der Sondergenehmigung weitergeführt, machte sie geltend. Dies stelle einen Verstoss gegen die Energiebe­ steuerungsrichtlinie dar, die Mindestver­ brauch-Steuersätze für Energieerzeugnisse festlegt, welche die Mitgliedstaaten anwen­ den müssen, um das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Italien wiederum machte geltend, dass es nicht möglich sei, den betreffenden Zu­ schuss objektiv mit dem Verbrauchsteuer­ anteil des Tankstellenpreises für Kraftstoffe in Zusammenhang zu bringen. Der Zu­ schuss beziehe sich vielmehr auf den Her­ stellungskostenanteil des Kraftstoffs. Er diene dazu, die Herstellungskosten in einer strukturschwachen Region auszugleichen. Mit Urteil vom 14. Januar 2021 gab die oberste EU-Gerichtsinstanz Italien Recht. Und zwar deutlich: Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Kommission ja nicht mal selbst bestreite, dass das Zuschusssys­ tem aus dem allgemeinen italienischen Staatshaushalt und nicht unmittelbar aus dem Anteil des Ertrags der Benzin-Ver­ brauchsteuer finanziert wird, den die Zen­ tralverwaltung an die Region überweist. Von einer Erstattung der Verbrauchsteuern könne nur dann die Rede sein, wenn zwi­ schen den Beträgen, die den Tankstellen­ betreibenden erstattet werden, und dem Ertrag der Verbrauchsteuer ein unmittel­ barer Zusammenhang bestehe. Einen sol­ chen habe die Kommission aber noch nicht einmal behauptet, geschweige denn bewie­ sen. Ebenfalls habe die Kommission keinen Nachweis erbracht, dass die Verbrauch­ steuer auf Kraftstoff durch das betreffende Zuschusssystem verringert würde. Man merke: Auch fremde Richter kön­ nen regional denken. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Aura der Herzlichkeit Charisma. Was für ein Wort! Charisma. Und wenn ich von der Bedeutung dieses Wortes auch nichts wissen täte, und wenn ich davon auch keine Ahnung hätte, so wüsste ich trotzdem: Das ist ein ganz besonderes Wort. Geheimnisvoll. Charisma. Ein Wort wie heller G ­ lockenklang über einer duftenden Blumen­ wiese. Eine Zauberformel aus der Abteilung der Phonetik. Ich frage mich: Wer hat’s wohl erfunden? Der G ­ rieche? Der ­Lateiner? Gelobt sei ihm. Charisma. Gäbe es eine Hitparade für Wörter, für mich wäre dieses Wort seit j­ eher die Nummer eins in den Charts. Charisma. Wohltuend leicht fliesst dieses Wort mit seiner genialen Buchstaben­abfolge über meine ­Lippen. Architektonisch gesehen ein Meisterwerk. Musikalisch gesehen eine Ouvertüre. Literarisch gesehen die hohe Kunst der Poesie. ­Charisma. Ein Ohrenschmaus. Kurz: Charisma. Was für ein Wort!

Ich frage mich, wo liegt der Grundstein zu solch ausserge­ wöhnlichen Dingen? Was ist die Ursache? Ist das lernbar? Wenn ja, dann sofort ran, damit unsere Welt ein riesengrosses Stück besser wird. URS HABEGGER, 65, verkauft Surprise seit 14 Jahren in der Bahnhofunter­führung Rapperswil (SG). Er findet, Worte seien nicht nur Schall und Rauch. Sondern können Einfluss nehmen, verletzen, aufmuntern, begeistern. Kurz: Worte vermögen viel.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die ­­Illustra­tion zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der ­Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: SOPHIA FREYDL

Doch hinter dem Wort Charisma steckt weit mehr. Es hat ja auch seine Bedeutung. Charisma – oder die besondere Ausstrahlungskraft eines Menschen. Wenige sind es, die es haben. Aber jedes Mal, wenn ich einem jener seltenen Menschen begegne, die Herzensgüte und Herzenswärme fühlbar, spür-

bar, ja schier greifbar ausstrahlen, werde ich unwiderstehlich in ­deren Bann gezogen. Es gibt diese Menschen, leider selten genug, aber es gibt sie tatsächlich. Jede Begegnung mit ihnen wird zum einem Highlight. Ich hatte das grosse Glück, bei meiner Arbeit als Surprise-Verkäufer in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil ein paar von diesen ganz besonderen Menschen kennenzulernen. Wenn durch die Gegenwart und das Charisma eines Menschen Herzensgüte und Herzens­ wärme so stark spürbar werden, dass sie schon fast zu materi­ ellen, ­greifbaren Gegenständen werden, das ist Gänse­ haut-Zeit. Eindrücklich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

der Gruppe mit dabei war ein sehr gut­ aussehender schwuler Mann, der ein Outfit anhatte, in das sich die meisten Heteromänner nicht trauen würden. Was sich einige solche aber sehr wohl trauten, waren Grapscher im Vorbeigehen, so schnell, dass wir als Gruppe kaum hinterher kamen – es war ein bisschen wie chillen am See ohne Mückenschutzmittel und leicht bekleidet. Jagt man der einen Mücke nach, ist die andere schon dabei, das Bein auszusaugen. Der Typ, der unseren Kollegen im Vorbei­ gehen erst süffisant anschaut, ihm dann einen Nippeltwist gibt, grapscht und weitereilt, bekommt später eben das Bier aufs Hemd. Als wir zurückkommen, wird unser Kollege schon von zwei weite­ ren Männern bedrängt, die erst neugierig sind, dann aber plötzlich aggressiv werden. Ein Beobachter geht dazwischen und verhindert gerade noch, dass einer der beiden zuschlägt. Unser Kollege reagiert fast gewohnheitsmässig abgeklärt.

Moumouni …

… und Stress ohne Grund Immer wenn ich in den Ausgang gehe, gibt es Stress ohne Grund. Ein falscher Blick – Stress: «Was schaust du so?», frage ich, ab und zu ist es auch einfach ein böser Blick mit aggressiver Handgeste. Es kommt jemand zu nah: Stress. Ich erobere mir meinen Raum zurück, mache meine Schultern breit. Ich schaue auf meine Hände. Ich trage keine Ringe. Schade, denn ich habe das Gefühl, das hätte nützlich sein können. Meine Freundin leert jemandem ein Bier übers Shirt, die Person denkt, ich war’s und wird sauer, lässt aber von mir ab, weil ich so überzeugend überrascht bin und beteuere, dass ich es nicht war.

«Stress ohne Grund» von Bushido und seinem Ghostwriter Shindy ein. Ich will nachschauen, wie der Track eigentlich geht, vielleicht passt er ja zu meinem Abend oder lässt sich beim nächsten Aus­ gang zum Einheizen summen. Fehlanzeige, der Refrain ist nicht zu gebrauchen, es sind nur heruntergepitchte, wieder­ verwertete Zeilen aus anderen Songs, kein Reim, keine Melodie. Mir fällt wieder ein, warum der Song so bekannt wurde: Er landete auf dem Index der deutschen Bundesstelle für jugendgefährdende Medien wegen seiner Verse, die als Morddrohungen gegen deutsche Politiker*innen verstanden wurden.

Manchmal frage ich mich, warum ich in den Ausgang gehe. Adrenalin? Kampfeslust? Zum Tanzen komme ich kaum.

Einzig passend ist wohl die Homophobie im Songtext. Die erinnert mich an die im Club verbrachte Nacht. Ich war mit einer Gruppe queerer, Schwarzer Menschen im Ausgang. Grosse Halle, Konzert, danach legte eine gemeinsame Freundin auf. In

Ich komme mit dem ersten oder zweiten Zug heim und mir fällt der Songtitel Surprise 507/21

Die Bilanz des Abends: drei Situationen, die hätten gefährlich werden können, durch zumindest unserem Kollegen angedrohte physische Gewalt. Den Rest der Zeit: starrende Blicke, übergriffige Be­ rührungen, dumme Sprüche, die uns allen galten. Ich frage mich, ob wir dem Ärger aus dem Weg hätten gehen können, die Halle war schliesslich voll mit an­ deren Menschen, die es auch schafften, ausgelassen Spass zu haben. Doch sich gar nicht zu wehren, wäre sicher nicht witziger gewesen. Ich frage mich auch, ob ich wegen Covid vergessen habe, wie Partys in grossen Clubs so sind, oder ob die Leute, in diesem Fall Männer, wegen der Covid-Massnahmen aggressiver sind: hungrige Schwärme, die nach Stress lechzen, um Druck abzulassen. Es fällt mir wieder ein: Ich war auch vorher kaum mehr an Orten Party machen, die kein explizites Sicherheits­ konzept hatten. Zu viel Stress. Kein Ort für mich und meine Leute.

FATIMA MOUMOUNI  überlegt sich, für den Sommer eine elektrische Fliegenklatsche zu kaufen.

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Schulden-Serie: In der Schweiz gibt es immer mehr Arme – auch weil es immer mehr Schulden gibt. Wir wollen wissen, was das mit den Leuten macht, wer davon profitiert und was sich ändern lässt.

Teil 4: Weniger Schulden, weniger Armut TEXT  ANDRES EBERHARD ILLUSTRATION  MARCEL BAMERT

Mehr, immer mehr: Die Wirtschaft hängt vom Wachstum ab, und damit auch unser Wohlstand, unsere Renten sowie Sozialversicherungen. Fürs Wachstum können Schulden förderlich sein. Erst konsumieren, später bezahlen – Hauptsache heute noch, damit die Maschine am Laufen bleibt. Kritiker*innen bezweifeln, ob das ewig so weitergehen kann, und fordern auch wegen der Klimakrise ein Umdenken (siehe Surprise 505). Wohlgemerkt, nicht alles an Schulden ist schlecht und böse. Zum Beispiel haben Schulden etwas Sozialintegratives: Wer sich ein rauschendes Hochzeitsfest, den netten Kombi, das neueste Handy oder einen Flug nach Australien nicht leisten kann, pumpt sich Geld. Jedoch ist der Preis für die soziale Teilhabe hoch. Die Zinsen für solche Kredite betragen bis 10, teilweise sogar 12 Prozent. Spezialisierte Banken betreiben ein gutes, aber auch frag8

würdiges Geschäft (ab Seite 11 in dieser Ausgabe). Solche Schulden können für manche Konsument*innen fatale Konsequenzen haben. Dann nämlich, wenn ihnen etwas Unvorhergesehenes passiert – ein Jobverlust, eine schwere Krankheit, eine Trennung. Plötzlich wird die monatliche Leasingrate fürs Auto oder die Abzahlung des Barkredits zum Problem. Nicht selten geraten Betroffene auf diese Weise in eine belastende und gesundheitsschädliche Schuldenspirale, aus der sie ein Leben lang nicht mehr herausfinden. Es sind also die Armen unserer Gesellschaft, welche die unerwünschten Nebenwirkungen des Schuldensystems zu spüren bekommen (siehe Surprise 502). Es genügt aber nicht, die Probleme, die Betroffenen sowie die Profiteure dieses Systems zu benennen. Dies könnte zum verheerenden Gefühl führen, einem «bösen System» hoffnungslos Surprise 507/21


Schulden – Eine Serie in 4 Teilen Teil 1/Heft 500: Das Geschäft mit den Schulden Teil 2 /Heft 502: Rechnungen, die krank machen Teil 3/Heft 505: Wohlstand dank Schulden Teil 4/Heft 507: Weniger Schulden, weniger Armut

ausgeliefert zu sein. Dem ist nicht so. Als Gesellschaft gestalten wir dieses System, und bereits kleine Änderungen im Gesetz können für Betroffene Grosses bewirken. Aus diesem Grund haben wir nach konstruktiven Lösungsvorschlägen gesucht, die gangbare Auswege aus der viel zitierten Schuldenfalle aufzeigen. Ein Beispiel: Bis heute gibt es in der Schweiz für Menschen ohne oder mit geringen Einkünften und Vermögen keinen Weg aus der Schuldenfalle. Wer arm und verschuldet ist, bleibt oft arm und verschuldet, eine zweite Chance gibt es nicht. Damit ist die Schweiz in Westeuropa ein Ausnahmefall. Der Bundesrat arbeitet derzeit an einer Lösung, dem Entschuldungsverfahren. Expert*innen weisen aber darauf hin, dass es entscheidend sein wird, wie dieses ausgestaltet sein soll. Die Gefahr besteht, dass es von der Wirtschaftslobby verwässert und damit nutzlos wird. Surprise 507/21

Armut ist in der reichen Schweiz real – die Zahl der Betroffenen steigt seit Jahren auf heute über 700 000. Weitere 600 000 Menschen leben nur knapp über der Armutsgrenze. Als Folge der Pandemie könnten es noch mehr werden. Viele dieser armutsbetroffenen Menschen haben Schulden. Heisst: Wer etwas gegen Armut tun will, setzt sich dafür ein, die Wege in die Schuldenfalle zu blockieren oder Auswege zu schaffen. Schuldenprävention ist ein wirksamer und gangbarer Weg, um Armut zu bekämpfen. EBA

Hintergründe im Podcast: Radiomacher Simon Berginz redet mit Andres Eberhard über die Hintergründe der Recherche. surprise.ngo/talk 9


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Fatale Rechenfehler Erika Kälin* und Nawid Ahmadi* wollten mit schnellem Geld ihre Schulden tilgen. Doch der Kleinkredit machte alles noch schlimmer. Rechnete die Bank absichtlich falsch, um eine möglichst hohe Rendite zu erzielen? TEXT  ANDRES EBERHARD

Viel hatte Erika Kälin, 44 Jahre alt, alleinstehend, nie. Sie brauchte auch nie viel. Früher war es ihr Hund, und seit der überfahren wurde, sind es zwei Dutzend Kaninchen. Kälin lebt in einem 100-Seelen-Ort im Mittelland, 34 Kilometer von der Stadt Bern entfernt, wo sie als Verkäuferin in der Metzg eines Grossverteilers arbeitet. Das Heu für die Tiere holt sie im Stall der Bauernfamilie, bei der sie sich eingemietet hat. Erika Kälin war schon immer knapp bei Kasse, und als sie vor etwa fünf Jahren ein neues Auto brauchte, fehlte ihr das Geld für eine Anzahlung. Sie ging zur Cembra Money Bank und löste einen Barkredit von über 6000 Franken. Das Geld bekam sie bar auf die Hand. «Um ganz sicher zu sein, steckte ich es in meinen BH.» Als sie ein Jahr später Angst hatte, die Miete nicht mehr bezahlen zu können, erhöhte Erika Kälin den Kredit. «Ich habe noch einmal 4000 Franken gedingselt», erzählt sie, und sie sagt auch, dass sie damals tatsächlich nicht recht wusste, was sie tat. «Mein Onkel sagte, bist du verrückt? Aber für mich gab es keine andere Lösung.» Offene Rechnungen stapelten sich auf dem Küchentisch. Diese zu begleichen, empfand sie als Pflicht. Doch das Bankkonto war leer. «Wenn nicht stehlen, woher hätte ich das Geld nehmen sollen?» Ein Barkredit ist wie ein Wodka gegen den Kater: Kurzfristig lässt er das Leid vergessen, langfristig macht er alles nur noch schlimmer. Zunächst löst er viele Probleme Surprise 507/21

mit einem Schlag: Mahnungen, drohende Betreibungen, Lohnpfändungen, die Angst, alles zu verlieren, und der Stress, den die wachsenden Schulden ausüben: alles weg. Doch dann kommen sie zurück, die Probleme. So schnell das Geld ausgegeben ist, so schnell häufen sich die Schulden wieder an – mit dem nächsten Mietzins, der nächsten Police, dem nächsten Steuerjahr. Dazu kommen die Kosten, um den Barkredit plus Zinsen abzustottern. Bei Erika Kälin waren das pro Monat 230 Franken, und zwar über die nächsten fünf Jahre. Bald konnte sie ihre laufenden Kosten wieder nicht mehr begleichen, und eines Tages stand der Weibel vor ihrer Tür. «Ich hatte Angst, er würde alles mitnehmen», erinnert sie sich. Das passierte zwar nicht. Weil sie nun aber die Betreibungen nicht mehr abwenden konnte, wurde ihr der Lohn gepfändet. Seither lebt Erika Kälin vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum – 1200 Franken pro Monat für den Grundbedarf, wovon sie auch Steuern, Versicherungen und Benzin bezahlen muss. Wie kam es, dass Erika Kälin in die Schuldenfalle geriet? Sie macht sich Vorwürfe. «Ich habe einige unvernünftige Entscheide getroffen», sagt sie beim Gespräch an ihrem Esstisch, sie trinkt eine Tasse Kaffee, aus dem Fernsehen tönt Popmusik. Beim Erzählen werden ihre Augen feucht, sie wischt die Tränen beiseite und sagt, sie sei zurzeit halt nahe am Wasser gebaut. «Ich bin nahe an einem Burnout.» Die langen Tage von 7 bis 20 Uhr mit zwei 11


Stunden Mittagspause, die vielen Überstunden, die Schulden, das alles zehre an ihren Kräften. «Bis zum Ende der Woche habe ich noch zehn Franken, dann kommt der Lohn.» Es ist Mittwoch. Australien war einer dieser unvernünftigen Entscheide gewesen. «Auch wenn ich mir mit der sechswöchigen Reise einen lang ersehnten Traum erfüllte.» 2017 starb Erika Kälins Mutter, Wirtin aus dem Nachbardorf, bis dahin hatte die ganze Familie zusammen unter einem Dach gelebt. Das Restaurant lief nicht mehr, zu wenige Gäste aus dem Dorf, zu wenig Durchgangsverkehr, und das ganze Haus, vor allem die Küche, musste dringend saniert werden. Das konnten sich Kälin und ihr Bruder nicht leisten. Sie verkauften das Haus für einen Apfel und ein Ei und Erika Kälin, gelernte Köchin mit Wirtepatent, blieb in der Metzg der Discounter-Filiale. Den Trip nach Australien leistete sie sich vom Ertrag des Hausverkaufs. «Auch etwas aus Frust, weil gerade mein Hund gestorben war.» Als sie zurückkam, musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine eigene Wohnung einrichten. Und sie unterstützte den Mann, mit dem sie damals liiert war – bis die Beziehung in die Brüche ging. «Ich war ein bisschen naiv.» Fixkosten höher als der Lohn Australien, eine Wohnung, die Beziehung: möglich, dass Erika Kälin besser dastünde, hätte sie da und dort anders entschieden. Doch früher oder später wäre das Polster vom Hausverkauf so oder so aufgebraucht gewesen. Das sagte zumindest die Sozialarbeiterin der Schuldenberatung Bern, an die sich Erika Kälin wandte. «Meine Fixkosten waren viel höher als der Lohn. Ich hätte 700 bis 800 Franken mehr verdienen müssen, um alle Rechnungen bezahlen zu können», sagt sie. Von ihrem Arbeitgeber bekommt sie 4163 Franken pro Monat für ihre Vollzeitstelle, den 13. eingerechnet. Allein die fixen monatlichen Verpflichtungen – Miete, Auto-Leasing, Versicherungen, Steuern – beliefen sich auf rund 3600 Franken. Mit der Abzahlung des Barkredits stiegen sie gar auf über 3800 Franken. Schlecht budgetiert, könnte man sagen. An die Adresse von Erika Kälin, aber eben auch an jene der Bank, die ihr den Kredit gewährte. Denn Banken sind dazu verpflichtet, Kreditanträge nach gesetzlichen Vorgaben zu prüfen. Sie dürfen Kredite nur an jene vergeben, die sie sich leisten können. Dafür müssen sie ein Haushaltsbudget aufstellen. Machen sie dabei schwerwiegende Fehler, gilt der Kredit als illegal und muss nicht zurückgezahlt werden (siehe Seite 14). Der Sinn des Gesetzes ist es, Konsument*innen vor Überschuldung zu schützen – gerade weil diese oft unter Stress nicht rationale Entscheidungen fällen. Die Anwältin Olivia Nyffeler von der Schuldenberatung Bern analysierte das Budget, das die Cembra Money Bank für Erika Kälin aufgestellt hatte. Und entdeckte dabei zahlreiche Fehler. Die Essenskosten fehlten, die Autofahrten zum Arbeitsplatz waren viel zu tief eingeschätzt, ebenso Steuern und Gesundheitskosten. Insgesamt verkalkulierte sich die Bank um rund 1000 Franken. Die Rechnung ging von Anfang an nicht auf – auf jeden Fall hatte es für mo12

natliche Abzahlungsraten im Haushaltbudget keinen Platz mehr. «Es ist offensichtlich, dass die Kreditvergabe in diesem Fall illegal war», so Olivia Nyffeler. Sie focht den Kredit an. Die Cembra Money Bank, die sich ihrer Fehler offenbar bewusst war, erklärte sich mit einem Deal einverstanden: Sie verzichtete auf die noch ausstehenden Raten. Dafür zog die Anwältin nicht vor Gericht, um auch die bereits bezahlten Raten zurückzufordern. Fälle wie jenen von Erika Kälin können die Berater*innen auf den Schuldenberatungsstellen zahlreiche schildern. Dabei dürfte die Dunkelziffer noch viel grösser sein. Oftmals geht es um viel höhere Kreditsummen. Konsument*innen verschulden sich dabei über Jahre hinaus. Teure Hochzeit Nawid Ahmadi*, Küchenchef und Familienvater aus dem Raum Luzern, bekam von der Bank now einen Kredit von insgesamt 30 500 Franken, zurückzuzahlen innerhalb von sieben Jahren. Der Jahreszins betrug 9,5 Prozent, die Bank hätte insgesamt 11 000 Franken an ihm verdient. Dabei befand sich Nawid Ahmadi tief im Schuldensumpf, als er um das Bargeld anfragte. «Ich brauchte das Geld, um meine Schulden zu begleichen», erzählt er auf der Terrasse der Kantine an seinem Arbeitsplatz, er spricht ruhig, die Hände legt er zusammengefaltet auf den Tisch. Die Geldprobleme hatten mit seiner Hochzeit begonnen. Rund 18 000 Franken gab er für den Tag seines Lebens aus, denn seine Kultur und seine Familie erwarteten ein grosses Fest. Der Rest der Ersparnisse floss in die neue Wohnung. Als das erste Kind kam, reduzierte die Frau ihr

«Für mich gab es keine andere Lösung. Wenn nicht stehlen, woher hätte ich das Geld nehmen sollen?» ERIK A K ÄLIN

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Pensum von 80 auf 30 Prozent. Beim zweiten gab sie den Job auf. «Ich verdiente zwar nicht schlecht, aber es reichte nicht», sagt Nawid Ahmadi. Knapp 5500 Franken netto waren es, davon unterstützte die Familie aber auch noch seinen gesundheitlich angeschlagenen Vater. Von da an geriet Nawid Ahmadi in eine Abwärtsspirale. Die Schulden kamen nun «von da und dort», wie er sagt. Ein unkündbares Handy-Abo von 60 Franken pro Monat, eine Rückforderung von 3000 Franken von den Behörden, und dann heiratete auch noch die Schwester in den USA. «Allein die Flugtickets und das Geschenk kosteten 6000 Franken.» Nicht hingehen hätte für ihn einen Gesichtsverlust bedeutet. «Niemand wusste von meinen Schulden und ich wollte nicht, dass die ganze Familie davon erfährt.» Poulet im Chörbli, Gschwellti und Fisch Nawid Ahmadi schlug sich durch, solange er konnte, damit das Leben weitergehen konnte wie gewohnt. «Ich hob von einer Kreditkarte Geld ab, damit ich die Rechnung von einer anderen Kreditkarte bezahlen konnte», sagt er. Von einem Freund lieh er sich Geld, auch an eine der vielen dubiosen Firmen, die Schuldensanierungen versprechen (siehe Surprise 500), wandte er sich. Heute wirkt sein damaliges Verhalten auf ihn absurd. «Aber wenn du Schulden hast, kannst du nicht mehr klar denken», sagt er. Dank einer Rechtsschutzversicherung konnte Nawid Ahmadi die Vergabe des Barkredits überprüfen lassen. So kam ans Licht, dass die Bank now sein Einkommen zu hoch, dafür Mietzins, Gesundheitskosten, Quellensteuern und ÖV-Billett zu tief kalkuliert hatte. Gänzlich fehlte der Militärersatz, den Nawid Ahmadi leisten musste, sowie die zu erwartenden Mehrkosten für das dritte Kind, mit dem seine Frau schwanger war. Im Total machten die Fehler im Haushaltsbudget ähnlich wie bei Erika Kälin eine Differenz von über 1000 Franken aus. Seine Anwältin Rausan Noori sagt: «Selbst mit den falschen Berechnungen reizte der Kredit die durch die Bank berechneten Höchstbeträge fast auf den Franken genau aus.» Ob Ahmadi den restlichen Betrag von etwa 27 000 Franken zurückzahlen muss, ist noch offen. Er möchte gern ein eigenes Restaurant führen. Ihm schwebt eine Mischung aus Urchigem und Eigenem vor: Poulet im Chörbli, Gschwellti sowie Fisch aus dem Vierwaldstättersee zum einen, vegane Mezze und Linsengerichte aus seiner Heimat Afghanistan zum anderen. Damit der Traum dereinst Realität wird, muss er erst finanzielle Hürden überwinden – selbst wenn er dafür die Pensionskasse plündert. «Aber die Chance wird kommen, ich bin ein positiver Mensch.» Das Budget für den Betrieb werde er dann aber mit Sicherheit selber berechnen. Dass Banken bei der Prüfung der Kreditfähigkeit Fehler machen, ist eher die Regel denn die Ausnahme. »Es ist nicht die Frage, ob ich Fehler finde, sondern wie gravierend sie sind», sagt Olivia Nyffeler. Ähnlich klingt es bei ihrer Berufskollegin Rausan Noori. «Die Banken erstellen ihre Budgets eher basiert auf einer Bonitätsprüfung als auf der gesetzlich vorgeschriebenen Prüfung. Daraufhin überschulden sich die Kreditnehmer*innen.» Surprise 507/21

«Niemand wusste von meinen Schulden und ich wollte nicht, dass die ganze Familie davon erfährt.» NAWID AHMADI

Die vielen falschen Berechnungen wecken einen bösen Verdacht: Kalkulieren die Banken absichtlich zu optimistisch, um mehr Kredite vergeben zu können? Stossen sie zugunsten einer hohen Rendite Menschen in die Schuldenfalle? Beweisen lässt sich das nicht. Aber: «Banken vergeben solche Kredite sehr schnell, ohne genaue Abklärung. Sie machen viele Fehler, und das immer wieder», sagt Nyffeler. Dass die falschen Berechnungen System haben könnten, vermutet auch die Caritas. Vor vier Jahren zeigte sie die Cembra Money Bank sowie die Bank now bei der Finanzaufsicht Finma an – allerdings ohne Erfolg. Die Banken wehren sich gegen den Vorwurf, Kreditanträge nicht gemäss den gesetzlichen Vorgaben zu prüfen. Auf Anfrage betonen sowohl Bank now als auch Cembra Money Bank, dass es in ihrem eigenen Interesse sei, das verliehene Geld zurückzuerhalten. Die Verantwortung für Fehler im Budget schieben sie ihren Kund*innen zu. «Der Antragsteller bestätigt mit seiner Unterschrift vor der Kreditvergabe, dass er sämtliche Angaben auf deren Richtigkeit überprüft hat», schreibt Bank-now-Sprecher Bernhard Schmid. Und die Cembra Money Bank weist darauf hin, dass sie sich von Gesetzes wegen auf die Angaben der Kund*innen verlassen kann. Ausserdem sei das Gesetz nicht explizit, und in den Richtlinien gebe es «Bandbreiten und Pauschalisierungen». Dies erkläre die «unterschiedlichen Interpretationen». *Namen geändert 13


Wer klagt, gewinnt Das Gesetz schützt vor Überschuldung. Banken profitieren von unscharfen Formulierungen. Doch wer vor Gericht zieht, hat gute Chancen. TEXT  ANDRES EBERHARD

«Wenn ein neues Auto Sinn macht» – Christa Rigozzi, ehemalige Miss Schweiz und Moderatorin, lächelt neben einem Paar mit Baby, das sich gerade einen neuen Kombi geleistet hat. Auf solchen Plakaten sowie in TV-Werbungen wirbt Rigozzi seit Jahren für Kleinkredite. Alles einfach, alles unkompliziert, und in manchen Lebenssituationen einfach nötig, so die Aussage. Wer schnelles Geld leiht, landet meistens bei der Cembra Money Bank oder der Bank now (einer Tochter der Credit Suisse). Die auf das Kreditgeschäft spezialisierten Banken haben zusammen einen Marktanteil von über 50 Prozent. Sie verlangen einen Jahreszins zwischen 7 und dem gesetzlichen Maximum von 10 Prozent. Dafür stehen sie unter dem Verdacht, Kredite grosszügig zu vergeben. Im Gegensatz dazu ist die Migros Bank mit Zinsen um 5 Prozent günstiger, stellt aber viel höhere Anforderungen an die Kund*innen, was deren finanzielle Situation angeht. Hohes Risiko, hohe Rendite: Für die Cembra Money Bank und Bank now scheint dieses Geschäft aufzugehen. Zwar sind sie nur in der Schweiz tätig und die Anzahl Barkredite ist über die Jahre relativ stabil geblieben. Doch pro Kund*in verdienen die Banken viel Geld. Mit einem über sieben Jahre laufenden Barkredit von 30 000 Franken beispielsweise streichen sie bei einem Zinssatz von 9,5 Prozent einen Gewinn von 11 000 Franken ein. Betrachtet man die Jahresgewinne der Finanzinstitute in Relation zu ihrer Grösse, sind sie gar profitabler als Grossbanken wie die UBS. Für Konsument*innen hingegen können Kleinkredite zu einem gefährlichen Bumerang werden: In vielen Fällen verschärfen sie bestehende Geldprobleme. Naturgemäss werden Kredite von Menschen aufgenommen, die knapp bei Kasse sind. Kalkulieren sie falsch, geraten sie erst recht in Schwierigkeiten. Nun müssen

So rechnen die Banken Bei Barkrediten gilt die Regel: Konsument*innen müssen theoretisch in der Lage sein, den Kredit innerhalb von 36 Monaten zurückzuzahlen. Mit dieser gesetzlichen Bestimmung soll verhindert werden, dass der Schutz vor Überschuldung umgangen wird. Schuldenvertreter*innen und Banken legen die Regel unterschiedlich aus. Erstere rechnen mit der totalen Schuld, also dem Kredit inklusive aller Zinsen über die gesamte Laufzeit. Geteilt durch 36 erhalten sie so den «Freibetrag» im Budget, der wiederum die maximale Höhe des Kredits bestimmt. Die Banken hingegen rechnen ausschliesslich jene Zinsen zum Kredit hinzu, die in den ersten 36 Monatsraten anfallen. Durch diesen Trick wird der «Freibetrag» im Budget kleiner – es ist der Bank also möglich, einen höheren Kredit auszugeben. Welche Auslegung rechtlich korrekt ist, ist umstritten. Im bisher wohl bedeutendsten Urteil stützte das Berner Obergericht 2016 die Sicht der Schuldenvertreter*innen: Es seien die Zinsen über die gesamte Lauf­zeit zu berücksichtigen. EBA

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die Kreditnehmer*innen neben anderen Verpflichtungen auch noch die monatlichen Raten für den Barkredit zurückzahlen, plus happige Zinsen. Das schnelle Geld, eigentlich als Problemlösung gedacht, wird so selbst zum Problem. Aus diesem Grund sieht das Konsumkreditgesetz Massnahmen vor, die Konsument*innen vor Überschuldung schützen sollen. Es regelt nicht nur Barkredite, sondern auch Kreditkarten, Kontoüberzüge und Leasingverträge. Grundsätzlich dürfen Banken Kredite nur an jene vergeben, die sie auch zurückzahlen können. Dazu müssen sie ein Haushaltsbudget für die Konsument*innen aufstellen. Sie errechnen, wie viel Geld nach Abzug aller Fixkosten sowie allgemeinen Lebenskosten übrigbleibt. Dieser «Freibetrag» gibt die Höhe der maximal möglichen monatlichen Kreditrate vor. Dass die Banken bei diesen Berechnungen Fehler machen, ist gemäss Schuldenberatungsstellen eher die Regel als die Ausnahme (siehe Seite 10). Sie monieren, dass die Banken häufig die monatlichen Fixkosten markant zu tief einschätzten, was zur Folge habe, dass sie am Ende einen höheren Kredit vergeben könnten. Zusätzlichen Spielraum würden sie sich durch einen Trick verschaffen (siehe Kasten). Angst vor dem Gericht Frisieren Banken also systematisch Budgets, um mehr Kredite zu vergeben? Das vermutet die Caritas. Vor einigen Jahren fiel ihr bei der Analyse von 200 Budgets auf, dass die Fehler stets dieselben Posten im monatlichen Budget betreffen: die Berufsauslagen. Essenskosten ignorierten die Banken oft ganz und bei den Fahrten zum Arbeitsplatz setzten sie immer denselben Betrag ein: 100 Franken. Gerade für Autopendler*innen ist das zu wenig. Das Berner Obergericht kam vor einigen Jahren zum Schluss, dass die falsche Berechnung der Berufsauslagen einen schwerwiegenden Fehler darstellt. Für die Banken war das Urteil ein Schock, denn es bedeutet, dass Konsument*innen das Geld nicht zurückzahlen müssen. Theoretisch haben diese gar das Recht, bereits bezahlte Raten zurückzufordern. In der Praxis begnügen sich Schuldenvertreter*innen in der Regel mit einem Deal. Sie schlagen etwa vor, dass die Bank auf die noch nicht bezahlten Raten verzichtet. Die Chancen, dass die Bank einwilligt, stünden gut, sagt Olivia Nyffeler, Anwältin bei der Berner Schuldenberatung: «Kreditinstitute scheuen den Richter wie der Teufel das Weihwasser.» Der Grund dafür: Sollte das Bundesgericht einst zum selben Schluss kommen wie die Berner Richter*innen, würde dies ihr Geschäftsmodell gefährden. Solange dem nicht so ist, profitieren sie von der gesetzlichen Unschärfe. Die juristisch strittige Frage ist, wie weit die Banken gehen müssen, um die Angaben ihrer Kund*innen zu überprüfen. An einer Stelle im Gesetz heisst es zwar klipp und klar, dass die Banken die Verantwortung für die Kreditprüfung tragen. Andernorts jedoch steht, dass sich die Kreditinstitute auf die Angaben der Antragsteller*innen verlassen können. Surprise 507/21


Diese Stelle ist der Strohhalm, an den sich die Kreditinstitute klammern. Beim Thema der strittigen Berufsauslagen verweist die Cembra Money Bank allgemein auf das nicht in allen Belangen explizite Gesetz und «unterschiedliche Interpretationen». Die Bank now wird konkreter und teilt mit, dass im Antragsformular nach Kosten für «erhöhten Nahrungsbedarf, Auslagen für auswärtige Verpflegung» gefragt werde. Bei den Kosten für die Fahrten zum Arbeitsplatz werde eine Monatspauschale «in dreistelliger Frankenhöhe» eingesetzt. Antragsteller*innen könnten Beträge einsetzen oder erhöhen. Dies erklärt, warum die Berufsauslagen in den Budgets der Banken systematisch zu tief kalkuliert sind. Wer das Formular ausfüllt, übernimmt in der Regel die voreingefüllten Beträge: Essenskosten 0 Franken, Fahrtkosten 100 Franken. Naheliegend ist, dass Konsument*innen dies nicht aus Absicht tun, sondern weil sie nicht wissen, wie hoch diese Ausgaben sind und wie sie sie berechnen sollen. Oder nicht auf die Idee kommen, im Voraus ausgefüllte Zahlen zu ändern. «Ein besseres Standardformular für Kreditanträge wäre ein guter erster Schritt», sagt Olivia Nyffeler. Ungenauigkeiten gibt es nämlich auch andernorts. Zum Beispiel wird nach «weiteren festen monatlichen Verpflichtungen» gefragt. Darunter können Surprise 507/21

sich die wenigsten etwas vorstellen – im Gegensatz zu Fragen wie: Fahren Sie mit dem Auto zur Arbeit? Wie werden die Kinder betreut? Benötigen Sie Sehhilfen? Bezahlen Sie Militärersatz? Anwältin Nyffeler hat mit Berufskolleg*innen Standards für eine korrekte Budgetberechnung in einem Handbuch ausformuliert. «Mein Eindruck ist aber, dass es die Banken gar nicht so genau wissen wollen», sagt sie. Dies müssten sie aber, da sie und nicht ihre Kund*innen die Verantwortung dafür tragen, dass die Kreditfähigkeitsprüfung korrekt ist. Im TV-Werbespot sagt die lächelnde Christa Rigozzi: «Heute will ich erfahren, warum es so unkompliziert ist, bei der Cembra Money Bank einen Kredit zu beantragen.» Der Kunde, dem sie begegnet, antwortet: «Man bringt seine Idee mit, die letzte Lohnabrechnung, das war’s. Schon kann man den Kredit beantragen. Das ist wirklich einfach.» Er lacht breit, freut sich. Dabei würde man ihm wünschen, es wäre nicht ganz so einfach. Denn wo der Spot endet, fangen für die Schuldner*innen die Schwierigkeiten oft erst an. Fachbuch «Konsumkreditgesetz» (online verfügbar): www.konsumkreditgesetz.ch 15


Der Preis für den Konsum auf Pump TEXT  ANDRES EBERHARD INFOGRAFIK  MARCEL BAMERT

Umsatz Leasingmarkt Schweiz 2020:

CHF 10 784 010 000 Offene Barkredite per 31.12.2020:

CHF 7 296 629 000 Kredit: CHF 30 000

Massengeschäft mit Krediten Konsumkredite sind für einige spezialisierte Kleinbanken ein gutes Geschäft. Das meiste ausgeliehene Geld bekommen sie zurück – plus satte Zinsgewinne. Dabei profitieren sie auch von Gesetzen.

Cembra Money Bank

1-2 %

Saftige Gewinne

Kleines Risiko

Beispiel mit einem 9,5% Zins und einer Laufzeit von 7 Jahren

Anteil aller Kredite (Barkredite, Leasing, etc.), die nicht zurückgezahlt werden

Bank now

Jahresgewinn CHF 152,9 Mio.

Jahresgewinn CHF 72,4 Mio.

Gewinn pro Mitarbeitende*r: ca. CHF 150 000

Gewinn pro Mitarbeitende*r: ca. CHF 240 000

Zum Vergleich: Gewinn pro Mitarbeitende*r bei der UBS ist ca. CHF 90 000

«Trotz des Ausbruchs der Covid-19-Pandemie (...) konnten wir (...) sicherstellen, dass unsere Wertberichtigungen insgesamt robust blieben.» Aus dem Jahresbericht der Cembra Money Bank 16

Gewinn: CHF 11 000

Fatale Rechenfehler Um einen Kredit zu vergeben, müssen Banken ein Haushaltsbudget aufstellen. Was nach Abzug aller Ausgaben vom Einkommen übrigbleibt, ist die maximal mögliche Monatsrate, um den Kredit abzuzahlen. «Vergessen» die Banken einige Posten, können sie Kredite auch an jene vergeben, die ohnehin Monat für Monat Schulden machen. Surprise 507/21


Anzahl offene Leasings in der Schweiz:

709 925 Durchschnittlicher Kreditbetrag:

CHF 41 927

«Die Migros Bank auferlegte sich während der Corona-Krise eine bewusste Zurückhaltung im Privatkreditgeschäft. Sie hat (...) die Werbung vorübergehend eingestellt.» Aus dem Jahresbericht der Migros Bank

Autos auf Pump Leasing boomt, die Anzahl neuer Leasingverträge steigt. Ein Fahrzeug zu kaufen, ist der häufigste Grund für die Aufnahme eines Kredits. Es gelten etwas weniger strenge gesetzliche Anforderungen als beim Barkredit.

Anzahl offene Barkredite in der Schweiz:

319 746

Häufigste Gründe für Kreditaufnahme:

Durchschnittlicher Kreditbetrag:

23,3 % Fahrzeugkauf 15,7 %

Wohnungseinrichtung oder Zweitwohnsitz

CHF 35 239

5,7 % Geldprobleme 5,5%

Konsum anderer persönlicher Gegenstände

2,5% Ferien/Freizeit 1,9%

Bezahlung anderer Schulden

Mehr Risiko, mehr Rendite

Neu aufgenommene Leasings: 212 750 195 656

216 124

196 995

183 405 2016

2017

2018

2019

2020

Die Anzahl vergebener Barkredite ist konstant – nur im Corona-Jahr 2020 ging sie etwas zurück. Cembra Money Bank und Bank now verlangen 7–10 Prozent Zins, gehen dafür ein höheres Risiko ein als die mit 5–6 Prozent günstigere, jedoch restriktivere Migros Bank.

Marktanteile Barkredite Restliche Anbieter 29%

Cembra Money 33%

Migros Bank 12%

Bank now 26%

Kreditprüfung geltendes Recht Einkommen: CHF 4163.25 Grundbedarf, Miete und Krankenkassenprämien: CHF 2844 Gesundheitskosten: CHF 233.33

Kreditprüfung Bank Einkommen: CHF 4163.25

Kredite im Vergleich

Fahrten zum Arbeitsplatz: CHF 814

Grundbedarf, Miete und Krankenkassenprämien: CHF 2844

0,5–2 %

Hypothek

Quellensteuern: CHF 547.28

Gesundheitskosten: CHF 0

2–6 %

Leasing

ab 4 %

Firmenkredit

5–10%

Kleinkredit

Auswärtige Verpflegung: CHF 242

Übrige Fixkosten: CHF 308.20 Verfügbar für Kredit: CHF -825.56

Auswärtige Verpflegung: CHF 0 Fahrten zum Arbeitsplatz: CHF 100 Quellensteuern: CHF 547.28

bis zu 12% Ratenzahlung/ Kreditkartenüberzug

Übrige Fixkosten: CHF 308.20 Verfügbar für Kredit: CHF 363.77 QUELLE: EIDGENÖSSISCHE FINANZKONTROLLE. 2021

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«Eine Investition in die soziale Gleichheit» Wer überschuldet ist, wird zur Passivität erzogen, sagt Forscher Christoph Mattes. Er fordert ein Entschuldungsverfahren, damit Betroffene wieder an der Gesellschaft teilnehmen können. INTERVIEW  ANDRES EBERHARD

Herr Mattes, wie sollten wir unseren Kindern den Umgang mit Geld beibringen? Gute Frage …

für ein solches Restschuldbefreiungsverfahren. Ob das Verfahren sein Ziel erreicht, wird davon abhängen, wie es ausgestaltet wird.

Wie wäre es damit: «Lieber sparen als alles gleich ausgeben.» Nein. Das ist total moralisierend. Kinder sollen ihr Sackgeld ruhig ohne Bedenken ausgeben. Vielleicht können wir ihnen vorleben, dass wir nicht bei allem mitmachen. Dass wir unsere Kaufentscheidungen autonom und unabhängig fällen und dass wir kein Geld in Stresssituationen ausgeben. Denn das sind immer unwirtschaftliche Entscheidungen. Und ja, besser ansparen und erst dann kaufen, wenn man das Geld zusammen hat. Wer Geld leiht, bezahlt dafür einen Preis. Aber diese Diskussion geht in die falsche Richtung.

Was sind die Optionen? Entweder haften Schuldner*innen eine gewisse Zeit für ihre Schulden wie in Österreich oder Deutschland. Oder man sagt sich wie in Frankreich oder den USA: «Es haben alle am meisten davon, wenn die Schulden möglichst schnell weg sind, damit alle wieder mitmachen können.»

Warum? Wir sollten davon wegkommen, uns die Schuldfrage zu stellen. Also ob die Menschen selbst schuld sind, wenn sie sich verschulden. Verschuldung ist ja gesellschaftlich gewollt und erwünscht. Es braucht sie, damit genügend konsumiert wird und die Wirtschaft wächst. Und beim Konsum verhält sich niemand rational. Würden wir das tun, dann bräche die Wirtschaft zusammen. Verschuldung hilft auch, Benachteiligungen zu bewältigen. Wer sich einen Fernseher nicht leisten kann, kauft ihn auf Kredit. Solche spezifischen Kreditangebote gab es schon früher, zum Beispiel für sogenannte Gastarbeiterfamilien, die sich einen Kühlschrank kaufen wollten. Verschuldung ist also nicht nur schlecht – auch wenn der Preis für die Teilhabe durch Zinsen und andere Kosten sehr hoch ist. Wenn nicht die Schulden bekämpfen, was sollten wir stattdessen tun? Wir müssen den Menschen helfen, die Schulden loszuwerden. Damit sie wieder an der auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft teilnehmen können. In den meisten europäischen Ländern gibt es zum Beispiel ein gerichtliches Entschuldungsverfahren (dazu Seite 20). In der Schweiz noch nicht. Die Politik arbeitet derzeit an einem Vorschlag 18

Wofür plädieren Sie? Für das Letztere. Also für ein Verfahren ohne Hürden, das ausserdem nicht zu lange dauert. Es soll schliesslich darum gehen, die Schuldner*innen zu befreien und nicht die Gläubiger*innen zu befriedigen. Wenn am Ende für letztere etwas rausspringen muss – also die Schuldner*innen für das Verfahren bezahlen müssen –, dann wird es nicht funktionieren. Eine rechtliche Verpflichtung zur Entschuldung stärkt übrigens auch aussergerichtliche Lösungen: weil die Gläubiger*innen merken, dass es sich lohnt, bei Schuldensanierungen mitzumachen. Ein solches Signal fehlt zurzeit. Sie forschen zu Schulden. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse? Beim Thema Schulden zeigt sich die soziale Ungleichheit. Denn es überschulden sich immer jene Menschen, die sich den Konsum ansonsten nicht leisten könnten. Das ist der Grund, warum man die Einführung eines effizienten Entschuldungsverfahrens als Investition in die soziale Gleichheit der Menschen sehen muss. Unsere Untersuchungen zeigen aber auch, dass unser Schuldensystem Anreize zur Passivität bietet: Schulden halten Menschen davon ab, Arbeit zu finden. Ausserdem ziehen sich soziale Institutionen zurück, sobald Schulden im Spiel sind. Dabei wären diese ja dazu da, den Betroffenen zu helfen. Warum denn das? Weil Überschuldung nicht lösbar ist. Steckt man den Betroffenen Geld zu, fliesst das gleich wieder ab in die Surprise 507/21


nächste Betreibung oder Pfändung. Die Hilfe kommt also gar nicht bei den Menschen an. Dasselbe gilt für die Arbeitssuche: Betroffene haben keinen Anreiz, mehr Geld zu verdienen, wenn sie hinterher einen grossen Teil ihres Einkommens abgeben müssen.

Wie geht die Schweiz im internationalen Vergleich mit Schulden um? Auffällig ist, dass in der Schweiz die meisten Schulden direkt oder indirekt beim Staat bestehen – in Form von Steuern oder Krankenkassenprämien. Das findet man sonst in Europa nirgends. Dort kommen die grössten Gläubiger eher aus der Privatwirtschaft. Ausserdem ist das Betreibungssystem hierzulande rechtlich fragwürdig. Wer sich nicht wehrt, bezahlt eine Forderung, die gar nicht rechtskräftig ist – weil hier jeder jeden betreiben kann, ohne Nachweis. Das ist problematisch, weil die öffentliche, anprangernde Wirkung von Be­treibungsregisterauszügen in der Schweiz verglichen mit anderen Ländern besonders ausgeprägt ist. Hier kann man innerhalb von ein bis zwei Monaten als total zahlungsunfähig gelten. In anderen Ländern dauert das länger.

Das klingt deprimierend. Wir müssen unser Denken ändern: Die Bewältigung von Schulden gilt heute als Problem, das Betroffene lösen müssen. Doch viele überschuldete Menschen haben gar keine realistische Chance, es aus der Schuldenspirale heraus zu schaffen. Da müssen wir ansetzen. Und ausserdem dafür sorgen, dass Schulden beim Einzelnen kein gefährliches Ausmass annehmen können.

«Überschuldung ist ein strukturelles Problem. Sie betrifft alle Altersklassen.»

Wenn wir vor allem dem Staat Geld schulden: Was bedeutet das? Dass der Staat die wirtschaftliche Verantwortung für die Schulden der Menschen übernimmt. Würde man beispielsweise die Steuern direkt vom Lohn abziehen, wie es teilweise gefordert wird, ginge die Überschuldung kaum zurück. Die Menschen hätten ja nicht mehr Geld zur Verfügung. Sie würden sich anderswo verschulden, bei Banken, beim Vermieter oder bei der Energieversorgerin. Man muss gleichwohl sagen: Der Anteil Menschen, die ihre Steuern nicht bezahlen, ist in der Schweiz relativ gering. Aus Sicht der Behörden ist es die Sollbruchstelle von Armut.

CHRISTOPH MAT TES

Wann sind Schulden problematisch? Wenn die Spielräume so eng werden, dass nichts Unvorhergesehenes mehr passieren darf. Wenn zum Beispiel ein junger oder geringqualifizierter Mensch nicht mehr den Job wechseln kann, ohne in die Schuldenspirale zu geraten. Es braucht nicht viele Ratenverpflichtungen, um ein Kartenhaus aufzubauen, das schnell in sich zusammenbricht.

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FOTO: ZVG

Wie lässt sich das verhindern, wie können wir der Überschuldung vorbeugen? Viele gelangen durch Kredite von Banken in die Schulden. Sie brauchen Geld, um zu konsumieren, tun also genau das, was gesellschaftlich erwünscht ist. Doch die Gesellschaft muss die Konsument*innen besser vor den damit verbundenen Risiken schützen. Das ist auch im Gesetz festgeschrieben. Banken müssen die Kreditfähigkeit der Menschen prüfen, bevor sie einen Kredit vergeben. Jedoch umgehen sie diese Vorgaben häufig. Mit immer neuen Angeboten betreiben sie ein regelrechtes Katz-und-MausSpiel mit dem Gesetzgeber. Das tun sie, weil die Renditen hoch sind. Konsumentenkredite sind die teuersten Kredite, die es gibt, also jene mit dem höchsten Zins. Banken investieren sehr bewusst in die Überschuldung von Privathaushalten. Sozial benachteiligte Menschen bezahlen dann den Preis für die vordergründige Teilhabe.

Sie sagten einmal zum Thema Schulden: Menschen sind keine Fluchttiere. Wie meinen Sie das? Menschen nehmen Verschuldung als Bedrohung wahr. Wir hauen nicht ab wie ein Pferd, sondern gehen in Deckung. Dazu gibt es neuropsychologische Studien. Wenn wir gestresst sind und unter Druck, dann ziehen wir uns zurück. Das ist der Grund, warum Schuldner*innen das Telefon nicht abnehmen oder den Briefkasten nicht öffnen, wenn sie von Geldeintreiber*innen unter Druck gesetzt werden.

Christoph Mattes ist Wissenschaftler und Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Verschuldung, Schuldenberatung und Schuldenprävention.

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Und jetzt? 10 Vorschläge für Auswege aus der Schuldenfalle – für Politiker*innen, Anwält*innen, Beamt*innen, Gläubiger*innen und Betroffene TEXT  ANDRES EBERHARD, SARA WINTER SAYILIR

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ese oft ein hat, behält di n de ul ch S Wer chichte, die zeigt eine Ges as D . ng la n Lebe s erzählt: hristoph Matte C r tle af ch ns Wisse Aktenber­ r verstaubten vo t eh st n an heine – Ein M um Verlustsc ch si t el nd ha gen. Es nst Rech­ rungen, die ei de or df el G also um aren. Frage: etreibungen w nungen und B n aufgeben? ht irgendwan ic n an m ll o S kleinen In­ Inhaber einer t is n an M er D ürlich nicht. twortet: «Nat an r E a. rm ofi kass !» In der r an die Erben nu ie S n ke Den ine zwar n Verlustsche re äh rj ve z ei Schw formlose en. Doch eine nach 20 Jahr längerung um nügt zur Ver Betreibung ge chlagen die Jahrzehnte. S ­ weitere zwei t aus, bekom das Erbe nich n. an Nachkommen M ssoPost vom Inka men auch sie weiz nicht lösch S r ist in de ng du ul ch rs Übe d schmerz­ nfalle real un de ul ch S e di bar, ldungsver­ ist ein Entschu ng su Lö ie D . haft gangbarer einiger, aber fahren – ein st ger Jahre während eini er W : ee Id ie Weg. D el zurückzumöglichst vi alles tut, um enfrei. Dank anach schuld zahlen, ist d en sich Benschnitt könn dem Schulde n, und zwar Druck befreie m vo e en off tr Geld sie von, wie viel da ig ng hä ab un at arbei­ . Der Bundesr en nn kö en et anbi solches schlag für ein or V m ne ei ie es austet an t davon ab, w ng hä l ie V . en Verfahr steht, dass Die Gefahr be gest altet ist. by verwässert irtschafts-Lob es von der W r Betroffene. mit nutzlos fü wird – und da

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dazu auf Hintergründe abe in dieser Ausg Seite 14 und 18

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3. Faire Krankenkassen Milliardär*in oder Armutsbetroffene*r? Spielt keine Rolle, wenn es um die Höhe der Krankenkassen prämien geht. Da die Prämien seit Jahren steigen, leiden darunter vor allem Menschen mit wenig Geld. Weg von der Kopf- und hin zu einkommensab­ hängigen Prämien: So könnte man Armutsbetroffene entlasten. Denn die Prämien sind nach Steuern der zweithäufigste Grund für Schulden. Die Prämie­ nentlastungsinitiative der SP, über welche wohl nächstes Jahr abgestimmt wird, will zumindest eine Deckelung der Prämien auf 10 Prozent des Einkommens.

4 . Äm ter zu rückp Betr f

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en wird ? Bei Schuld tnisse gelebt äl rh Ve huld. e sc in de lliert: selbst Hast du über twortung appe an er Lage: nv re ih ge r Ei fü e häufig an di oft nicht viel n ne in t* en Konsum bte Schulden Dabei können g, sogar geer un id he at ist Sc ne st, ei en. «Der Sta Ein Jobverlu ldenfalle führ hu ­ Sc ul e ch di rs in kt ber von Übe können dire etzen ein Trei ä­ es pr G n en te ld al hu ur Sc r mit teilweise n der Zürche vo le er äg M regor huldbefreiung dung», sagt G enden Restsc de eben der fehl N . le el t. Hierzulan st ch ns re io vent s Betreibungs da ch ch si au er it . Nur w meint er dam n, ohne Grund ehen. den betreibe reibung entg et B n te kann jeder je ig rt tfe ch re ge einer un t dabei einer wehrt, kann register gleich gs un ib re d Wohet B t Arbeits- un Ein Eintrag im g: Er erschwer un er ng ra np öffentlichen A massiv. nungssuche

7. Schlu s

s mit «D

rücker-I Man mu nkasso» ss es nic ht lange unangem ausfü eldeten Hausbes hren: fertig mit Telefonan uchen , n rufen, Dr ächtlich weitigem ohungen en , Tricks u Drangsa nd ander­ lieren. In sozialer k assofirm werden – ein Vo en sollte Branche rsatz, de n mittlerw n s eile selb ich die ter*innen s t n könnten immt. De sic ren Vertr üben: da e­ ss sich S h zudem in Selbs chuldner treflexion stecken» * in , is nen vor ihnen «v bewerten t normal und nic er­ ht morali . Erstens sch zu wegen o noch exis ben gena tierenden nnte E Und zwe itens, we inschüchterungsm n, immer il ethoden. Mensche den Kop f in den n in Not Sand zu dazu neig aber sch stecken. wer zu ä Nicht gu en, ndern. Hintergrü t, nde dazu in Surpri

8. Bei Schulden kühlen Ko

se #5 0 0

un d # 5 0

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pf bewahren

tilgen? Per Vorausum bestehende Schulden zu Einen Barkredit aufnehmen, g aus der Misere nen bezahlen, die einen We kasse Schuldensanierer*in unter Stress und e! Doch Menschen fällen versprechen? Keine gute Ide en hat, sollte scheide. Darum: Wer Schuld Druck unwirtschaftliche Ent als später eine her frü ahren. Und besser bew f Kop len küh en ein hst möglic fen, die richtisuchen. Fachleute können hel Schuldenberatungsstelle auf auf die Spur zu n ie illegal vergebenen Kredite gen Prioritäten zu setzen sow t wehren rich Ge betroffene notfalls auch vor kommen. Damit sich Armuts für Über­ ng beratu auch eine kostenfreie Rechts können, braucht es jedoch ig, n sich ein dass und auch beim Bund ist ma schuldete. «In der Literatur utsbetroffenen zu den Grundrechten von Arm ein Recht auf Rechtsschutz san Noori. gehört», sagt Anwältin Rau niederschwelder Stadt Zürich setzt mit dem Die Schuldenpräventionsstelle gegeben ist. früher an: bevor das Geld aus ligen Angebot «Moneythek» , gibt es Alternatifür den Neuwagen leisten Kann ich mir das Leasing n, für die Zulen Betroffene vorbeikomme ven? Bei solchen Fragen sol mit einem hohen hen nsc n. «Wir versuchen, Me ehe ges vor at Ch ein ist ft kun gor Mägerle. , sagt Fachstellenleiter Gre Schuldenrisiko zu erreichen» Hintergründe dazu in Surpris

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e #500 und #502

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9. Mehr Beratung, Prävention und Forschung

Wer auf einer Schuld enbera­ tungsstelle anruft, ha t meist dringende Probleme. Denn der Weibel vor der Tür od er die Be­ treibungsandrohung auf dem Küchentisch kann selte n fünf bis sechs Wochen war te n. So lange dauert es aber vieler orts, um einen Termin zu beko mmen. Die Beratungsstellen – m eist staatlich (mit)finanzierte Vereine mit Leistungsauftrag – sin d überlastet. Noch düsterer sie ht es bei der Schuldenprävention au s: In diesem Bereich arbeite n schweiz­ weit gerade einmal ac ht Leute. Der Bund könnte im Kampf gegen Überschuldung vorang ehen und ein nationales Kompe tenzzentrum schaffen (sowie die Ka ntone stärker unterstützen). Dort könnten auch die Hochschule n einge­ bunden werden. Denn es braucht mehr Forschung über Schulden in der Schweiz. Hintergründe dazu in Surprise #500 und #5 02

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r reinen e d t a im r P s 10. Da berdenken ü t f a h c s t ir Marktw über

ieren wir auch tandard finanz ss en b n, braucht Le en Unser dard zu halte n ta S n se ie md nez Isabel Martí Schulden. U gt Ökonomin sa , klimam u ch st au h es Wac s müsse se ie d er b A . Zürich promiss, um von der ETH hnellste Kom sc er D . in se cheinlich die ver­träglich ern, ist wahrs ch si zu ft n ach marktunsere Zuku atastrophe n ak lim K er d g in DemokraBekämpfun n. Zumindest ie p zi n ri P en h t, dass wirtschaftlic vorstellbar is um ka es o w r, re gnifikante tien wie unse überzeugt, si on av d t ei rh ehmen. man die Meh ndard hinzun ta ss en eb L eim Einbussen b jetzigen Weg lternative zum A he lic äg tr Frohofer Eine klimaver bel und Fred to on V er n er rzen Wege». skizzieren W nomie der ku ko Ö e in «E rer in ihrem Buch isation unse e Neuorgan in e k reguen ar g la st h it Sie sc r vor: M e st lu C e in kle er Quadratmet Wirtschaft in ­konsum – 25 al u tlich id af iv h d In sc emein liertem a­dratmeter g u Q 0 5 en d d n n u privater son, 200 Stu ten, nraum pro Per chkonsumen genutzter Woh oderate Fleis m r fü –, r h en rf Ja mehr su Internet im 247 Stunden en rf an dü r eh en nem M Veganer*inn tszeit und ei ei rb A r te er egen dafür verring er Konsum g leben. Wenig ts af h sc n ei Gem r Deal. ein schlechte mehr Zeit. K rise #505 dazu in Surp Hintergründe

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«Auf der Bühne wird die Utopie vorgelebt» Inklusion Tanz kann Menschen mit einer körperlichen oder kognitiven Schwäche integrieren. Warum, erklärt Isabella Spirig, die Gründerin des Projekts IntegrArt.

Isabella Spirig, wie kommt es, dass Sie sich für die Inklusion über den Tanz engagieren? Als junge Tänzerin nahm ich an einem inklusiven Tanzworkshop des britischen Choreografen Adam Benjamin teil und war beeindruckt vom kreativen Umgang mit aussergewöhnlichen Situationen. Ein weiterer Grund ist, dass ich inzwischen Mama eines Sohnes bin, der mit einer Behinderung lebt. Jeden Tag sind kreative Lösungen angesagt, die viele Bereicherungen schaffen. Inklusion schafft neue Möglichkeiten, für alle.

FOTO: CAROLINE MINJOLLE

INTERVIEW  LARISSA TSCHUDI

Worum wird es an Ihrer Tagung im September gehen? Die Tagung richtet sich an Politiker*innen sowie Kulturschaffende mit Entscheidungsgewalt. Also an Regisseur*innen, Intendant*innen von Theaterhäusern oder Leiter*innen von Festivals, an denen Tanz und Theater programmiert wird. Wenn Menschen mit Behinderung an den Tanzschulen zugelassen werden und in leitende Positionen kommen sollen, müssen bestehende Strukturen aufgebrochen und neu gedacht werden.

Wie erleben Sie das Echo Was kann der Tanz, was andere auf Ihre Forderungen? Kunstformen nicht können? Das erste Echo ist immer sehr gut. NieIsabella Spirig hat 2007 das Netzwerk­ Beim Tanz ist man gezwungen hinzumand sagt, Inklusion sei eine Schnaps­ projekt IntegrArt des Migros-Kulturprozent schauen und sich mit dem Körper der Tänidee. Danach muss man aber darauf achins Leben gerufen. Sie war als Tanzpädago­ zerin oder des Tänzers auseinandersetzen. ten, dass wirklich etwas verändert wird. gin, Tänzerin und Produktionsleiterin tätig. Man kann sich ihm nicht entziehen. Der Will man etwa eine Fachexpertin im Roll1998 übernahm sie die Leitung des Fachbezeitgenössische Tanz hat aus meiner Sicht stuhl in eine Kommission integrieren, reiches Tanz beim Migros Kulturprozent die Aufgabe, gesellschaftspolitische Framuss das Sitzungszimmer rollstuhlgängig und dessen Tanzfestivals Steps. gen zu stellen. «L’art pour l’art» finde ich sein. Es fallen vielleicht Kosten an, und weniger interessant. Der Tanz ist ein Mitdann entsteht rasch Widerstand. Persotel zum Zweck: Das Ziel ist die Inklusion. Alle sollen gleichbenen, die bei der Umsetzung konsequent bleiben, empfinden die rechtigt sein, niemand soll mehr ausgegrenzt werden. Auf der Inklusion aber immer als Bereicherung. Bühne wird diese Utopie vorgelebt. Es wäre schön, wenn die Was wünschen Sie sich für die Zukunft? ganze Gesellschaft so funktionieren könnte. Ich wünsche mir mehr Mut zum Konsequentsein. Denn die MögIntegrArt ist ein Netzwerkprojekt, das inklusive lichkeiten der Inklusion sind noch lange nicht ausgeschöpft. Ich Bühnenkunst fördert. Welche Ziele verfolgt es dabei? freue mich auf den Tag, an dem ein Tanzhaus oder ein Theater IntegrArt strebt die Gleichstellung von Künstler*innen mit und von einer Fachperson mit Behinderung geleitet wird. ohne Behinderung an, und zwar sowohl in den Darbietungen wie auch in den Leitungspositionen. Was haben Sie auf dem Weg dahin bereits erreicht? Wir haben erreicht, dass der Begriff «Professionalität» anders definiert wird. Die Gesuche von inklusiven Theater- und Tanzproduktionen wurden früher alle abgelehnt, weil es hiess: «Die sind nicht professionell.» Heute verlangen wichtige Schweizer Kulturinstitutionen nicht mehr zwingend ein Diplom von einer Tanzakademie, sondern anerkennen auch Praxiserfahrung. Ein anderer wichtiger Fortschritt ist, dass unsere Tänzer*innen jungen Menschen mit Behinderungen als Vorbild dienen. Die Jungen werden ermutigt, ihre eigenen Träume zu leben. 24

Netzwerkprojekt IntegrArt Seit 2007 engagiert sich das Migros-Kulturprozent mit IntegrArt für die selbstbestimmte Einbindung von Menschen mit Behinderungen in den Kunst- und Kulturbetrieb. Das Projekt vernetzt alle zwei Jahre inklusive Festivals und Theaterhäuser aus der Schweiz für gemein­ same Tanz- und Theaterproduktionen. «Strukturen neu denken», Tagung, Di, 21. und Mi, 22. September, Gessnerallee Zürich. Ziel ist der Austausch mit Kultur und Politik. www.integrart.ch/de/tagung

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Selbstfindung durch Wrestling

Lauter Abschiede

Kino Im Dokumentarfilm «ALE» findet eine junge Frau im Wrestling zu innerer Stärke und schliesslich zu sich selbst.

Buch In «Muttertag» versucht ein Sohn, seine

Wrestling erschafft die (fast) perfekte Illusion eines Kampfes und begeistert vor allem in den USA und Mexiko ein Milli­ onenpublikum. Auch der Thurgauer Regisseur O’Neil Bürgi verfolgt die Schaukämpfe der amerikanischen Liga WWF (heute WWE) während seiner Jugend im Fernsehen. 2016 plant er, in einer der wenigen Wrestling-Schulen hierzu­ lande einen Kurzfilm über die kleine Schweizer Wrest­ ling-Szene zu drehen. Aber dort trifft er auf die 19-jährige Alessandra, die hier nach Akzeptanz sucht, denn ihre Jugend war geprägt von Mobbing. Die Tochter eines Schweizers und einer Kameru­ nerin interessierte sich für andere Dinge als die Mädchen in ihrem Umfeld – und wurde dadurch zu deren Zielscheibe. Schnell verwirft Filmemacher Bürgi den geplanten Kurz­ film zugunsten eines Porträts von Alessandra oder Ale, wie diese von ihrer Mutter genannt wird. Es gelingt ihm, diese sich nach Halt und Orientierung sehnende junge Frau nicht exemplarisch für andere Jugendliche mit Migrationshin­ tergrund zu zeigen, sondern sie ganz für sich selbst stehen zu lassen. Die Dreharbeiten dauerten gut ein Jahr und dokumen­ tieren feinfühlig Ales persönliche Reise zu sich selbst. Am Anfang hat sie noch ein ambivalentes Verhältnis zu sich und zur eigenen Weiblichkeit, doch langsam lösen sich alte Muster auf, sodass sie sich so anzunehmen beginnt, wie sie ist. Unter der Anleitung ihres Trainers und der US-Wrest­ ling-Legende Chris Chavis alias Tatanka, der gerade als Gast­ trainer in der Schweiz weilt, soll Ale ein Gimmick entwickeln, eine Kunstfigur für den Ring. Diese Figur müsse tief in ihr wurzeln, um für das Publikum authentisch zu wirken, gibt der amerikanische Altstar ihr mit auf den Weg. So lässt sich Ale mutig auf ihre schwierige Biografie ein und tritt selbst­ bewusst aus dem Schatten ihrer Kunstfigur und ihrer Ver­ gangenheit hervor, als ihr Leben eine schicksalhafte Wen­ dung nimmt. MONIK A BET TSCHEN

Es ist der 21. Juni. Der längste Tag des Jahres. Um Punkt 21.26 Uhr, bei Sonnenuntergang, soll der Sohn in Ralf Schlatters Roman «Muttertag» der eigenen Mutter den Giftbecher rei­ chen, Sterbehilfe leisten. So hat sie es festgelegt. «Mutter Mut­ ter Mutter. Was hast du mir da nur eingebrockt», denkt er. Denn wie soll man so etwas bewältigen, ja, auch nur verstehen? Vielleicht hilft Zeit und Bewegung. Also macht er sich auf, die Strecke von Zürich bis Schaffhausen zu Fuss zurück­ zulegen. Fünfzig bis sechzig Kilometer, sechzehn Stunden sollten reichen. Stunden, in denen er abschweift und aus­ weicht, beobachtet und notiert. Vögel und Menschen, Begeg­ nungen, Unscheinbares, Alltägliches. Stunden, in denen er für seine Mutter die Welt so beschreibt, wie er sie sieht. Denn das hat er sich immer gewünscht, dass sie die Welt mit sei­ nen Augen sieht. Doch das bleibt Wunschdenken. So wie seine Sehnsucht, mehr von ihr zu wissen. Nicht nur biografische Daten, son­ dern das, was sie denkt, empfindet, ihre Haltungen und Mei­ nungen. Gerade das fehlt und macht es ihm unmöglich, sie zu lieben. Das Wahrhaftige hinter der Fassade einer wohl­ behüteten Kindheit in einer typischen Bilderbuchfamilie im Einfamilienhausviertel. Das, was man nicht zeigte, worüber man nicht sprach, weil es keinen Wortschatz dafür gab. «Man ist jemand» hiess es dort stets – der Vater hat es bis zum Chef­ prokuristen einer Bank gebracht – und «Was würden denn die Leute sagen», die Maxime, der sich alles unterzuordnen hatte, selbst um den Preis der eigenen Lebensträume. Bis man nicht nur für sich selbst, sondern auch für die eigenen Kinder unkenntlich wird. Was bleibt, ist ein schmerzlicher Ablösungsprozess. Und so spielt der Protagonist auf seiner Wanderung ein Tren­ nungsszenarium nach dem anderen durch, lauter Abschiede, die er wie kleine Theaterstücke inszeniert. Trennungen, die allerdings alle zu spät kommen, denn den wirklichen Schnitt hat seine Mutter mit ihrem bevorstehenden Freitod bereits vorweggenommen. Die ersehnte Aussprache ist nur ein Ge­ dankenspiel. Ralf Schlatter versteht es, von all dem Schmerzlichen, Versäumten und Ungesagten mit erstaunlicher Leichtigkeit und feinem Humor zu erzählen. Dadurch nimmt er dem Schweren zwar nicht das Gewicht, aber das Erdrückende. Die Lebenshaltung der Elterngeneration mag dabei zeitbe­ dingt sein, die Probleme sind es nicht. Es kann also durchaus sein, dass einem bei der Lektüre das Echo des eigenen Le­ bens entgegenhallt. CHRISTOPHER ZIMMER FOTO: ZVG

FOTO: ZVG

Mutter und den Verlust seiner Liebe zu ihr am letzten Tag ihres Lebens zu begreifen.

Ralf Schlatter: Muttertag Limbus 2020, CHF 27.90

ALE, Regie: O’Neil Bürgi, Dokumentarfilm, CH 2020, 70 Min. Läuft zurzeit im Kino. Surprise 507/21

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Basel und Romandie «50-50-50», Fotoausstellung, bis Do, 16. Sept., Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b; Di, 14. Sept. bis Do, 21. Okt., Yverdon-les-Bains, Ville; Fr, 1. bis Mi, 20. Okt., Genève, Quai Wilson. 50-50-50.ch

als Obdachloser. Als «Sonntagsgast» erzählt er aus seinem Leben. Von den Aufstellern und Ablöschern und all dem, was ihn nie hat aufgeben lassen. Begleitet wird er vom Surprise Strassenchor. Denn auch der Chor besteht aus Menschen, die zum Teil existenzielle Krisen hinter sich haben. Und auch er lebt von seiner Authentizität und Emotionalität. DIF

Zürich «About Us! – Zürich Interkulturell», Quartierkunstfes­ tival, Fr, 3. bis So, 19. Septem­ ber, verschiedene Spielorte in Zürich. about-us.ch

Der Titel der Ausstellung, «50-50-50», sieht ironischerweise ein bisschen aus wie die Formel von Model-Körpermassen (nur die konkreten Zahlen entsprechen ihnen nicht ganz). Aber man muss das natürlich so lesen: 50 Fotograf*innen haben 50 Frauen 50 Jahre nach der Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts porträtiert. Entstanden ist ein Querschnitt, der zeigt, wie vielfältig Frauenleben sein können: Da ist die Bäuerin und Grossrätin, die erzählt, warum sie nie so bauern wollte wie ihre Mutter. Wir hören Geschichten von Frauen, die sich ausserhalb von normierten Schönheitsidealen bewegen. Wir lernen eine Frau kennen, die in den 1970ern als Lesbe als etwas «Unsagbares» galt. Es geht hier darum, dass sich Frauen in einer männerdominierten Welt oft anders verhalten haben, als die Erwartungen es verlangt hätten. Und darum, dass dieses Anderssein eine Stärke sein kann. DIF

Basel «Ost/West Berlin», Foto­ ausstellung, bis Sa, 11. Sept., Mi bis Sa, 15 bis 19 Uhr, Galerie am Spalenberg, Petersgraben 73. galerie-am-spalenberg.com

Künste Berlin und ist immer wieder als Reisefotografin unterwegs. Ihren zentralen Fokus richtete sie aber auf ihre Wahlheimat Berlin – die geteilte Stadt und ihre Menschen, die sie rund vierzig Jahre lang vor und nach dem Mauerfall fotografierte. Die Ausstellung in Basel zeigt einen Teil der Ausstellung, die in Berlin zum 30. Jahrestag des Mauerfalls gezeigt wurde. Ein Bildband ist im Verlag Hatje Cantz erschienen. DIF

Bern «Sonntagsgäste», mit Surprise Stadtführer Roger Meier und dem Surprise Strassenchor aus Basel, So, 12. Sept., 11 Uhr, Matthäuskir­ che, Rossfeldstr. 114

Nelly Rau-Häring zog 1965 als 18-Jährige nach Berlin, um an der Fotofachschule erst mal das fotografische Handwerk zu lernen. Es folgte dann ein Leben als Fotoreporterin, mehrere Bildbände erschienen und Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften wie der taz und Du. Sie lehrte an der Hochschule der

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Im Format «Sonntagsgäste» lädt die Pfarrerin Doris Moser Gäste ein, die von sich erzählen und an ihren Geschichten teilhaben lassen. Sie erzählen im Gespräch von ihren Leidenschaften, ihren Berufen und davon, was ihnen im Leben wichtig ist und was sie geprägt hat. Am 12. September ist der Gesprächspartner Roger Meier, Surprise Stadtführer in Bern. Auf seinen Stadtrundgängen gibt er Einblick ins Leben

«About Us!» feiert die Vielfalt der Menschen in der Stadt Zürich. Die diesjährige Ausgabe besteht aus zwölf partizipativen Quartierkunst-Projekten (52 wurden eingereicht), die in den Quartieren Altstetten, Seebach und Wollishofen zu Gast sind. Das sind Ausstellungen, Tanzspaziergänge, Theatervorstellungen, bis hin zu einer live produzierten Radioshow. So plant die Tanzcompagnie The Field, mit sogenannten Quartier-Botschafter*innen Wollishofen tanzend zu erkunden. In Altstetten begeben sich Dimitri van den Wittenboer und Pankaj Tiwari auf die Suche nach Privaträumen, die für die Allgemeinheit geöffnet werden. In Seebach lancieren Andrea Brunner und Ramon Cassells den Austausch rund um kulinarische Lieblinge und die Geschichten, die sich mit ihnen verbinden. Und an der Eröffnungsveranstaltung erzählen in einer Pop-up-Stadt aus 20 weissen Zelten unterschiedlichste Menschen aus Zürich Geschichten von Wendepunkten in ihrem Leben. DIF

Langenthal «Cathy Josefowitz. The Thinking Body / Inka ter Haar. LOVE», Ausstellungen, bis So, 14. November, Kunsthaus Langenthal, Marktgasse 13. kunsthauslangenthal.ch

Cathy Josefowitz (1956 in New York geboren und 2014 in Genf gestorben) kam früh in Berührung mit Malerei und Theater, mit Surrealismus, der Poesie des Absurden, Tanz und dem Primal Theatre, das sich nah an der Improvisation bewegt. Sie gehörte einem feministischen Milieu an und setzte sich für die Lesben- und Schwulenbewegung ein. Der «Thinking Body» war der ihre, in der Malerei wie in den Choreografien. Die bislang grösste Ausstellung ihres Werks in Langenthal erscheint heute im Licht aktueller Diskurse zu Figuration, Gender, Körper, Anderssein und Identität. Inka ter Haar, 1980 in Duisburg geboren, treibt mit ihrem Werk heutige feministische wie anti-rassistische Debatten voran und greift dabei zu einer deutlichen Bildsprache: Faschistoide Zeichen, Phallussymbolik und übersexualisierte Sujets (deutschen Bordellen entlehnt) gehören dazu. Im Blick hat sie auch die chauvinistischen deutschen Maler der 1980er-Jahre (z. B. Georg Baselitz) und deren Affinität zum Hamburger Rotlichtmilieu. DIF

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BILD(1): SABINE ROCK, BILD(2): NELLY RAU-HÄRING, BILD(3): CATHY JOSEFOWITZ, COURTESY OF COLLECTION PIERRE

Veranstaltungen


drei hohe Wohnblöcke und die beiden noch viel höheren Roche-Türme schweift. Fast fertig ist es, das höchste Haus der Schweiz, zurzeit wird es noch überragt von einem Kran, dessen Führer äusserst schwindelfrei sein muss. Schiffe werden keine durch­ geschleust – ob das dem Wasserstand oder der Weltwirtschaftslage geschuldet ist, lässt sich nicht feststellen. Vor Anker liegt das imposante Tankschiff «Jus­ tine» aus Hamburg.

Tour de Suisse

Pörtner in Birsfelden Surprise-Standorte: Birsfelden Einwohner*innen: 10 463 Sozialhilfequote in Prozent: 3,0 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 30,7 Grösstes Kraftwerk der CH: Flusskraftwerk Birsfelden mit Warmwasser und Heizwärme für 1200 Haushalte

Im Bus beschimpft ein grosser Mann, der einen Aschenbecher mit sich führt, alle Maskenträger*innen als leicht­ gläubige Vollopfer und rattert in breitem Ostschweizer Dialekt Statistiken zur Sterblichkeit bei Lungenentzündungen herunter. In Birsfelden hingegen ist es still. Die Kirche steht im Dorf, neben der Feuer­ wehr. Ein Mann mit einem auffälligen Schnauz, einem sogenannten Handlebar Moustache, also einem Velolenker-­ Schnurr­bart, führt seinen Hund spazie­ ren. Die Bezeichnung stammt aus einer Zeit, als alle Velo- (und Töff-)Lenker eine ähnliche Form hatten: gerade mit gebo­ genen Enden. Inzwischen gibt es zu jeder Schnauz-Form den passenden Velo­ lenker, sodass der Begriff nicht mehr viel aussagt. Surprise 507/21

Ein kleines Gemeindefahrzeug trans­ portiert eine veritable Fahnenstange, die abenteuerlich auf und ab wippt. Im Schaukasten mit den amtlichen Mittei­ lungen hängen die Todesanzeigen. Ein Mann ist kurz nach seinem 105. Ge­ burtstag gestorben. Er hatte Jahrgang 1916, war also 23 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Abgesagt wurde die 1. Augustfeier auf der Kraftwerkinsel. Offiziell wegen der nicht kalkulierbaren Coronasituation. An diesem Tag hätte ein drohendes Hoch­ wasser ein ebenso guter Absagegrund sein können. Schade ist es so oder so, denn die Kraft­ werkinsel erweist sich als stille Oase, die über die Brücke bei der Schleuse er­ reicht wird, von wo aus der Blick über

Die Infotafel erinnert daran, dass der Rhein einst der wichtigste Fluss für Lachse war, diese aber während Jahrzehnten verschwunden waren und nun wieder an­ gesiedelt werden. So ist der Atlantische Lachs vom Fluss in die Supermarkt-­Kühl­ truhe umgezogen, wo er auch in kleinen Filialen ganzjährig erhältlich ist, wäh­ rend er, als er noch im Rhein lebte, eine gesuchte Delikatesse war. Auf der Brücke trifft man sich trotz des zweifelhaften Wetters. Rentner auf Velos halten mit quiet­schenden Bremsen an und plaudern ausführlich. Die aus Wohn- und Bauwa­ gen bestehende Café-Bar macht trotz auf Plakaten angekündigten «Open Days» gar nicht erst auf. Verständlich, es ist fast niemand unterwegs, an einem üblichen Sommertag würde es auf der Wiese wohl summen. Die Feuerwehr verfügt über ein Bootshaus und Löschboote. Zwei Feuer­wehrleute schieben mit langen Re­ chen und Haken das angeschwemmte Treibholz zurück. Trotz Mittwochnachmittag ist der Spiel­ platz leer. Der Betreiber des Glacewagens poliert den Abfalleimer auf Hochglanz. Ein anderer Mann pflückt etwas in der Wiese, Hasenfutter oder Heilkräuter. Das Gestrüpp vor der Bank am Rheinufer wird nicht zurückgeschnitten, was auch eine hübsche Aussicht ergibt, der Fluss ist so nur zu hören, er rauscht gewaltig.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

02

hervorragend.ch | Grusskartenshop

03

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

04

Irma Kohli, Sozialarbeiterin, Bern

05

Anwaltskanzlei Fraefel, Zürich

06

Scherrer & Partner GmbH, Basel

07

Maya-Recordings, Oberstammheim

08

tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

09

Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

10

TopPharm Apotheke Paradeplatz

11

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Cantienica AG, Zürich

13

Echtzeit Verlag, Basel

14

AnyWeb AG, Zürich

15

artune ag - Architektur und Kunst

16

Nachhaltig programmiert, ZimaTech GmbH

17

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

18

AdaptIT GmbH, Rapperswil-Jona

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Brockenstube Au-Wädenswil

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Rentabus.ch

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CONTACT Arbeit, Bern / Biel / Thun

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billbox AG: billbox.com

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Mediation: www.respektvolle-loesungen.ch

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Stereus, Trubschachen

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

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Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise #504: «Eine richtig familiäre Beziehung»

Immer, wenn ich Surprise kaufe, lese ich als erstes das Porträt. Ich bin sehr beeindruckt, wie Yosef Asmerom in allem Schwierigen seine Würde bewahren kann und wie er die Menschen, die ihn ignorieren, stehen lassen kann und sich selber nicht in Frage stellen muss. Was hat ihm die Kraft gegeben, nicht zu resignieren? F. KÜPFER,  Gipf-Oberfrick

#505: Moumouni ... hat keine Zeit

#Strassenmagazin: Urs Habegger

«Die Grillen, die chillen»

«Man staunt nicht schlecht»

Die Altersvorsorge wurde nicht in der kalten und arbeitsamen Schweiz erfunden. Schon vor 350 Jahren schrieb der Franzose La Fontaine darüber in seiner berühmten Fabel «La Cigale et la Fourmi». Die Grille hat den ganzen Sommer gesungen und von der Hand in den Mund gelebt. Im Winter (d.h. Alter) bekommt sie Hunger und bittet die Ameise, die den ganzen Sommer über gearbeitet und Vorräte angelegt hat, um Essen. Diese rät ihr, sie solle doch jetzt tanzen. In unserer Gesellschaft kümmern sich die Jungen um die Alten, indem alle Arbeitenden ihre Beiträge an die AHV bezahlen. Diese verteilt dann das Geld an die Alten, auch an jene, die keine Kinder haben, und auch an die, die nie eingezahlt haben (die Grillen, die chillen). Die AHV-Beiträge sind keine persönliche Spar­ einlage, sondern werden ständig umverteilt, im Gegensatz zu den Pensionskassen. So funktioniert ein Sozialstaat, wo jeder für jeden in der Gesellschaft schaut.

Ich kaufe Ihr Heft regelmässig seit vielen Jahren in Rapperswil, SG bei Urs Habegger. Er ist zwischenzeitlich ein guter Freund von mir geworden und wir plaudern mehrmals wöchentlich. Urs Habegger steht nicht nur dort und verkauft seine Hefte, sondern er hört den Leuten zu, die es nötig haben. Dabei sollte man meinen, dass man ihm zuhören sollte und ihn fragen, wie es ihm gehe. In den mehr als zehn Jahren habe ich ihn selten schlechter Laune gesehen, und er hätte allen Grund dafür, aber nein, er muntert Leute auf. In der Corona-Zeit hat er seine eigenen «Memoiren» herausgegeben. Man staunt nicht schlecht, was er so alles erlebt. Leider ist es oft sehr traurig – vielen Leuten geht es nicht gut und sie haben zum Teil nur ihn als An­lauf­person. Urs ist für mich eine Inspiration und bringt auch mich ab und zu zurück auf den Boden, und nach unserem kurzen Schwatz sehe ich die Welt wieder ganz anders.

K. SAUER,  Wiesendangen

G. ZELLWEGER,  Jona

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 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Marcel Bamert, Sophia Freydl, Urs Habegger, Dina Hungerbühler, Larissa Tschudi Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Mir ist es wichtig, selbständig zu bleiben» «Es fällt mir nicht einfach, über meine jetzige Lebens­ situation zu sprechen. Ich habe lange versucht, so zu tun, als wäre alles normal. Aber ich merke immer mehr, wie mich das kaputt macht. Dabei habe ich in meinem Leben schon einiges durchgemacht. Als 30-Jährige kam ich mit meinen fünf Kindern in die Schweiz, nachdem mein Mann im Krieg in Serbien gefallen war. Als allein­ erziehende Mutter in einem fremden Land, ohne Aus­ bildung und Deutschkenntnisse – das war nicht einfach. Unterdessen bin ich seit zwanzig Jahren hier, hatte mein Leben im Griff. Ich habe immer gearbeitet, meine Kinder konnten eine gute Ausbildung machen. Und jetzt wohne ich von einem Tag auf den anderen in einem Hotel und lande vielleicht schon bald auf der Stras­se. Meinen festen Job bei einem grossen Gastrobetrieb ver­ lor ich schon vor einiger Zeit. Meine erste Chefin war immer gut zu mir. Als ein neuer Chef eingestellt wurde, sagte er zu mir, dass meine Arbeit sehr geschätzt werde und ich die Stunden einer Arbeitskollegin übernehmen ‹dürfe›, der gekündigt wurde – zusätzlich zum mei­ nem 100%-Pensum und zum gleichen Lohn. Ein solches ‹Angebot› hat sich für mich nicht richtig angefühlt, das habe ich ihm auch gesagt. Daraufhin erhielt ich die Kündigung. So begann ich vor Kurzem wieder mit dem Verkauf von Surprise-Heften. Diese Arbeit habe ich ganz zu Beginn meiner Zeit in der Schweiz gemacht, als ich noch kaum Deutsch sprach. Finanziell kann ich mich so über Wasser halten. Lange durfte ich bei einer Freundin ein Zim­ mer mieten. Nun ist sie schwanger und braucht den Platz für ihre Familie. Für eine eigene Wohnung reicht mein Einkommen nicht. Spätestens wenn ich meinen F-Ausweis vorweise, kommt die Absage. Und ohne Woh­ nung ist es umso schwerer, eine neue Stelle zu finden. Ich habe Angst, dass ich aus diesem Teufelskreis nicht mehr herausfinde. Jetzt bereue ich umso mehr, dass ich mich die letzten Jahre zu wenig auf meine Ausbildung konzentriert habe. Für mich stand die Betreuung meiner Kinder im­ mer an erster Stelle. In Serbien war es normal, dass Frauen zuhause bleiben und der Mann für das Einkom­ men sorgt. Die Schule habe ich nur bis zur vierten Klasse besucht. Diese Voraussetzungen erschweren es mir, jetzt nochmals richtig Deutsch zu lernen. Ich spreche und verstehe deutsch ohne Probleme, das Schreiben 30

Jasmina Murina, 50, verkauft Surprise beim Coop am Kreuzplatz in Zürich und möchte wieder ein normales Leben führen.

in Schriftsprache aber fällt mir schwer. Leider wird das vorgeschriebene Sprachniveau, welches für einen B-Ausweis benötigt wird, an den schriftlichen Deutsch­ kenntnissen gemessen. Ich habe mich immer gut integriert gefühlt, daher bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass mir mein offizieller Aufenthaltsstatus oder fehlende Deutschkenntnisse zum Verhäng­ nis werden. Dafür habe ich ein grosses Netzwerk von Menschen, die mir helfen. Zum Beispiel merken die meisten meiner Kunden, wenn es mir nicht gut geht. Ich bin durch den ganzen Stress gesundheitlich angeschlagen. Das Schlimmste ist der psychische Druck und die Angst, alles zu verlieren. Bisher habe ich nur wenigen von mei­ ner Situation erzählt. Es fühlt sich komisch an, plötzlich so abhängig zu sein. Eine Kundin hat mehrmals an­ geboten, dass ich im Notfall auch bei ihr unterkommen kann. Auch meine ehemalige Vermieterin würde mich für einige Nächte aufnehmen. Das schätze ich sehr. Mir ist es jedoch wichtig, selbständig zu bleiben. Ich wünsche mir einfach ein normales Leben, mit einer festen Wohnung und einer fixen Arbeit.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 507/21


Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

29.9. – 1.12.

2021

THEATER · TANZ · KUNST MUSIK · FILM CULTURESCAPES.CH

Fotos: © Renato-Mangolin © Javier Hernandez

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3


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Halten Sie Abstand.

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Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

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