Strassenmagazin Nr. 517 21. Jan. bis 3. Feb. 2022
CHF 6.–
davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen
Somalia
Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass
Keine Sicherheit Surprise-Verkaufende über die Lage in ihrer Heimat. Seite 8
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
R U O T NEUE EL S A B N I
ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang
TITELBILD: SVEN TORFINN / PANOS PICTURES
Editorial
«So ist Somalia» Es war im August 2020, kurz nach dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan, als sich eine somalische Surprise-Verkäuferin an uns wandte. Ihre Sorge war, dass in ihrer Heimat die Macht der islamistischen Terrormiliz al-Shabaab durch den Erfolg der Taliban befeuert werden würde. Zumal ein Umbruch bevorsteht: Das Mandat der Friedenstruppen der Afrikanischen Union AMISOM soll Ende März 2022 ablaufen, die Sicherheitskontrolle soll ganz an somalische Sicherheitsorgane übergeben werden. Viele Surprise-Verkäufer*innen stammen aus Somalia. Wir wollten ihre Einschätzung erfahren und von ihren Ängsten und Hoffnungen hören (anonym – denn alles andere wäre zu heikel). Als Stimmungsbild der politischen Lage in ihrer Heimat. Und um eine Ahnung davon zu vermitteln, was ihr Leben prägt. «So ist Somalia», sagt einer von ihnen inmitten seiner Erzählungen. In dem Satz schwingt Resi gnation mit, aber auch die Verbindung zur Heimat, zu Familienangehörigen, die noch dort sind, zur Hoffnung auf Rückkehr. Ab Seite 8. 4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?
Föderalismus
5 Vor Gericht
Jenseits der Vernunft
6 Verkäufer*innenkolumne
Kämpfen und Glücklichsein
7 Moumouni …
… hört zu
Surprise 517/22
8 Somalia
Unsicherheit und florierende Geschäfte
In der Schweiz beziehen 26,3 Prozent der Sozialhilfeberechtigten keine Sozialhilfe. Dass sie auf ihren Anspruch verzichten, ist verständlich, denn der Sozialhilfebezug kann zum Kampf werden ums Geld und damit letztlich auch um die eigene Würde. Das entspricht nicht dem Grundgedanken der Sozialhilfe. Die schweizerische Bundesverfassung hält fest: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» In der Praxis liegt die Sozialhilfe bei den Gemeinden. Etliche von ihnen unterlaufen immer wieder das geltende Gesetz, auf Kosten der Sozialhilfebezüger*innen. Ab Seite 18 lesen Sie, wie.
DIANA FREI
Redaktorin
24 Swiss Dance Days
Hiphop löst Dornröschen ab
12 Surprise-Verkaufende 18 Sozialhilfe
Pörtner in Basel
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
Volg-Gutscheine statt Grundbedarf «Liebe kann man nur über Zeit beweisen»
27 Tour de Suisse
28 SurPlus Positive Firmen
über ihre Heimat
22 Interview
26 Veranstaltungen
25 Buch Ein Ding der
Unmöglichkeit
30 Surprise-Porträt
«Ich wollte im Sport weiterkommen»
3
Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören. FOTOS: NATHAN POPPE
Noch kein Ende in Sicht Seit bald zwei Jahren wütet die Pandemie, und noch immer hat uns Corona fest im Griff. Und doch trifft das Virus nicht alle in gleichem Masse. Nachdem zu Beginn der mediale Fokus auf den Menschen am Rand unserer Gesellschaft lag, drohen sie jetzt wieder in Vergessenheit zu geraten. Dabei ist für viele Obdachlose der tägliche Überlebenskampf noch härter geworden. Impressionen aus Oklahoma City.
THE CURBSIDE CHRONICLE, OKLAHOMA CITY
Keine Obdachlosigkeit mehr
Tödlicher Sport
Wenn es nach der neuen deutschen Bundesregierung geht, soll es bis zum Jahr 2030 in Deutschland keine Obdachlosigkeit mehr geben. So steht es im Koalitionsvertrag. Jahrelang wurde das erklärte Ziel der UN-Agenda 2030 eher verschleppt. Ob es jetzt mehr als ein Lippenbekenntnis ist, werden die nächsten Jahre zeigen. Lösungsansätze wie Housing First existieren, der politische Wille ist geäussert, nun geht es an die Umsetzung. Und diese ist vor allem eine Sache der Bundesländer.
Seit Vergabe der Fussballweltmeisterschaft an Qatar sind rund 15 000 Gastarbeiter*innen im Emirat ums Leben gekommen, sagt Amnesty International. Das sind 3000 Menschen mehr, als seit Beginn der Pandemie in der Schweiz laborbestätigt an Covid19 verstorben sind. 70 Prozent der besagten Todesfälle in Qatar sind nicht untersucht worden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Vergabe seit 2010, inzwischen rufen auch Fan-Vereinigungen zum Boykott auf.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
BODO, DORTMUND
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Wörterbuch
Föderalismus Kein anderes Land hat im Vergleich zu seiner Grösse derart viele Gliedstaaten wie die Schweiz. Die Kantone haben sehr weit ausgebaute Selbstbestimmungsrechte. Ihre Souveränität ist in Artikel 3 der Bundesverfassung festgehalten. Der Föderalismus kann bei der Entwicklung des Sozialstaats eine Bremse sein. So verhinderten die Kantone 2013, dass der Bund Massnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie ergreift. Föderalismus fördert aber auch Innovationen: Kantone sowie grössere Gemeinden und Städte können eigene Lösungen ausarbeiten, bevor sich auf nationaler Ebene alle einig sind. So geschehen in Genf (Mutterschaftsversicherung) und Tessin (Familienergänzungsleistungen). Auch die Kantone sind föderalistisch organisiert. Welche Aufgaben ihre Gemeinden übernehmen, ist unterschiedlich. In der Sozialpolitik spielen diese vor allem bei der Sozialhilfe eine wichtige Rolle. Während sie in der Ostschweiz über sehr viel Autonomie verfügen, steuern in der Westschweiz die Kantone stärker. In Genf und Glarus wird die Sozialhilfe direkt vom Kanton und nicht wie üblich von den Gemeinden bezahlt. Da Zuständigkeiten oft unklar sind, werden immer wieder Vorwürfe laut, Kosten würden abgewälzt. Verschärft der Bund zum Beispiel die Praxis bei IV-Renten, könnte dies Mehrkosten bei Gemeinden und Kantonen zur Folge haben. Denn wer von der IV abgewiesen wird, landet nicht selten bei der Sozialhilfe. Darum sind im föderalistischen System koordinierende Organisationen wichtig – im Bereich der Sozialpolitik etwa die SODK, die SKOS oder die Städteinitiative Sozialpolitik. EBA
Quelle: Michelle Beyeler: Föderalismus. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 517/22
Vor Gericht
Jenseits der Vernunft Bevor ein Gericht ein Urteil eröffnet, hat es sich in der Regel schon Tage, wenn nicht Wochen mit einer Sache beschäftigt. Dennoch schien der Londoner Richter Philip Moor kurz vor Weihnachten nicht recht fassen zu können, was er zu verkünden hatte. Es war eine der teuersten Scheidungen aller Zeiten. Wenig überraschend, handelte es sich beim zu trennenden Paar doch um den Herrscher von Dubai, Scheich Al Maktoum, und Prinzessin Haya, Halbschwester des Königs von Jordanien. Sie war 2019 nach Grossbritannien geflüchtet, weil sie eine Affäre mit ihrem Bodyguard hatte. Und einen Mann, der seine Familie zu drangsalieren pflegt: Seit Jahren gerät er bezüglich seiner Töchter in die Schlagzeilen, die er gegen deren Willen festhält. Was Richter Moor vor allem beschäftigte, war der «opulente und beispiellose Lebensstandard der Parteien während ihrer Ehe». Dieser ist massgebend für die Festsetzung der Abfindung und der Alimente. Er habe sein Bestes gegeben, um zu einem vernünftigen Schluss zu kommen. Aber was heisst in diesem Fall vernünftig? Auf jährlich über 110 Millionen Franken belief sich Hayas Haushaltsgeld während der Ehe. Für die Kinder, eine heute 14-jährige Tochter und ein 9-jähriger Sohn, hatte sie pro Monat und Kind zusätzlich ein Budget von einer Million. Stets standen den drei eine Boeing 747, Hubschrauber und eine Superjacht zur Verfügung. In einem Sommer gaben die früheren Eheleute 2,5 Millionen Franken allein für Erdbeeren aus. Ver-
suchen Sie mal, sich so viele Erdbeeren nur schon vorzustellen! Obwohl er sich eines Kommentars weitgehend enthielt, schimmerten Moors Gedanken durch. Er kürzte zum Beispiel den jährlichen Betrag für Nachhilfestunden von 300 000 auf 120 000 Franken. Und den von Haya geforderten Kauf von drei Luxusautos für die Kinder lehnte er ab – zu abgehoben. Der Vater habe dem Sohn ja soeben dessen liebste Luxuskarosse zurückgegeben. Wenig Glück hatte Prinzessin Haya auch mit ihrer Rückforderung von Kleidung und Schmuck im Wert von 100 Millionen. Ein Video-gestreamter Blick in den begehbaren Tresor in ihrem einstigen Strandpalast offenbarte gähnende Leere: Ihr Ex hat ihn räumen lassen. Deshalb ordnete Richter Moor an, dass der Scheich ihr 20 Millionen Franken zu zahlen hat, damit sie sich neu einkleiden kann. Ausserdem bekommt sie gut sechs Millionen, um «ein paar anständige Pferde zu kaufen». Allzu viel ist das nicht: Haya war Profispringreiterin, sie hat im Jahr 2000 Jordanien an den Olympischen Spielen in Sydney vertreten. Ein karges Dasein wird sie trotzdem nicht fristen. Für Familienurlaube erhält sie pro Jahr 6,3 Millionen Franken. Etwa eine halbe Million jährlich sprach er für den Unterhalt der Pferde und weitere Haustiere zu. Und rund 50 000 Franken für zwei Trampoline. Insgesamt muss der Scheich Haya fast 700 Millionen Franken Abfindung zahlen. Dabei gab der Richter zu bedenken, dass ihre Aufwendungen für die Sicherheit der Familie erklecklich sein werden. Es ist erwiesen, dass der Scheich Haya auf Schritt und Tritt verfolgten lässt. Er zahlt seiner Ex-Frau also Unsummen – damit sich diese vor ihm schützen kann. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich. 5
Verkäufer*innenkolumne
Kämpfen und Glücklichsein Wenn ich etwas gelernt habe in meinem Leben, dann ist es zu kämpfen. Wenn mich nun jemand fragt, gegen was kämpfen, dann sage ich: gegen das Nicht-mehr-weiter-Mögen und gegen das Böse. Fragt man mich, gegen wen kämpfen: gegen die bösen Menschen. Fragt man, für was ich kämpfe: für mich und für das Weiterleben. Vor einigen Jahren, als ich schon seit etwa sechs Jahren in meiner neuen Wohnung (unterdessen sind es schon elf Jahre) stabil und drogenfrei und auch ohne Alkohol war, da geschah es, dass ich mich beim Aufwachen ganz anders gefühlt habe als bis dahin in meinem Leben. Ein wenig unsicher, verwundert, misstrauisch, aber vor allem neugierig stand ich auf, und mit mir zusammen stand auch mein Kater Anubis auf. Er begleitet mich nun schon, seit er halbjährig ist, seit fünfzehn Jahren durch mein turbulentes Leben. Immer war er für mich da und stand mir treu zur Seite. Vor allem schlief er immer ganz nah bei mir, das tut er heute noch.
Vor vier Jahren hatte ich leider einen Rückfall in die Drogensucht. Deshalb stand ich wieder einmal an dem Punkt, an dem ich kurz davor war, alles Gute, das ich mir erarbeitet hatte, zu verlieren. Also hiess es wieder: kämpfen. Ein Jahr lang gegen die Sucht, und nun habe ich es endlich geschafft, ich bin stabil! Glaube wieder an mich selber, ja nicht nur das, ich weiss auch, dass es nicht viele Menschen gibt, die eine Suchterkrankung in den Griff bekommen. Darum auch heute: Ich bin glücklich! Und weiss nun aber, dass ich immer vorsichtig bleiben muss. Denn ach, wie schnell ist Sich-glücklich-Fühlen auch schon wieder vorbei. Was mir hilft, sind die alten Philosophen. Die wussten schon 500 Jahre vor Christus: Glücklichsein, das kann man lernen, und ich weiss: Zum Glücklichsein bedarf es wenig. Dafür braucht es umso mehr Arbeit an sich selber. Schon Buddha sagte: Wer die Menschen kennt, ist weise, wer sich selber kennt, ist erleuchtet. K ARIN PACOZZI, 55, verkauft Surprise immer freitags in Zug. Sie arbeitet ausserdem in sozialen Einrichtungen, hilft beim Kochen und in Ateliers. Auch Sport gehört in ihre Wochenplanung.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
ILLUSTRATION: JULIA SAURER
Zurück nun zu diesem merkwürdigen Morgen. Ich stand also auf, trottete zu meiner Kaffeemaschine, liess sie laufen und öffnete die Balkontür. Drehte mich um, nahm meinen Kaffee, goss Milch hinein und ging hinaus auf meinen wunder-
schönen Gartensitzplatz. Dort blieb ich stehen, drehte mich um mich selber, konnte nur Schönes sehen und fühlte mich gut. Da ging es mir auf: Ich war glücklich!
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
Ich habe es gern laut, wenn ich Filme schaue, und blende die leisen Töne häufig aus. Ich habe mich so sehr daran gewöhnt, dass ich bei Videos zurückspulen kann, wenn ich nicht richtig aufgepasst habe, dass ich diese Möglichkeit in Gesprächen vermisse. Hörende Menschen sind wohl oft schlecht im Zuhören, denn sie lernen nicht gut, Gebärden zu verstehen. Was ich an Ohren toll finde, ist eigentlich hauptsächlich die dünne Knorpelhaut, die leuchtet, wenn man eine Taschenlampe dahinterhält. Und Menschen, die witzige, feine Haare an den Ohrenrändern haben, deren Frisuren sich je nach Sonneneinstrahlung in ihrer Erscheinung verändern.
Moumouni …
Wer unter Wasser ist mit seinem Kopf, Hört wegen Wasser nicht, was da klopft. Es ist ein HÖR MIR MA ZU DU ARSCH, Das da einfach untergeht.
Ode ans Ohr
Dein Ohr Ein Knorpel. Erst hautüberzogen, dann Flaumüberzogen, dann Soundüberzogen, dann Stille.
… hört zu Ohren. Sind die besseren Poren. Sind die besseren Augen. Sind das bessere Du. Hör zu! Da ist eine Tuba. In meinem Kopf. Sie sagt: blablabla Es klingt schön. Was machst du da? In meinem Kopf. Ist das Dada? Kanns nicht verstehn. Da ist auch ein Ruder. In meinem Kopf Und so viel Wasser Ich sinke schon. Surprise 517/22
Dein Ohr Eine Trommel mit Fell Ein Gang mit Gehör Ein Tunnel mit Schmalz Ein Finger, der korkenartig stopft, dann ploppt, [plopp] hörst du das?
Ich höre oft nicht gut zu. Meist merke ich das aber erst hinterher. Deshalb triumphiere ich, wenn ich mal jemandem sagen kann: Da hast du jetzt aber nicht richtig zugehört! Denn dann geht ja das Verständnisproblem nicht von mir aus; ich bin nicht schuld. Ich vermute, viele Leute sind diesbezüglich sophistisch veranlagt und hören einfach nur gut zu, damit sie nicht schuld am Missverständnis sind. Das schreibt sich jetzt zwar so, als könnte man das niemandem vorwerfen, aber ich glaube, so passieren umso mehr Missverständnisse, weil es nicht um das Verständnis per se geht, sondern darum, selbst keine Fehler zu machen. Zuhören hat wenig mit den Ohren zu tun, mehr mit Aufmerksamkeit und Empathie. Auch wenn ich beides im Gedicht ans Ohr hänge wie einen Ohrring, geht das natürlich auch lesend. Ich würde gerne besser zuhören und Gebärdensprache lesen können. Frohes Neues, lasst uns besser aufeinander eingehen!
FATIMA MOUMOUNI
Mein Wort geht deim Ohr am Oarsch vorbei. Manchmal habe ich in Gesprächen einen Filter über den Ohren wie nach dem Schwimmen oder Gondelfahren.
hat gemerkt, dass ihre Augen während der Pandemie schlechter geworden sind.
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Somalia Rutscht das Land nach dem angekündigten Abzug der Friedenstruppen der Afrikanischen Union ganz in die Hände der Islamisten? Internationale Beobachter*innen und somalische Surprise-Verkaufende sorgen sich.
Unter Warlords, Islamisten, Investoren Somalia ist ein Land, in dem vieles funktioniert – aber kaum etwas so, wie man es als Europäer*in erwartet. TEXT MARC ENGELHARDT
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FOTOS SVEN TORFINN / PANOS PICTURES
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Somalische Zivilbevölkerung bei Essensausgabe in Mogadischu, September 2011.
Anfang November in Somalias Hauptstadt Mogadischu: Während Kinder zum Unterricht strömen, detoniert vor ihrer Schule ein Sprengsatz. Sanitäter rasen zum Anschlagsort, aber für acht Opfer kommt jede Hilfe zu spät. Siebzehn Menschen überleben schwer verletzt. Zu dem Anschlag bekennt sich kurze Zeit später die Terrororganisation al-Shabaab (dt. Die Jugend). Ihr Ziel sei ein gepanzertes Fahrzeug vor dem Gebäude gewesen, in dem UN-Personal sass, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Gegen die Islamisten von al-Shabaab, die weite Teile Somalias beherrschen und in den Städten einen Partisanenkampf auf Kosten der Bevölkerung führen, sind die Sicherheitskräfte machtlos, seit Jahrzehnten schon. Und das ist nicht das einzige Problem im Land am Horn von Afrika. So rechnen die Vereinten Nationen in den kommenden Monaten mit einer Hungersnot. Die sich ständig verschlimmernde Dürre hat Ernten, Lebensmittelbestände und Vieh vernichtet. Bis Mitte November 2021 waren knapp 6 der 16 Millionen Somalis auf Lebensmittelhilfe angewiesen, im Lauf des Jahres 2022 sollen es den UN-Prognosen zufolge 7,7 Millionen sein: knapp jede und jeder zweite. Ein Grund ist die Klimakrise, die Somalia besonders hart trifft. Seit 1990 verzeichneten Meteorolog*innen mehr als dreissig Extremwetterlagen, darunter zwölf Dürren und neunzehn Überschwemmungen. Dass das Kinderhilfswerk Save the Children zuletzt auch noch davor warnte, das somalische Bildungswesen stehe wegen Klimawandel, Gewalt, Corona-Pandemie und Impfstoffmangel kurz vor dem Zusammenbruch, überrascht da kaum. Somalia scheint ein hoffnungsloser Fall zu sein, ein Oberbegriff für Bürgerkrieg, der nicht enden will, für verfeindete Warlords, brutale Islamisten, dauerhaften Hunger und eine kurze Blütezeit moderner Piraterie. Bei meinen Besuchen habe ich festgestellt: All das gibt es. Doch Somalia ist noch viel mehr: die Heimat von Weihrauch und Myrrhe; der Ort mit einigen der ältesten Höhlenzeichnungen in Afrika (über 5000 Jahre alt); ein Land, das mit Nuruddin Farah einen nobelpreiswürdigen Autoren hervorgebracht hat, mit K’naan einen gefeierten Popstar, ausserdem den Läufer Mo Farah (inzwischen Brite), der bei den Olympischen Spielen in London gefeiert wurde, das Model Iman oder auch Ilhan Omar, die in den USA von einem Flüchtlingskind zu einer der beiden ersten muslimischen Kongressabgeordneten aufstieg. Kurz: Somalia ist ein Land, dessen Vielfalt über die Klischees von Zerfall und Chaos hinausgeht. Somalia ist ein Wüstenstaat. Obwohl das Land so unwirtlich ist und Somalia die längste Küste eines afrikanischen Landes besitzt – jedenfalls dann, wenn man Somaliland im Norden mitzählt, das sich einseitig für unabhängig erklärt hat –, haben sich die Bewohner*innen, überwiegend Nomaden, immer zum LanSurprise 517/22
desinneren hin orientiert. Die Geschichte des heutigen Staats Somalia beginnt am 1. Juli 1960. In der Kolonialzeit war Somalia ein geteiltes Land: Die Briten hatten bereits Ende des 19. Jahrhunderts sogenannte «Schutzverträge» mit verschiedenen Clans im Norden Somalias abgeschlossen. Italiens Faschisten besetzten in den 1930er-Jahren Teile von Somaliland, den Osten Äthiopiens und Südsomalia als Teil von Mussolinis Traum vom «Africa Orientale Italiana», Italienisch-Ostafrika. Drei weitere Regionen, die die somalischen Nomaden seit Jahrhunderten ihre Heimat nennen, wurden anderen Ländern zugeschlagen: die «Côte française des Somalis» rund um die Hafenstadt Dschibuti, die 1977 unter diesem Namen unabhängig wurde; der nördliche Grenzdistrikt Kenias, in dessen Halbwüsten bis heute vor allem ethnische Somalis leben, und der Ogaden im Osten Äthiopiens, den die Äthiopier 1887 ihrem damaligen Kaiserreich einverleibten. Die somalische Flagge zeigt heute einen fünfzackigen Stern auf blauem Grund: Jeder Zacken steht für eine der fünf Regionen. Unter anderem der Putschist Siad Barre, der das Land zwischen 1969 und 1991 in einen Bürgerkrieg und dann in den Abgrund führte, forderte lautstark eine «Wiedervereinigung», wohl auch, um vom eigenen Versagen abzulenken. Komplexe Clanstrukturen Die heimlichen Herrscher sind und waren ohnehin nie die Präsidenten, Premiers oder Diktatoren, die offiziell an der Spitze des somalischen Staates standen; auch nicht die Islamisten, die in den 2000er-Jahren kurzzeitig die Staatsgeschäfte führten, oder al-Shabaab, die manchen heute als Schattenregierung gelten. In Somalia herrschen einzig die Clans. Beinahe jede*r Somali fühlt sich mindestens einem von ihnen zugehörig. Männliche Somalis können ihre (männlichen) Vorfahren oft über dutzende Generationen zurück benennen, und Guray, ein somalischer Bekannter, hat mir einmal erklärt, dass dieses phänomenale genealogische Gedächtnis vor allem im Bürgerkrieg der 1990er-Jahre lebenswichtig war: «Es gab keine Pässe und kein Meldewesen, und der Ersatz war einfach, dass man seine Vorfahren herunterbeten konnte. Mir ist es einmal passiert, dass die Strassensperre einer Clan-Miliz bei der Nennung meines Urururgrossvaters die auf mich gerichteten Waffen runternahm und der Anführer sagte: Warum hast du das nicht gleich gesagt, du bist ja einer von uns.» Dennoch sind die Clans keine statischen, sondern höchst veränderliche Einheiten. Sie teilen sich auf in Subclans, Subsubclans und noch feinere Verästelungen. Mal sind sie verbündet, mal verfeindet, und die Details dieser Beziehungen sind nicht nur Gegenstand vieler Diskussionsrunden bei Tee und Khat, der über Stunden gekauten Alltagsdroge, sondern auch Basis jeder politischen Strategie. «Clanpolitics sind die Ursache vieler Kämpfe 9
in Somalia, aber sie sind auch der Schlüssel zum Frieden», sagt Guray. Das ist ein Satz, den ich mir gemerkt habe. Und ein somalisches Sprichwort, das das ganze komplizierte Verhältnis in vier Formeln zusammenfasst: «Ich und mein Clan gegen die Welt – ich und meine Familie gegen meinen Clan – ich und mein Bruder gegen meine Familie – ich gegen meinen Bruder.» Vor diesem Hintergrund wird in Somalia gerade der neue Präsident gewählt, ein Prozess, der sich seit Jahren hinzieht. Die Amtszeit von Präsident Mohamed Abdullahi Mohamed, der wegen seiner im Ausland erworbenen Liebe für Käse Farmajo (von italienisch «formaggio») genannt wird, ist längst abgelaufen, und sein Versuch, seine Herrschaft künstlich zu verlängern, ist gescheitert. Wegen der Unsicherheit im Land wurde die versprochene freie Wahl – wieder einmal – gecancelt, stattdessen wählen die Clans das Parlament und dieses den Präsidenten – theoretisch. Ende Juli ging es los, doch im Dezember war noch kein Ende absehbar. Der eine Kandidat, Premier Mohamed Hussein Roble, warb im eigenen Land, der andere, Farmajo, bei der einflussreichen Schutzmacht Katar um Rückendeckung. Vor lauter Sorge um die eigene Macht verpasste die amtierende Regierung es, sich über die Zukunft der Friedenstruppe AMISOM (African Union Mission In Somalia) Gedanken zu machen, deren Mandat Ende 2021 auslaufen sollte und nun zunächst bis Ende März 2022 verlängert wurde. Expert*innen der NGO International Crisis Group rufen dazu auf, den Einsatz um insgesamt ein halbes Jahr auszudehnen und in dieser Zeit ein zukunftsfähiges Konzept zu entwickeln, das die Sicherheit Somalias gewährleistet. Wie das klappen soll, können allerdings auch sie nicht sagen. Das Geschäft floriert Man könnte meinen, dass in Somalia unter diesen Umständen nichts funktioniert. Doch das Gegenteil ist der Fall, zumindest wirtschaftlich. Zwischen den von Kugeln zersiebten Ruinen Mogadischus blüht seit Jahrzehnten das Geschäft. Wer es sich leisten kann, bekommt über diverse Handynetze glasklare und günstige Telefonverbindungen in alle Welt und das vielleicht schnellste Internet in Afrika. Auf den Strassen sind modernste Geländewa-
gen unterwegs, importiert aus Dubai. Das Emirat ist der Zweitwohnsitz vieler somalischer Businessmen, der Geschäftsleute, die alles arrangieren können, wenn der Preis stimmt. Ihre Fluggesellschaften flogen selbst in finstersten Zeiten mehrmals täglich von einem der Flugfelder Mogadischus nach Dubai, bis der internationale Flughafen wieder geöffnet wurde. Dort landen seither Exilant*innen und im Ausland aufgewachsene Kinder von geflohenen Somalis, um zu bleiben. Denn wer etwas wagt, kann reich werden in Mogadischu. Das Land ist bis heute beinahe rechtsfreier Raum. Die Regierung ist kaum in der Lage, Zollgebühren oder Steuern einzutreiben. Und so eröffnen Hotels, Restaurants, Taxiunternehmen und Banken ohne staatliche Aufsicht. Auch der Handel mit Grundstücken boomt. Viele der einstigen Eigentümer sind geflohen, und wenn es Streit gibt, klären käufliche Milizionäre die Besitzverhältnisse. Ein Gebäude in der Via Roma, einer kleinen Strasse in der Altstadt, kostete im Sommer 2018 immerhin eine Million US-Dollar. Und die Mieten sind ähnlich hoch wie mancherorts in Europa: 1000 Dollar für eine Vierzimmerwohnung sind nicht ungewöhnlich. So viele Geschäftsleute und Investoren sind voller Hoffnung auf Profit, dass die Neubauten zwischen den Ruinen den Bedarf kaum decken. Geld steckt in allem, was die Mehrheit braucht und der Staat nicht zur Verfügung stellt, selbst im Verkauf von Brunnenwasser an Vertriebene. Eines der wichtigsten Geschäfte ist jenes mit internationaler Hilfe: 2019 flossen 1,9 Milliarden US-Dollar offizielle Entwicklungshilfe ins Land. Ein lukrativer Markt und eine Goldgrube für dubiose Helfer*innen. Die anhaltende Unsicherheit nährt ausserdem den wachsenden Markt an Sicherheitsfirmen, die für 1200 US-Dollar pro Tag bewaffneten Begleitschutz und gepanzerte Fahrzeuge anbieten. Mehr als zwei Drittel der Somalis allerdings profitieren nicht davon. Sie werden von den UN als arm eingestuft. Und die Strukturen in Somalia sorgen dafür, dass sie es auch bleiben. MARC ENGELHARDT berichtet seit fast zwanzig Jahren aus Afrika. Gemeinsam mit Bettina Rühl hat er das Buch «Somalia. Warlords, Islamisten, Investoren» geschrieben. Er lebt in Genf.
1960
1977–78
1988
1992–93
1994–95
1998
2004
2006
Britisch-Somalia und ItalienischSomalia werden unabhängig und zu Somalia vereint (Hauptstadt: Mogadischu)
Ogaden-Krieg zwischen Äthiopien und Somalia
Luftangriffe der somalischen Armee gegen Somaliland
Beginn der unbewaffneten UN-Beobachtermission UNO-SOM I; US-Einsatz gegen Warlord Aidid in Mogadischu
Abzug der US-Soldaten und UNBlauhelme
Al-Qaida-Anschläge auf US-Botschaften in Kenia und Tansania, Attentäter nutzten Somalia als Ausgangsbasis
Wahl von Abdullahi Yusuf zum neuen Übergangspräsidenten
Milizen der Union islamischer Gerichtshöfe übernehmen die Macht in Mogadischu; äthiopische Truppen marschieren in Somalia ein und nehmen die Hauptstadt ein
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Am Horn von Afrika
ERITREA
Der Wüstenstaat Somalia besitzt die längste Küstenlinie Afrikas und besteht aus 7 föderalen Einheiten: den 6 Regionen und der Hauptstadt Mogadischu.
JEMEN
DSCHIBUTI
PUNTLAND SOMALILAND
Hargeisa
Garoowe
Umstrittenes Gebiet zwischen Puntland und Somaliland
ÄTHIOPIEN
GALMUDUG
Dhusamareb HIRSHABELLE
ARABISCHES MEER
Baidoa SOUTH WEST
Jowhar Mogadischu
JUBALAND
KENIA
Kismaayo
2007
2009
2011
2013
2014
2014–15
2017
2018
Erste ugandische Soldaten des Friedenseinsatzes unter Mandat der Afrikanischen Union (AMISOM) treffen in Somalia ein; Gefechte zwischen regierungstreuen und äthiopischen Truppen mit islamistischen Milizen von al-Shabaab und Hizbul Islam
Offensive der ShabaabMilizen gegen Mogadischu; al-Shabaab bekennt Beziehungen zum Terrornetzwerk al-Qaida
August: al-Shabaab zieht sich aus Mogadischu zurück, kenianische Armee marschiert im Süden Somalias ein
Das führende Shabaab-Mitglied Sheikh Hassan Dahir Aweys wird von somalischer Regierung festgenommen; die ShabaabMiliz stürmt ein Einkaufszentrum in Nairobi
Shabaab-Miliz bekennt sich zu zwei Anschlägen an der kenianischen Küste; im September wird Ahmed Abdi Godane, Führer der ShabaabMiliz, durch einen US-amerikanischen Drohnenangriff getötet
Diverse Attentate der Shabaab-Miliz in Kenia
Wahl von Mohamed Abdullahi Mohamed «Farmajo» zum neuen Präsidenten; bei einem Terroranschlag werden in Mogadischu fast 600 Menschen getötet
Der ehemalige al-ShabaabFührer Mukhtar Robow Ali erklärt im Oktober seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl im Bundesstaat Südwestsomalia, im Dezember wird er verhaftet
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Ein ugandischer Soldat im Dienst der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM), Februar 2010. Die Mission wurde im März 2007 mit dem Ziel gegründet, nach Jahren des Bürgerkrieges für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Noch immer sind fast 20 000 Soldaten in Somalia stationiert, heute kämpfen sie gegen al-Shabaab. Den Kritiker*innen ist die Mission zu passiv und konzeptlos. Derzeit soll das Mandat Ende März 2022 enden.
Militärpatrouille in Mogadischu, September 2011. Die Überwachung der Bevölkerung ist bis heute allgegenwärtig – ebenso die der Journalist*innen, die oft nur im Versteckten fotografieren oder filmen können.
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«Man kann niemandem trauen» Ende März 2022 könnten die Friedenstruppen der Afrikanischen Union AMISOM abziehen. Übernehmen dann die islamistischen al-Shabaab? Wir haben vier somalische Surprise-Verkaufende nach ihrer Sicht gefragt - zu ihrer Sicherheit anonym. AUFGEZEICHNET VON SARA WINTER SAYILIR
Surprise-Verkäufer, 36, aus der Region Basel, 4 Kinder
«Als ich im letzten Juli in Somalia am Flughafen ankam, musste ich Geld zahlen an Sicherheitsleute, die einen davor beschützen, auf der Fahrt in die Stadt erschossen zu werden. Man muss die Kleider wechseln und gebrauchte Klamotten von anderen anziehen und darauf achten, den Müll genau so achtlos wie die anderen auf die Strasse zu schmeissen. Man muss sogar die Gangart wechseln. Sonst erkennt man dich sofort als jemanden, der aus dem Ausland kommt. Dann fragen die Leute, woher kommst du, aus Europa oder Amerika? Wenn die Leute wissen, dass du aus Europa kommst, ist es gefährlich. Wenn man aber nicht spricht über Politik, über al-Shabaab oder die anderen Gruppen und keinen Kontakt hat, dann tut dir auch keiner etwas. Das Problem in Somalia ist: Man kann niemandem trauen, nicht mal den Kindern. Die einen denken, du hast viel Geld, die anderen denken, du kommst aus einem Land, das nicht islamisch ist. Sie werfen dir vor, ebenfalls ungläubig zu sein. Ich bin beispielsweise aus Schweizer Sicht Muslim, aber aus Sicht der al-Shabaab bin ich ein kafir, ein Ungläubiger. Ich bin hingereist, um mit den Menschen über Genitalverstümmelung zu sprechen. In einer Region ist die Situation der Mädchen besonders schlimm, viele sterben. Wir sind dorthin gereist, um die Menschen davon zu überzeugen, damit aufzuhören. Aber sie haben uns nicht verstanden, sie sagten, es gehöre zu ihrer Kultur. Die Region ist vier Stunden Autofahrt von Mogadischu entfernt. Auf dem Weg trifft man etwa jede Stunde auf eine Strassensperre, wo Leute sitzen, denen man Geld zahlen muss. Neu ist, dass, sobald du in Somalia ankommst, al-Shabaab deine Telefonnummer erfährt. Selbst wenn du eine neue Nummer bekommst, die noch niemand kennt, nicht einmal deine Familie, al-Shabaab wissen sofort Bescheid. Vielleicht arbeitet die Telefongesellschaft mit al-Shabaab zusammen. Sicher ist, dass sie alles von dir wissen, ab dem Moment, wo du ein Smartphone anmeldest. Als ich wieder in die Stadt zurückkam, wurde ich angerufen. Man sagte mir, ich sei erneut in die Stadt gekommen, hätte aber die Steuer nicht bezahlt. Ich sei quasi illegal eingereist. Warum ich die Mudschahiddin (dt. Kämpfer in einem religiös begründeten Krieg, Anm. d. Red.) nicht zahlen würde? Ich sagte, ich wüsste nicht, wo die Mudschahiddin sind, wie sollte ich zahlen? Sie verwiesen mich an meinen Taxifahrer, er würde das Geld entgegennehmen. Ich wechselte sofort das Telefon und wandte mich an die Sicherheitsbehörden der Regierung. Die sagten aber, sie könnten mich nicht schützen, und gaben mir den Tipp, kein Handy mehr zu benutzen. Ich habe das Telefon abgegeben, das Haus gewechselt und bin untergetaucht. Wenn du ein Haus besitzt oder ein Unternehmen führst, musst du doppelt Steuern zahlen: einmal Surprise 517/22
an den Staat und einmal an al-Shabaab. Wenn du nicht die von ihnen geforderte Steuer zahlst, dann kidnappen sie deine Kinder oder deine Mutter, deine Frau, deine Schwester, und töten sie, sobald du gezahlt hast. (Um bei der nächsten Forderung sicherzugehen, dass sofort gezahlt wird. Anm. d. Red.) Meine Familie ist schon vor langer Zeit nach Kenia geflohen. Eine Schwester war mit einem Mann verheiratet, der sich den al-Shabaab angeschlossen hat. Seit 2006 hatten wir keinen Kontakt zu ihr. Nun ist sie geflohen, weil sie es nicht mehr aushielt: Sie lebten jeden Tag in einer anderen Stadt, weil er sich versteckt halten musste. Er war einer von den Gläubigen, die mit der Organisation leben. Andere bekommen nur über Telefon Aufträge von al-Shabaab. Meine Schwester hat drei Kinder mit ihm. Anfang
«Menschen, die glauben, kann man nicht so einfach re-integrieren wie diejenigen, die nur aus Angst kooperieren.» dieses Jahres bekam ich plötzlich einen Anruf von ihr, sie sei in der Türkei. Seit einigen Wochen ist sie jetzt hier. Sie hat viel riskiert. Wenn eine Frau ein al-Shabaab-Mitglied heiratet, darf sie keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie oder ihren Nachbarn haben. Die Frauen der al-Shabaab dürfen nicht einmal ihre Häuser verlassen, die Männer kommen abends nach Hause, schlafen mit ihren Frauen, und hauen früh am nächsten Morgen wieder ab. Sie konnte nur fliehen, weil dort, wo sie war, Kämpfe ausbrachen. So ist Somalia. Wir hoffen jetzt auf die nächsten zwei Jahre. Die Armee wird zwar stärker, aber es hat auch immer noch viele Teile, denen man nicht trauen kann. Europa und die Türkei helfen der Armee. Es ist nicht einfach. Denn Menschen, die glauben, kann man nicht so einfach re-integrieren wie diejenigen, die nur Angst haben und deshalb kooperieren. Die Truppen der Afrikanischen Union AMISOM machen nichts. Es wäre besser, wenn man den Lohn, den die AMISOM-Soldaten bekommen, den somalischen Soldaten gäbe, die etwas bewegen. Die Armee kämpft bereits gegen al-Shabaab. Ausserhalb der Hauptstadt ist überall Krieg. Ich bin davon überzeugt, dass die Regierung dort, wo sie die Kontrolle hat, ihre Aufgaben auch gut erledigt. Sie ist nicht korrupt wie die letzte. Vorher hat die Armee ihren Lohn nicht bekommen, die Mitarbeitenden des Staates haben keinen Lohn bekommen – alles war viel komplizierter. Der 13
jetzige Präsident Mohamed Abdullahi Formajo ist gegen Korruption, zahlt die Gehälter rechtzeitig aus, er will sich nicht selbst bereichern. Er will Somalia helfen. Wenn er 2023 noch einmal gewählt wird, können wir auch wieder nach Hause. Aber es gibt Leute, die sind reich wegen des Krieges. Die wollen natürlich nicht, dass man ihnen ihre Geldhähne abdreht. Im Moment gibt es keine guten Strukturen, die Regierung muss das in Angriff nehmen, sonst ist es schwer, die Kontrolle zu behalten. Ausserdem gibt es noch das Clan-Problem. Familien machen Krieg gegen andere Familien. Aber vom Clan-Problem sind die Leute längst müde. Die eigentliche Gefahr sind al-Shabaab. Die meisten Probleme entstehen in der Hauptstadt, da sitzen diejenigen, die nicht wollen, dass das Land ruhig wird. Ich habe keine Angst vor al-Shabaab. Wenn alle Leute offen sagen würden, dass sie unter al-Shabaab leiden, dann könnte die Organisation sich nicht so durchsetzen. Aber die Leute haben noch nicht gelernt, dass sie die Wahrheit sagen können. Ich hoffe, dass es besser wird. Wir wollen zurück. Unsere Kinder fragen immer: Warum können wir nicht in Somalia leben? Sie können nicht verstehen, was los ist. Langsam ist die Armee stark genug, um den Kampf gegen die Extremisten aufzunehmen. Aber bis wann das dauert? Ich weiss es nicht. Die Armee wird zwar stärker, aber es hat auch immer noch viele Teile, denen man nicht trauen kann.»
Surprise-Verkäuferin, 49, aus der Region Zürich, 6 Kinder
«Ich war im August das letzte Mal in Somalia. Meine Mutter lag im Spital wegen des Herzens, ich bin hingeflogen, um die Rechnung zu zahlen. Die Spitäler sind nicht wie hier: Ohne Geld läuft da gar nichts. 2019 hat meine Mutter bei einem Bombenattentat auf einen Bus ihren linken Arm und die Hälfte ihres Hinterns verloren. Einer meiner Söhne ist damals zurückgegangen, um ihr zu helfen. Aber er will weg, es ist gefährlich für ihn dort. Ich kann meine Mutter nicht in die Schweiz holen. Deshalb versuche ich jetzt, sie zu meiner Halbschwester nach Ankara zu bringen. Sie würde helfen mit der Pflege. Dann könnte auch mein Sohn wieder herkommen und seine Lehre abschliessen. Nun warten wir auf Somalia, dass sie ihr die Ausreise in die Türkei erlauben. Sie ist 74 Jahre alt. Sie hat auch noch Zucker, aber jetzt ist es besser. Seit dem Krieg in den 1990er-Jahren ist es so schlimm. Davor war alles ganz normal, ich bin zur Schule gegangen, ich habe die Universität abgeschlossen. Ich war Journalistin. Vor dem Krieg lebte ich in Mogadischu. Mein Vater ist im Krieg ums Leben gekommen. Ich habe selbst Probleme an beiden Händen, weil ich im Krieg im Oktober 1993 Bombensplitter abbekommen habe. Das waren die Amerikaner, ich arbeitete als Journalistin und sass in einem der Gebäude, die sie bombardiert haben. Dann bin ich in die Schweiz geflohen. Nun lebt meine Mutter in einem Dorf, das mir fremd ist, ich kenne es kaum. Ich kann auch nicht immer hinfliegen, nur im absoluten Notfall. Ich habe Kinder hier, die mich brauchen. Meine Schwestern leben an unterschiedlichen Orten, aber niemand ist mehr in Somalia. Ich komme aus einer kleinen Familie, im Vergleich zu den grossen Clans bekommen wir nur einen Bruchteil der Ressourcen. Der Präsident, der Premierminister, die politische Elite: Sie kom14
men alle aus grossen Familien. Ihre schlechte Regierungsführung lasten sie der Islamistenmiliz al-Shabaab an. Es gibt keine freie Presse. Als Journalistin kann es dir passieren, dass du einfach so von der Polizei abgeholt und direkt vor Gericht gestellt wirst. Vor vier Jahren war es besser, da war alles ruhig. Der jetzige Präsident hätte schon lange die Macht abgeben müssen, aber er hat sich geweigert. Davor hatten wir einen guten Präsidenten. Der hat sich besser gegen al-Shabaab durchgesetzt. Mein Eindruck ist, dass
«Wenn die Regierung alles gut machen würde, müssten sich die Leute nicht an al-Shabaab wenden. Korrupt sind beide.» viele, die früher zu al-Shabaab gehört haben, nun mit der Regierung zusammenarbeiten. Die Regierung nutzt al-Shabaab als Vorwand und zur Erledigung unbequemer Aufgaben, wann immer es passt. Wenn die Regierung richtig arbeiten würde, ohne al-Shabaab, dann würde sich vielleicht etwas ändern. Al-Shabaab sind nicht viele. Die müssen vor Gericht gestellt werden. In Mogadischu ist es besonders schlimm, weil dort auch alle Geld- und Warenflüsse durchgehen. Jeden Tag hört man von Menschen, die sterben oder verschwinden. Alle Leute haben Angst. Es gibt in Mogadischu zwei verschiedene Zonen, die eine wird von Polizei und Regierung kontrolliert, da läuft man Gefahr, Opfer eines Anschlages zu werden. Andere Gebiete werden nicht von der Regierung kontrolliert. Man hat immer Angst, wenn man rausgeht. Man weiss nie, ob man auch zurückkehrt. Auf dem Dorf ist es besser. Zwar herrscht dort al-Shabaab. Aber die Menschen machen einfach, was al-Shabaab wollen. Ich muss als Frau weite Umhänge tragen und Socken. Wenn man sich nicht ordentlich verschleiert, kann es passieren, dass man getötet wird. Sie sind herzlos und gefährlich, aber effizient. Wenn die Regierung alles gut machen würde, müssten sich die Leute nicht an al-Shabaab wenden. Korrupt sind beide: Wenn Lieferungen aus dem Ausland kommen, muss man Zoll zahlen – und zwar doppelt: an al-Shabaab und an die Regierung. Al-Shabaab erpresst die Menschen. Plötzlich ruft jemand dich an und verlangt beispielsweise dieselbe Miete, die du der Gemeinde jeden Monat zahlst. Wenn du die Nummer ignorierst, kommt eine SMS, in der steht, wo du dich befindest, was du anhast etc. Sie zeigen: Wir wissen, wo und wer du bist. Dann transferieren sie 10 Dollar auf dein Handy: für dein Leichentuch – falls du nicht zahlst. Solche Dinge können jedem passieren, es ist vollkommen irrelevant, wer man ist. Ich weiss nicht, wann das endlich aufhört. Die USA wissen Bescheid und geben Geld, die EU weiss Bescheid und gibt Geld, die UNO weiss Bescheid und gibt Geld ... Und am Ende sagen alle nur: Ah, tut mir leid. Die Truppen der Afrikanischen Union, die tun nichts. Sie haben ein schönes Leben in ihren Stützpunkten, direkt am Meer. Manchmal fahren sie mit ihren Autos durch die Gegend, aus denen sie niemals aussteigen. Es ist egal, ob die AMISOM da sind, sie verdienen einfach Geld. Warum hilft uns niemand? Ich hoffe, dass die USA, Europa und die anderen ein Herz haben.» Surprise 517/22
Eine Mutter mit ihrem unterernährten Kind im Benadir-Spital von Mogadischu, Oktober 2011. Hungersnöte gehören zur Geschichte Somalias, genauso wie die politische Instrumentalisierung dieser humanitären Katastrophen. So musste sich das Welthungerprogramm (WFP) der Vereinten Nationen 2010 aus den von der Terrorgruppe alShabaab kontrollierten Gebieten zurückziehen – was nur in extremen Ausnahmefällen passiert.
Surprise-Verkäufer, 66, aus der Region Basel, 6 Kinder
«Somalia muss sich von ausländischer Einmischung befreien. Deswegen ist die Regierung so schwach. Ausserdem hat Somalia ein Problem mit seinen Stämmen. Wenn ein Politiker nicht zufrieden ist mit der Regierung, hetzt er seinen Stamm auf. So kam auch der Zusammenbruch der Regierung 1991 zustande: ein Stammeskonflikt. Wenn man in Somalia Abgeordneter werden möchte, muss man Geld haben. Wenn ich ins Parlament will, gehe ich in meine Region und bezahle die Menschen dafür, dass sie für mich stimmen. Und so ist es auch beim Präsidenten: Er muss all die Abgeordneten dafür bezahlen, dass sie ihn wählen. Um dieses Geld zu bekommen, geht er nach Saudi-Arabien, nach Kenia, nach Äthiopien und nimmt Geld. Diese Länder wollen dafür natürlich Gegenleistungen. Die Golfstaaten beispielsweise wollen nicht, dass Somalia Öl und Gas fördert, also bezahlen sie somalische Politiker, um Unruhe zu stiften. Korruption – das ist eines der Hauptprobleme in Somalia. In der Verfassung ist zudem ein Konflikt zwischen Präsident und Premierminister angelegt, die Kompetenzen sind nicht klar geregelt, das führt immer wieder zu denselben Machtkämpfen. Jeder Teilstaat hat zudem eine eigene Regierung, einen Präsidenten, ein Parlament, das sind viele Präsidenten, viele Minister und viele Parlamente. Die Verfassung ist nicht geeignet, diesen Föderalismus gut zu regeln. Die Zentralregierung kontrolliert nur die Hauptstadt. Schon zwanzig Kilometer weiter beginnt der nächste Bundesstaat. Wir haben also sieben Präsidenten, die um die Macht konkurrieren. Manche sagen dem Staatspräsidenten: Worüber regierst du schon? Mein Teilstaat ist viel grösser als die HauptSurprise 517/22
stadt. Die Zentralregierung ist sehr schwach, aber sie ist nicht korrupt. Alle Staatsangestellten bekommen ihr Gehalt direkt. Man kann die Geldflüsse von der Nationalbank bis zu den Empfänger*innen direkt nachweisen. Auch der Internationale Währungsfonds traut der Regierung, obwohl es eine autoritäre Regierung ist. Die AMISOM-Länder Kenia, Burundi, Djibouti, Uganda und Äthiopien haben kein Interesse an einem friedlichen Somalia. Sie verdienen Geld mit ihrem Mandat und haben ein Interesse daran,
«Wenn ein Politiker nicht zufrieden ist mit der Regierung, hetzt er seinen Stamm auf.» die Sanktionen aufrechtzuerhalten. Sie wollen ihre Soldaten in Somalia behalten, es interessiert sie nicht, ob es Terroristen gibt oder nicht. Die 22 000 AMISOM-Soldaten könnten doch die rund 7000 Angehörigen der al-Shabaab fertigmachen. Aber sie wollen lieber weiter ihren Lohn bekommen, als zu kämpfen. Sie nennen es ‹peace keeping›. Anders sind die letzten zwölf Jahre nicht zu erklären. Al-Shabaabs Taktik ist, die Städte und Orte zu isolieren. Wenn man von einer Stadt in eine andere reisen will, muss man das Flugzeug nehmen. 70 Prozent der somalischen Menschen leben als Nomaden und werden von al-Shabaab beherrscht. Sie nehmen ihnen die Hälfte ihrer Ernte und ihre Kinder weg. Früher gab es 15
Blick auf die zerstörte Küste von Mogadischu, Juni 2007. Ein Jahr zuvor hatte sich al-Shabaab nach der Auflösung der Union islamischer Gerichte gegründet. Seither hält die Gruppierung, die sich zu al-Qaida bekennt, Somalia und die Nachbarländer mit Terrorattacken in Atem.
Frauen beim Studium an der Universität Mogadischu, Februar 2012. Diese Privatuniversität wurde 1997 gegründet, mit Hilfe der Saudi-Arabischen Islamischen Entwicklungsbank ausgebaut und zählt an die 5000 Studierende, 30 Prozent davon sind Frauen. 16
viele Bombenattentate, heute passiert weniger, weil die Zentralregierung bessere Nachrichtendienstsysteme aufgebaut hat. Heute passieren vor allem dann Attentate, wenn Konflikte innerhalb der Regierung verhindern, dass sich die Regierung auf die Sicherheit konzentriert. Wenn die internationale Gemeinschaft die somalische Armee unterstützen würde, könnten sie al-Shabaab zerstören. Aber es gibt Sanktionen gegen Somalia, die Regierung kann keine Waffen kaufen. Und solange die Armee nur dieselben Waffen hat wie die Terroristen, sind sie auch nur gleich stark. Würde man die Sanktionen aufheben, könnte die Armee Somalia innerhalb von zwei Jahren komplett befreien. Derzeit verdient ein Soldat in der somalischen Armee etwa 200 US-Dollar, die AMISOM-Soldaten verdienen ein Vielfaches. Ich war 2012 das letzte Mal in Somalia. Ich kann nicht hinreisen, da ich als politischer Flüchtling in die Schweiz gekommen bin. Manche meiner Verwandten leben als Nomaden unter al-Shabaab. Sie sind nicht glücklich. Wenn einer zehn Kamele hat, nimmt al-Shabaab drei weg, sie leiden unter den harten Zahlungen. Und sie müssen dafür sorgen, dass alle Kinder spätestens mit zehn Jahren in die Städte gehen, damit sie nicht geraubt und für den Kampf trainiert werden. Al-Shabaab rekrutieren ihre Kämpfer sehr jung und brainwashen sie. Junge Menschen sind sehr empfänglich. Und die Jugend ist arbeitslos, sie braucht Geld. Ich habe meiner Familie geraten, alle Kinder mit spätestens acht Jahren in die Stadt in die Schule zu schicken. Es trifft nicht nur Jungs, auch Mädchen. Sie erzählen ihnen, sie würden direkt ins Paradies gehen. Warum aber geht dann der Anführer der al-Shabaab nicht selbst direkt ins Paradies? Es sind auch nicht nur Somalis in al-Shabaab. Die Kämpfer sind Somalier, die Trainer und Vordenker kommen aus dem Ausland. Sie isolieren diese Menschen in speziellen Camps, wo Pakistaner, Iraker und ISIS-Leute Hass in ihnen schüren, damit sie sich aufopfern, sie geben ihnen auch Drogen. Das sind Tricks, böse Tricks.»
Surprise-Verkäufer, 36, aus der Region Basel, keine Kinder
«Die Situation in Somalia ist sehr kompliziert. Es ist schlimmer als Afghanistan oder Syrien. Somalia wird von Gangs regiert, kleinen Gruppen von Menschen, die vor allem Geld verdienen wollen. Die Regierung und al-Shabaab – beide gehören dazu. Zur Zeit der Unabhängigkeit 1960 gab es eine gewählte Regierung, aber das Land kam nicht vorwärts. Es war sehr arm. Junge Politiker, meist aus der Armee, haben damals gedacht: So funktioniert das nicht. Somalia ist zwar angeblich demokratisch, aber wir bleiben in unserer Clan-Ideologie stecken: Wer Präsident werden will, verlässt sich nur auf seinen Stamm. Also übernahmen sie 1969 mit einer Militärregierung die Macht. Sie liessen alle verhaften, die vorher in der Politik gearbeitet hatten. Dann begannen sie Somalia aufzubauen: die Institutionen, das Gesundheitssystem, die Justiz, den Sicherheitsapparat. Sie liessen die Leute zählen und registrieren. Nun hatten die Gangs kein Einkommen mehr – sie gingen nach Europa und Amerika und überlegten, wie sie wieder an Geld kämen. Aber wie? Sie wollten das Land wieder übernehmen, dazu Surprise 517/22
brauchten sie Einfluss in der Bevölkerung. Also haben sie das Clan-System reanimiert und Geschichten verbreitet wie ‹Ich bin ein Opfer, mein Vater wurde vom Militär getötet›, was gar nicht passiert war. Und sie streuten die Idee, dass Somalia nicht ein Land ist, sondern zwei Länder. Die Leute haben daran geglaubt. Man fragte sich plötzlich im Norden, warum geht es dem Süden gut und dem Norden nicht? Und schon waren wir in zwei Fraktionen geteilt. Dazu kam das religiöse Narrativ: Plötzlich wurde gesagt, dass wir Muslime seien und bestimmte Kräfte gegen die
«Die Welt unterstützt die Gangs, man hört die Kritik nicht. Man traut dem Regime.» Religion stünden. Damals traten die Dschihadisten auf den Plan. Sie sagte, wir seien Muslime und müssten kämpfen, um die Feinde des Islams umzubringen. Dann kam der Bürgerkrieg. Und die Gangs hatten Zeit, das Land zu übernehmen, ohne dass irgendwer sich noch wehren konnte. Seitdem die Gangs dort sitzen, wo vorher das Militär gesessen hat, passiert nichts mehr. Der ganze Aufbau, den das Militär geleistet hat – heute ist nur noch Stillstand. Das Land wurde islamisiert, um dem Ausland die Geschichte erzählen zu können, der Dschihadismus sei eine Gefahr. Damit man aus dem Ausland Hilfsgelder zur Islamismus-Bekämpfung bekommen kann, die man dann aber zwischen den Islamisten und der Regierung aufteilt. Somalia ist in einer schlimmen Lage. Es kann dir passieren, dass dich sogar der Botschaftsbeamte in Genf erpresst, wenn du Pech hast. Du beantragst Papiere für irgendeine Sache, die du in der Schweiz erledigen musst – später ruft derselbe Beamte dich an und droht dir, deine Daten an die Islamisten weiterzugeben, wenn du nicht zahlst. Wie soll ich den Präsidenten ernstnehmen, wenn schon die einfachen Angestellten so handeln? Aber die Welt unterstützt die Gangs, man hört die Kritiker*innen nicht. Man traut dem Regime. Vielleicht wäre es besser gewesen, gar nicht erst wegzugehen. Jetzt zurückzugehen aber ist sehr schwer. Derzeit sehe ich keinen Ausweg. Es ist wie ein Kreisverkehr, wo man ständig die Ausfahrt verpasst. Armee und al-Shabaab – alle arbeiten zusammen. Ich glaube auch nicht, dass es eine islamistische Ideologie gibt, al-Shabaab ist einfach eine Arbeitsstelle für die Leute. Leiden tut die Bevölkerung. Viele Somalis hier glauben, wenn al-Shabaab weggehen würde, wäre alles wieder normal. Das erzählen ihnen die Medien, die regierungstreu sind. Und ob AMISOM bleiben oder gehen, das macht keinen Unterschied. Irgendwann würde ich gern die internationale Gemeinschaft fragen: Habt ihr keine Augen im Kopf? Die USA haben in den letzten dreissig Jahren nichts für Somalia gemacht. Damals, 1993, haben sie zu Recht bombardiert. Das war unsere letzte Hoffnung. Aber es hat nicht gereicht. Und es sind über tausend Somalier dabei gestorben.» Hintergründe im Podcast: Simon Berginz spricht mit Redaktorin Sara Winter Sayilir über die Entstehungsgeschichte zu diesem Dossier. surprise.ngo/talk 17
Volg-Gutscheine statt Grundbedarf Sozialhilfe Weil Gemeinden in der Sozialhilfe immer wieder gegen das
Gesetz verstossen, erneuern Fachleute eine über hundertjährige Forderung: Die Regelung der Sozialhilfe sollte Sache des Bundes sein. TEXT ANDRES EBERHARD
Deutlicher Stadt-Land-Graben: Sozialhilfequote nach Gemeindegrösse, 2020 Stadt
Land
5%
4%
3%
2%
≥ 100 000 Einwohner*innen
18
50 000 – 99 999 Einwohner*innen
20 000 – 49 999 Einwohner*innen
10 000 – 19 999 Einwohner*innen
5000 – 9999 Einwohner*innen
< 5000 Einwohner*innen
Surprise 517/22
INFOGRAFIKEN: BODARA ; QUELLEN: BFS – SOZIALHILFEEMPFÄNGERSTATISTIK (SHS); OLIVER HÜMBELIN: NICHTBEZUG VON SOZIALHILFE. UNIVERSITÄT BERN
Etwas vom Schwierigsten für Tobias Hobi ist das Abhören des Anrufbeantworters. Er weiss, dass Menschen in einer Notlage seine Hilfe brauchen. Trotzdem kann er nichts für sie tun. «Da sind teilweise sehr tragische Geschichten zu hören. Aber wir haben nicht die Ressourcen, um jeden Einzelnen zurückzurufen.» Hobi ist Jurist der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). Zweimal pro Woche ist die Leitung für zwei Stunden offen, die Verknappung der Erreichbarkeit ist sozusagen die natürliche Triage der Fälle. Denn die Nachfrage bei der einzigen schweizweit tätigen Rechtsberatungsstelle für Sozialhilfeempfänger*innen ist weit grösser als deren Möglichkeiten. Die Frage, was eine faire Sozialhilfe ist, hat zwei Seiten. Eine ist die politische. Die Debatte darüber findet in den 26 Kantonen statt, die für die Sozialhilfe zuständig sind. Für Aufsehen sorgten zuletzt Aargauer Gemeinden, die von Sozialhilfebeziehenden verlangten, mit Pensionskassengeldern die Sozialhilfe zurückzuzahlen. Möglich machte es eine Lücke im kantonalen Gesetz. Die andere Seite der Frage ist, wie die 2172 Gemeinden der Schweiz die Gesetze umsetzen. «Unser Ziel ist, dass Sozialhilfebeziehende zumindest jene Leistungen erhalten, die ihnen zustehen», sagt Anwalt Hobi. Dass das längst nicht immer der Fall ist, zeigen die zahlreichen Fälle aus der Praxis der Rechtsberatungsstelle. Ein aktuelles Beispiel: Eine Zürcher Gemeinde kürzte einem Sozialhilfeempfänger den Grundbedarf und stellte ihm stattdessen Volg-Gutscheine zu. Den Kauf von Kleidern bewilligte sie zudem nur gegen Vorlage einer Quittung. Solche Ausgaben sind gemäss Gesetz jedoch Teil des Grundbedarfs. Darüber dürfen Sozialhilfeempfänger*innen selber verfügen. Statt auf dem Amt die hohle Hand zu machen, wandte sich der Beistand des Mannes an die UFS. «Jemanden zu zwingen, in einem bestimmten Laden einzukaufen, ist ganz klar widerrechtlich», sagt Hobis Kollegin bei der UFS, Anwältin Nicole Hauptlin. Das sah der Bezirksrat genauso. Trotzdem wehrte sich die Gemeinde gegen den Entscheid. Der Fall liegt nun beim Zürcher Verwaltungsgericht. Zwar dürften aufgrund der Faktenlage die Erfolgschancen der Gemeinde klein sein. Doch das Beispiel zeigt: Die Gefahr von Behördenwillkür in der Sozialhilfe ist real. Die Fälle, die auf dem Schreibtisch der UFS-Anwält*innen landen, sind vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn die DunSurprise 517/22
kelziffer derer, die entweder ihre Rechte nicht kennen oder sich nicht wehren können, ist hoch. Oder anders gesagt: Die wenigsten Fälle gelangen an die Öffentlichkeit. Die meisten Betroffenen dürften ihre Situation einfach ertragen. Das ist auch die Erfahrung bei der UFS. «Hinter den Fällen liegt meistens schon eine längere Geschichte. Bevor sie zu uns kommen, gehen die Leute in der Regel davon aus, dass die offiziell wirkenden Verfügungen der Behörden rechtmässig sind. Sie fühlen sich der Staatsmacht ausgeliefert», sagt Hauptlin. Widerrechtliche Sanktionen Wie arglos die Gemeinden mit dem Thema umgehen, zeigen Richtlinien oder Merkblätter der Gemeinden, die Gesetzesverstösse auch schriftlich festhalten. So schrieb zum Beispiel eine Gemeinde all ihren Sozialhilfebeziehenden per Brief, dass sie all jenen 20 Franken vom Grundbedarf abziehen würde, die ihre eingeschriebenen Briefe nicht bei der Post abholten. Eine andere Gemeinde sanktionierte mit 50 Franken, wer nicht zu einem Gespräch beim Sozialamt auftauchte. Beide Schreiben liegen Surprise vor. «Solche Sanktionen sind im Gesetz nicht vorgesehen und damit widerrechtlich», sagt Nicole Hauptlin. Zwar kann die UFS bei vielen dieser rechtlich eindeutigen Fälle etwas bewirken – manchmal reicht ein Telefon, ein anderes Mal braucht es Beschwerden und viel Geduld. «Doch es gibt Gemeinden, die vor Gericht gerügt werden, dann aber einfach weitermachen wie zuvor», so Hauptlin. Manche Fälle sind derart haarsträubend, dass die Anwält*innen von der Regel abkommen, nur jene Fälle zu bearbeiten, die während der definierten Telefonzeiten bei ihnen eingehen. Statt die Nachricht auf dem Telefonbeantworter zu löschen, ruft Tobias Hobi dann zurück. So geschehen im Fall eines Minderjährigen, der von seiner Gemeinde statt mit Sozialhilfe nur mit Nothilfe unterstützt wurde. Acht Monate lang lebte der junge Mann von 10 Franken am Tag – rund einem Drittel des Betrags, der ihm eigentlich zustand. Gewehrt hatte er sich zunächst nicht. «Er dachte sich wohl: Da kann man halt nichts machen», so Hobi. Es kam aber noch schlimmer: Die Gemeinde kürzte den Betrag auf 8 Franken, da sich der Mann nicht um eine Stelle bemüht habe. «Dabei ist er ganz offensichtlich psychisch krank», sagt Hobi, der den jungen Mann persönlich getroffen hat. «Nach fünf Minuten ist jedem klar, dass
Jede*r Vierte verzichtet
26,3% verzichten auf Sozialhilfe.
Stadt
Land
50%
12% 19
Sozialhilfefälle, 2020 Paare ohne Kinder
Paare mit Kindern
Alleinerziehende
Einpersonenfälle
20
4,1%
8,6%
17,0%
70,2%
dieser Mensch dringend Hilfe braucht.» Zuletzt habe sich der Mann seit rund einem Jahr nicht mehr aus der eigenen Wohnung getraut. «Die Gemeinde aber behauptet, es gehe ihm besser.» Kostendruck und Unwissenheit Dass Gemeinden sich bei der Sozialhilfe immer wieder nicht ans Gesetz halten, hat zwei Gründe. Der erste sind die Finanzen. Die Gemeinden stehen unter Druck, die Sozialhilfekosten tief zu halten. Sie sind es, die den grössten Teil davon berappen müssen. Wie viel der Kanton übernimmt, ist unterschiedlich. Am eklatantesten ist die Situation in der Ostschweiz, wo Gemeinden zu hundert Prozent für die Kosten aufkommen. Gerade in kleinen Gemeinden haben bereits wenige Sozialfälle einen grossen Einfluss auf die Gemeindefinanzen. «Uns wurde von Sozialarbeitenden schon offen gesagt, dass sie auch das Interesse von Steuerzahler*innen vertreten», sagt Nicole Hauptlin. Aber nicht nur bei den Ausgaben für Sozialhilfeempfänger*innen wird wo immer möglich gespart, sondern auch bei den Sozialämtern selbst. Fallzahlen von bis zu 140 Sozialhilfebeziehenden pro Mitarbeiter*in sind nicht selten. Eine persönliche Hilfe, wie es neben der finanziellen Unterstützung eigentlich Ziel der Sozialhilfe wäre, ist bei dieser Arbeitslast kaum möglich. Der zweite Grund für die recht häufigen Rechtsverstösse ist banaler: Unwissenheit. Im Sozialhilferecht geschultes Personal ist selten. In sehr kleinen Gemeinden übernimmt die Gemeindeschreiberin oder der Friedhofsverwalter das Sozialwesen. Aber selbst dort, wo ausgebildete Sozialarbeitende tätig sind, sei die Situation unbefriedigend, sagt Nicole Hauptlin. «Sozialhilferecht wird in der Ausbildung klar zu wenig berücksichtigt.» Derzeit sind es maximal vier halbe Tage während des ganzen Studiums der sozialen Arbeit. «Für ein so komplexes, uneinheitliches Rechtsgebiet eindeutig zu wenig», so Hauptlin, die selbst sowohl ein Studium der Rechtswissenschaft wie auch eines in sozialer Arbeit absolviert hat. Zusammengefasst: Es gibt 26 unterschiedliche Gesetze, die teilweise viel Spielraum für die Gemeinden lassen, und 2172 Gemeinden, welche die Gesetze unterschiedlich anwenden. Ausserdem stehen sie unter Druck, die Sozialkosten tief zu halten. Das Gesetz ist komplex und wird
von einem juristisch relativ ungeschulten Personal angewandt. Sozialhilfebeziehende wissen häufig nicht, dass und wie sie sich wehren können. Als wäre dies nicht genug, fehlt es auch noch an der für sie nötigen Hilfe. Den Mangel an Rechtsberatungsstellen zeigte jüngst eine Untersuchung des Bundes auf (siehe Kasten). Was also tun? Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht sieht drei Wege, um die Situation zu verbessern. Erstens: mehr juristisches Wissen auf den Ämtern. Zweitens: unentgeltliche Rechtsberatung in jedem Kanton. Drittens: ein nationales Sozialhilfe-Rahmengesetz. Oder wie es Nicole Hauptlin pointiert formuliert: «Nehmen wir den Gemeinden die Sozialhilfe weg.» Die 2172 verschiedenen Umsetzungen in den Gemeinden würden die Ungleichheit und den Wettstreit um die tiefsten Leistungen fördern. «Das verhindert einen effektiven Rechtsschutz für jene, die in unserem System ganz unten angekommen sind.» Vereinheitlichung gewünscht Die Forderung der UFS kommt bei Fachleuten aus dem Sozialwesen gut an. Domenico Sposato, Geschäftsleiter der Caritas beider Basel, sagt, dass das Sozialhilferecht zu kleinräumig und zu kompliziert sei und vereinheitlicht werden müsse. «Ich sehe nicht ein, warum Sozialhilfe nicht vom Bund geregelt werden sollte, wie es bei der Arbeitslosigkeit ja schon der Fall ist.» Im Moment würden einige Gemeinden ihre Sozialhilfebezüger*innen regelrecht loswerden wollen, «wie vor rund 200 Jahren Menschen, die an Pest oder Cholera erkrankten». Ähnlich tönt es bei Avenir Social, dem Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz. «Die Nivellierung der Hilfeleistungen nach unten muss gestoppt werden», so Co-Geschäftsleiterin Annina Grob. Die jüngsten Entwicklungen wie etwa in Baselland würden zeigen, dass sich die kantonalen Sozialhilfegesetze verselbständigen und die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ihre harmonisierende Wirkung verlieren. Letztere sollten für eine gewisse Vereinheitlichung sorgen, sind aber nicht verbindlich. Die Forderung nach einem nationalen Rahmengesetz für die Sozialhilfe ist schon über hundert Jahre alt. Die SKOS hatte sie erstmals bei ihrer Gründung im Jahr 1905 gestellt. Dass es Handlungsbedarf insbesondere bei der Harmonisierung der SoziSurprise 517/22
alhilfe braucht, erkannte 2015 auch der Bundesrat. Doch politische Vorstösse für ein schlankes Rahmengesetz scheiterten allesamt, den bislang letzten beerdigte das Parlament im vergangenen Sommer. Manche Abgeordnete erkannten keine Gefährdung der Grundrechte von Sozialhilfebeziehenden. Andere sind skeptisch, ob ein Rahmengesetz die richtige Lösung ist, um diese zu verbessern. So plädiert unter anderem das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) für andere Lösungen: einen verbesserten Finanzausgleich innerhalb der Kantone, stärkeren Rechtsschutz für Sozialhilfebeziehende, Aufsicht über die Sozialdienste. Widerstand in den Gemeinden Eine national geregelte Sozialhilfe ist zu einem derart verfahrenen Politikum geworden, dass mittlerweile selbst jene sie ablehnen, die davon profitieren könnten: etwa die unter dem Kostendruck ächzenden Gemeinden. Eine «Regelung und vor allem Finanzierung durch den Bund» lehnen Gemeinden grundsätzlich ab, schreibt Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbandes, auf Anfrage. Die Covid-Pandemie habe gezeigt, dass die Schweiz ein funktionierendes So-
zialsystem habe, für welches die Gemeinden einen unverzichtbaren Anteil leisteten. Ausserdem «wäre es ein Trugschluss zu denken, dass es mehr Geld geben würde, wenn das Ganze Bundessache wäre. Das Gegenteil wäre wohl der Fall.» Auch die SKOS, die sich seit jeher den Kampf gegen Armut auf die Fahne geschrieben hat, hält mittlerweile «wenig» von einem nationalen Rahmengesetz. Das sagte ihr aktueller Präsident Christoph Eymann 2019 bei seinem Antritt gegenüber der NZZ. Man sei «selbstverständlich daran interessiert», dass die SKOS-Richtlinien überall in der Schweiz angewandt werden, präzisiert Sprecherin Ingrid Hess auf Anfrage. Da ein nationales Rahmengesetz aber politisch «schlichtweg kein Thema» sei, konzentriere man sich darauf, «das föderalistische System auf der Grundlage der SKOS-Richtlinien bestmöglich zu organisieren». Anders gesagt: Auf sehr diskrete Weise hat die Organisation nach über hundert Jahren den Kampf für ein national verbindliches Sozialhilfegesetz aufgegeben. Verschwunden ist die Forderung trotzdem nicht. Anstelle der SKOS kämpfen jetzt andere, nämlich die direkt Betroffenen und ihre Vertreter*innen.
Mangel an Rechtsberatung Ohne rechtlichen Beistand können sich Sozialhilfebeziehende oft nicht selber wehren. Denn das kantonal geregelte Sozialhilferecht ist zu komplex und zu intransparent. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsbericht der Hochschule Luzern und der Universität Basel im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen von Anfang 2021. Gemäss der Studie ist die unabhängige Rechtsberatung ein Grundrecht und muss gestärkt werden. Jedoch gibt es zu wenig Angebote. Die Studie empfiehlt, unabhängige Beratungsstellen staatlich zu finanzieren. Dies passiert heute einzig in Zürich, wo Stadt und Kanton die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) befristet fördert. Darüber hinaus lebt der gemeinnützige Verein von Spenden. Die UFS bearbeitet rund 1200 Fälle pro Jahr, davon rund die Hälfte aus dem Kanton Zürich. In Bern betreibt der Verein Actio Bern seit 2019 ebenfalls eine gemeinnützige Anlaufstelle für Rechtsfragen, aber ohne staatliche Unterstützung. In Basel prüfen Organisationen den Aufbau einer Stelle für Sozialhilferechtsberatung. Unklar ist, ob dafür auch öffentliche Gelder fliessen. EBA
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INFOGRAFIKEN: BODARA ; QUELLE: BFS, SOZIALHILFESTATISTIK; SOZIALHILFEEMPFÄNGERSTATISTIK (SHS)
Mehr Sozialhilfebezüger in der Romandie: Sozialhilfequote nach Kanton, 2020
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FOTO: ZVG
Lia Hahne als Nina und Fabian Krüger als ihr Onkel Fabian: Dass er an einer Alkoholsucht leidet, ist dem kleinen Mädchen nicht bewusst. Für sie zählt die Erfahrung, dass da jemand ist, der Zeit für sie hat.
«Liebe kann man nur über Zeit beweisen» Kino Der Spielfilm «Prinzessin» zeigt die Alkohol- und Drogensucht
ungeschönt. Die Geschichte berührt, weil für Regisseur Peter Luisi immer eines an erster Stelle steht: das Interesse für den Menschen. INTERVIEW DIANA FREI
Wir schreiben das Jahr 1985. Der alkoholabhängige Josef hat sich in das baufällige Haus seiner Mutter zurückgezogen. Als seine Schwester mit ihrer vierjährigen Tochter Nina in die andere Wohnung zieht, entwickelt sich zwischen der Kleinen und dem Onkel eine Freundschaft. Fünfunddreissig Jahre später treffen sie wieder aufeinander. Die Geschichte, die Peter Luisi erzählt, beeindruckt, weil sie nah an der recherchierten Realität ist. Peter Luisi, Sie schreiben und inszenieren sowohl Komödien als auch Dramen, und bei beiden fällt auf, dass oft soziale Themen drinstecken. Sie gucken gerne an die sogenannten Ränder der Gesellschaft. Warum? Grundsätzlich finde ich wichtig, dass ein Film eine gute Geschichte erzählt. Wenn man nun auch ein soziales Thema in eine Komödie verpacken kann, ist es meiner Meinung nach für ein breites Publikum am zugänglichs22
ten. Mein Film «Schweizer Helden» von 2014 handelte von Asylbewerber*innen. Wenn sich ein Publikum den Film anschaut, will es ja wahrscheinlich in erster Linie unterhalten werden, bekommt dabei aber Einblick in die Asylthematik. Also in eine Realität, die vielen vielleicht sonst nicht begegnen und mit der sie sich nicht auseinandersetzen würden. In Ihrem neuen Film «Prinzessin» geht es um Sucht in unterschiedlicher Ausprägung. Josef, der Protagonist, ist alkoholabhängig. Und seine Nichte Nina, am Anfang des Films ein süsses kleines Mädchen, wird viele Jahre später von einer Drogensucht eingeholt. Ich habe mich dabei ertappt, dass ich darüber erstaunt war. Weil sie als Kind so liebenswert ist, ihre Welt so heil. Ich habe Interviews mit Alkoholkranken geführt. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sucht eine Krankheit und Surprise 517/22
keine Charakterschwäche sei, was mir sehr eingeleuchtet hat. Niemand war schon immer «kaputt». Es kommt zuerst die Sucht und dann der Verfall, und es gibt bei manchen auch einen Weg heraus. Der zeitliche Verlauf im Film kann das zeigen, die Figuren wandeln sich stark. Ich habe dann beim Casting übrigens nochmals gemerkt, dass Stereotypen zum Thema wurden. Mir sagten Leute: Ich stelle mir Alkoholiker immer etwas aufgebläht vor. Fabian, der den Josef spielt, ist dünn. Ich wollte keine Bilder in den Köpfen erfüllen. Ich wollte einen Schauspieler, der die Rolle gut spielt. Als Josef auf das Kind aufpasst, merkt er, dass er als Mensch nicht mehr funktioniert. Erst von diesem Moment an wird die Sucht für ihn zur Last. Er merkt da, dass es nicht nur um ihn geht. Es wird ihm bewusst, dass er seine Pflicht als Mensch nicht mehr erfüllen kann. Dass er es nicht schafft, für andere da zu sein. Sich um das Kind zu kümmern, ist für ihn eine Aufgabe im Leben, die wichtiger und grösser ist als er selbst. Ich habe bei Recherchen erfahren, dass es zu einer Wende führen kann, wenn Menschen eine Aufgabe finden, die sie als grösser und wichtiger wahrnehmen als sie selbst. Ihre Hauptfigur ist schwer alkoholabhängig, duscht sich offenbar nicht und bringt seine kleine Nichte in Gefahr. Sie zeigen die Sucht ungeschönt, der körperliche Zerfall auch durch harte Drogen ist deutlich sichtbar. Ist es schwierig, eine solche Geschichte ins Kino zu bringen? Oft sagt man, ein Film darf keine unsympathische Hauptfigur haben, aber ich finde Figuren eigentlich nie unsympathisch. Ich meine, sie haben Probleme wie wir alle. Und das sind für mich Geschichten, die erzählenswert sind. Ich sehe mich als Autorenfilmer in dem Sinn, dass ich mir die Freiheit herausnehme, diejenigen Geschichten zu erzählen, die ich wichtig finde. Gleichzeitig habe ich durchaus auch das Bedürfnis, die Zuschauer zu unterhalten. Das ist eigentlich eine ungewöhnliche Mischung, vielen Autorenfilmer*innen gilt der Unterhaltungswert als billig. Ich musste aber keine Produzenten überzeugen, weil mein Bruder und ich meine Filme selbst produzieren. Die Geldgeber aber natürlich schon. Vom Bundesamt für Kultur haben wir kein Geld bekommen. Aber ich wurde vom Schweizer Fernsehen und von blue finanziell unterstützt, wofür ich sehr dankbar bin und was mich auch etwas überrascht hat, weil der Film nicht auf eine klassische Art zugänglich ist. Von der Zürcher Filmstiftung wurde der Film ebenfalls unterstützt. Im Abspann verdanken Sie die Stiftung Sucht Schweiz. Von welchem Moment an haben Sie bei Betroffenen und Fachleuten zu recherchieren begonnen? Ich habe Gespräche mit drei Alkoholkranken geführt. Dann habe ich mit einer Person geredet, die lange im Sunne-Egge in Zürich gearbeitet hat, einer Anlaufstelle für Heroinabhängige, und mit einem Arzt der Pfarrer Sieber Stiftung. Ich wusste da bereits, was für eine Geschichte ich erzählen möchte. Ich wusste auch, dass ich sie mit einem Zeitsprung erzählen möchte. Ich wollte die erwachSurprise 517/22
Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Peter Luisi, 47, hat 1998 an der University of California Santa Cruz, seinen Abschluss in Filmproduktion gemacht. Im Jahr 2000 gründete er die Spotlight Media Productions AG und arbeitet seither als freischaffender Drehbuchautor, Regisseur und Produzent. Seine bekanntesten Spielfilme sind «Verflixt verliebt», «Love Made Easy», «Der Sandmann», «Schweizer Helden» und «Flitzer».
sene Nina mit dem Kind kontrastieren, das sie mal war. Ausserdem wollte ich zeigen, dass Josef, der Nina verspricht, für sie da zu sein, sein Versprechen über Zeit wirklich hält. Mir hat einmal jemand gesagt: Liebe kann man eigentlich nur über Zeit beweisen. Hier und jetzt jemandem alles in der Welt zu versprechen, ist einfach – aber wie sieht es in dreissig Jahren aus? Die Handlung und Struktur hatte ich bereits, als ich zu recherchieren begann. Aber ich wollte sie in den Details möglichst authentisch erzählen. Ich finde, auch wenn man eine fiktive Geschichte erzählt, hat man eine Verantwortung, dass man nicht irgendeinen Mist erzählt. Wieso hat Sie die Sucht als Thema überhaupt interessiert? Zum einen habe ich den Platzspitz noch erlebt, und zum anderen hat mich ein Dokumentarfilm von Rolf Lyssy, «Wäg vo de Gass!», stark beeindruckt. Ich habe es fast nicht ertragen, wie die Sucht den Menschen ihr Leben raubt. Mich interessierte, wie das passieren kann. Und wie man Süchtigen gegenüber empathisch bleibt, obwohl es manchmal schwierig sein kann. Obwohl man auch verarscht werden kann von jemandem, der nur noch seine Droge sucht. Oder obwohl man auch mit Hilfsangeboten aufläuft. Was kann denn ein Film besser als zum Beispiel eine Organisation, die Sensibilisierungsarbeit macht? Ich finde, ein Film hat die Kraft, empathiefördernd zu sein. Man lebt ja zwangsläufig immer nur sein eigenes Leben und blickt meistens aus seiner eigenen Perspektive auf die Welt. Ein Film oder ein Buch versetzen einen für eine bestimmte Zeit in die Welt von jemand anderem. Vielleicht eben auch in die von jemandem, der ein Alkoholproblem hat. Ich glaube, indem man in andere Rollen schlüpft und damit die Welt auch einmal aus einer anderen Perspektive sieht, baut sich auch emotional ein Verständnis für andere Lebensrealitäten auf.
«Prinzessin», Regie Peter Luisi, CH/Ukraine 2021, 101 Min., mit Fabian Krüger, Matthias Habich, Johanna Bantzer. Läuft ab 27. Januar im Kino. 23
«The Ecstatic» des Choreografen Jeremy Nedd baut auf dem Pantsula-Tanz auf (links). «Grand Écart» von Kiyan Khoshoie spielt mit Elementen der One-Man-Show (Mitte), Tabea Martins «Forever» hinterfragt die Idee des ewigen Lebens – für alle ab 8 Jahren (rechts).
Hiphop löst Dornröschen ab Tanz Für die meisten von uns ist das Wort das erste Kommunikationsmittel.
Aber auch der Körper kann eines sein. Die Swiss Dance Days zeigen: Er taugt sogar dazu, gesellschaftliche Debatten auf neue Art anzugehen. TEXT DIANA FREI
Tanz ist bei Marc Oosterhoff auch ein bisschen Zirkus. Oder The ater. Oder Performance. Er hat unter anderem die Dimitri Thea terakademie abgeschlossen, er kann auch Parkour oder Martial Arts. Dass hier so viele Elemente aus anderen Sparten im aktu ellen Tanzschaffen ineinandergreifen, steht für eine allgemeine Tendenz, die gerade an den Swiss Dance Days sehr schön zu be obachten ist: Hiphop hat in den letzten Jahren von der Strasse auf die Tanzbühne gefunden, artistische Elemente und Sprech theater fügen sich ein, Narratives mischt sich mit KonzeptuellAbstraktem. Zeitgenössischer Tanz hat nicht mehr viel mit einem Hand lungsballett wie «Dornröschen» zu tun. Narrative Elemente sind zwar oft immer noch vorhanden, aber auch aktuelle gesellschaft liche Themen werden heute auf der Tanzbühne verhandelt: Di versität, Inklusion, Identität, Gleichberechtigung, Frauenthemen und Genderfragen. Das erstaunt auf den ersten Blick, denn es sind gesellschaftliche Themen, die oft stark polarisieren und zu Debatten Anlass geben – wenn sie in Worten diskutiert werden. Nun ist Tanz eine Kunst, die ohne Worte auskommt. «Diese Tat sache entzieht dem Konflikt den Boden, indem es kein Richtig und kein Falsch gibt», sagt die Dramaturgin Selina Beghetto, die in der fünfköpfigen Jury der Swiss Dance Days sitzt. «In unserer 24
Gesellschaft ist generell das Wort das erste Medium, wir gehen mittels Ratio an die Sache heran und wollen Diskussionen intel lektuell lösen. Wenn man aber ein Tanzstück anschaut, hat man danach keine Antworten parat. Es tut sich eine andere Ebene auf, auf der man sich neu austauschen kann.» Wenn Beghetto Einführungen für Tanzvorstellungen macht, rät sie dem Publikum oft, den Kopf im Foyer zu lassen. Kindern fällt das leichter als Erwachsenen, und vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum der Tanz für ein junges Publikum stark am Aufkommen ist. «Kinder kann man fragen: Was hast du gesehen?, und sie sagen dir: Ah, da waren bunte Würmer», sagt Beghetto. «Erwachsene fragen sich als Erstes: Wie war das gemeint? Was bedeutet es?» Der Körper als Kommunikationsmittel Dabei stellen Mitteleuropäer*innen vielleicht etwas öfter solche Fragen als Menschen aus Kulturen, in denen Körperlichkeit an sich einen anderen Stellenwert hat. Dass das Wort in der Kom munikation an erster Stelle steht, finden wir selbstverständlich – zwingend ist es nicht. Das wird dort erkennbar, wo der Körper als natürliches Kommunikationsmittel eingesetzt wird. Zum Beispiel für den politischen Protest. Man nutzt, was man Surprise 517/22
BILD(1): PHILIP FROWEIN, BILD(2): MAGALI DOUGADOS, BILD(3): NELLY RODRIGUEZ
Ein Ding der Unmöglichkeit Buch Markus Orths’ «Picknick im Dunkeln»
erzählt von einer undenkbaren Begegnung. Einerseits: Stan Laurel (1890–1965), Filmkomiker und -autor, Regisseur, Produzent und als Filmpartner von Oliver Hardy («Stan & Ollie» aka «Dick & Doof») eine Legende. Ein be gnadeter Gagschreiber, dem die Ideen zufliegen. Ein Per fektionist, der nach dem Dreh noch stundenlang im Schnei deraum rumfeilt. Und ein Lebemann mit etlichen Ehen, Affären und Scheidungen. Andererseits: Thomas von Aquin (1125–1274), der bedeutendste katholische Theologe der Geschichte. Ein fest im Glauben verankerter Denker, dessen Argumentationen so sprudeln, dass er manchmal vier Se kretären gleichzeitig diktiert. Und ein Mönch mit zwei Lei denschaften: dem «Fressen» und dem Denken. Sieben Jahrhunderte Weltgeschichte liegen zwischen den beiden. Dass diese historischen Gestalten je hätten auf einandertreffen können, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Doch gerade darauf lässt sich der Autor Markus Orths in seinem Roman «Picknick im Dunkeln» ein und entführt uns in ein spannendes Gedankenexperiment, in dem nicht nur die Protagonisten, sondern auch wir Lesenden buch stäblich im Dunkeln tappen. Denn es ist ein finsterer, vollkommen lichtloser Tunnel, in dem sich Stan Laurel erst allein wiederfindet, bis er wort wörtlich über Thomas von Aquin stolpert. Ein rätselhafter Unort mit fugenlosen Wänden, durch den sie sich gemein sam tasten, auf der Suche nach einem Ausgang, nach Licht und nicht nur nach der Antwort auf die Frage, wo um Him mels willen sie eigentlich sind, sondern auch, was ausge rechnet sie beide hier zusammengeführt hat. Sich zu verständigen, ist nicht ganz einfach. Stan Laurel versteht mehr von Intuition als vom Denken und hat sein Leben damit verbracht, die Menschen zum Lachen zu brin gen. Thomas von Aquin hat noch nie vom Film oder von Amerika gehört und hat das letzte Mal mit fünf Jahren ge lacht, vor dem Eintritt ins Kloster. Danach nie wieder. Reden hilft. Vor allem auch die Erinnerungen, von denen sie einander erzählen. Und so entdecken sie in ihren Bio grafien Gemeinsamkeiten und Gegensätze, die Licht in das Warum ihrer Begegnung bringen. Grosse Fragen kommen dabei zur Sprache. Zu Leben und Tod, zu Wahrheit und Er kenntnis. Da sie gezwungen sind, sich einander verständlich zu machen, sind ihre Gespräche gut nachvollziehbar und machen den Roman zu einem Lesevergnügen. Das Ende, so viel sei hier verraten, ist selbst ein Ding der Unmöglichkeit. Ein filmreifes Rätsel, das ebenso zum La chen wie zum Denken anregt. C HRISTOPHER ZIMMER
Die Swiss Dance Days wurden 1996 gegründet. Vorbild waren die Rencontres chorégraphiques de Seine-Saint-Denis in Paris, ein Festival, das sich seit 1969 dem zeitgenössischen choreografischen Schaffen widmet. Die Swiss Dance Days sind eine Plattform zur Förderung der Schweizer Choreografie und finden alle zwei Jahre in einer anderen Stadt statt. Swiss Dance Days, Mi, 2. bis So, 6. Februar, Basel, diverse Spielorte. swissdancedays.ch Surprise 517/22
FOTO: ZVG
besitzt und was einem nah ist, den eigenen Körper eben. «Pantsula zum Beispiel ist eine Tanzform, die in den Fünfziger-, Sechzi gerjahren in Südafrika in Zeiten der Apartheid als Kampf gegen das System entstanden ist», sagt Beghetto. Nun nutzt der Cho reograf Jeremy Nedd die Kraft, die darin liegt, wiederum an den Swiss Dance Days in seinem Stück «The Ecstatic». Den Tanz als Mittel des Protests findet man auch andernorts auf der Welt. «In der Schweiz gibt es meines Wissens nichts Vergleichbares, wir haben es schon oft gesucht», sagt Beghetto. «Bei uns haben die Bewegung und der Körper als Ausdrucksmittel einen relativ klei nen Stellenwert. Und es kommt hinzu, dass wir nie eine solche Unterdrückung erlebt haben wie andere Länder. Es ist spannend zu beobachten, wo auf der Welt der Körper an erster Stelle steht. Ich denke da auch an die Proteste der Frauen in Südamerika ge gen Femizide, gegen die Unterdrückung. Sie gehen immer als Erstes mit ihrem Körper auf die Strasse. Er ist das erste Medium.» Der Schweizer Körper ist da eher funktional. Wir benutzen ihn, um vor dem Computer zu sitzen, zum Staubsaugen und Ko chen oder zum Joggen. Selbst in der Disco wippen wir gerade so mit, wie wir es halt etwa kennen. Wenn Menschen auf der Bühne nun plötzlich ganz andere Bewegungsmuster finden, kann das auf die einen fremd wirken, auf die anderen faszinierend. Sich verbiegende und sich dehnende, ruhige oder übermütige Körper: Wer den Kopf im Foyer lässt, lernt sie irgendwann lesen.
Markus Orths: «Picknick im Dunkeln» Roman. Hanser 2020. CHF 33.90
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BILD(1): JULIA WESLEY, BILD (2): ZVG, BILD(3): NACHLASS PAUL CAMENISCH FOTO: JÖRG MÜLLER, BILD(4): ANGELIKA ANNEN
Veranstaltungen Schaffhausen «Brahms: Das Herz geht einem dabei auf», 4. Schaffhausen Klassik-Konzert, Do, 27. Jan., 19.30 Uhr, St. Johann; O nline-Vorverkauf nutzen. schaffhausen-klassik.ch
danken, Ängsten und Hoffnungen hinsichtlich des eigenen Todes. Tags darauf dann das Kontrastprogramm für die Jüngsten: Das Bilderbuch «Dino und Donny» führt in eine zauberhafte nächtliche Parallelwelt, in der ein Dinosaurier durch die Stadt spaziert und einem kleinen Hund hilft, seinen Weg nach Hause zu finden. Der Zeichner Ueli Pfister ist der Sohn von Sofie Pfister, die in «Ausleben» porträtiert ist. DIF
Aarau «Köpfe, Küsse, Kämpfe. Nicole Eisenman und die Modernen», Ausstellung, Sa, 29. Jan., bis So, 24. Apr., Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch «Welch herrliche Melodien sind da zu finden! Es ist lauter Liebe und das Herz geht einem dabei auf.» Antonín Dvořák war begeistert von Johannes Brahms’ 3. Sinfonie, die in der Konzertreihe des Musik-Collegiums Schaffhausen zu hören sein wird. Eröffnet wird der Abend aber mit Felix Mendelssohns Konzertouvertüre «Das Märchen von der schönen Melusine», gefolgt von Richard Strauss’ Hornkonzert Nr. 1. Strauss schrieb das Werk mit nur 18 Jahren und wusste schon damals, wie er das Horn als SoloInstrument mit effektvoller Virtuosität aufs Podest heben konnte – immerhin gehörte sein Vater zu den berühmtesten Hornisten seiner Zeit. Und was sich daraus machen lässt, das wiederum weiss der junge Hornist Felix Klieser. Er ist in jeder Hinsicht ein aussergewöhnlicher Künstler: Mit fünf Jahren nahm er den ersten Hornunterricht, 2014 erhielt er den ECHO Klassik-Preis als Nachwuchskünstler des Jahres sowie den Musikpreis des Verbands der Deutschen Konzertdirektionen. Und im selben Jahr erschien seine Lebensgeschichte «Fussnoten – Ein Hornist ohne Arme erobert die Welt». DIF
Basel «Die kleinen grauen Zellen des Hercule Poirot», szenische Lesung, Do, 10. Feb., 19.30 Uhr, Allgemeine Lesegesellschaft, Münsterplatz 8. lesegesellschaft-basel.ch Vor mehr als hundert Jahren, 1920 , hatte Agatha Christies Detektiv Hercule Poirot seinen ersten Auftritt in der Kriminalliteratur. Poirot zieht noch immer, jedenfalls kommt ebenfalls am 10. Februar auch Kenneth Branaghs Verfilmung von «Death on the Nile» ins Kino: eine Geschichte, die vermutlich nach wie vor auch von einer gewissen Faszination für den britischen Kolonialismus und opulente Luxusdampfer lebt. Der Schauspieler und Zauberkünstler Michael Scheid taucht derweil in der Basler Lesegesellschaft in Agatha Christies Welt ein, indem er seine szenische Lesung mit «mentalmagischen Experimenten und Kunststücken des Gedankenlesens» anreichert. DIF
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Waltensburg/Vuorz, GR «Ausleben» und «Dino und Donny», Lesungen, Sa, 29. Jan., 20.15 Uhr und So, 30. Jan., 10.30 Uhr, Kulturhotel Ucliva. ucliva.ch
Die ehemalige Surprise-Redaktorin Mena Kost schreibt Bücher – und liest daraus: Im Porträtbuch «Ausleben» erzählen Frauen und Männer zwischen 83 und 111 von ihren Ge-
Um die menschliche Existenz, um gesellschaftliche Konventionen, soziale Konflikte oder Identitätsfragen geht es bei Nicole Eisenman. Sie spielt dabei mit Elementen von der Renaissance und der Historienmalerei bis hin zur Moderne, aber plötzlich sind da auch Aspekte der aktuellen Pop- und Subkulturen. Eisenman wurde 1965 in Verdun (FRA) geboren, wuchs in Scarsdale, New York State (USA) auf und lebt heute in Brooklyn. Über 70 ihrer Gemälde und Papierarbeiten aus allen Schaffensperioden werden nun in einen Dialog mit den Sammlungswerken des Aargauer Kunsthauses und der Partnerinstitutionen gestellt. Denn die Ausstellung geht auf Tournee und wird auch in der Kunsthalle Bielefeld, der Fondation Vincent van Gogh Arles und im Kunstmuseum Den Haag gezeigt. Indem Eisenmann etablierte kunsthistorische Referenzen und Formen zeitgenössisch auflädt, verändert sie unseren Blick auf die Bilder von Munch, Picasso oder van Gogh, die daneben hängen. Sie hat dabei ihre Lieblingsmotive: Paare und ihre Machtkonstellationen, kämpfende oder liebende Frauen,
Selbstporträts oder soziale Räume (konkret zum Beispiel Biergärten). Ausserdem hat sie ihr eigenes Ensemble von Figuren geschaffen: Amazonen, Comicwesen, Gestalten mit Knollennasen, überdimensionierten Händen oder Füssen. Die Figuren entstammen den unterschiedlichsten Zeiten und Sphären und erinnern mal an US-amerikanische Superhelden, dann wieder an Heilige aus der Renaissancemalerei. DIF
Online-Abo / Auf Tour «La Triada – Chantinadas», Lieder-Jahresabonnement und Live-Programm, Fr, 25. Feb., Kurhaus Bergün/GR; So, 6. März, Kirchzentrum Kradolf/ZH; Fr, 18. März, Cinema sil plaz Ilanz/GR; Sa, 23. Apr., Tournez la meule, Neuchâtel/NE. latriada.ch
Bereits Anfang 2020 (Corona, Corona …) hatte das A-Cappella-Trio «La Triada» (Corin Curschellas, Astrid Alexandre und Ursina Giger) die Idee, das Lieder-Jahresabonnement «Chantinadas», Rätoromanisch für «Singsang», zu lancieren. Mit regelmässig veröffentlichten Liedern soll nun das Publikum durch das Jahr 2022 begleitet werden. Es sind 25 in Vergessenheit geratene Volkslieder in den fünf rätoromanischen Idiomen, welche die Sängerinnen damit wieder unter die Leute bringen wollen. Zum Beispiel das Stück «Virola, virola». Sein Titel ist nur dem Anschein nach munter, handelt es doch vom Pockenvirus und ist damit wieder recht aktuell. Wer die «Chantinadas» abonniert, erhält alle zwei Wochen per Mail einen Hinweis, dass auf der Website ein neues Lied heruntergeladen werden kann. La Triada stellt jeweils einen Bezug zu passenden Anlässen her, etwa zum Chalandamarz, zum internationalen Frauentag, zum World Voice Day, zum Alpaufzug oder zum internationalen Tag des Kaffees. Mitgeliefert werden die Texte samt deutscher Übersetzung, Erläuterungen der Musikwissenschaftlerin Laura Decurtins und die Noten. DIF
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sen polarisierten Zeiten, einen Polit-Talk. Dieser findet allerdings recht spät statt um 21.20 und dauert nur bis 22.00. Es scheint ein gutsituiertes Quartier zu sein, stattliche Einfamilien- und Doppelhäuser in verschiedenen Baustilen des letzten Jahrhunderts, die meisten mit Garage, prägen das Bild, ein paar Reihenhäuser, aber auch diese mit Garten. Eine Sonnenbergstrasse findet sich und, als wäre das Berg- und Passthema damit nicht umfassend gewürdigt, ein Krachenrain samt Erklärung, dass es sich bei einem Krachen um einen steilen Gelände-Einschnitt, beim Rain um einen lang gezogenen Abhang handelt. Es ist lehrreich, die Strassenschilder zu studieren, neben geografischem eignet man sich auch Wissen über Mundartbegriffe an.
Tour de Suisse
Pörtner in Basel Surprise-Standort: Coop-Filiale Hauensteinstrasse Einwohner*innen (Stadt Basel): 200 408 Sozialhilfequote in Prozent: 6,7 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 37,7 Anzahl Bäume: 24 000
Die Hauensteinstrasse ist keine Passstrasse, wohl aber nach zwei Pässen benannt, dem oberen Hauenstein (731 m ü. M.) und dem unteren (691 m ü. M.), die eine Ecke wird mit der Scheltenstrasse gebildet, auch sie nach einem Pass benannt (1061 m ü. M.), die andere Ecke mit der Passwangstrasse, hier sagt der Name schon alles.
Stadtgebiet liegen. Es gibt einen Zigarettenautomaten, der tatsächlich benutzt wird. Vor einem Monat hat der längste Flohmarkt der Region stattgefunden. Etwas verschupft, zwischen Veloständer und Kellertreppe, ist eine Plakatwand aus Karton aufgestellt, die bei Wind und Regen wohl drinnen versorgt wird.
Auf dieser sanften Hügelkuppe sehnt man sich nach Passstrassen, nicht den grossen über die mächtigen Alpenpässe, sondern nach den voralpinen, die für das weitere Umland eine Rolle spielen. Trotzdem ist man dem Berggebiet verbunden, die Kleider- und Schuhsammlung wird von der Patenschaft für Berggebiete durchgeführt, eine fröhliche Bergbauernfamilie ist auf dem Sammelcontainer abgebildet. Die Grossverteilerfiliale und die umliegenden Häuser wirken ländlich, obwohl sie auf
Das Programm des Quartiertreffpunkts ist dicht gedrängt. Es läuft etwas, einfach nicht gerade jetzt und nicht gerade hier.
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Neben dem zu erwartenden Angebot an Yoga, Jassen, Kino- und Kinderprogramm werden auf Anregung aus dem Quartier, mehr Bänke aufzustellen, Sponsoren für dieselben gesucht, nebst Ideen für originelle Standplätze. Es gibt eine Quartiersprechstunde, die Neuzuzüger*innen werden willkommen geheissen und, mutig in die-
Die seltenen Kund*innen parken auf einem schmalen Asphaltstreifen, so schmal, dass mitunter die Pneus gegen den Randstein stossen und die Stille zerquietschen. Am Wochenende ist das Parken allerdings verboten. Ansonsten stehen die Autos einfach auf der Strasse, Markierungen gibt es keine, dafür weiter vorne eine veritable Allee, obschon nicht anzunehmen ist, dass Napoleons Armee je hier durchgezogen ist. Für diese seien Alleen angelegt worden, heisst es. Erst weiter hinten steht eine Hochhaussiedlung, auf dem Parkplatz ein Lamborghini mit ausserkantonalem Kennzeichen. Er gehört vielleicht einem erfolgreichen Fussballer, der hier aufgewachsen ist. Auf der Strasse ist keiner, einkaufen geht niemand. Es sind wohl alle am Arbeiten, beim Yoga oder beim Jassen.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27
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09
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13
.flowScope gmbh.
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iris schaad, zug & winti: shiatsu-schaad.ch
16
AnyWeb AG, Zürich
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Wir alle sind Surprise #515: Wir müssen reden
«Schwierige Sprache»
«Was können wir uns mehr wünschen?» Ein richtiges, grosses Weihnachtsgeschenk, die neueste Ausgabe des Surprise. Ermunterung zum Konsens in einer dunklen Zeit, was können wir uns mehr wünschen? Na klar: dass diese Pandemie endlich vorbei sein möge! Geduld, Geduld: ein Neunzigjähriger versuchte mich mal mit alters brüchiger Stimme zu trösten, als Mitte der Siebzigerjahre wieder mal eine Krise am festen Gebälk der Wirtschaft rüttelte und uns bange machte: «Nach meiner Erfahrung dauern Krisen selten länger als sechs Jahre!» Ich hab’s nicht vergessen und stelle mich entsprechend heute auf eine noch länger andauernde Dürrezeit in unserem Alltag ein. Aber ich bemühe mich, als inzwischen selbst über Achtzigjährige, Tag für Tag – trotz dreifacher Impfung – mich selbst und meine Mitmenschen mit Atemschutz, gründlichem Händewaschen, Abstand halten usw. zu schützen, so meinen Beitrag dazu zu leisten, dass diese weltweite Krise unser aller Leben hoffentlich doch etwas weniger lang plagen möge.
Herzliche Gratulation zur Nummer 514 – so vielfältig wie die Verkäufer! Wäre schön, wenn Sie diesen Perspektivenwechsel öfter mal machen. Ich lese das Magazin meist gerne, finde oft, dass der Inhalt ziemlich «hochgestochen» ist. Eine schwierige Sprache, die, ein Verkäufer hat es mir bestätigt, nicht verstanden wird. Viele sind nicht deutscher Muttersprache. Aber vielleicht sind die Verkäufer selber auch nicht Zielpublikum?
E. STADLER R AHMAN, Winterthur
U. BRECHBÜHL , ohne Ort
Anm. d. Red.:
#514: Wild
«Eine feine Idee» Seit Jahren kaufe ich das neuste Surprise am Bahnhof Thun. Schon von weitem heisst mich der Verkäufer strahlend willkommen. Mein Tag ist gerettet! Jedes Heft lese ich von A bis Z. Die interessanten Artikel und K olumnen erweitern meinen Horizont. Nr. 514 finde ich ganz besonders gut. Die «erweiterte Redaktion» war eine ganz feine Idee! Danke für eure Arbeit! Ä . DÄHLER, Thun
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Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12
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Surprise-Porträt
FOTO: RUBEN HOLLINGER
«Ich wollte im Sport weiterkommen» «Im März sind es genau fünfzehn Jahre, dass ich Surprise im Berner Länggass-Quartier verkaufe. Wenige Monate vorher, im Dezember 2006, bin ich in die Schweiz gekommen. Meine Heimat Eritrea habe ich verlassen, weil ich im Sport weiterkommen wollte. In Asmara war ich in einem internationalen Leichtathletik-Team und trainierte vor allem 100- und 200Meter-Lauf. Mit meinen Bestzeiten von 10,75 respektive 21,35 Sekunden hatte ich die Hoffnung, in Europa noch besser zu werden. So wie es zum Beispiel dem schweizerisch-eritreischen Marathonläufer Tadesse Abraham gelungen ist, der früher in Asmara im selben Team wie ich trainierte. Meine sportliche Karriere verlief jedoch nicht wie erhofft. Ich konnte zwar zweimal an Leichtathletik-Wettkämpfen teilnehmen, musste aber aus gesundheitlichen Gründen pausieren und schliesslich leider ganz aufhören. Sehr schön war, dass ich meine Schnelligkeit ein paar Jahre später im Strassenfussball-Team von Surprise Bern noch einmal einsetzen konnte. Ich spielte schon als Kind gern Fussball. Den Höhepunkt erlebte ich 2009, als ich für die Strassenfussball-Nationalmannschaft nominiert wurde und am Homeless World Cup in Mailand teilnehmen durfte. Das war eine coole Zeit, zuerst waren wir eine Woche im Tessin im Trainingslager, danach eine Woche lang am Homeless World Cup. Zusammen mit den anderen Teams aus insgesamt 47 Nationen wohnten wir in einem grossen Zeltlager – da wurde viel Musik gehört und gespielt, getanzt und gelacht, eine unvergessliche Zeit! Seither ist viel passiert. Ich habe lange eine Arbeit gesucht. Auf hunderte Bewerbungen kamen ebenso viele Absagen zurück, bis ich 2012 dank der Hilfe eines Kollegen endlich eine Stelle als Küchenhilfe im Kursaal Bern fand. Und: Ich bin mittlerweile zweifacher Vater. Meine Tochter ist gerade zehn geworden, mein Sohn wird bald sechs Jahre alt. Beide sind wie ich sportlich, die Tochter trainiert Aikido, der Sohn ist im Fussballclub. Sie wohnen bei der Mutter in einem Vorort von Bern, doch ich sehe sie fast jeden Tag. Momentan habe ich viel Zeit, weil die Kantine, in der ich seit ein paar Jahren arbeite, wegen der Homeoffice-Pflicht geschlossen bleibt. Obwohl ich lieber arbeiten gehen würde, hat die momentane Situation auch Vorteile. Wie gesagt, ich kann mehr Zeit mit den Kindern verbringen, und ich habe auch mehr Flexibilität beim Surprise-Verkauf. Ich kann ein paar Stunden verkaufen, dann nach Hause gehen und Pause machen, und mich dann vielleicht nochmals an meinen Standort stellen. Seit letztem März ist das für mich sowieso noch einfacher geworden, weil ich nun ganz in der Nähe meines Verkaufsplatzes an der Zähringerstrasse vor Migros und Denner zuhause bin. Nach vierzehn Jahren ist mein Wunsch endlich in Erfüllung 30
Seit fünfzehn Jahren ist Hayelom Ghebrezgiabiher, 35, ein bekanntes Gesicht im Länggass-Quartier. In Eritrea trainierte er im gleichen Team, in dem auch Marathonläufer Tadesse Abraham war.
gegangen: Ich wohne jetzt in der Länggasse. Von Anfang an habe ich mich dort wohlgefühlt. Ich habe so viele gute, freundliche und hilfsbereite Menschen kennengelernt, da dachte ich immer, hier möchte ich wohnen. Da es so ein beliebtes Quartier ist, ist es schwierig, eine Wohnung zu bekommen. Bis heute bin ich sehr dankbar für die Anteilnahme und die Hilfsbereitschaft der Leute im Länggass-Quartier. Als ich 2006 in die Schweiz kam, gab es hier noch nicht so viele andere Eritreer*innen, und Schweizer*innen kennenzulernen war auch nicht einfach, weil ich kaum Deutsch sprach. Also war ich oft allein. Wenn es dann zwischendurch passierte, dass ich eine Woche aus irgendeinem Grund nicht an meinem Verkaufsplatz war, fragten viele: Hayelom, wo warst du, wie geht es dir, warst du krank? Das hat mir sehr gutgetan – zu wissen, dass es die Leute ehrlich interessiert, wie es mir geht.»
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 517/22
BETEILIGTE CAFÉS
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
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Kultur Kultur
Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste
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CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE
Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke
BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG
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Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Erlebnis Erlebnis
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