Surprise-Porträt
FOTO: RUBEN HOLLINGER
«Ich wollte im Sport weiterkommen» «Im März sind es genau fünfzehn Jahre, dass ich Surprise im Berner Länggass-Quartier verkaufe. Wenige Monate vorher, im Dezember 2006, bin ich in die Schweiz gekommen. Meine Heimat Eritrea habe ich verlassen, weil ich im Sport weiterkommen wollte. In Asmara war ich in einem internationalen Leichtathletik-Team und trainierte vor allem 100- und 200Meter-Lauf. Mit meinen Bestzeiten von 10,75 respektive 21,35 Sekunden hatte ich die Hoffnung, in Europa noch besser zu werden. So wie es zum Beispiel dem schweizerisch-eritreischen Marathonläufer Tadesse Abraham gelungen ist, der früher in Asmara im selben Team wie ich trainierte. Meine sportliche Karriere verlief jedoch nicht wie erhofft. Ich konnte zwar zweimal an Leichtathletik-Wettkämpfen teilnehmen, musste aber aus gesundheitlichen Gründen pausieren und schliesslich leider ganz aufhören. Sehr schön war, dass ich meine Schnelligkeit ein paar Jahre später im Strassenfussball-Team von Surprise Bern noch einmal einsetzen konnte. Ich spielte schon als Kind gern Fussball. Den Höhepunkt erlebte ich 2009, als ich für die Strassenfussball-Nationalmannschaft nominiert wurde und am Homeless World Cup in Mailand teilnehmen durfte. Das war eine coole Zeit, zuerst waren wir eine Woche im Tessin im Trainingslager, danach eine Woche lang am Homeless World Cup. Zusammen mit den anderen Teams aus insgesamt 47 Nationen wohnten wir in einem grossen Zeltlager – da wurde viel Musik gehört und gespielt, getanzt und gelacht, eine unvergessliche Zeit! Seither ist viel passiert. Ich habe lange eine Arbeit gesucht. Auf hunderte Bewerbungen kamen ebenso viele Absagen zurück, bis ich 2012 dank der Hilfe eines Kollegen endlich eine Stelle als Küchenhilfe im Kursaal Bern fand. Und: Ich bin mittlerweile zweifacher Vater. Meine Tochter ist gerade zehn geworden, mein Sohn wird bald sechs Jahre alt. Beide sind wie ich sportlich, die Tochter trainiert Aikido, der Sohn ist im Fussballclub. Sie wohnen bei der Mutter in einem Vorort von Bern, doch ich sehe sie fast jeden Tag. Momentan habe ich viel Zeit, weil die Kantine, in der ich seit ein paar Jahren arbeite, wegen der Homeoffice-Pflicht geschlossen bleibt. Obwohl ich lieber arbeiten gehen würde, hat die momentane Situation auch Vorteile. Wie gesagt, ich kann mehr Zeit mit den Kindern verbringen, und ich habe auch mehr Flexibilität beim Surprise-Verkauf. Ich kann ein paar Stunden verkaufen, dann nach Hause gehen und Pause machen, und mich dann vielleicht nochmals an meinen Standort stellen. Seit letztem März ist das für mich sowieso noch einfacher geworden, weil ich nun ganz in der Nähe meines Verkaufsplatzes an der Zähringerstrasse vor Migros und Denner zuhause bin. Nach vierzehn Jahren ist mein Wunsch endlich in Erfüllung 30
Seit fünfzehn Jahren ist Hayelom Ghebrezgiabiher, 35, ein bekanntes Gesicht im Länggass-Quartier. In Eritrea trainierte er im gleichen Team, in dem auch Marathonläufer Tadesse Abraham war.
gegangen: Ich wohne jetzt in der Länggasse. Von Anfang an habe ich mich dort wohlgefühlt. Ich habe so viele gute, freundliche und hilfsbereite Menschen kennengelernt, da dachte ich immer, hier möchte ich wohnen. Da es so ein beliebtes Quartier ist, ist es schwierig, eine Wohnung zu bekommen. Bis heute bin ich sehr dankbar für die Anteilnahme und die Hilfsbereitschaft der Leute im Länggass-Quartier. Als ich 2006 in die Schweiz kam, gab es hier noch nicht so viele andere Eritreer*innen, und Schweizer*innen kennenzulernen war auch nicht einfach, weil ich kaum Deutsch sprach. Also war ich oft allein. Wenn es dann zwischendurch passierte, dass ich eine Woche aus irgendeinem Grund nicht an meinem Verkaufsplatz war, fragten viele: Hayelom, wo warst du, wie geht es dir, warst du krank? Das hat mir sehr gutgetan – zu wissen, dass es die Leute ehrlich interessiert, wie es mir geht.»
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 517/22