Startbereit mit Sack und Pack, den Frust hinter sich zu lassen – nimmt die Reiselust nach der Quarantäne massiv zu?
Der Mythos vom „Rachetourismus“ Immer wieder aufs Tapet gebracht werden Stereotypen und Mythen, die über Jahre und Jahrzehnte in der Tourismusbranche verbreitet werden, ohne dass sich jemand wirklich die Mühe macht, objektiv nachzuforschen, wie denn nun die Wirklichkeit aussieht. In dieser Ausgabe nehmen die Münchner Tourismusund Sozialwissenschaftler Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl den „Rachetourismus“ unter die Lupe und klären, ob nach dem coronabedingten Urlaubsfrust nun tatsächlich die Reiselust enorm ansteigt. Teil 14 der Serie Text: Dr. H. Jürgen Kagelmann und Dr. Walter Kiefl
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Mythos: Gibt es einen „Rachetourismus?“
Die Touristik ist nicht arm an sprachlichen Neuschöpfungen, die – näher betrachtet – meist unsinnig sind. Gerade in den letzten Jahren treten immer mehr Werbeleute, Marketingmanager und Public-Relation-Fachleute auf, die – wenn es ihnen auch an Ideen mangelt – wenigstens mittels „kreativer“ Wortschöpfungen etwas Originelles und Aufsehenerregendes präsentieren wollen. Sachlichen oder gar wissenschaftlichen Wert haben diese Neologismen nicht. Ein aktuelles – und von einigen Fachleuten sogar ernst genommenes – Beispiel ist der sogenannte „Rachetourismus“ oder „Revenge Travel.“ Dabei soll es sich um die psychologische Befindlichkeit von „Reiselustigen“ handeln, die wegen der vielfältigen coronabedingten Ein- und Beschränkungen, Ge- und Verbote in den ver-
gangenen eineinhalb Jahren nicht dazu gekommen sind, ihre „Reisetriebe“ auszuleben, weshalb sich in ihnen ein beträchtlicher Unmut aufgestaut hat, der sie dazu bringt, ihre Reiselust zu „rächen“. Im Prinzip handelt es sich um nichts anderes als eine Variante der bekannten Nachhol-Idee zwangsweise aufgeschobener Absichten: Ausgefallener Urlaub muss nachgeholt werden, wenn die Zeiten „besser“ sind. Wer das „Rachereisen“ unlogisch findet, denkt nur vernünftig. Nachfolgend einige Argumente gegen dieses definitorisch unsinnige und nicht belegbare Konzept: | Fehlendes Racheobjekt | „Rache“ setzt ein Objekt voraus, auf das sie sich – berechtigt oder unberechtigt – richtet. Wenn reiseinteressierte Menschen nach dem Abbrö22
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ckeln der Corona-Einschränkungen nun vermehrt verreisen möchten: An wem wollen sie sich damit rächen? An der dafür verantwortlich gemachten Politik, den Epidemiologen, den Reiseanbietern, den Fluglinien oder ...? | Fehlende Wirksamkeit | Das Konzept der Rache beinhaltet auch Vorstellungen, wie der Rachewillige dem Objekt seiner Rache Schaden zufügen kann. Wenn jemand seine frustrierten Reisewünsche damit „rächt“, dass er nun mehrfach verreist, schadet er allenfalls der Umwelt, seinem Geldbeutel oder – in manchen Zielgebieten – den von einer touristischen Überbelastung betroffenen Einheimischen, aber nicht den dafür verantwortlich gemachten Politikern, Epidemiologen, Ordnungskräften oder Viren.
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