"die beste Zeit", Juli-September 2020

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Fritz Gerwinn stellt vor:

World Wide Wunderkammer Im Mai 2020 ist Holger Noltzes neues Buch erschienen, wichtig für alle Kulturinteressierte, die dem Internet in dieser Hinsicht noch mehr oder weniger misstrauen. Er schloss das Buch am ersten Tag des Lockdowns ab. Die CoronaEinschränkungen haben das Internet in den Vordergrund gerückt, das steigert die Aktualität des Buches aber noch mehr. World Wide Wunderkammer ist die Fortsetzung des Buches Die Leichtigkeitslüge von 2010, nach wie vor sehr lesenswert. Darin bespricht Noltze, wie Kunst, vor allem Musik, heute vermittelt wird, und schlägt vor, statt der Produktion von Häppchen die Nährwerte von Kunst und ästhetischer Erfahrung neu zu entdecken, tiefer zu graben. Wer das tut, kann dabei „spielerischsinnlich und höchst unterhaltsam etwas Wesentliches üben: den furchtlosen Umgang mit Komplexität.

Holger Noltze, Professor in Dortmund, weiß genau, wovon er redet. Eins seiner Hautthemen ist die Musikvermittlung, was er auch als Mitbegründer der Website www.takt1 vermittelt. Das neue Buch ist so vielschichtig und reich an Aspekten, dass vieles nur angedeutet werden kann. Trotz aller Komplexität ist es griffig formuliert. Das neue Buch trägt den Untertitel Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution. Gefragt wird, was im Internet in kulturell-ästhetischer Hinsicht passiert und wie man dort in tiefere Schichten vordringen kann. Zwei Kapitel dienen der Bestandsaufnahme, es wird analysiert und problematisiert. Im letzten Kapitel folgen Vorschläge für einen besseren Umgang mit dem Internet. Im Vorwort stellt Noltze fest, dass die Digitalisierung sehr wirksam ist, aber die Gefahr der Reduktion von Komplexität birgt. Er will fragen, was das Internet mit dem „guten 66

Inhalt“ macht, wie sich die Art der ästhetischen Erfahrung dadurch verändert. „Wir haben das Internet als Ort und Medium ästhetischer Erfahrung noch nicht verstanden ... und überlassen aus Überforderung, Bequemlichkeit und Ignoranz den clickbait-Populisten und selbsternannten Web-Gurus das Feld.“ Er will die Bedeutung der neuen technischen Möglichkeiten für die ästhetische Erfahrung erkunden, nach der qualitativen Dimension der Beschäftigung mit Kultur fragen. Angedeutet wird hier schon, was später breiter ausgeführt wird: er regt an in der digitalen Welt eine Wunderkammer einzurichten (so eine gab es auch schon bei Petrosilius Zwackelmann), als einen begrenzten Ort, an dem man alles für sich selbst Interessante zusammenträgt, Verschiedenstes nebeneinander. Welche Meinungen über das Internet im öffentlichen Raum kursieren, wird im 1. Teil, Kritik der digitalen Dummheit, referiert und z.T. zitiert. Beispiel: „Nicht die digitalen Medien befördern den Analphabetismus, sondern umgekehrt: Analphabetismus verhindert, digitale Medien kritisch und selektiv zu benutzen.“ (Flaschlehner) Auch wird dargestellt, dass es nichts nutzt, wenn in allen Schulen tatsächlich Geräte stehen würden, „denn: erstens muss der Umgang mit dem neuen smarten Zeug erst gelernt, zweitens ein Sinn dafür entwickelt werden, wann es überhaupt nützlich ist und wann nicht.“ Noltze schildert auch seine massive Fremderfahrung von der gamescom, wo junge Männer vornehmlich ballerten, für tiefer gehende Dinge taub waren. Interessanterweise deckt sich seine Erfahrung hier mit der Meinung der Digitalexpertin Verena Pausder, die diese in der Sendung „hart aber fair“ vom 25. Mai 2020 äußerte: „digital natives“ seien in den meisten Fällen lediglich „digital consuments“. Wenn das digitale Gerät wie ein Gameboy benutzt wird, habe es keinen Wert. Beim Surfen nach kulturorientierten Websites stößt der Autor auf eine immense Fehler-Unkultur. Viele, aber nicht alle Surfergebnisse kommen schlecht weg, zumal die von großen Firmen: zu kurz, zu knapp, wenig Tiefgang. Positiv herausgehoben wird der Auftritt des Frankfurter StädelMuseums. Es erfüllt in hervorragender Weise den Auftrag, Kunst als Medium ästhetischer Erfahrung und Erkenntnis öffentlich zu machen, auch durch die Tiefe der redaktionellen und kuratorischen Arbeit.


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