"die beste Zeit", April-Juni 2021

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Heilmatland

Ein Beitrag zur Kunstreligion mit Joseph Beuys in Wuppertal von Bazon Brock

Barmen und Elberfeld waren einmal Heiligland. Mit starker Emphase, wie in mittelalterlichen Zeiten üblich, feierte man sonntagsselig noch bis ins 19. Jahrhundert hinein die Städte im Tal der Wupper als zu denkendes, vorzustellendes Jerusalem. Vor allem die vielen freikirchlichen Sekten übertrugen die angestammten Abläufe von Prozessionen und Ritualen auf die Begehung des städtischen Lebensraums, als ob man eine Erinnerung an die Topografie des geografisch gegebenen Jerusalem ausleben wollte. Das von der heiligen Helena, der Mutter des ersten christlichen römischen Kaisers, initiierte Gebäude der Grabeskirche Christi wurde allenthalben im Modell kopiert; „Zionsberge“ luden sogar auf dem „platten Land“ zu simulierten „Reisen nach Jerusalem“ ein. Das bekannteste Beispiel hochliterarischer Repräsentation des heilsgeschichtlichen Geländes bietet zu Ende des 19. Jahrhunderts Theodor Fontane, der allerdings als volkstümliche Legende ausgibt, was tatsächlich Apostelgeschichte ist: Jesus trifft vor dem Schafstor Jerusalems auf einen Krüppel, der ihm erzählt, dass er wie viele andere auf die Gelegenheit warte, bei dem leider nicht vorhersehbaren Brodeln des Sees vor ihren Augen als Erster ins Wasser zu gelangen und so geheilt zu werden. Wenn Fontane das Brodeln und Kochen des Stechlin-Sees als Zeichen weltweiter

Katastrophendrohung wiedergibt, entgeht ihm der Kern der Erzählung, dass das Schäumen des Sees auf Heilstaufe im Zusammenbruch der profanen Welt hinweist. Wie erklärt man sich derartiges Erleben? Gilt für gläubige Christen bei der Begehung des Vorstellungsraums Jerusalem in der realen Stadt das Gleiche, was für „Theatergläubige“ angenommen wird, nämlich unmittelbar in der eigenen Sinnlichkeit zu realisieren, was auf der Bühne ausdrücklich als bloße Simulation vorgeführt wird? Das reicht wohl nicht. Stanislawskis Postulat verpflichtet den Schauspieler, jene Gefühle in sich zu erzeugen, die er beim Zuschauer ansprechen soll. Zwischen Schauspieler und Zuschauer entsteht ein paralleler Swing wie beim Paarlauf auf dem Eis. In der Imitatio Christi übte man sich in den Parallelswing mit Jesus ein, der in der Vorstellung als innerpsychische Realität wirksam wurde. Schon vor Stanislawski versuchte etwa Madame Blavatsky, hinduistische Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Körper und Seele, der Psychosomatik, auf europäische Übungstraditionen, auf die Askese zu übertragen, der zufolge es der Geist sei, der sich die Körper forme. (Der makabre Benn bezichtigt in diesem Zusammenhang Friedrich Schiller, Selbstmörder gewesen zu sein, weil sein Geist schon nach 46 Jahren dem Körper die Lizenz zum Leben entzogen habe.) Mit Verweis auf Rudolf Steiner, der Blavatskys hinduistische Theosophie/Verehrung der Götter in europäische Anthroposophie/Würdigung des Menschseins überführt

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