"die beste Zeit", April-Juni 2021

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Keine Heuchler an seinem Grab Christiane Gibiec hat das Buch „Rotter Blüte“ von Hans Werner Otto gelesen

Arthur Gießwein Foto: privat

In der biografischen Erzählung „Rotter Blüte“ rollt Hans Werner Otto die schier unglaubliche Geschichte des Wuppertaler Antifaschisten Arthur Gießwein auf und zeichnet gleichzeitig ein lebendiges Porträt des Barmer Stadtteils Rott. Da steht sie, die „Rotter Blüte“, auf dem Titelfoto des gleichnamigen Buches. Die Aufnahme von 1927 zeigt eine Gruppe von Jungen und Mädchen vom Rott, fröhlich, selbstbewusst, die starke Verbundenheit ist den Kindern anzusehen. Zu ihnen gehören die Geschwister von Arthur Gießwein, der, 1904 als uneheliches Kind geboren, mit Mutter, Stiefvater und einer großen Geschwisterschar auf dem Rott in Barmen aufwächst. „Rotter Blüte“ heißt auch die biografische Erzählung, in der der Autor Hans Werner Otto die außergewöhnliche Lebensgeschichte des Arthur Gießwein nachvollzieht. Um es gleich vorwegzunehmen: Dieses Leben, und damit auch das Buch, ist eine Wucht, ein zeitweise atemberaubender Parcours durch das kriegsgeschüttelte Europa, bestimmt vom antifaschistischen Widerstand, von der Suche nach einer politischen Heimat, von unbeugsamer Auflehnung gegen den Zeitgeist, von Angst und Flucht. Aus von Arthurs Sohn Rainer Gießwein zusammengestellten Dokumenten und Berichten hat Otto dieses Leben nachgezeichnet und da, wo es Leerstellen gibt, behutsam und poetisch rekonstruiert. Manchmal kreist er ungeklärte Fragen ein, stellt Mutmaßungen an, wie es gewesen sein könnte.

Das bringt immer wieder Ruhe in den drängenden, komplexen, faktenreichen Text, der einen so in die Geschichte hineinzieht, dass man beim Lesen gelegentlich auftauchen muss, um Luft zu holen. So entsteht eine reizvolle, unbedingt lesenswerte Mischung aus Dokumentation und Literatur, angereichert mit der Geschichte des Antifaschismus in Wuppertal und darüber hinaus. Gleichzeitig gelingt dem Autor ein liebevolles Porträt des „roten“ Stadtteils Rott, „wo die Sozialdemokratie der preußischen Rheinprovinz ihr Zentrum hat und das ‚Milieu‘ in den Arbeitervierteln mit seinen zahlreichen Gesangs-, Wander-, Spar- und Sportvereinen, schreienden Kinderhorden, roten Fahnen und Blaskapellen, Stammtischen und den Warteschlangen vor den Verkaufsstellen der Konsumgenossenschaft Alltagsleben und Straßenbild bestimmt.“ Im Juli 1932 - Arthur ist Mitglied der KPD, hat geheiratet und ist Vater geworden - erlebt er den Wahlkampfauftritt des KPD-Führers Ernst Thälmann im Stadion am Zoo, der 56 000 Zuhörerinnen und Zuhörer anzieht, alles ist voller roter Fahnen. Am nächsten Tag tritt der Nazi Goebbels ebenfalls im Zoo auf, die SA marschiert und wird von den Linken mit Steinen beworfen. In Wuppertal toben Streiks gegen den Lohnabbau und Straßenkämpfe zwischen Roten und Faschisten. Arthur verteilt Flugblätter und wird verhaftet, glücklicherweise landet er nicht wie viele andere im Konzentrationslager Kemna - das bis heute als eines der brutalsten Lager der Nazis gilt -, sondern „nur“ im Gefängnis Bendahl. Als er entlassen wird, heißt die Haspeler Straße Adolf-Hitler-Straße. In Amsterdam gründet sich 1935 ein Wuppertal-Komitee, das die Nazi-Verbrechen gegen die Wuppertaler Gewerkschafter und Kommunisten anprangert. Arthur Gießwein, der zunehmend unter Druck gerät, verlässt Frau und Kind, geht nach Holland und nennt sich dort Jan Aage. Die Antifaschisten in Holland werden zur Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg aufgerufen. Arthur organisiert von Amsterdam aus die Reisen der Freiwilligen über Frankreich nach Spanien und schließt sich selbst den Kämpfern an. In Madrid wird er zum Oberleutnant befördert, dann bei einem Bombenangriff der Faschisten verschüttet und liegt sechs Wochen im Koma.

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