Bazon Brock
Wiedergeburten?
Friedrich Engels frisst Cola wie die Revolution ihre Kinder
In den 1970er-Jahren wurde vom Barmer Engels-Haus eine bestimmte historische Epoche als geeignetes Feld der experimentellen Geschichtsschreibung eröffnet. Experimentelle Geschichtsschreibung ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Namen Uchronie-Forschung vor allem bei Militärs populär, die sich fragen, was gewesen wäre, wenn ... Cäsar nicht ermordet worden wäre, aber Napoleon doch von der eifersüchtigen Josephine. Auf den ersten Blick scheint das eine Kinderfrage zu sein, auf den zweiten und dritten aber ist es sehr sinnvoll, jede Handlung und Entscheidung von Menschen mit Blick auf Alternativen im Spektrum des prinzipiell Möglichen zu kennzeichnen und zu bewerten. Denn historische Entwicklungen, die geschichtlich wurden, folgen keineswegs den immer wieder beschworenen Sachzwanglogiken oder denen der Psychopathologie. Seit Shakespeares experimenteller Geschichtsschreibung auf der Bühne ist das uchronische Denken „Was wäre gewesen, wenn ...“ um eine Sinnebene erweitert worden: „Was wäre, wenn wir aus konkreter Geschichte etwas lernten?“ In der Ausbildung von Militärs wurde „Cannae“ so zum Lehrbeispiel für Umfassungsschlachten, für säkulare Zivilisten hieß die Antwort generell: „Das darf uns nicht noch einmal passieren!“ Was wollte Friedrich Engels aus dem Beispiel Cola di Rienzos lernen oder sogar gelernt haben, als er in den allfälligen Kaffeekränzchen und an den Debattierstammtischen des Biedermeier seinen poetischen Erguss zu den römischen Großereignissen der 1340er-Jahre vortrug respektive vortragen ließ? Eine Antwort kann man durchaus gut begründet geben, wenn man die parallel zu Engels’ Hymnik von Richard Wagner konzipierte Huldigung an Cola und den damals populären Roman von Bulwer-Lytton über das Leben des Volkstribuns als durchaus zeittypisch zu Rate zieht. Offensichtlich ging es Engels wie Wagner um eine sinnvolle und angemessene Reaktion auf die Niederschlagung der Juli-Revolution des Jahres 1830 in Paris bzw. auf
den Verrat dieser Revolution durch das Bürgertum, nachdem dieses der Inthronisierung des Bürgerkönigs Louis Philippe aus dem Hause Orléans anstelle des Bourbonen Karl X. zugestimmt hatte. Die Antwort, die zum Beispiel Eugène Delacroix mit seinem Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ gegeben hatte, blieb unbefriedigend, denn es reichte wohl doch nicht, sich als „schlotternder Hosenscheißer“ unter dicken Brückengewölben aus dem aktuellen Kampf herauszuhalten, wie es Delacroix laut Zeitzeugen im Juli 1830 getan hatte, um dann seine eigene Rolle in der Gestalt des zylinderbewehrten Bürgers in seiner Bilderzählung zum Mut des Wankelmütigen zu überhöhen. (Die 1848er-Revolutionäre haben denn auch Delacroix’ Gemälde zu den Ereignissen von 1830 als reaktionären Mist entsorgt.) Die Juli-Ereignisse 1830 waren ein Versuch, gleichzeitig die römisch-französische Republik und das Empire Napoleons vor der Auslöschung von Geschichte zu bewahren, denn die Restauration nach dem Wiener Kongress 1815/16 ließ sich nur durch die Polizeidiktatur Metternichs behaupten, die sich gegen jegliche geschichtliche Weiterentwicklung rigoros zur Wehr setzte und in Frankreich zur Wiedereinsetzung des vorrevolutionären Herrschergeschlechts der Bourbonen führte. Bulwer-Lytton, Engels, Wagner, ja, die gesamte Undercover-Gesellschaft des angeblich so harmlosen Biedermeier suchte nach einem Ereignis in der europäischen Geschichte, das zu erörtern die verbotene Analyse des revolutionären Potenzials in der Epoche der Restauration ersetzen konnte. Und dieses Ereignis bot ihnen die Geschichte des Cola di Rienzo. Cola wollte als eine Art Bildungsenthusiast und Erkunder der Regeln sozialer und politischer Entwicklungen in der Geschichte die tödlichen Machtkonflikte im Rom des 14. Jahrhunderts und speziell der Jahre 1347 bis 1354 in eine wünschenswerte Zukunft überführen. Er glaubte, nach Diskussionen mit ersten Humanisten wie 9
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