Wenn Gott singt wie Leonard Cohen Martin Kindervater gelingt eine bunte Inszenierung von Albert Camus‘ düsterstem Stück „Das Missverständnis“.
Die Wuppertaler Kulturjournalistin AnneKathrin Reif ist nicht nur beste-Zeit-Autorin, sondern auch promovierte Philosophin und Camus-Spezialistin. Frank Becker sprach mit ihr über die Inszenierung von Albert Camus’ Drama „Das Missverständnis“ an den Wuppertaler Bühnen. Frank Becker: Das Wuppertaler Theater hat ja ein gewisses Wagnis unternommen, indem es „Das Missverständnis“ ins Programm nimmt – nicht wissend, wie das Publikum dieses umstrittene Stück aufnehmen wird – Anne-Kathrin Reif unterbricht: Inwiefern denken Sie denn, das Stück sei umstritten?
Ich habe nachgelesen, dass es bei der Uraufführung total durchgefallen ist. Das stimmt. Bei der Uraufführung 1944 im Pariser Théâtre des Mathurins war „Das Missverständnis“ ein Flop. Aber auch die anderen Stücke von Camus waren lange Zeit nicht gerade Renner. Man warf ihnen vor, zu handlungsarm, zu gedankenlastig zu sein. Heute ist das offenbar längst kein Grund mehr, sie nicht zu spielen. Camus ist mindestens seit 2013, dem Jahr seines 100. Geburtstages, wieder allgegenwärtig auf deutschsprachigen Bühnen.
Lassen Sie uns kurz zusammenfassen, worum es geht. Ganz kurz: Mutter und Tochter führen in einer abgelegenen osteuropäischen Gegend einen Gasthof und vergiften die allein reisenden, vermögend erscheinenden männlichen Gäste, um ihnen ihr Geld abzunehmen und so ihren eigenen Traum vom Leben in einem sonnigen Land am Meer zu verwirklichen. Nach vielen Jahren Abwesenheit kehrt der zu Wohlstand gelangte Sohn und Bruder zurück, um ihnen genau das zu ermöglichen, gibt sich aber nicht gleich zu erkennen. Mutter und Schwester ermorden ihn wie die anderen. Bei mir liegt die Leseerfahrung von Camus fast 50 Jahre zurück, Sie sind eine profunde Kennerin seines Werkes – da wir beide also die Inszenierung aus ganz verschiedenen Blickwinkeln gesehen haben, möchte ich natürlich wissen: Wie haben Sie die Wuppertaler Bearbeitung aufgenommen? Ich finde sie ja sehr spannend. Mir gefällt sie auch ausgesprochen gut! Die Geschichte ist ja im Prinzip schnell erzählt, und man weiß, dass sie nicht gut ausgeht – da kommt es natürlich sehr drauf an, die Zuschauer trotzdem mitzunehmen und bei der Stange zu halten. Und das gelingt dem Regisseur Martin Kindervater, vor allem aber dem großartigen Ensemble. Die Verkörperung der Charaktere ist in jeder Rolle fantastisch.
Was, glauben Sie, ist der Grund dafür? Seine Themen sind einerseits zeitlos, andererseits gerade heute von größter Aktualität. Denken Sie nur an Machtmissbrauch, Größenwahn, Willkürherrschaft und Duckmäusertum in „Caligula“ oder Auflehnung und die Frage nach der Rechtfertigung von Terror in „Die Gerechten“. Und in „Das Missverständnis“ geht es um den Traum vom Glück um jeden Preis, aber auch um grundsätzliche Fragen des menschlichen Miteinanders – die Sehnsucht nach dem „Erkannt-Werden“, die Frage, wie viel wir von uns preisgeben, wie viel Vertrauensvorschuss braucht man? Und im Hintergrund – wie immer bei Camus – steht die große Frage nach dem Sinn des Ganzen.
Mich hat der Einsatz der Musik sehr begeistert. Obwohl Camus sie gar nicht kannte, ist es so, als gehörte sie zum Stück. Äußerst effektiv fand ich auch, die Maria durch das ganze Ensemble spielen zu lassen. Also, Charles Trenets „La Mer“, das am Ende erklingt, hat Camus sicher gekannt ... Aber Sie haben natürlich recht, was die heutigen Songs angeht und insofern Camus das Stück gewiss ohne Musik gedacht hat. In der Inszenierung transportiert die Musik auf stimmige Weise sehr viel Atmosphäre. Was die Aufteilung der Maria auf alle Spieler angeht, hatte ich zunächst meine Schwierigkeiten – am Ende fand ich es aber doch ganz überzeugend.
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