FLUCHT AUS DER UKRAINE
Schulausflug in den Frieden Lehrerinnen und Schüler_innen einer Schule im ukrainischen Charkiw sind vor der russischen Armee ins litauische Vilnius geflohen. Die Direktorin hofft auf eine baldige Rückkehr. Text und Fotos: Sead Husic
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ädchen und Jungen rennen durch die Flure. Es herrscht Unruhe in den Klassen, bevor der Unterricht beginnt. Ein scheinbar unbeschwerter, ganz normaler Tag in der Schule Varnu Sala (Kräheninsel) in einem beschaulichen Vorort der litauischen Hauptstadt Vilnius. Doch normal ist hier nichts. Die Lehrerinnen und Schüler_innen sind erst vor wenigen Tagen aus Charkiw gekommen, einer umkämpften Stadt im Osten der Ukraine. Anfang April lagen Teile der Stadt in Trümmern, immer wieder flogen russische Bomber Angriffe. Die Menschen suchten Schutz in Kellern und Tiefgaragen oder flohen. Die Litauerin Irena Pranskevičiutė, die seit vielen Jahren im Bildungswesen ar-
36 AMNESTY JOURNAL | 03/2022
beitet, hat viele Kontakte zu Schulen in der gesamten Ukraine. Kurz nach Kriegsbeginn erhielt sie eine ungewöhnliche Anfrage. Die Direktorin der Schule Gravitacija in Charkiw wollte wissen, ob man nicht ihre gesamte Schule in Vilnius unterbringen könne. Irena Pranskevičiutė griff die Idee sofort auf, wandte sich an die Inhaberin der Privatschule Varnu Sala, organisierte gemeinsam mit ihr und einer Lehrerin private Unterkünfte in der Nähe der Schule und rief zu Spenden auf. Margerita Pilkauskaite hat die Schule erst vor wenigen Monaten gegründet. Deswegen besuchen bisher nur 30 die für etwa 200 Schüler_innen ausgelegte Schule und niemand muss nun enger zusammenrücken. »Ich habe alle Eltern gefragt, was sie von der Idee halten, die Schule für ukrainische Schüler zur Verfügung zu stellen. Und alle waren dafür«, sagt Pilkauskaite.
Zu den ersten, die kamen, gehörte die Direktorin der Gravitacija, Ekaterina Strelchenko, und ihre zwölfjährige Tochter. Ihr Mann und ihr Sohn seien in Charkiw geblieben, um zu kämpfen, erzählt sie. »Noch vor wenigen Wochen haben wir ein ganz normales Leben geführt, und in der Schule liefen die Vorbereitungen für unser alljährliches Frühlingsfest, das wir am 5. März feiern wollten. Wir hatten absolut keine Vorstellung davon, was uns bevorstehen würde. Am 23. Februar sind wir wie immer nach der Schule nach Hause gegangen. Und nur eine Nacht später war alles anders.« Zunächst habe sie gedacht, nach wenigen Tagen sei alles ausgestanden, berichtet Strelchenko. »Dass Russland Städte, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten bombardiert, habe ich nicht für möglich gehalten.« Zwischendurch klingelt ihr Mobiltelefon. Es melden sich weitere Schüler_innen