Amnesty Journal Mai/Juni 2022

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KUNST AUS MAROKKO

Das Leben im Dazwischen Rigide Konventionen, Kolonialismus, Sprachlosigkeit – die marokkanische Künstlerin Myriam El Haïk macht die Ambivalenzen von Gesellschaften im Wandel sichtbar. Ihre Mittel sind filigrane Zeichnungen und musikalische Muster. Von Elisabeth Wellershaus

R

abat im Jahr 2017. Ein paar hundert Meter vom marokkanischen Parlament entfernt erzählt Myriam El Haïk bei einem Workshop vom komplizierten Leben zwischen Maghreb und Europa. Es geht um die Arbeitsbedingungen von Künstler_innen, die sich in Marokko gegen rigide Konventionen und in westlichen Großstädten gegen Eurozentrismus wehren. Die Galerie Le Cube, in der die Künstlerin spricht, liegt in einem schönen alten Stadthaus. El Haïk kennt die Räume bereits seit Kindertagen, denn ihre Großmutter lebte einst in ihnen. El Haïk hatte in dieser Galerie eine Ausstellung, bei der sie eine Installation mit dem Titel »Bit Lgless« zeigte, die ihrer Großmutter gewidmet war: ihrem Wohnzim-

Wall drawing N°4, 2011. Myriam El Haïk bei der Arbeit. Foto: Elodie Laleuf

66 AMNESTY JOURNAL | 03/2022

mer, ihrer Gastfreundschaft und ihrem ungewöhnlichen Leben. Das interaktive Kunstwerk war dem traditionellen marokkanischen Wohnzimmer nachempfunden. Bunte Schaumstoffelemente, die auf dem Boden lagen, symbolisierten die bodennahen Sofas und Kissen, die El Haïk aus der Wohnung ihrer Großmutter kannte. Doch waren die Elemente in ihrer Installation flexibel und beweglich und beschrieben damit vielleicht die soziale Mobilität, die die Künstlerin bei den Frauen ihrer Familie beobachtet hatte. Ihre Großmutter war in Taroudannt aufgewachsen, einer traditionell geprägten Stadt im Süden Marokkos. Als Analphabetin hatte sie sich zunächst in ein Schicksal als Hausfrau und Mutter gefügt,

wie es in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft üblich war. Doch dann bot sich eine Gelegenheit, diesem Leben zu entkommen. Ihr Mann, El Haïks Großvater, hatte den Sohn nach Rabat geschickt, damit dieser dort einen Schulabschluss machte. Der Sohn studierte anschließend Ingenieurswesen in Paris, kehrte nach Rabat zurück und kaufte jene Wohnung, in der sich heute die Galerie Le Cube befindet. Ein paar Jahre später zogen die Großmutter und ihre Tochter dorthin. Die Tochter, Myriam El Haïks Mutter, wurde Französischlehrerin, und das Appartement im Zentrum der Hauptstadt war ein Treffpunkt der Familie. Die Großmutter kehrte nie wieder nach Taroudannt zurück. Fasziniert von den Möglichkeiten, die sich einer alleinstehenden Frau in der Hauptstadt boten, verließ sie ihren Mann und begleitete fortan das Leben ihrer Kinder und Enkel. In El Haïks aktuellen künstlerischen Arbeiten steckt eine ähnliche Symbolik wie in ihrer Installation aus dem Jahr 2017. Bei genauem Hinsehen ergeben sich aus kleinteiligen Zeichnungen oft Teppichmuster, die an die klassischen Läufer erinnern, die in vielen marokkanischen Haushalten liegen. Ihre filigranen Werke scheinen eine Art codierte Schrift zu enthalten. Sie weisen auf das Missverhältnis hin, das in Marokko bis heute in der Ver-


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