Amnesty Journal Mai/Juni 2022

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Ex-Fußballprofi Lilian Thuram gründete eine Antirassismusstiftung. Foto: Denis Allard / opale.photo / laif

Die Maße der Dinge Schwarze Menschen im Blick: Der ehemalige französische Fußballstar und heutige Aktivist Lilian Thuram hat ein Buch über Rassismus in Frankreich geschrieben. »Das weiße Denken« wirbt für mehr Menschlichkeit. Von Frédéric Valin

L

ilian Thuram gewann mit der französischen Nationalmannschaft 1998 die Fußballweltmeisterschaft. Diese Mannschaft sollte Ausweis eines neuen Frankreichs sein – multikulturell, weltoffen und modern. Die Farben der Republik, so sagte es auch der damalige Präsident Jacques Chirac, seien nicht länger nur Blau-Weiß-Rot, sondern Black-Blanc-Beur (als Beur werden Französ_innen maghrebinischer Abstammung bezeichnet). Von diesem Traum ist nicht sehr viel übrigge-

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blieben: In den Umfragen vor den Präsidentschaftswahlen 2022 lagen rechtsextreme Kandidat_innen zusammengenommen stabil bei mehr als 30 Prozent. Nach dem Ende seiner Karriere im Jahr 2008 verschrieb sich Lilian Thuram der Bildungsarbeit und gründete eine Stiftung, um über Rassismus aufzuklären. Über seine jahrelangen Erfahrungen mit Antirassismusarbeit hat er nun ein Buch geschrieben. Dabei geht es ihm um zweierlei: um eine Dekonstruktion dessen, was er »das weiße Denken« nennt, und um die Geschichte des Rassismus in Frankreich aus Schwarzer Perspektive.

Ein Anstoß für dieses Buch sei ein Telefonat mit seinem Freund Pierre gewesen, schreibt Thuram. Er habe seinem Freund gesagt, dass er selbst ja Schwarz sei und ihn dann gefragt, was er eigentlich sei. Pierre habe darauf instinktiv geantwortet: »Naja, normal!« Dieses Selbstverständnis weißer Menschen, das Maß aller Dinge zu sein, ist nur ein Aspekt. Hinzu kommt, dass die Verhältnisse, insbesondere die Sklaverei, genährt und befeuert wurden von einer »habgierigen Minderheit«, einer Elite, die daran verdiente und noch immer davon profitiert. »Das weiße Denken« zeichnet deutlich die historische Kontinuität nach, angefangen von der Entdeckung der neuen Welt über den Kolonialismus und den Sklavenhandel hin zum heutigen Rassismus. Dass Thuram einen Schwerpunkt auf die französische Geschichte legt, ist für deutsche Leser_innen ein Vorteil: Denn hierzulande ist nur wenig bekannt über den »Code noir« von Ludwig XIV., der den Umgang mit Schwarzen Sklav_innen regelte, oder über die postkoloniale Ausbeutung der ehemaligen französischen Kolonien in Afrika oder die Umstürze und Morde durch europäische Geheimdienste, denen afrikanische Politiker zum Opfer fielen. Sind doch diese Geschichtskenntnisse notwendig, um aktuelle Debatten besser einordnen zu können – sei es die Diskussion über die Restitution von Kunstwerken oder die Umbenennung von Straßen, sei es die europäische Außen- und Asylpolitik. Lilian Thuram zählt darauf, dass eine bessere und profundere Bildung mehr Menschlichkeit hervorbringt. Bisweilen scheint es, als unterziehe er die Geschichte einer Psychoanalyse, um auf Verwundungen hinzuweisen und sie sogar zu heilen. Sein Buch ist weniger anklagend, als es dies angesichts des beschriebenen, jahrhundertelangen Unrechts sein dürfte. Gegen Ende erzählt Thuram von einer Freundin, der er einst ein Buch lieh, das von Verbrechen an afrikanischen Menschen handelt. Die Freundin habe ihm das Buch unter Tränen zurückgegeben, sie habe es nicht lesen können, weil es so furchtbar sei. Schuldgefühle will »Das weiße Denken« nicht auslösen, denn schuldig mache sich nur, wer wissentlich andere Menschen ausbeute, schreibt Thuram, aber auch jene, die wegsehen und Unrecht ignorieren. Nicht wegzusehen, dabei hilft dieses Buch. ◆ Lilian Thuram: Das weiße Denken. Aus dem Französischen von Cornelia Wend, Nautilus, Hamburg 2022, 304 Seiten, 22 Euro


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