Bedrohung geht viral – Corona und Menschenrechte

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Am 5. Juli 2019 hob das Oberste Berufungsgericht den Schuldspruch wegen »Umsturz der Verfassung« auf, dafür wurde er am 4. November von einem anderen Strafgericht zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt – dieses Mal wegen Unterstützung einer Terrororganisation (gemeint war die Gülen-Bewegung). Das Gericht verfügte, dass Ahmet Altan bis zum Urteil im Rechtsmittelverfahren unter Auflagen freigelassen wird. Doch diese Freude währte nur kurz. Schon acht Tage später saß er wieder im Gefängnis, weil die Staatsanwaltschaft Einspruch gegen die Freilassung eingelegt hatte. Altan teilt sich eine kleine Zelle mit zwei weiteren Gefangenen. Sein Bruder Mehmet Altan, ein Ökonomieprofessor, der zeitweilig selbst im Gefängnis saß, macht sich große Sorgen um seinen 70-jährigen Bruder. »Ich bin extrem beunruhigt«, sagte er dem Time-Magazin. »Ihn angesichts der Corona-Epidemie im Gefängnis festzuhalten, kommt meiner Meinung nach einem Mord gleich.«

Foto: Kerem Uzel / NarPhotos / laif

Ein mutiges Urteil mit Folgen

Freund der Verständigung und der Kultur. Osman Kavala im Jahr 2015.

Ähnlich dramatisch ist die Situation für Osman Kavala. Der 62jährige Unternehmer engagierte sich über Jahrzehnte für freie Medien, die Versöhnung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und die Freiheit der Kunst. So gründete er zum Beispiel das »Anatolische Kulturinstitut«, das sich intensiv mit der armenischen Kultur in Anatolien beschäftigt. Kavala wurde im Oktober 2017 festgenommen. Bei ihm ging es zunächst nicht um den Putschversuch vom Juli 2016, sondern um ein anderes Trauma Erdoğans: die sogenannten Gezi-Proteste im Sommer 2013. Damals sollte im letzten innerstädtischen Park Istanbuls, dem Gezi-Park am Taksim-Platz, ein Einkaufszentrum gebaut werden. Es kam zu Protestaktionen und, nachdem Erdoğan die Besetzung des Parks mit Polizeigewalt hatte unterbinden lassen, zu landesweiten Demonstrationen. Die Staatsanwaltschaft warf Kavala und 15 weiteren Personen aus dem Umfeld einer Bürgerinitiative zum Erhalt des Gezi-

Angeklagt, weil sie Menschenrechte verteidigen Wer sich in der Türkei für Menschenrechte einsetzt, riskiert viel. Im Verfahren gegen elf Menschenrechtsaktivisten, darunter die Amnesty-Vertreter Taner Kılıç und İdil Eser, wird ein Urteil erwartet. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Von Janine Uhlmannsiek Es war eine routinemäßige Schulung für Menschenrechtsverteidiger in einem Hotel auf der idyllischen Insel Büyükada bei Istanbul. Um digitale Sicherheit sollte es gehen und um Menschenrechtsarbeit unter schwierigen Bedingungen. Doch am Morgen des 5. Juli 2017 stürmten Polizeikräfte das Hotel und nahmen die zehn Menschen im Konferenzraum fest – unter ihnen die damalige Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion İdil Eser und Peter Steudtner, einen der Trainer des Workshops. In der türkischen Presse und in der Anklageschrift wurde die Schulung später als vermeintliches »Geheimtreffen« dargestellt.

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Vier Monate lang saßen acht der Menschenrechtsverteidiger in Untersuchungshaft. Der damalige Vorstandsvorsitzende von Amnesty in der Türkei, Taner Kılıç, der einen Monat zuvor in İzmir festgenommen worden war, blieb mehr als 14 Monate lang inhaftiert. Er wurde zusammen mit den zehn Aktivisten angeklagt. Auch wenn die Menschenrechtsverteidiger derzeit nicht mehr in Haft sind – frei sind sie dennoch nicht. Der Strafprozess gegen sie läuft seit zweieinhalb Jahren, und immer noch drohen ihnen bis zu 15 Jahre Haft wegen »Terrorismus«. Beim nächsten Prozesstag am 3. Juli 2020 wird ein Urteil erwartet. Das Gericht müsste an diesem Tag alle elf Angeklagten freisprechen, denn für die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gibt es nicht den Hauch eines Beweises. Dass die elf Menschenrechtsaktivisten unschuldig sind, ist eindeutig. Doch auf eine unabhängige Gerichtsentscheidung und ein faires Verfahren kann man sich in der Türkei derzeit nicht verlassen. Ende November

AMNESTY JOURNAL | 03/2020


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