CHRISTINE CAZON Christine Cazon, alias Christiane Dreher, ist Krimiautorin und Wahlfranzösin. Zusammen mit ihrer Romanfigur Kommissar Duval erlebt sie Cannes sowohl vor als auch hinter den Kulissen der südfranzösischen Glitzerwelt.
Wo andere Urlaub machen „Wir fahren heute nach Lorgues“, sagte mir eine Dame, die ich am Strand kennengelernt habe. „Wie schön“, sage ich vage, denn ich habe keine Ahnung, wo Lorgues liegt und was es da gibt. Ich war noch nie in Lorgues, ich war auch noch nie auf dem Plateau de Valensole zur Zeit der Lavendelblüte oder auf dem Pic d’Ours im benachbarten Esterelgebirge, ich habe nur sehr wenig von dem gesehen, was Urlauber hier so sehen, dabei lebe ich doch hier, wie die Dame neidvoll seufzt. Ja, seufze ich zurück. „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“, hört sich großartig an, bedeutet aber nur: man selbst arbeitet, andere machen Urlaub. So wie Selbstständige vielleicht ohne feste Bürozeiten und lästigen Chef, aber dafür meist „selbst“ und „ständig“ arbeiten. Alltag im Urlaubsparadies: ohne Meerblick oder Pool, ohne Garten oder Klimaanlage, aber mit den alltäglichen Sorgen und Nöten: Ich kaufe ein und koche, ich spüle Geschirr und bügele Wäsche, ich stehe im Stau und suche einen Parkplatz, Rechnungen flattern ins Haus und Steuererklärungen wollen gemacht werden; es ist heiß, ich bin müde, das Telefon klingelt, die Nachbarn sind laut, und ich habe heute noch keine Zeile geschrieben. Seit ich in Frankreich lebe, und egal in welchem Metier ich tätig war, habe ich jedes Jahr ausgerechnet im Sommer meine Hauptarbeitszeit. Ich arbeite also nicht nur wo, sondern auch noch, wenn andere Urlaub machen. Mein südlicher Wohnort am Meer zieht Familie, Freunde, nähere und fernere Bekannte aus Deutschland an. Sie sind in Urlaub und gerade in der Nähe, wir könnten uns doch mal auf einen Kaffee, einen Wein oder ein Essen treffen? Manchen sage ich zu, vielen aber sage ich ab, obwohl sie sich, wie man das so macht in Deutschland, oft schon Monate zuvor angemeldet haben, es passt mir aber gerade trotzdem nicht, ich muss arbeiten, erkläre ich, es wird eng mit dem Abgabetermin. Manche kränkt es, kann ich als Selbstständige das nicht freier einteilen? Wie kann ich erklären, dass ihr lang geplanter Aufenthalt und meine Arbeitsplanung stets von den Franzosen unterlaufen werden, die gar nicht erst anfragen, sondern einfach spontan kommen. „Wir sind morgen da“, sagen sie. Im ersten Jahr fragte ich allen Ernstes noch „Warum?“. Warum kommen die bitteschön? Ich habe sie doch nicht eingeladen. Aber diese Frage stellt man nicht, Franzosen kommen, weil man sich schon lange nicht gesehen hat,
weil es Sommer ist und natürlich, keiner sagt es offen, weil wir im Süden wohnen, dort wo jeder gerne Urlaub macht. „Aber ich muss arbeiten“, sage ich verzweifelt. „Wie lange werden sie bleiben?“ Das weiß kein Mensch, das fragt man auch nicht. Franzosen sind ein gastfreundliches Volk und im Süden lebt man stets mit offener Tür. Franzosen genießen das gesellige Zusammensein in der Regel auch, nur mich überfordert diese unablässige Besuchsserie. Entspann dich mal, sagt Monsieur und drückt mir ein Glas in die Hand. Heute Abend grillen wir Sardinen oder Lammkoteletts, und die Nachbarn kommen auch. Das ist einfach und du machst nur schnell ein, zwei Salate und vielleicht eine Quiche, schlägt er versöhnlich vor. „Ich muss …“ sage ich, aber es wird nur abgewinkt. Es ist doch Sommer. In meinem Kopf aber ist das berühmte Sommerloch. Mir fällt nichts ein. Weder bin ich eine amüsante Gastgeberin, noch kommt mein Manuskript voran, wie soll es jemals fertig werden? Ein Magazin will einen witzigen Text für eine Sommerbeilage, gut gelaunt soll es klingen, Sommerfeeling eben, Sie leben doch im Süden, das fällt Ihnen doch leicht. Immer will jemand einen Geheimtipp für Cannes, aber einen echten, in ein paar Zeilen, gerne bis morgen. Alle wollen was. Cherié, ruft Monsieur von der Terrasse, die Sardinen sind fertig, wo bleiben die Salate? Zuhause arbeiten, wo und vor allem, wenn andere Urlaub machen, macht mich fertig. Und doch: Manchmal gibt es diese Tage dazwischen, wenn ein Text wundersamer Weise, ich weiß wirklich nicht, wie und wann, fertig geworden ist und wir allein sind. Aufatmend schwimme ich mitten in der Woche in aller Frühe im Meer, das Wasser ist glasklar und frisch, ich treibe auf dem Rücken und blinzele in das wolkenlose Blau. Später, auf dem Markt, was für ein Schauspiel, schleppen zwei Fischer einen riesigen Schwertfisch an, sie können ihn kaum tragen, allein sein Schwert misst einen Meter; ich erstehe spontan ein Stück davon für das Mittagessen. Dazu gibt es Reis aus der Camargue, vorher einen Salat aus sonnengereiften und tiefroten Coeur de Boeuf-Tomaten, später etwas Ziegenkäse und zum Dessert honigsüße frische Feigen. Monsieur öffnet dazu einen gut gekühlten Rosé, und wir genießen all das bei offenem Fenster im leichten Wind des Ventilators. Die Luft flirrt, die Zikaden zirpen in der Sommerhitze, und plötzlich ist er doch ganz leicht, der Alltag hier. •
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PORTRÄT CHRISTINE STEPHAN GABRIEL
Es ist heiß, ich bin müde, das Telefon klingelt, die Nachbarn sind laut, und ich habe heute noch keine Zeile geschrieben.
FRANKREICH MAGAZIN 25