MAG
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Verehrtes Publikum,
in dieser Magazin-Ausgabe spricht die Zukunft aus allen Themen. Sie ist verknüpft mit hoffnungsvollen künstlerischen Aussichten, aber auch mit der Wahrscheinlichkeit, dass das Opernhaus in einigen Jahren zu einer Grossbaustelle wird. Intendant Andreas Homoki informiert im aktuellen MAG über ein folgenreiches Bauprojekt, das nicht weiter aufgeschoben werden kann: Unser sogenannter Erweiterungsbau, besser bekannt unter dem Namen «Fleischkäse», ist veraltet und viel zu klein. Er muss radikal umgebaut oder abgerissen und neu errichtet werden. Das ist für das Opernhaus kein Nebenschauplatz, sondern existenziell: Ohne die Menschen und Ressourcen, die im «Fleischkäse» untergebracht sind, kann auf der Bühne der Vorhang nicht hochgehen. Die grossen Bagger werden also irgendwann am Sechseläutenplatz auftauchen. Aber bevor es soweit ist, muss mit vielen Menschen gesprochen und vieles bedacht werden, muss gut geplant und noch besser entschieden werden. Diesen Prozess haben die Verantwortlichen des Opernhauses unter dem Begriff «Zukunft Oper» zusammengefasst und nun der Öffentlichkeit vorgestellt. Lesen Sie das Interview mit Andreas Homoki dazu, es wird Sie als Opernbesucherin und Opernbesucher interessieren. Dem Ballett Zürich drohen keine Bagger. Im Gegenteil: Es freut sich auf Cathy Marston, die als Nachfolgerin von Christian Spuck die Compagnie ab der kommenden Spielzeit übernehmen wird. Als Geste eines harmonischen Übergangs hat Spuck sie eingeladen, die letzte Neuproduktion seiner Amtszeit zu übernehmen, und so probt Cathy Marston gerade in den unterirdischen Räumen des sanierungsbedürftigen «Fleischkäses», der auch für das Ballett nur sehr unbefriedigende Arbeitsbedingungen bereithält, ihr abendfüllendes Werk The Cellist, das vor drei Jahren in London uraufgeführt wurde. Die Produktion, die am 30. April Premiere hat, gibt erste Auskünfte darüber, wie es künstlerisch unter der Ballettdirektorin Cathy Marston weitergehen wird mit dem Ballett Zürich. Hier steht die Zukunft also unmittelbar vor der Tür. Das gilt sowieso für alle Sängerinnen und Sänger des Internationalen Opernstudios. Die Mitglieder unseres Nachwuchs-Ensembles, die aus aller Welt nach Zürich kommen, um Bühnenerfahrung zu sammeln und sich den letzten künstlerischen Schliff zu holen, dürfen mit Recht auf eine Gesangskarriere hoffen. Benjamin Bernheim, der gerade in unserer Neuinszenierung von Charles Gounods Oper Roméo et Juliette gefeiert wird, hat es vorgemacht: Er hat in Zürich im IOS begonnen und gehört inzwischen zu den gefragtesten Tenören der Welt. Einmal pro Spielzeit bringt das Internationale Opernstudio eine vollwertige szenische Neuproduktion am Theater Winterthur auf die Bühne. In diesem Jahr ist es die Oper Serse von Georg Friedrich Händel, die von einem jungen Leadingteam mit Nina Russi als Regisseurin und Markellos Chryssicos als Dirigent künstlerisch verantwortet wird. Die Zukunft kann also kommen. Das Opernhaus Zürich ist vorbereitet.
Claus SpahnMAG 101 / Apr 2023
Unser Titelbild zeigt Cathy Marston, die Choreografin von «The Cellist».
(Foto Florian Kalotay)
Zwischenspiel
Der Podcast des Opernhauses
Mit ihrer Professionalität und ihrem Charisma weiss Giulia Tonelli immer wieder zu begeistern. Jetzt stellt sich die Erste Solistin des Balletts Zürich einer neuen Herausforderung. In Cathy Marstons Ballett «The Cellist» tanzt sie die Hauptrolle. Im Gespräch mit Michael Küster erzählt Giulia Tonelli von ihrer Annäherung an die Cellistin Jacqueline du Pré, vom Geheimnis ihrer Bühnenpräsenz und vom Leben zwischen Ballett und Familie.
8 Andreas Homoki stellt erste Pläne für ein Opernhaus der Zukunft in Zürich vor 18 Die zukünftige Ballettdirektorin Cathy Marston spricht über die Hintergründe zu ihrem Ballett «The Cellist» und ihre erste Zürcher Premiere 32 Das Internationale Opernstudio bringt Händels Oper «Serse» in Winter thur auf die Bühne – ein Gespräch mit der Regisseurin Nina Russi und dem Dirigenten Markellos Chryssicos 44 In
unserer Debatte fragen wir: Wie toxisch ist das Ballett?
Ich sage es mal so – 4, Opernhaus aktuell – 7, Drei Fragen an Andreas Homoki – 8, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 11, Der Fragebogen – 26, Wir haben einen Plan – 28, Volker Hagedorn trifft … – 38, Auf dem Pult – 41, Kalendarium – 49
Stumme Antworten auf grundsätzliche Fragen – mit Simone McIntosh, die in «Serse» die Rolle des Arsamene singt
Fotos Michael SieberSimone McIntosh ist eine schweizerischkanadische Mezzosopranistin und seit dieser Spielzeit Mitglied des Internationalen Opernstudios. Sie gewann bereits viele Gesangswettbewerbe und sang am Opernhaus Zürich bisher in der «Walküre», in «Jakob Lenz» und in «La traviata».
Welche Bedeutung hat
Georg Friedrich Händel für das Barockzeitalter?
Wie gefällt es Ihnen bisher im IOS?
Was gibt Ihnen das Singen?
Sie singen Arsamene. Was ist das für ein Typ?
Wie stellen Sie eine Hosenrolle dar?
ERIGE SEHIRI, TUNESIEN
«Reizende Sommerflirts und die sanfte Erkundung schwesterlicher Solidariät.»
SCREEN DAILY
«Puccini in Love» heisst die 2019 erschienene CD der beiden, die nicht nur auf der Bühne, sondern auch privat ein attraktives Paar bilden: die Sopranistin Aleksandra Kurzak und der Tenor Roberto Alagna. Er war vor einiger Zeit am Opernhaus als Canio und Turiddu zu erleben, sie als Gilda und Norina; gemeinsam treten sie nun zum ersten Mal in Zürich auf. An diesem Arienabend präsentieren sie Ausschnitte aus Georges Bizets
Carmen, aus Francesco Cileas Adriana Lecouvreur und aus Giuseppe Verdis Otello; als Desdemona und Otello standen sie bereits an der Pariser
Bastille Oper und an der Staatsoper Wien auf der Bühne. Und auch Puccini darf an diesem Abend natürlich nicht fehlen: Neben dem Duett «Mario, Mario» erklingen die berühmten Arien des Cavaradossi «Recondita armonia» und der Tosca «Vissi d’arte» aus Tosca. Am Klavier werden die beiden begleitet von Marek Ruszczyński.
Liederabend, Montag, 15 Mai, 19.30 Uhr, Opernhaus
Brunch-/Lunchkonzert
Neben der Oper Le nozze di Figaro arbeitete Mozart 1785 u. a. auch an seinem ersten Klavierquartett KV 478 Statt leichter Salonmusik, wie sie der Verleger gewünscht hatte, lieferte er ein Werk, das zu Beginn mit düsterem g-Moll irritiert. Robert Schumanns einziges Klavierquartett Es-Dur op. 48 ist 1842 entstanden. Während bei Mozart das Klavier wie in einem Konzert im Zentrum steht, sind die vier Stimmen bei Schumann von organischer Ausgeglichenheit. Es spielen: Cornelia Brandis (Violine), Maria Clément (Viola), Andreas Plattner (Violoncello) und Kateryna Tereshchenko (Klavier).
Brunchkonzert, 14 Mai, 11.15 Uhr
Lunchkonzert, 15 Mai, 12 Uhr
Spiegelsaal
Dem Opernhaus stehen umfassende bauliche Veränderungen bevor. Da der Erweiterungsbau an der Bellerivestrasse, der sogenannte Fleischkäse, sanierungsbedürftig ist und nicht mehr dem Raumbedarf eines modernen Opernbetriebs entspricht, startet das Opernhaus jetzt die Projektinitiative «Zukunft Oper», an deren Ende eine grundlegende Neugestaltung der Opernhaus-Bauten jenseits des eigentlichen Theaters stehen soll. In einer ersten Phase wird das Opernhaus den Dialog mit dem Publikum, der Bevölkerung und unterschiedlichsten Interessengruppen suchen, um herauszufinden, welchen Beitrag die Neugestaltung des Opernhauses für die Gäste der Vorstellungen, für die Bevölkerung, den Tourismus und die Kulturszene leisten kann. Ausserdem wird der Frage nachgegangen, was eine bauliche Entwicklung für den Stadtraum «Sechseläutenplatz» und den Standort am See bedeutet.
Nachtkino
Als Auftakt einer ganzen Reihe von Veranstaltungen zum Abschied von Ballettdirektor Christian Spuck zeigen wir im Nachtkino die Aufzeichnung seiner ersten Choreografie für das Ballett Zürich. Mit Romeo und Julia eröffnete Spuck 2012 seine Direktion, seitdem avancierte diese Produktion zum Publikumsmagneten. Die Aufzeichnung wird anschliessend noch bis zum 20. Mai auf unserer Website abrufbar bleiben.
Sa, 13 Mai 2023, 23 Uhr, Opernhaus
In Anwesenheit von Christian Spuck und Mitgliedern des Balletts Zürich
Intendant Andreas Homoki gibt im Interview auf Seite 8 Auskunft zu diesem Projekt. Weitere Informationen unter: www.zukunft-oper.ch
Auszeichnung
Unsere Produktion von Prokofjews Oper Der Feurige Engel in der Regie von Calixto Bieito, die auch am Teatro Real in Madrid gezeigt wurde, ist mit dem Premios Talía als beste Opernproduktion 2022 ausgezeichnet worden. Dieser in der spanischen Opernlandschaft sehr renommierte Preis wird von der Academia de las Artes Escénicas de España vergeben. Wir freuen uns!
Herr Homoki, Sie haben ein Projekt mit dem Namen «Zukunft Oper» gestartet. Was verbirgt sich dahinter? Das Opernhaus platzt aus allen Nähten. Unser Erweiterungsbau, besser bekannt unter dem Namen «Fleischkäse», muss in der ersten Hälfte der 2030-er Jahre saniert werden. Eine Studie, die wir bei Theaterfachplanern in Auftrag gegeben haben, hat ergeben, dass unser Platzbedarf um sechzig Prozent höher ist als der Status quo. Die meisten Beschäftigten des Opernhauses arbeiten jenseits des Vorstellungsbetriebs im Fleischkäse, und viele Arbeitsplätze entsprechen nicht mehr den gesetzlichen Grundlagen zur Arbeitssicherheit. Menschen arbeiten zu zweit oder zu dritt in Büros, die eigentlich nur für einen ausgelegt sind. Auch die Räume der Kostümabteilung sind unzumutbar beengt. Im dritten Untergeschoss hat das Ballett seine Probensäle, unsere Tänzerinnen und Tänzer sehen also von morgens bis abends keinen Himmel, es fehlen die vorgeschriebenen Aufenthaltsräume mit Tageslicht. Besonders sichtbar sind unsere Platzprobleme in der Falkenstrasse, wo die Dekorationen auf dem Trottoir und teilweise auch auf der Fahrbahn stehen, weil es keine angemessene Be- und Entladezone gibt. Das ist ein absolutes Unding: Unsere empfindlichen und teuer gebauten Bühnenbilder stehen bei jedem Wetter und allen Temperaturen unter Kunststoffplanen auf der Strasse. Die notwendige energetische Sanierung des Fleischkäses stellt uns vor weitere Probleme: Neuere Gebäudetechnik, beispielsweise für Rauch- und Wärmeabzug, braucht wesentlich mehr Platz als die alten Anlagen. Eine Sanierung ohne räumliche Veränderungen würde deshalb unsere akute Raumnot noch weiter verschärfen. Um Raum zu schaffen, sieht unser Projekt deshalb eine betriebliche Neuorganisation und eine bauliche Entwicklung für den Fleischkäse vor, nicht nur die Sanierung.
Heisst das, das Opernhaus müsste wegen veralteter Gebäudeteile eigentlich schliessen?
Wir agieren in vielen Bereichen auf der Basis von sogenannten Bestandsgenehmigungen. Das bedeutet, dass diese Bereiche früher so genehmigt wurden, aber heute nicht mehr den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Solange keine bauliche Veränderung stattfindet, wird die Situation als Bestandsgenehmigung geduldet. Im Rahmen einer Sanierung müssen jedoch zwingend alle aktuellen Richtlinien umgesetzt werden.
Kann die Lösung der Probleme im Fleischkäse warten, bis es diese grosse «bauliche Entwicklung» gibt? Das können wir gegenüber unseren Mitarbeitenden nicht vertreten. Deshalb wird im Sommer 2024 auf dem Dach des Fleischkäses ein Überbrückungsbau entstehen. Das ist ein eingeschossiger Holzbau, in dem etwa Büros untergebracht werden und Räume für Anproben, die heute teilweise auf den Fluren stattfinden, und sanitäre Anlagen für unsere Mitarbeiterinnen auf der Bühne. Frauen in technischen Berufen gab es beim Bau des Fleischkäses in den achtziger Jahren noch nicht, deshalb müssen diese Räume nun geschaffen werden. Der hölzerne Überbrückungsbau ist eine Notmassnahme, um die akuten Verstösse gegen das Arbeitsgesetz aufzuheben, aber keine dauerhafte Lösung.
Wieso ist der Fleischkäse so beengt, so alt ist er doch noch gar nicht? Er war schon bei seiner Einweihung 1984 zu klein. Relativ spät im Planungsprozess wurde politisch entschieden, das Bernhard Theater in den Bau zu integrieren, diese Flächen gingen zulasten des Opernhauses. Wir freuen uns, dass es das Bernhard Theater gibt, aber der Missstand ist geblieben, und den müssen wir jetzt beheben. Der Opernbetrieb hat sich weiterentwickelt. Wir haben mehr Mitarbeitende als in den achtziger
Jahren, und mit Dekorationen wie vor vierzig Jahren gewinnt man im 21. Jahrhundert kein Publikum mehr. Damals passte ein Bühnenbild auf acht Transportwagen, heute benötigt man die dreifache Fläche.
Heisst das alles, dass ein Neubau am Sechseläutenplatz entstehen soll? Gemeinsam mit dem Hochbauamt des Kantons Zürich geben wir dazu eine Studie in Auftrag. Sie wird untersuchen, ob wir die benötigten Flächen im bestehenden Gebäude erreichen können. Sind derartig grundlegende Eingriffe in den Betonbau möglich, in dem viele Wände tragend sind? Lässt die Statik eine Aufstockung zu? Wenn nicht, wird ein Neubau unumgänglich sein. Die Studie soll im Herbst vorliegen. Danach können wir auch die Kosten ermitteln.
Jetzt soll ein öffentlicher Dialog zu diesem Thema stattfinden. Was hat es damit auf sich?
Wir laden ganz unterschiedliche Akteursgruppen ein, ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit uns zu teilen und Anforderungen an die bevorstehende bauliche Entwicklung zu formulieren. Wir möchten erfahren, welchen Beitrag sie für unsere Gäste, für die Bevölkerung und für die Kulturszene leisten. Wir stehen ja mitten in der Stadt. In Workshops, Interviews und Gruppengesprächen sollen Meinungen gebündelt und Impulse für ein Opernhaus der Zukunft gegeben werden. Wir sprechen auch mit unseren Mitarbeitenden, mit Freundinnen, Aktionären, Abonnentinnen, Stammbesuchern und den Gästen von morgen, unserem Club Jung. Wir laden die Verwaltungen und die Politik von Stadt und Kanton zu Workshops ein und möchten mit der Kulturszene in Austausch treten. Schliesslich wird die Öffentlichkeit am 17. Juni, am Tag von «oper für alle», zu einem «Dialog für alle» eingeladen. Das ist eine wichtige Grundlage für die weitere Planung des Projektes und für das Wettbewerbsprogramm, denn Kulturinstitutionen müssen tief in der Gesellschaft verankert und akzeptiert sein, damit sie eine Zukunft haben. Und das Bauprojekt soll
einen Mehrwert bieten für die Menschen in der Stadt und im Kanton. Auch für diejenigen, die keine Opernvorstellungen besuchen.
Was passiert mit dem historischen Opernhaus? Bleibt das, wie es ist?
Ja, alle denkmalgeschützten Bereiche wie der Zuschauerraum, die Foyers, die Fassade bleiben unverändert und werden renoviert. Aber wir möchten eine barrierefreie Zugänglichkeit erreichen, die es heute nicht gibt. Wir brauchen eine neue Bestuhlung, gewisse technische Anlagen müssen erneuert werden. Grundsätzlich ist der Altbau dank guter Pflege und regelmässiger Instandhaltungsarbeiten in sehr gutem Zustand.
Haben Sie ein Zukunftsbild für das Opernhaus der Zukunft?
Es soll ein lebendiger Ort für alle entstehen, der auch tagsüber zugänglich ist und Raum für Begegnungen schafft. Vielleicht gibt es eine öffentliche, begrünte Dachterrasse mit Blick auf den See und die Alpen. Wir planen eine neue Laborbühne, in der wir an innovativen Formaten des Musik- und Tanztheaters arbeiten können, und wir wollen in den neuen Räumen unser Vermittlungsprogramm ausbauen, denn die Nachfrage ist hier immer grösser als das Angebot. Übrigens sind wir bei allen Initiativen in einvernehmlichem Austausch mit meinem Nachfolger Matthias Schulz.
Wie sieht der zeitliche Fahrplan aus? Auf den Dialogprozess folgen Machbarkeitsstudien. Dann wird ein Wettbewerbsprogramm erstellt, und im Herbst 2024 findet ein internationaler Architekturwettbewerb statt. Den Juryentscheid erwarten wir 2025. Wir rechnen mit einem Baubeginn in der ersten Hälfte der 2030er Jahre. In der nächsten Saison machen wir uns daran, eine Ersatzspielstätte für die Bauphase zu finden, denn während der Fleischkäse aus- oder neu gebaut wird, kann im Opernhaus nicht gespielt werden.
Weitere Infos: www.zukunft-oper.ch
Nach elf Jahren verlässt Ballettdirektor Christian Spuck das Opernhaus Zürich. Ein hochwertig gestaltetes Buch zeigt die spektakulär erfolgreiche Ära des Balletts Zürich in grossformatigen Fotos, reflektierenden Texten, persönlichen Widmungen und einer umfassenden Chronik. Das Buch erscheint Ende April und kann ab sofort zum Preis von CHF 25 vorbestellt werden.
› 240 Seiten
› Grossformatige Fotos
› Alle Produktionen im Überblick
› CHF 25
Das Bühnenbild zu Roméo et Juliette würden viele auf den ersten und zweiten Blick als unspektakulär beschreiben. Und ich liebe Bühnenbilder, die unspektakulär daherkommen und dennoch Stoff für diese Kolumne bieten. Das Bühnenbild besteht aus zwei langen Seitenwänden, einer Rückwand und einem Boden. Wände und Boden sind graublau gemalt. Als Sinnbild für die zwei verfeindeten Familien stehen sich zu Beginn der Oper im ansonsten völlig leeren Bühnenbild je 40 Stühle auf der linken und rechten Seite gegenüber. All das sehen wir schon beim Einlass. Kurz nachdem das Orchester zu spielen beginnt, treten durch vorher kaum wahrnehmbare Türen Personen in den Raum. Die Türen sind in Wandfarbe gehalten und haben keine Türgriffe oder ähnliches. Die Türflügel öffnen sich aus dem Raum nach aussen, so dass jeder im Raum einfach gegen die Tür drückt, und schon schwingt der Türflügel auf. Dem Bühnenbildner Andrew Lieberman war sehr wichtig, dass die Türen immer von allein wieder zugehen und mit der Wand verschmelzen. Nichts einfacher als das, dachten wir uns: Damit sich die Türen wieder schliessen, haben wir Türschliesser oben an den Türen angebracht. Diese schliessen mithilfe einer starken Feder die Türen zuverlässig und automatisch.
Aber die hohen, leicht gebauten Türen aus Holz verzogen sich immer, wenn eine Sängerin oder ein Sänger diese aufstiess: Unten drückte die Sängerin die Türe auf und oben die Feder stark dagegen. Das führte zu unschönen Öffnungsbewegungen – der obere Teil wurde zugedrückt, während der untere Teil bereits halb offen war. Dieses Problem lösten wir, indem wir die Schliesser in der Höhe montierten, in der auf der anderen Seite gedrückt wurde. Ein Problem gelöst, aber es kam gleich das nächste: Wenn die Türen mit Schwung aufgestossen wurden, drückten die Federn sie ebenso schwungvoll wieder zu, und die Türen donnerten gegen den Anschlag und federten wieder auf, um dann erneut zuzufallen. Das war viel zu laut und sah hässlich aus. Weniger starke Federn wiederum würden die Türen nicht geschlossen halten. Deshalb wurden in alle Türrahmen sogenannte Möbeltürdämpfer eingebaut. Diese dienen bei Schränken und Schubladen dazu, dass diese auf den letzten Zentimetern abgebremst werden. Knapp 100 davon sorgen nun dafür, dass unsere 16 Tür flügel lautlos schliessen. Der Rückwand sieht man die Raffinesse ebenfalls nicht an. Zu Beginn des Stückes steht die Rückwand sehr tief im Bühnenbild und begrenzt einen sehr grossen Raum. Als sich Romeo und Julia das erste Mal sehen, nimmt das Schicksal seinen Lauf, und die Wand fährt von ganz hinten los Richtung Orchestergraben, aber so langsam, dass das Auge es nicht wahrnehmen kann. Am Ende der Oper wird die Wand jedoch den ganzen Raum und alle Ausgänge für Romeo und Julia genommen haben, und das Paar stirbt eingesperrt zwischen Wand und Orchestergraben. Eindrücklich ist, dass die Wand zwischenzeitlich sogar 40 Stühle vor sich herschiebt. Auch hier: Unmerklich, aber unaufhaltsam. Die Wand wird mit sehr starken, langsam und lautlos drehenden Motoren angetrieben. Damit sie immer genau geradeaus fährt, hat sie wie ein Segelschiff ein Schwert: Dieses ist mittig hinter der Wand montiert und steckt in einer Nut. Dadurch kann die Wand weder nach links noch nach rechts wegtreiben. Die Wand fährt übrigens «musikalisch»: Unser Inspizient gibt den Maschinisten genaue Angaben, damit die Wand entsprechend des Tempos, das der Dirigent anschlägt, genau in den richtigen Momenten an den Türen vorbeifährt. Das ist wichtig, denn wenn die Wand zu schnell wäre, würde der Chor vor der Schlussszene nicht mehr von der Bühne kommen und müsste ausweglos zusammen mit Romeo und Julia sterben – und das bei sehr wenig Platz zwischen Wand und Orchestergraben.
Im Ballett «The Cellist», das am 30. April am Opernhaus Zürich Premiere hat, geht es um das Schicksal der Jahrhundert-Cellistin Jacqueline du Pré. Wer war die legendäre Musikerin, die jung verstarb, deren Celloton aber auch Jahrzehnte nach ihrem Tod noch unvergessen ist? Biografische Stationen einer ebenso faszinierenden wie tragischen Künstlerkarriere
Am Weihnachtsabend 1966 erscheint Jacqueline du Pré nach einer Probe auf einem Fest bei Freunden. Sie ist 21 Jahre alt und bereits eine gefeierte Cellistin, wirkt aber eher wie ein schüchternes Schulmädchen. «Sie sehen nicht aus wie eine Musikerin», verabschiedet sich der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim, als er die Party verlassen will. Da holt du Pré ihr Cello aus dem Kasten, und Barenboim erlebt jene Verwandlung, die immer wieder ihre Zuhörer in den Bann zieht: Am Cello wird Jacqueline zu einem anderen Menschen – elektrisierend, ausdrucksstark, mit einer Leidenschaftlichkeit, die sich direkt überträgt. Der 24-jährige Barenboim bleibt und spielt mit ihr die Nacht durch. Mit ihm findet du Pré den idealen Partner – für die Kammermusik und fürs Leben. Sieben Monate später heiraten sie in Israel. Für die Musikerin ist das eine Befreiung. «Mit Daniel», erzählt sie später, «lernte ich, mit anderen Menschen zusammen zu sein.»
Es ist die behütete Welt der Universitätsstadt Oxford, in die Jacqueline du Pré am 26. Januar 1945 hineingeboren wird. Der Vater gibt eine Steuerzeitschrift heraus. Die Mutter, eine hochbegabte Pianistin, arbeitet als Klavier- und Musiklehrerin. Alle drei Kinder, Hilary, Jacqueline und der Sohn Piers, zeigen früh musikalisches Talent. Zunächst scheint Hilary als Pianistin und Flötistin der Star in der Familie zu werden. Doch als Jacqueline zum fünften Geburtstag ein Dreiviertel-Cello bekommt, wendet sich das Blatt. Eine Freundin der Mutter erinnert sich an ein erstes Vorspiel: «Sie sass auf ihrem Stühlchen, die Noten vor sich auf dem Ständer, und kaum hatte sie das riesige Instrument ergriffen, war sie wie verwandelt, wie hypnotisiert. Da sass kein fünfjähriges Mädchen mehr vor mir.»
Die Reife ihres Spiels wirkt auf die Erwachsenen fast unheimlich. Ihr sei bereits damals klar gewesen, erzählt du Pré später, «dass ich ganz gut war. Das zeigten mir die erstaunten Gesichter der Zuhörer. Ich hatte ein gutes Gefühl für die Tonlagen des Instruments. Cellospielen war für mich das Natürlichste der Welt.» Diese Natürlichkeit fördert die Mutter auf ehrgeizige, aber spielerische Weise. Nachts komponiert sie kleine Stücke, den Fortschritten ihrer Tochter entsprechend, die sie mit Zeichnungen versieht und «Jackie» morgens ans Bett legt. Als Erwachsene leidet du Pré allerdings darunter, dass ausserhalb der Musik bei ihr kaum weitere Interessen gefördert wurden. Selbst Sport war tabu, weil sie sich die Hände hätte verletzen können.
Das Cello ist ein schwieriges Instrument, besonders für Kinder. Es verlangt wie die Geige ein feines Gehör, aber mehr Körpereinsatz. Die Saiten sind dicker, man braucht Kraft zum Greifen, und die Töne liegen auf dem Griffbrett weit auseinander – je tiefer, desto weiter. Jackie bewältigt diese Schwierigkeiten mühelos und gewinnt erste Auszeichnungen. Am Musikfestival in Westminster nimmt sie im Alter von acht Jahren teil, viele ihrer Konkurrenten sind doppelt so alt. Mit einer Komposition ihrer Mutter gewinnt sie auch an diesem Tag den ersten Preis. Lampenfieber kennt sie weder jetzt noch später – zumindest nicht auf der Bühne. Im täglichen Leben ist sie weniger selbstbewusst. Gerade zu Beginn ihrer Karriere ist du Pré ein schüchterner, pummeliger Teenager. Zu Hause wird sie noch wie ein Kind behandelt, überall sonst wie eine Erwachsene – und wie ein kommender Star. Kurz vor ihrem Solodebüt am 1. März 1961 in der Londoner Wigmore Hall erhält sie von einem Mäzen ihr erstes Stradivari-Cello als Geschenk. Ihr Selbstbewusstsein als Cellistin ist da schon stark entwickelt. Im Sommer 1960 nimmt sie als 15-Jährige an einem Meisterkurs von Pablo Casals teil, lehnt seine Ratschläge jedoch ab – der berühmteste Cellist des Jahrhunderts ist ihr zu dogmatisch.
Umso mehr vertraut du Pré ihrem Londoner Lehrer Bill Pleeth. Er bringt sie weiter, weil ihm die Spieltechnik weniger wichtig ist als die Kreativität seiner Schülerin. Er ist es auch, der sie 1956 zum Suggia-Wettbewerb anmeldet, was wichtige
Türen öffnet: Siebenmal hintereinander, von 1956 bis 1962, gewinnt sie das begehrte Stipendium, das die Finanzierung ihrer Ausbildung bei Bill Pleeth in London sichert. Und gleich im ersten Jahr lernt sie den Dirigenten Sir John Barbirolli kennen, der ihr die Musik ihres Lebens nahebringen wird: das Cellokonzert von Edward Elgar. Als gelernter Cellist hat Barbirolli bei der Uraufführung 1919 selbst im Orchester gesessen und Elgar als Dirigenten erlebt. Im März 1962 spielt Jacqueline du Pré dieses Konzert erstmals in der Royal Festival Hall in London. Der gefürchtete Kritiker Neville Cardus schreibt im Guardian: «Ein Schwanengesang von seltener und schwindelerregender Schönheit. Am ersten Tag des Frühlings wurden die Anwesenden Zeugen des frühen Erblühens von Miss du Prés Spiel.
Das Cello-Wunderkind schafft
den Weg ganz nach oben
So ein wunderschönes Blühen werden wir nicht mehr so schnell erleben, weder in diesem noch in kommenden Jahren.» Ende des Jahres wird sie vom Daily Express zur Solistin des Jahres gewählt. Ein Kritiker stellt fest: «Sie ist auf dem Weg nach ganz oben.» Doch so gerade verläuft der Weg nicht. Wie viele Wunderkinder gerät auch du Pré an der Schwelle zum Erwachsenenalter in die Krise. Pablo Casals ging es so, der mit 15 krank und depressiv wurde. Yehudi Menuhin musste sich bewusst neu erarbeiten, was er zuvor instinktiv auf der Geige vollbracht hatte. Und du Pré fühlt sich in dieser Phase zutiefst gespalten zwischen der Welt der Musik und dem Wunsch nach dem ganz normalen Leben, das sie erst jetzt entdeckt. Mit 17 fährt sie zum ersten Mal mit der U-Bahn; ihre Allgemeinbildung ist mangelhaft, da sie bereits mit 14 die Schule verlassen hat. Vor allem zweifelt sie plötzlich, ob sie als Cellistin wirklich gut genug ist. Ihr Wunsch, noch einmal zu studieren, führt sie im Frühjahr 1966 zu Mstislaw Rostropowitsch ans Moskauer Konservatorium. Der mildert einige ihrer Extravaganzen, wie sie selbst sagt, aber wichtiger noch: Er gibt ihr neuen Glauben an ihr Können mit auf den Weg. In Moskau beschliesst du Pré endlich, Cellistin zu sein.
Oder begreift, dass sie es längst ist. Denn schon Ende 1965 erscheint die Plattenaufnahme von Edward Elgars Cellokonzert mit Sir John Barbirolli und dem London Symphony Orchestra. Die bis heute nicht übertroffene Leidenschaftlichkeit ihrer Interpretation reisst das oft unterschätzte Werk aus dem Schatten und macht du Pré endgültig berühmt. Mit dem BBC Symphony Orchestra geht sie erstmals auf Amerika-Tournee. Die Herald Tribune schreibt über ihr Konzert in New York: «Man muss schon in die Glanzzeiten von Casals zurückgehen oder zu einem einzigartigen Künstler wie Rostropowitsch, um einen angemessenen Vergleich zu finden.» Nicht nur die Kritiker, auch andere Musiker schätzen sie. Stephen Bishop wird der erste Pianist, mit dem sie Duo spielt. Yehudi Menuhin holt sie zu seinen privaten Kammermusikabenden. Auch im Haus von Menuhins Tochter Zamira geht sie ein und aus – und lernt dort auf der besagten Weihnachtsparty 1966 Daniel Barenboim kennen. In den Swinging Sixties ist London auch für klassische Musik eine aufregende Stadt. Eine neue Generation von Musikern belebt die Szene: John Ogdon, Janet Baker, Vladimir Ashkenazy, Martha Argerich und natürlich Barenboim, der eng mit Zubin Mehta und Itzhak Perlman befreundet ist. Man kennt sich, schätzt und inspiriert sich gegenseitig. 1967 kommt der Geiger Pinchas Zukerman dazu, mit dem du Pré und Barenboim fünf Jahre lang Trio spielen: ein intimes und intensives Miteinander. Du Prés intuitives, unintellektuelles Spiel setzt ihr allerdings auch Grenzen: Zugang zur Musik ihrer Zeit findet sie nicht. «Weiter als Bartók gehe ich nicht», sagt sie.
Kritiker bemängeln immer wieder ihren exzessiven Körpereinsatz auf der Bühne. Einige finden es unangemessen und extravagant, wie sie ihre langen blonden Haare zurückwirft. Aus heutiger Sicht erscheint diese Kritik sehr zeitbedingt. In England galt es bis in die vierziger Jahre noch als unfein, wenn Frauen das Cello zwischen die
The Cellist
Ballett von Cathy Marston
Choreografie und Inszenierung
Cathy Marston
Musikalische Leitung
Paul Connelly
Musikarrangements / Originalkomposition
Philip Feeney
Szenarium
Cathy Marston und Edward Kemp
Bühnenbild
Hildegard Bechtler
Kostüme
Bregje van Balen
Lichtgestaltung
Jon Clark
Dramaturgie
Edward Kemp, Michael Küster
Philharmonia Zürich
Ballett Zürich
Junior Ballett
Schülerinnen der Tanz Akademie Zürich
Premiere 30 Apr 2023
Weitere Vorstellungen
6, 14, 18, 20 Mai;
15, 15, 20, 22 Jun 2023
Partner Ballett Zürich a b
Beine nahmen. Schaut man sich den BBC-Filmmitschnitt ihres Elgar-Konzerts aus dem Jahr 1967 an, wirken du Prés Bewegungen jedenfalls so natürlich wie musikalisch. Ihr Konzertkalender ist dicht gefüllt. Anfang 1967 spielt sie in Osteuropa und der Sowjetunion. Im April gibt sie ihr erstes Konzert mit Barenboim als Orchesterchef. Nach Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs fliegen beide nach Israel, um in Konzerten ihre Solidarität mit dem jüdischen Staat zu bekunden. Zwischendurch heiraten sie, du Pré konvertiert zum Judentum. Danach geht es weiter nach Amerika. Der Dokumentarfilm Du Pre in Portrait von Christopher Nupen zeigt sie im Flugzeug mit dem Cello auf dem Nebensitz, der jeweils auf den Namen Miss Stradivarius gebucht wird. Es sind fröhliche Bilder einer ungemein attraktiven Frau, die menschlich wie künstlerisch auf dem Höhepunkt ist. Hinter dem strahlenden Lachen – ihre engsten Freunde nennen sie Smiley – sind weder ihre stetig wachsende Flugangst noch die Symptome der langsam ausbrechenden Krankheit zu erkennen: Müdigkeit, Doppelbilder, plötzliches Stolpern.
Multiple Sklerose ist am Anfang schwer zu diagnostizieren. Die Ärzte tun du Prés Beschwerden als psychische Erkrankung ab, bis die sensible Musikerin selbst daran glaubt. 1971 ist die Krise handfest. Sie pausiert und trennt sich kurzzeitig von Barenboim. Die Depressionen werden auch nach einem längeren Landaufenthalt bei ihrer Schwester Hilary und Schwager Christopher Finzi nicht besser. Über diese Zeit erzählt die Schwester 1997 in ihrem Buch Hilary und Jackie von einer Affäre zwischen Jackie und Finzi – das Geständnis hat zuerst einen kleinen Skandal und später einen Kinofilm zur Folge.
1972 gelingt der Cellistin noch einmal ein kurzes Comeback. Sie spielt, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, doch die Symptome kehren zurück. Das BrahmsDoppelkonzert am 26. Februar 1973 mit Geiger Pinchas Zukerman unter der Leitung von Leonard Bernstein wird ihr letztes Konzert. Hände und Arme fühlen sich so taub an, dass sie die Töne nicht mehr trifft. Bernstein bringt sie am selben Abend zu einem Arzt, aber es wird noch sieben Monate dauern, bis die Diagnose gestellt wird: eine besonders aggressive Form von multipler Sklerose, die am Ende zu völliger Lähmung führt. Der Schock ist unermesslich – mit der Fähigkeit, Cello zu spielen, stirbt ein wesentlicher Teil ihrer Identität. Aber sie zeigt sich tapfer, gründet 1978 einen MSForschungsfonds und tritt einige Male als Sprecherin in Peter und der Wolf auf. Solange es geht, gibt sie Meisterklassen und Einzelunterricht. Die Ehe besteht auf dem Papier weiter, doch feste Beziehungen hat sie am Ende nur noch zu ihrem Psychoanalytiker und zu der Krankenschwester, auf die sie rund um die Uhr angewiesen ist. Am 19. Oktober 1987 stirbt Jacqueline du Pré im Alter von 42 Jahren.
Cathy Marston ist ab der kommenden Saison neue Direktorin des Balletts Zürich. Jetzt hat im Opernhaus mit «The Cellist» ihr erstes eigenes Stück Premiere. Es ist viel mehr als ein Ballett über das tragische Leben der Cellistin Jacqueline du Pré. Es erzählt vom unbedingten Willen zur Kunst, vom Begabtsein, von Höhenflügen der Gefühle und von Liebe und Verlust. Ein Gespräch mit der Choreografin
Fotos Admill KuylerCathy, bevor du mit der neuen Saison als neue Direktorin das Ballett Zürich übernimmst, stellst du dich dem Zürcher Publikum mit dem Ballett The Cellist vor. Es ist 2020 für das Royal Ballet in London entstanden. Was sagt diese Wahl über die Programmatik der künftigen Ballettdirektorin aus?
Es war der Wunsch von Christian Spuck, The Cellist in Zürich aufzuführen. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich so generös in seine letzte Spielzeit eingeladen hat und damit einen sehr harmonischen Übergang in der Direktion des Balletts Zürich ermöglicht. The Cellist ist eines meiner jüngeren Stücke. Es ist sehr charakteristisch für meine Art des Choreografierens. Obwohl es kein traditionelles Handlungsballett ist, handelt es sich gleichwohl um ein erzählerisches Stück. Die Vorlage lieferte in diesem Fall kein literarisches Werk, sondern die Biografie der Cellistin Jacqueline du Pré. Schon in Balletten wie Hexenhatz und Victoria habe ich mich seinerzeit mit Biografien historischer Persönlichkeiten auseinandergesetzt, wobei ich mir bei der Recherche über die jeweilige Person immer genau überlege, aus welchem Blickwinkel sie beleuchtet werden soll. Für The Cellist kamen mir Erfahrungen zugute, die ich bei The Suit, einem Stück für das Ballet Black, gemacht habe. Damals habe ich versucht, das Bühnenbild aus den Mitgliedern des Corps de ballet zu entwickeln, also einzig mit den menschlichen Körpern und praktisch ohne gegenständliche Requisiten auszukommen. Auf diesem Weg möchte ich weitergehen.
In The Cellist beschäftigst du dich mit der grossen Cello-Legende Jacqueline du Pré. Wie ist es zu dieser Stoffauswahl gekommen?
Meine Schwester unterrichtet Schauspiel an einer High School. Als sie ein neues Büro bezog, hatte dort jemand ein ausrangiertes Cello zurückgelassen. Sie benutzte es für eine Improvisationsübung mit ihrer Klasse und erzählte mir begeistert davon. Als sie den Namen von Jacqueline du Pré ins Spiel brachte, erinnerte ich mich an eine Idee, die schon lange in meinem Kopf herumspukte. In meinem Ballett Dangerous Liaisons in Kopenhagen gab es eine kurze magische Sequenz, in der ein Tänzer ein Cello verkörpert. Mich hat der Gedanke fasziniert, dem Cello eine choreografische Form zu geben, und ich fand das damals gar nicht schwierig. Das Cello ist das menschlichste aller Instrumente; es sieht aus wie eine Person, es klingt wie eine Person, und man hält es wie eine Person. Sobald ich herausgefunden hatte,
was passierte, konnte ich die Choreografie in etwas Poetischeres verwandeln. Vielleicht war das also jetzt die Chance für ein ganzes Cello-Ballett? Hinzu kam, dass unsere Mutter genau wie Jacqueline du Pré an Multipler Sklerose erkrankt war und sich so eine persönliche Beziehung zur Geschichte Jacqueline du Prés ergab. Ich habe viel recherchiert, ob sich dieses Thema wirklich für eine choreografische Umsetzung eignet. Gemeinsam mit meinem langjährigen Mitarbeiter Edward Kemp ist dann das Szenarium zu The Cellist entstanden.
Was prädestiniert Jacqueline du Pré als Hauptfigur eines Handlungsballetts? Die Biografie von Jacqueline du Pré bietet allein schon Stoff für einen Roman, und sie ist ja auch mit grossem Medienecho verfilmt worden. Der wunderbare frühe Erfolg und der Glanz ihrer Ehe mit dem Dirigenten Daniel Barenboim machten du Pré zu einer Berühmtheit, doch als sie im Alter von 28 Jahren an Multipler Sklerose erkrankte, wurde ihr Leben zur Tragödie. Jackies Geschichte ist so voller Emotionen, so voller Liebe und Verlust. Mehr als ihre Biografie hat mich interessiert, wie man mit der Gabe eines künstlerischen Talents umgeht. Wann ist es wirklich ein Geschenk, wann wird es zum Fluch, welche Verantwortung lädt man sich auf? In Jackies Geschichte gibt es den berühmten Moment, als sie zum ersten Mal ein Cello im Radio hört und sagt: «Mami, ich will diesen Ton machen!». Was wäre passiert, wenn die Mutter damals nicht den Klassiksender eingestellt hätte? Oder wenn Jackie nicht in ihre musikbegeisterte Familie hineingeboren worden wäre? Das alles bleibt Spekulation, aber es hat mich zum Nachdenken gebracht über die Natur des Talents, über Jackies Beziehung zu ihrem Talent. Für mich als ehemalige Tänzerin ist dieser Gedanke nicht so weit hergeholt. Jede Tänzerin kennt diese Hassliebe zu ihrem Talent. An manchen Tagen ist man richtig gut drauf, weil es gut läuft. Man ist für eine neue Rolle besetzt, man fliegt, und es ist ein wunderbares Gefühl. Und an anderen Tagen funktioniert nichts. Dann hat man keine Rolle, der Körper schmerzt, und man möchte die Spitzenschuhe in den See werfen.
Nun könnte man es sich leicht machen und sich irgendwie an den biografischen Stationen dieser Ausnahme-Cellistin entlanghangeln. Dein Ballett ist jedoch kein Biopic. Wovon erzählst du?
Mir war sehr schnell klar, dass ich kein biografisches Ballett im engeren Sinne choreografieren wollte. Deshalb sind die Fakten von Jacqueline du Prés Geschichte auf das Wesentliche reduziert, und auch allen Klatschgeschichten über ihr Privatleben gebe ich keinen Raum. Vielmehr wird das Cello selbst zum Protagonisten, durch den Jackies Geschichte erzählt wird. Nachdem ich mir das Cello als Menschen vorgestellt hatte, der von einem Tänzer verkörpert wird, war es ganz natürlich, ihm Emotionen zu geben. Ich habe darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn dieses Instrument Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen hätte. Es ist durch viele talentierte Hände gegangen, ist wahrscheinlich vor allem von Männern gespielt worden. Und plötzlich taucht dieses junge Mädchen mit den strahlenden Augen auf, das mit einer geradezu ungebändigten Leidenschaft spielt und gleichzeitig diese unwiderstehliche Anmut ausstrahlt. Was würde das Cello für sie empfinden? In dem Ballett geht es ebenso sehr darum, wie sich das Cello an Jackie erinnert, wie es um sie als Person geht. Das Cello ist nicht nur das Instrument, das sie spielt, es ist der Geist ihrer Musik und die Verkörperung ihrer Gabe. Es ist auch die Figur, die den Verlust ihrer Gabe am stärksten spürt, als ihre Finger zu taub zum Spielen werden und sie es zurückweist. Aber natürlich gibt es noch einen richtigen Menschen, der involviert ist, nämlich den Dirigenten. Das Vorbild für diese Figur ist Jackies Ehemann, der Dirigent Daniel Barenboim. Wir haben das für das Ballett abstrahiert und nennen die Figuren nicht bei ihren tatsächlichen Namen. Die Dreierbeziehung zwischen Cellistin, Dirigent und Instrument findet ihren tänzerischen Ausdruck in der Form des Pas de trois. Meistens benutzt man diese Form im Handlungsballett ja, um Spannungen oder Eifersucht auszudrücken, aber in
diesem Fall wollen alle drei das Gleiche. Sie sind in der Musik miteinander verbunden und schaffen in ihrer Verbindung immer wieder magische Glücksmomente.
Wenn man dokumentarische Aufnahmen von Jacqueline du Pré anschaut, dann fällt die starke Körperlichkeit auf, mit der sie musiziert. Die starke Bewegung des Oberkörpers ist geradezu ein Markenzeichen ihres Spiels, auch wenn das sogar lange Zeit als Sakrileg wahrgenommen wurde. Wie hast du das Verhältnis von Instrument und Interpretin in deinem Stück eingefangen? Natürlich gibt es keinen «Bogen», mit dem die Cellistin auf dem personifizierten Instrument herumstreicht. Als wir angefangen haben, das Bewegungsvokabular für den Cello-Mann zu entwickeln, haben wir alle möglichen Positionen ausprobiert. Ihr zugewandt, sitzend, stehend, knieend, gebeugt. Letztlich geht es um Jackies völlige Hingabe an ihr Instrument, das man auch in den Dokumentaraufnahmen immer wieder ungläubig zur Kenntnis nimmt. Diese Körperlichkeit in Verbindung mit ihren Augen, die in eine imaginäre Welt zu blicken scheinen. Das Cello ist ihr Partner dabei, und für mich fühlt es sich fast so an, als würden sie gemeinsam auf einem Drachen reiten. Sie sind sich sehr nahe.
Nicht nur Daniel Barenboim, sondern auch andere grosse Musiker wie Mstislaw Rostropowitsch, Itzhak Perlman oder Pinchas Zukerman sind in das Ballett eingeflossen…
Es geht nicht darum, beim Anschauen des Balletts herauszufinden, wer Rostropowitsch ist, wer Perlman oder wer auch immer. Ich wollte in der Verbindung zu Jackie kontrastierende Charaktere schaffen und sie in ihrer musikalischen Familie darstellen. Wir sehen sie also am Anfang als junges Mädchen, das seine erste Cellostunde bei seiner Mutter hat. Wir erleben, wie sie ihr erstes Konzert spielt, und wir werden Zeuge, wie sich ihre Welt immer weiter ausdehnt und sie all jene fabelhaften Musiker trifft, mit denen sie in einen musikalischen Dialog tritt. Dabei ist es nebensächlich, wer genau das jetzt sein könnte. Für die Choreografie allerdings war es wichtig, jedem Tänzer mit kleinen Details eine Unverwechselbarkeit zu geben. Ich finde es wunderbar zu sehen, wie Jackie im Kontakt zu ihren Musikerkollegen zu jener freien, lebenslustigen und humorvollen Person wird, als die wir sie in Erinnerung haben.
Die Tragödie im Leben von Jacqueline du Pré ist ihre Erkrankung an Multipler Sklerose, die ihrer musikalischen Karriere ein jähes Ende setzen wird. Wie ändert sich das Verhältnis zu ihrem Instrument?
Nach der Diagnose hat Jacqueline du Pré noch vierzehn Jahre gelebt. Die Zeit ihrer Ungewissheit davor hat mich sehr beschäftigt. Sie ist eine lebhafte, quirlige Person, und plötzlich fühlt sie sich extrem müde. Wie erlebt sie die ersten Anzeichen körperlicher Dysfunktion, die tauben Hände, das Zittern? Damals hat man das nicht notwendigerweise sofort mit der Krankheit in Verbindung gebracht. Vielleicht dachte sie, mit ihrem Mann nicht mithalten zu können, vielleicht fühlte sie sich dem Druck der Musikerinnenkarriere nicht gewachsen. Und vielleicht hat sie sogar ihrem Cello die Schuld dafür gegeben! Im Film Hilary and Jackie gibt es die sehr eindrückliche Szene, in der sie das Cello nachts auf den Balkon stellt. Für den Zustand des Instruments ist das natürlich schrecklich, und die Musik zeichnet da in einer übertriebenen Geräuschhaftigkeit nach, wie sich das Holz in der Kälte zusammenzieht. Was macht man mit seinem besten Freund, wenn etwas schiefläuft? Manchmal schlägt man auf die Menschen ein, die einem am nächsten stehen, und in diesem Fall bekommen das Cello und auch ihr Mann Jackies Ausbrüche zu spüren. Bei der schubweise verlaufenden Erscheinungsform dieser Krankheit wechseln sich Phasen der Verbesserung und der Verschlechterung des Gesundheitszustandes ab. Du weisst nicht: Wirst du nächste Woche spielen können oder nicht? Du gehst auf die Bühne, setzt den Bogen an und spürst, es geht nicht. Finger und
Arme versagen ihren Dienst. Wie schrecklich und niederschmetternd muss dieser Moment sein! Und wie erlebt sie es, in den ihr verbleibenden Jahren mit ihrer eigenen Kunst konfrontiert zu sein, die eigenen Aufnahmen zu hören? Jacqueline du Pré hat bis zum Schluss am künstlerischen Leben teilgenommen, bis zu jenem Moment, in dem sie ihr Cello ein letztes Mal in den Armen hält. Die sich immer weiterdrehende Schallplatte in meinem Ballett erzählt davon, dass Jacqueline du Pré in ihrer Kunst weiterlebt und bis heute Inspiration für eine junge Cellistengeneration darstellt.
Multiple Sklerose in einem Ballett zu thematisieren, könnte als Verletzung eines Tabus wahrgenommen werden. Welche Bedenken sind im Entstehungsprozess des Balletts aufgetaucht?
Ich habe mir tatsächlich die Frage gestellt, ob und wie sehr man da möglicherweise eine Grenze verletzt. Von Anfang an war mir klar, dass man gespielte Krankheitssymptome nicht in Verbindung mit bestimmten tänzerischen Figuren wie etwa einer Arabeske bringen kann. In London haben wir mit einer ehemaligen BBC-Journalistin zusammengearbeitet, die seit Jahren mit der Krankheit lebt. Sie hat uns von ihrem Leben und ihrem Alltag mit MS erzählt und insbesondere die Jackie-Tänzerinnen sehr für die Problematik sensibilisiert. Wir sind in Kontakt mit weiteren MS-Patienten getreten, weil es mir wichtig war, deren Erfahrungen in die Choreografie einfliessen zu lassen. Die Londoner Aufführung wurde in Kinos übertragen und war während des Corona-Lockdowns für längere Zeit per Stream abrufbar. Ich habe viele positive Rückmeldungen von Menschen bekommen, die entweder selbst mit der Krankheit leben oder deren Angehörige davon betroffen waren. Dass sie sich in dem Ballett ernst genommen und repräsentiert sahen, war ein schönes Echo auf unsere Arbeit.
Die grosse emotionale Amplitude ist eine Herausforderung an die Tänzerin der Hauptrolle in The Cellist. Welche Qualitäten muss sie mitbringen? Sie muss Herz und Seele in ihre Interpretation legen und sich vorstellen, wie sich dieses Leben in jeder Situation angefühlt hat. Als ich das Stück mit den Tänzerinnen und Tänzern des Royal Ballet kreiert habe, haben wir die Geschichte von Jacqueline du Pré sehr verinnerlicht. Die Geschichte steckt in den Schritten und Bewegungen. Ich bin sicher, dass es auch der Zürcher Besetzung gelingt, in die Momente dieses Lebens einzutauchen und sie mit uns zu teilen. Es ist etwas anderes, eine Person zu verkörpern, die es wirklich gegeben hat. Das kann man nicht mit einer Giselle oder Julia vergleichen. Die Leute im Publikum könnten Jacqueline du Pré tatsächlich gekannt haben. Jackies Schwester Hilary hat zum Beispiel eine Vorstellung des Balletts in London besucht. Man hat da also eine ganz andere Verantwortung, derer man sich bewusst sein muss.
… zumal einige der beteiligten Personen noch am Leben sind. Wir haben schon kurz über Daniel Barenboim gesprochen. Wie war seine Reaktion auf dieses Projekt?
Nachdem feststand, dass wir The Cellist mit dem Royal Ballet herausbringen wollten, bin ich mit Kevin O’Hare, dem Ballettdirektor, nach Berlin geflogen, um Barenboim zu treffen. Er war überrascht von der Idee, Jacqueline du Prés Geschichte in einem Ballett zu erzählen, hat uns dann aber geradezu ermutigt und uns auch mit einigen weiterführenden Informationen versorgt. Ich musste ihm versprechen, dass er ein sehr gutaussehender Mann sein würde, und das Versprechen habe ich gehalten.
Die Musik zu The Cellist stammt von dem englischen Komponisten Philip Feeney. Er hat dafür verschiedene Kompositionen aus Jacqueline du Prés Repertoire verwendet. Welche Auswahlkriterien haben dabei eine Rolle gespielt?
Vor allem das Cellokonzert von Edward Elgar ist bis heute untrennbar mit dem Namen von Jacqueline du Pré verbunden. Ihre Aufnahme mit dem Dirigenten John Barbirolli gilt als Referenzaufnahme des Stücks. Meine ursprüngliche Idee war es, Philip Feeney um eine neue Partitur zu bitten, in die verschiedene Elgar-Anklänge eingebettet sind. Aber je weiter wir mit der Arbeit am Szenarium fortschritten, desto mehr wurde uns klar, dass wir uns nicht auf das Elgar-Konzert beschränken können würden. Das Repertoire von Jacqueline du Pré war ja viel umfangreicher, und so entschieden wir uns für eine Collage aus Stücken von Rachmaninow, Fauré, Mendelssohn, Elgar und Beethoven, die Philip Feeney in einem Arrangement mit seiner eigenen Musik verwoben hat.
Das Bühnenbild von Hildegard Bechtler nimmt die Cello-Thematik auf. Welche Ideen habt ihr dafür umgesetzt?
Ich habe mir für das Stück einen «Erinnerungsraum» gewünscht, in dem jeder Schauplatz der Erzählung, ob Konzertsaal, Garderobe oder Krankenstation, ohne ein schwerfälliges, buchstäbliches Bühnenbild evoziert werden kann. Hildegard stiess bei ihren Recherchen auf faszinierende Innenansichten von Cellos. Die eleganten Kurven in Verbindung mit dem Licht, das durch die Schalllöcher fällt – das hatte eine grosse Poesie. Das daraus resultierende Bühnenbild mit drei geschwungenen Wänden, die gedreht werden können, erwies sich als der richtige Raum für dieses Künstlerinnenleben. Es ist sehr feminin, voller Echos und Resonanzen.
Dein eigenes Künstlerinnenleben, Cathy, hat in den Neunzigerjahren im Ballett Zürich begonnen. Was bedeutet es, jetzt als Direktorin an deine einstige Wirkungsstätte zurückzukehren?
Es ist ein sehr schönes Gefühl von Vertrautheit, und es hat etwas von Nach-HauseKommen. Ich bin damals mit 18 nach Zürich gekommen und habe hier für zwei Spielzeiten getanzt. Damals sind wunderbare Freundschaften entstanden, und ich erinnere mich gern an diese Zeit. Jetzt wieder hier zu stehen, auf den See und das Opernhaus zu schauen, gibt mir das Gefühl, wieder 18 zu sein. Dass ich einmal diese wunderbare Aufgabe mit dem Ballett Zürich vor mir haben würde, hätte ich mir nicht träumen lassen, aber inzwischen fühlt es sich gut an.
Das Gespräch führte Michael Küster
Aus welcher Welt kommst du gerade? Das Ballett beansprucht den grössten Teil meiner Zeit. Den anderen Teil verbringe ich in einer völlig anderen Welt, die ich mit den Augen meiner kleinen Tochter zu sehen versuche. Meine Frau Mélissa tanzt ebenfalls am Opernhaus. Gemeinsam jonglieren wir ständig mit den Bedürfnissen dieser zwei Welten, die beide absoluten Einsatz und Konzentration erfordern.
Was macht das Ballett Zürich für dich so besonders?
Trotz der vielen unterschiedlichen Charaktere innerhalb unseres Ensembles finden wir uns immer wieder in dem gemeinsamen Bemühen, das Beste aus unserer Kunst herauszuholen. Das schweisst uns zusammen, und nur so ist es möglich, das sehr weit gespannte Repertoire des Balletts Zürich in höchster Qualität zu präsentieren.
Worauf freust du dich in Cathy Marstons Ballett The Cellist?
Zum ersten Mal werde ich ein Instrument verkörpern! Das ist eine sehr vielfältige Aufgabe. Zum einen steht dieser Cello-Tänzer wirklich für das Instrument, aber er steht auch für ein Talent, das darauf wartet, entdeckt zu werden. Er verkörpert die Liebe zur Musik, wird zum Zufluchtsort in schwierigen Situationen und symbolisiert die Erinnerung an die grosse Cellistin Jacqueline du Pré.
Welches Bildungserlebnis hat dich besonders geprägt?
Nach Abschluss meiner Tanzausbildung war es nicht einfach, ein Engagement zu finden. Beim Juniorballett des Houston Ballet entdeckte ich dann, wie bewegend Kunst sein kann. Dort habe ich gelernt, dass Talent sich für wahre Kunst immer mit Leidenschaft verbinden muss.
Welches Buch würdest du niemals aus der Hand geben?
Ein Buch, das ich von meiner Schwester bekommen habe: Tuesdays with Morrie von Mitch Albom. Es sind die Memoiren eines erfolgreichen Sportjournalisten, der seinen ehemaligen Soziologieprofessor wiedertrifft, als bei ihm ALS diagnostiziert wird. Morrie hält seinem einstigen Studenten eine letzte Vorlesung über das Leben. Es ist ein hoffnungsvoll stimmendes Buch mit einer grossartigen Perspektive.
Welche Musik kannst du immer wieder hören?
Ein Album, das ich immer wieder höre, ist Hush von dem einzigartigen Vokalkünstler Bobby McFerrin und dem Cellisten Yo-Yo Ma. Obwohl beide einen ganz unterschiedlichen Background haben, gelingt ihnen gemeinsam eine geistreiche und humorvolle Sicht auf die klassische Musik.
Mit welchem Künstler würdest du gern essen gehen?
Im Grunde mit jedem Künstler, der eine leidenschaftliche Botschaft zu vermitteln hat.
Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Ich würde mir wünschen, dass die Welt bis dahin einige ihrer brennendsten aktuellen Probleme überwunden haben wird. Dass Menschen mit anderen Ansichten nicht vorverurteilt werden, sondern empathische Gespräche führen können und sich endlich besser verstehen. Wir werden die Dinge niemals alle auf die gleiche Weise sehen, aber vielleicht gelingt es uns irgendwann, eine andere als die eigene Meinung gelten zu lassen.
Wei Chen stammt aus den USA. Nach einem Engagement beim Royal Ballet of Flanders ist er seit 2013 Mitglied des Balletts Zürich und war hier in verschiedensten Rollen zu sehen. In Cathy Marstons Ballett «The Cellist» wird er das Cello von Jacqueline du Pré verkörpern.
So 20.08.
KKL Luzern
«LA BARTOLI» SINGT
HÄNDEL & VIVALDI
Il Pomo d’Oro | Maxim Emelyanychev | Cecilia Bartoli u.a.
Di 22.08.
KKL Luzern
RICHARD WAGNER
«DAS RHEINGOLD»
Dresdner Festspielorchester | Concerto Köln | Kent Nagano
Simon Bailey | Mauro Peter | Gerhild Romberger | Annika Schlicht | Nadja Mchantaf | Daniel Schmutzhard | Thomas Ebenstein u.a.
Mo 04.09.
HENRY PURCELL
08.08. – 10.09.
TICKETS AB CHF 30
KKL Luzern Sommer-Festival 2023
«THE FAIRY QUEEN»
Les Arts Florissants | William Christie | Mourad Merzouk | Solist*innen des «Jardin des Voix» 2023
14.4.–2.7.2023
Truus
kunsthaus.ch
Die Zauberflöte – Beleuchtungsplan
Unsere Beleuchtungstechnik hat zwischen einer Probe am Vormittag und der Vorstellung am Abend nur begrenzt Zeit, um das Licht einzurichten; bevor die Bühnentechnik mit dem Aufbau des Bühnenbildes beginnen kann, müssen die Scheinwerfer fertig aufgebaut bzw. in die Zugstangen über der Bühne eingehängt sein. Deshalb braucht es Pläne, in denen genau und übersichtlich festgehalten ist, welche Scheinwerfer zum Beispiel in der «Zauberflöte» gebraucht werden und wo genau sie hängen sollen. Aus den vielen verschiedenen Lichtquellen, die in den Zügen über der Bühne hängen, seitlich in den Gassen aufgebaut sind, auf dem Boden an der vorderen Bühnenkante stehen («Fussrampe») oder ins Bühnenbild integriert wurden («Einbauten Häuser»), setzen sich die Lichtstimmungen zusammen; während einer Vorstellung wie der «Zauberflöte» sind es bis zu 137 verschiedene. Für diese Lichtstimmungen existiert ein präzise auf die Musik festgelegtes Timing, das in einen Klavierauszug eingetragen wird. Ein:e Lichtinspizient:in gibt während der Vorstellung die entsprechenden Kommandos ans Stellwerk, die lichttechnische Steuerzentrale, weiter. Achtung für Stimmung 121a – go!
In einem zutiefst berührenden Musiktheaterabend spürt
Christian Spuck gemeinsam mit Vokalsolisten, dem Ballett Zürich und dem Orchestra La Scintilla der Emotionalität in der Musik
Claudio Monteverdis nach.
Die jungen Talente des Internationalen Opernstudios sind diese Spielzeit mit Georg Friedrich Händels «Serse» (Xerxes) zu Gast am Theater Winterthur. «Serse» zählt zu Händels letzten Opern, bei der nicht nur der Evergreen «Ombra mai fu» lockt: Das Werk ist eine Tragikomödie voller Intrigen und Missverständnisse, bei der die Figuren ein enormes Gefühlsspektrum durchleben. Im Gespräch erläutern Regisseurin Nina Russi und Dirigent Markellos Chryssicos ihre Herangehensweise an das Stück
Nina, Händels Oper beginnt damit, dass Serse die Schönheit eines Baumes besingt. Es ist das berühmte Larghetto «Ombra mai fu». Was sagt das über die Oper und ihre Titelfigur aus?
Nina Russi: Das ist ein kurioser Beginn. Der historische Herrscher Xerxes war ja bekannt als skrupelloser Machtmensch. Und hier: Ein Tyrann, der vollkommen bei sich ist und sich an der Schönheit der Natur, an einem Baum ergötzt? Natürlich fragt man sich, wie das zusammengeht. Das hat etwas Tragikomisches und ist auch der Grundton dieser Oper. Tatsächlich war der historische Xerxes nicht nur Machtmensch, sondern eine schillernde, verrückte Persönlichkeit. Die Episode mit der Liebe zur Platane scheint sogar historischen Tatsachen zu entsprechen. Angeblich liess er das Meer auspeitschen und Fussfesseln hineinwerfen, als seine Brücke über den Hellespont nicht hielt. Händel ist aber grundsätzlich nicht am historischen Vorbild interessiert, sondern an den privaten Seiten eines Herrschers, der gewohnt ist, alles zu bekommen und dafür schamlos über Grenzen geht. Händel zeigt diese Figur, wie sie permanent scheitert und sich mit ihren menschlichen Abgründen konfrontiert sieht.
Es ist die Liebe, die den souveränen Herrscher aus dem Konzept bringt.
Nina Russi: Ich würde sagen, zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt. Wir sehen Serse nie in der Öffentlichkeit, sondern nur im Verbund mit anderen Figuren, mit denen es ihm schwerfällt, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen. Aber nur so ist wahre Liebe möglich. Das ist wahrscheinlich auch die geheime Botschaft dieser Oper, die so leicht und luftig und gleichzeitig tiefsinnig daherkommt wie ein Stück von Shakespeare und bereits auf die Opern Mozarts vorausweist.
Worum geht es denn in dieser Geschichte? Kann man sie überhaupt nacherzählen?
Nina Russi: Das ist im Detail ähnlich kompliziert wie bei Le nozze di Figaro. Wer gerade welchen Wissensstand aufgrund welchen Briefes hat, die vielen Missverständnisse, Intrigen und Verwechslungen, ist verwirrend. Im Grunde genommen ist es aber eine ziemlich traurige Familiengeschichte zwischen zwei Halbbrüdern, Serse und Arsamene, und den beiden Schwestern Romilda und Atalanta. Arsamene und Romilda sind ein Paar, aber Serse setzt sich in den Kopf, Romilda zu erobern, und Atalanta versucht, ihrer Schwester den Freund auszuspannen. Dann gibt es noch Amastre, Serses Ex-Verlobte, sowie Elviro, den schrägen Kumpel von Arsamene. Ariodate, der Vater der beiden Schwestern und ehemaliger Angestellter von Serse, bringt auch einiges durcheinander. Es sind nur sieben Personen, aber es werden sämtliche denkbaren Figurenkonstellationen durchgespielt, und das in einem rasenden Tempo. Manchmal fühlt man sich wie in einer Stegreifkomödie, so schnell wechseln die Situationen.
Markellos, wie sieht diese Stegreifkomödie auf der musikalischen Ebene aus?
Markellos Chryssicos: Dazu möchte ich vorausschicken, dass sich Händel in der Zeit des Serse an einem künstlerischen und ökonomischen Scheideweg befand. Sein Opernunternehmen ging Pleite, das Londoner Publikum verlor allmählich das Interesse an der Opera seria, wie sie dreissig Jahre lang zu erleben war. Händel musste sich neu erfinden und schrieb nach Serse ja dann auch seine grossen Oratorien. Zur Zeit der Komposition von Serse war Händel sehr von der Beggars’ Opera von Pepusch und Gay inspiriert, die einen enormen Einfluss auf das damalige Musikleben in London hatte. Darin verlor die klassische, starre Form der da-CapoArie ihre Vorrangstellung, vielmehr standen jetzt kurze Nummern, Volksweisen und Volkslieder im Zentrum. Die Tendenz zu kürzeren Formen lässt sich auch bei Serse beobachten, auch wenn Händel die da-Capo-Arien nicht ganz abschafft, sie aber doch oft auffällig kurz gestaltet. Es gibt in Serse viele Ariosi-Formen oder Nummern, die ganz ohne musikalische Einleitung auskommen. Diese Formen-
vielfalt mag den Eindruck von etwas Improvisiertem erwecken oder eben von einer Stegreifkomödie. Ich sehe darin auch eine Abkehr vom Elitären, hin zu mehr Volksverbundenheit, gerade auch in den Buffo-Elementen dieses Stücks.
Nina Russi: Auffällig ist auch, dass es nicht mehr soviele Rezitative gibt und die Handlung zuweilen sogar in den Arien vorangetrieben wird. Die Sprache des Librettos ist sehr direkt und einfach, im besten Sinne. Ich kenne das so von keiner anderen Händel-Oper.
Jedenfalls unterscheidet sich Serse sehr von Händels drei Jahre zuvor entstandener Magic-Opera Alcina, die mit viel aufwändigem Bühnenzauber gezeigt wurde. Sämtliche Vorgänge – erotische Verführung oder das Spiel mit den Geschlechtern – geschehen dort unter dem Deckmantel der Zauberei…
Nina Russi: Händels Serse kommt ganz ohne barocken Theaterzauber aus. Manchmal sind die theatralen Situationen sogar beinahe Alltagssituationen nachempfunden. Für mich sind das allesamt sehr heutige Figuren, es sind moderne Konstellationen, und es werden heutige Themen verhandelt. Das hat mich von Anfang an fasziniert. Es war für uns als Team klar, dass wir diese Geschichte mit modernen Mitteln und modernen Menschen erzählen wollen. Es sind junge Menschen, die auf Identitätssuche sind, dabei tiefe Sehnsucht haben nach Liebe und der Erfüllung ihres Begehrens. Händel zeigt in jedem Moment: Verliebt zu sein ist ein Ausnahmezustand. Serses Leidenschaft macht ihn zum Beispiel geradezu blind gegenüber allen und allem. So kann man durchaus verstehen, warum Serse seine von ihm verstossene Verlobte Amastre nicht erkennt, als sie in einer Tarnidentität wieder die Nähe zu ihm sucht.
Markellos, die unterschiedlichen Arien kommen mir wie ein buntes Kaleidoskop vor. Welche Farbe hat Serse, wie ist er musikalisch charakterisiert?
Markellos Chryssicos: Das kann man so nicht sagen. Ich gehöre zu denjenigen, die behaupten, dass die psychologische Grundierung eines Charakters in der Identität und Tiefe, wie wir sie von Figuren in späteren Opern kennen, im Barockzeitalter so noch nicht existiert. Die Arien sind eher Gefässe und daher auch oft austauschbar. Die berühmte Arie «Lascia ch’io pianga» aus Rinaldo hat Händel zum Beispiel aus seiner früheren Oper Il trionfo del tempo e del disinganno eins zu eins übernommen und einfach nur den Text geändert. Selbst die sogenannte Tonartencharakteristik schien für Händel keine Rolle zu spielen: War eine Arie für einen Sänger oder eine Sängerin zu hoch, transponierte er sie einfach um einen Ton tiefer. Händel war da sehr pragmatisch.
Nina Russi: Die beiden Brüder Serse und Arsamene zum Beispiel sind in ihren Arien aber doch auch musikalisch gezeichnet und voneinander abgegrenzt. Arsamene hat auffällig viele langsame, tiefe Arien, die auf einen eher depressiven, melancholischen Charakter hinweisen. Deshalb ist Arsamene in unserer Inszenierung ein Singer-Songwriter, ein Künstlertyp, der immer wieder mit sich hadert und an allem zweifelt. Er leidet sehr unter der Rivalität mit seinem Halbbruder und ist sich nicht sicher, ob ihm Romilda wirklich die Treue hält, nachdem ihn sein Bruder aus dem Haus gejagt hat. Im Gegensatz zu Serse ist Arsamene viel reflektierter, tiefgründiger, und er ist eindeutig der Sympathieträger des Abends.
Markellos Chryssicos: Für dich als Regisseurin ist es natürlich wichtig, einen starken dramaturgischen Rahmen zu setzen, um den Vorgängen auf der Bühne Plausibilität zu verleihen und die Charaktere lebendig werden zu lassen. Das ist richtig und schön – und hilft letztlich auch der musikalischen Interpretation. Denn es gibt unendlich viele Möglichkeiten, diese Musik zum Leben zu erwecken.
Händel standen ganz bestimmte Sängerinnen und Sänger zur Verfügung, denen er die Partien auf den Leib schrieb. Das waren ja auch sehr spezifische Charaktere …
Markellos Chryssicos: Natürlich. Händel schrieb für die Gesangsstars der damaligen Zeit. Als Serse hatte er den berühmten Kastraten Caffarelli, als Romilda die Francesina, die später auch vielen Händel-Oratorien ihren Stempel aufdrücken sollte. Das ging meistens sehr gut. Wenn es eine Wiederaufnahme gab und die Besetzung wechselte, machte Händel kleinere Änderungen, aber nicht mehr allzu grosse. Seine kreative Energie steckte er jeweils in die Uraufführungen. Aber er verfuhr dabei, wie gesagt, sehr pragmatisch. Der romantische Geniebegriff greift bei Händel jedenfalls nicht, Händel war auch Unternehmer und sah sich mit vielen täglichen Theaterproblemen konfrontiert. Es gibt dieses wunderbare Buch von Benedetto Marcello mit dem Titel Il teatro alla moda. Darin beschreibt er höchst unterhaltsam, wie das Theater damals funktionierte, und gibt Künstlerinnen und Künstlern viele Tipps. Einem Kostümdbildner empfiehlt er beispielsweise, ein Kostüm erst in letzter Minute zu zeigen, da sich die Sänger anderenfalls beschweren und Änderungen verlangen könnten. Die Probleme haben sich bis heute nicht verändert... Dennoch: Wenn wir eine Zeitreise ins Barockzeitalter unternehmen würden, wären wir überrascht, wie damals Oper gemacht und rezipiert wurde. Das hat rein gar nichts damit zu tun, wie wir heute mit diesen Werken umgehen.
Wir haben bei Serse einiges gestrichen. Hattest du dabei keine Skrupel?
Markellos Chryssicos: Ich bin grundsätzlich ein sehr unmoralischer, skrupelloser Charakter... Aber nochmals: So wie wir heute drei Stunden still auf unserem Stuhl sitzend einer Oper in beinahe sakraler Stimmung zuhören, wurde Oper im Barockzeitalter nicht erlebt. Die Leute gingen rein und raus, assen und tranken während der Vorstellung. Es ging darum, Spass zu haben – was damals gar nicht so einfach war. Heute können wir den Fernseher anmachen, ins Kino gehen, Videogames spielen... Wenn Händel für spätere Wiederaufnahmen Striche machte, waren das oft gar nicht so überzeugende, kohärente Striche. Ich glaube, der Barockmensch Händel hätte nichts gegen unsere Fassung einzuwenden.
Markellos, du arbeitest mit den jungen Sängerinnen und Sängern des Internationalen Opernstudios. Sie alle sind unterschiedlich weit in ihrem künstlerischen Werdegang und bringen unterschiedliche Erfahrungen im Barockgesang mit. Was ist für dich die Hauptaufgabe in der Arbeit mit ihnen?
Markellos Chryssicos: Selbst wenn jemand bereits Erfahrung in Barockmusik hat, muss das noch nichts heissen. In der sogenannten historisch informierten Praxis gibt es sowieso unterschiedliche Schulen. Für mich ist bei der Interpretation barocker Musik eine Sache sehr zentral: das Timing, das rasche AufeinanderReagieren mit Ohr und Auge. Das ist etwas, was in der klassischen Musik meistens viel zu kurz kommt. Hier könnten wir viel von Jazz, Folk und Rock lernen. Wie genau ist eine Note mit einem Konsonanten verbunden, der dieser Note vorausgeht? Wie steht ein gesungener Ton in Bezug zum Continuo oder zum Orchester? Was ist die Beziehung zwischen der Länge eines Tones und einer Silbe des Textes? Das sind die Nuancen, die barocke Musik lebendig machen. Es gibt eine Stelle in Prousts Recherche, in der eine der Figuren, anstatt sich über die Natur zu erfreuen, blühenden Blumen oder singenden Vögeln zuzuschauen, ihrer Begeisterung über die Schönheit einer Lokomotive Ausdruck verleiht, über deren Kraft, den vollkommen regelmässigen Rhythmus, ihre Unaufhaltsamkeit. Ich verstehe, dass man von einer Lokomotive fasziniert sein kann, aber sie verkörpert genau das Gegenteil zur Ästhetik des Barocks, für den eben genau die Unregelmässigkeit in den Betonungen wichtig war, die Variation, die Flexibilität. Das versuche ich den jungen Sängerinnen und Sängern zu vermitteln.
Serse
Oper von Georg Friederich Händel
Musikalische Leitung
Markellos Chryssicos Inszenierung
Nina Russi
Bühnenbild
Julia Katharina Berndt
Kostüme
Annemarie Bulla
Lichtgestaltung
Hans-Rudolf Kunz
Video
Ruth Stofer
Dramaturgie
Kathrin Brunner
Serse
Siena Licht Miller
Arsamene
Simone McIntosh
Amastre
Freya Apffelstaedt
Romilda
Yewon Han
Atalanta
Chelsea Zurflüh
Ariodate
Benjamin Molonfalean
Elviro
Gregory Feldmann
Musikkollegium
Winterthur
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Premiere 6 Mai 2023
Weitere Vorstellungen
10, 12, 14, 17 Mai 2023
Theater Winterthur
Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich
Das Interview führte Kathrin BrunnerSiena Licht Miller singt in der Neuproduktion von Händels «Serse» die Titelrolle. Die deutschamerikanische Mezzosopranistin war 2020/21 Mitglied des Internationalen Opernstudios in Zürich und gehört seit dieser Spielzeit zum Ensemble des Opernhauses Zürich. Sie war hier u.a. in «L’italiana in Algeri», «Monteverdi», «Das Rheingold» (Flosshilde), «Barkouf», «Salome», «Anna Karenina» und «Lakmé» zu hören.
Sie kniet da und beschmiert sich mit Farbe. Mit schwarzer. Das weisse Gewand, den Körper, die blonden Haare, komplett. Oder anders gesagt, er tut das, Serse, Xerxes, Händels verzweifelter, schier wahnsinniger Perserkönig in seiner letzten Arie «Crude furie degli orridi abissi», 1738 für einen Kastraten geschrieben. Jetzt ohne Ton, im Smartphone. Es ist nicht gerade die Sorte Video, die man sich sonst neben dem Capuccinobecher bei Starbucks anschaut. «Das haben wir gestern gedreht», sagt Siena Licht Miller, nun ohne Farbe im Haar und nicht im Geringsten verzweifelt. «Es muss hinterher eine Menge Duschwasser gekostet haben», meine ich. «Yes, it did...» Sie lacht. Die 28-jährige Mezzosopranistin ist an Extreme gewöhnt und an Sprünge zwischen den Bühnenwelten. Noch vor einer halben Stunde stand sie im Probensaal am Kreuzplatz neben Sabine Devieilhe und sang mit ihr das weltberühmte Blumenduett aus Lakmé.
Siena, neuerdings fest im Ensemble der Oper Zürich, wird hier praktisch für jeden Stil besetzt, von Monteverdi bis Verdi, von Rossini bis Wagner, von Offenbach bis Strauss. Eine hochgewachsene, heitere Frau, die nach zwei Minuten das «Sie» über Bord wirft und darum bittet, «Denglisch» sprechen zu dürfen. Deutsch ist zwar, im wahrsten Sinn, ihre Muttersprache, aber im Amerikanischen fühlt sie sich eher zu Hause. Sie kam in Portland zu Welt, im US-Bundesstaat Oregon an der Pazifikküste, wohin ihre deutsche Mutter mit 25 Jahren zog. «Die Eltern meiner Mutter haben ein Haus in der Toscana, in der Nähe von Siena, und mein Vater ist zur Hälfte Italiener, also waren wir früher jeden Sommer dort. Mein Name repräsentiert alles, was ich bin.» Sie lacht. Und der Vorname «Licht» passt schon auf den ersten Blick.
Er könnte auch für das stehen, was ihr Zürich bedeutet – ein Anruf von hier erwies sich vor drei Jahren als Rettung ihrer Sängerlaufbahn. Da befand sich Siena in Portland und sah zu, wie alles dichtmachte, eine amerikanische Opernbühne nach der anderen. Bühnen, von denen es ohnehin nicht sehr viele gibt und die, weitgehend auf private Förderer angewiesen, keine ihrer Musikerinnen und Sänger vor dem Abgrund schützen konnten, der sich durch «the pandemic» auftat. Für viele wurde Covid der Sargnagel einer ohnehin prekären Existenz. Aber diese junge Sängerin hatte etwas in der Tasche, was für ihre künstlerische Zukunft ähnlich wichtig war wie ein Visum für Emigranten – einen Vertrag mit dem Opernstudio in Zürich.
«Im Januar 2020 kurz vor Covid», sagt sie, «kam ein Anruf aus Zürich, sie suchten jemanden für das Opernstudio. Ich hatte Jahre zuvor an einem Vorsingen im Curtis Institute in Philadelphia teilgenommen für einen Platz in Zürich, jetzt sollte ich hinfliegen und noch einmal vorsingen. Aber ich kam nicht weg und schickte stattdessen ein Video.» Sie wählte eine Arie des Nicklausse aus Hoffmanns Erzählungen. «Ich bekam den Job und musste alles absagen, was ich in Amerika hatte. Aber etwas in mir sagte, du musst gehen. And then the world shut down. And thank God I came to Zürich. Ich weiss nicht, ob ich sonst noch singen würde.» Es entbehre nicht der Ironie, sagt sie, dass gerade Offenbachs «Geigenarie» ihr den Weg nach Europa öffnete. Eine Arie, in der Nicklausse den Klang der Violine, die dazu spielt, mit dem Liebesschmerz vergleicht, über den dieser Klang auch hinwegtrösten kann. Denn Geigerin ist Siena selbst einmal gewesen. Sie hat das gleich zu Beginn des Gesprächs erzählt, als wolle und müsse sie es hinter sich bringen. Die Tochter eines Osteopathen und einer Psychotherapeutin wollte schon mit fünf Jahren unbedingt Geige spielen, und es erwies sich, dass sie neben viel Talent auch ein aussergewöhnliches Gedächtnis hatte. «Ich konnte kaum Noten lesen, aber nach einmaligem Hören einen 20 Minuten langen Konzertsatz von Mozart nachspielen.» Was sie ausserdem
liebte, war das Skifahren in den Bergen Oregons. Mit 15 Jahren hatte sie einen Skiunfall, bei dem sie den grösseren Teil ihres Gedächtnisses verlor, dazu die Reflexe für die Feinmotorik. «Nur mein musikalisches Gedächtnis war komplett intakt. Ich konnte mir nicht merken, was man mir gerade gesagt hatte, aber ich konnte mir ein 40 Minuten langes Stück Musik aufrufen.»
Der Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Der einarmige Pianist beschrieben, wie so etwas zustande kommt. Musikalische Strukturen werden jenseits des episodischen Gedächtnisses verarbeitet, eine grosse Rolle spielt dabei das geschützt liegende Kleinhirn, entwicklungsgeschichtlich uralt. Sacks erzählt, wie die gespeicherte Musik zum Seil werden kann, an dem Patienten aus dem Abgrund von Vergessen hochklettern können. Bei Siena ist das besonders gut gegangen. «Ich sang, zuerst mehr als Teil der Therapie, das war heilsam. Ich fühlte mich dadurch mit allem mehr verbunden und auch intelligent. Meine Intelligenz stellte ich nämlich sehr in Frage.»
Auch wenn sich nach und nach der Rest des Gedächtnisses wieder einfand, «Geige konnte ich nicht mehr so spielen, wie ich das wollte. Und ich erinnere mich, dass, als ich singen zu lernen begann, die Reaktion der Leute voller Freude war. A powerful feeling. Und dann blieb ich kühn genug, um immer mehr zu erkunden.» Mit 18 Jahren begann Siena Gesang zu studieren, am Oberlin Conservatory im Bundesstaat Ohio, Psychologie und deutsche Literatur kamen dazu. Mit 21 wechselte sie ans elitäre Curtis Institute of Music in Philadelphia an der Ostküste, wo nur 2 Prozent aller Bewerber Studienplätze bekommen. Um ihr Stimmfach machte sie sich nicht viele Gedanken. «Ja, ich bin Mezzo, aber ich sehe mich lieber als Siena, die guckt, was zu ihrer Stimme passt. Ich identifiziere mich mit dem speziellen Mezzo-Temperament. Wir haben diesen üppigen Unterton wie die Viola, mein Lieblingsinstrument. Und wir müssen alles sein können, ein troublemaker, ein Junge. Die Charaktere, die ich spiele, geben mir die Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, die ich sonst für mich behielte. Weil ich von der Geige kam, war da anfangs auch eine differierende Identität, ich sah mich nicht immer als Sängerin. Das hat Peter Sellars sehr gut verstanden, bei ihm fühlte ich zum ersten Mal, es ist Platz für mich in der Welt der Oper.»
Mit Regisseur Sellars gestaltete sie 2019 in Santa Fe als Einspringerin die Kitty Oppenheimer in John Adams’ Doctor Atomic. «Es ging bei den Proben auch um das Aufeinanderzugehen, die Energie in der Gruppe. Musiker sind so empfindlich, über so etwas sprechen wir nicht genug. Es gibt eine Intimität im Probenraum, und die besten Regisseurinnen und Dirigenten nehmen das sehr ernst.» Zu denen gehört für Siena auch Nina Russi, die Regisseurin von Serse. «Alles muss menschlich sein bei ihr, ehrlich und echt. Es ist wirklich kathartisch, wenn wir arbeiten, weil es so ehrlich ist, und das ist anstrengend! Aber wenn du aufrichtig bist, verstehen die Zuschauer alles, ohne irgendetwas über das Stück wissen zu müssen. Manchmal wünschte ich, ich wüsste selbst gar nichts über diese Kunstform, sässe nur im Publikum und beobachtete meine Reaktion im Innersten, ohne all das wie singen sie?»
Eine der wichtigsten Quellen für ihre Arbeit ist die Natur, «für mich besonders die Berge. Ich kann ohne Berge gar nicht singen», sagt sie. «Es ist schwer zu erklären, aber die Berge und die Musik haben eine Menge gemeinsam. Wir gehen da hinein auf der Suche, um uns selbst besser zu verstehen, und werden konfrontiert mit den grössten Freuden und den tiefsten Sorgen. Die Berge haben mich in meinem Schlimmsten und in meinem Besten gesehen, und dasselbe ist es mit der Musik. Wenn ich in den Bergen war und in der Stille gelebt und diese Luft geatmet habe, ist da eine Ruhe in mir, in der ich wieder bereit bin für Musik. Manchmal verfolgen mich auch Reste einer Bühnengestalt zu sehr, mit der ich mich verbunden habe. Die werde ich in den Bergen wieder los.»
Wird irgendwann auch der Perserkönig dazugehören? «To connect with Serse, das war nicht immer leicht. Aber er beginnt die Oper, indem er einen Baum besingt: Ombra mai fu. Ich glaube, die Natur findet mich immer!»
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Gluck schreibt in dieser Oper innovative Ballettmusik. Dazu gehören der Tanz der Furien und der unmittelbar darauf folgende Tanz der seligen Geister. Der atmosphärische Wechsel vom Hades ins Elysium (das Paradies für die Toten, die am Ende aller Leiden die ewige Ruhe gefunden haben), ist gut zu hören. Gluck komponierte den Geistertanz für Soloflöte mit Streicherbegleitung, und es kommt nicht von ungefähr, dass gerade diese Passage zu einem Klassiker geworden ist. Rein technisch gesehen ist es kein schwieriges Solo. Die Kunst besteht vielmehr darin, musikalische Subtilitäten zum Klingen zu bringen. Die gesamte Solo-Stelle hat eine einfache dreiteilige Form. Der erste Teil, das Menuett, besteht aus einer eleganten, grosszügigen Melodie, die für mich Bilder von pastoraler Ruhe unter blauem Himmel hervorrufen. Der zweite Teil ist in kontrastreichem Moll geschrieben und stört die Ruhe des A-Teils. Für mich kommt hier einerseits ein Gefühl der Angst zum Ausdruck, das ein direktes Echo auf die Tänze der Furien ist, und andererseits widerspiegelt es Orpheus’ tiefe Traurigkeit über den Verlust von Euridice. Danach taucht die idyllische Landschaft des A-Teils wieder auf. Es ist bei dieser Stelle wichtig, gut mit der zweiten Flöte zu kommunizieren. Damit die Stimmen ineinander verschmelzen, müssen wir uns bezüglich Vibrato, Lautstärke und Klangfarbe absprechen, wir müssen die Atemzüge für die langen Phrasen genau einteilen und abwechselnd atmen, wo es uns Gluck erlaubt. Grundsätzlich versuche ich immer, mit meiner Flöte zu singen und Gefühle zu vermitteln. Bei der Arbeit an dieser Passage in meinen Studienzeiten und der Vorbereitung auf Orchesterwettbewerbe habe ich immer davon geträumt, diese Stelle einmal bei einer richtigen Orphée-Aufführung spielen zu können. Jetzt ist dieser Traum wahrgeworden. Das bedeutet mir sehr viel.
Seohyeon KimBisher nur als Stream in der Pandemiezeit zu erleben, zeigen wir Christoph Willibald Glucks Oper «Orphée et Euridice» endlich live vor Publikum. Christoph Marthaler blickt in seiner Inszenierung tief in die Hinterzimmer des berühmten Mythos.
Vorstellungen
7, 11, 14, 19, 23 Mai 2023
In unserer Debatte um die Themen Diskriminierung, Rassismus und Vielfalt haben wir in den vergangenen MAG-Ausgaben die Werke und Umgangsformen des Opernbetriebs kritisch unter die Lupe genommen. In dieser Folge widmen wir uns dem Ballett, das in jüngerer Zeit wegen seines klassischen Werkkanons, problematischer Ausbildungsstrukturen und Fällen von Machtmissbrauch immer wieder in die Kritik geraten ist.
Die klassischen Handlungsballette seien veraltet und diskriminierend; die Ausbildung baue immer noch auf Duldsamkeit und Gehorsam auf; den Compagnien fehle es an Offenheit für ethnische Vielfalt und alternative Lebensmodelle – das sind Vorwürfe, denen sich das Ballett ausgesetzt sieht. Sind sie berechtigt? Und was folgt aus ihnen?
Eine Bestandsaufnahme von Dorion Weickmann
Grosse Veränderungen kündigen sich häufig eher beiläufig an. Ende 2018, also rund 350 Jahre nach der Gründung der «Académie Royale de Danse» und seiner Erhebung in den Stand eines königlichen Metiers durch Ludwig XIV., erlebte das Ballett einen solchen Moment. Der Wandel betrifft ein Utensil, das als Hauptaccessoire weiblicher Virtuosität gilt – den Spitzenschuh. Egal welches Fabrikat, egal ob in West oder Ost hergestellt, bis zu diesem Zeitpunkt kamen die satinierten Hochleistungswerkzeuge ausnahmslos in zartem Rosé auf den Markt, um die Illusion ewig langer Beine zu erzeugen, was bei hellhäutigen Tänzerinnen anstandslos funktioniert, nicht aber bei dunkler pigmentierten Kolleginnen. Hier passende Produktlinien zu entwerfen, kam jahrzehntelang niemandem in den Sinn. Also behalfen sich afroamerikanische und asiatische Ballerinen mit aufwändigen Kolorierungsprozeduren, um Schuhe und Textilien typgerecht einzufärben. Erst 2018 war Schluss mit diesen Provisorien, nachdem die Hersteller ihre Markenpolitik kor rigiert und die Angebotspalette um alle erdenklichen Farbnuancen erweitert hatten. Eine Massnahme, die sich durchaus als Reaktion auf neue Realitäten und Spielregeln deuten liess: Seit 2015 die erste Person of Color der Social-Media-Ära, Misty Copeland, den Rang einer Solistin beim American Ballet Theatre erobert hatte, wurde ethnische Exklusion als rassistisches Delikt gebrandmarkt. Mit guten Gründen.
Genau wie die Oper ist das Ballett ins Gerede gekommen: als eurozentrische, mit jeder Menge Kolonialkolorit bemalte
und nach wie vor feudal getrimmte Kunst, die auf den Prüfstand gehört. Ob Repertoire, Rekrutierung des Nachwuchses oder Rollenprofile – #MeToo und #BlackLives Matter haben rasante Umwälzungen angestossen. Aber ist die Entwicklung nachhaltig oder allein dem woken Zeitgeist geschuldet, dem eine alle Fortschrittsbewegungen irgendwann ereilende Gegenbewegung den Garaus macht?
Die Disziplinierung von Körper und Geist gehen auf Ludwig XIV. zurück
Die Ballettlandschaft der Gegenwart kennt alle Richtungen, hier den Vorwärtsdrang, dort Stillstand oder den Rückwärtsgang. Wir müssen nur nach Russland schauen, das mit den berühmten BallettPartituren von Pjotr Tschaikowski und Marius Petipas Choreografien – etwa La Bayadère oder Dornröschen – den Traditionsfundus dominiert, aber seit Putins Angriff auf die Ukraine wieder in weiter Ferne liegt: neuerlich abgekoppelt vom Westen und zurückgeworfen auf sich selbst. Ein beispielloser Rückschritt, der die Kultur von Moskau über Paris bis New York empfindlich trifft. Die dramatischen Konsequenzen dieser Zäsur können wir allenfalls erahnen. Anders verhält es sich mit Problemen, deren Begutachtung, Bewertung und Lösung allen ein Anliegen sein muss, die das Ballett nicht in die «War-schön-kann-weg»-Schublade stecken wollen.
Als der tanzbegeisterte Sonnenkönig zur Gründung der Akademie schritt, stand ihm der Sinn nach höfischem Pläsier und Leibesertüchtigung seiner Entourage (sprich: künftiger Kriegsvasallen). Drill und Körperkunst gingen also von Anfang an Hand in Hand, über das Corps de ballet wurde ein geradezu militärisches Ordnungs- und Unterordnungsgebot verhängt: Wer aufmuckt, fliegt. Diese hierarchische Struktur begleitet das Ballett seit seinen Anfängen, gehört zu ihm wie die Disziplinierung von Körper, Seele, Geist und Verhalten. Autoritäres Regiment und eine allmächtige Direktion waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein kein Grund zur Aufregung. Erst in den letzten Jahren türmen sich die Schlagzeilen. Ausbildungsstätten, die machtmissbräuchlich geleitet werden und unqualifiziertes Lehrpersonal beschäftigen, das wiederum die Eleven zur Unmündigkeit erzieht im Rahmen einer Berufsvorbereitung, die Krankheiten wie Anorexie, Depression, Burnout und Verletzungen aller Art Vorschub leistet. Von den Spätfolgen ganz zu schweigen. War das nur ein Erbteil der absolutistischen Ära? Nein. Was hier genauso zu Buche schlägt, ist die athletische Dimension des Gegenwartstanzes. Die berühmte «6-Uhr-Position», das Stehen im Spagat, das noch in den 1970er- und 80er-Jahren fast ausschliesslich Ausnahmeballerinen wie Sylvie Guillem beherrschten, ist inzwischen in jedem Ballettsaal zu beobachten. Sprünge, Drehungen, Dehnungen? Die Devise lautet: höher, schneller, weiter. Anders als in den Schwesterkünsten Oper und Schauspiel startet die Berufs-
ausbildung im Ballett noch vor der Pubertät, fällt also in eine der empfindlichsten und prägendsten Phasen des Lebens. Allen Versuchungen zum Trotz sollen künftige Profis einerseits Maximalverzicht in puncto Freizeitspass, andererseits Maximalleistung beim Lernen erbringen. Ein Profil, das der Überzeugung entspricht, im Namen der Kunst sei mehr oder minder alles erlaubt. Diese Gewissheit ist deutlich ins Wanken geraten. Während sich Coaching und Feedback-Formate an vielen Theatern etabliert haben, hinken die Ballettakademien häufig hinterher. Gute bis sehr gute Ex-Tänzerinnen und Tänzer unterrichten – mit SchmalspurLehrdiplom – letztlich nach den gleichen Prinzipien, die einst ihre eigene Dressur bestimmt haben. Nicht umsonst berichten junge Tanzende immer wieder von Erniedrigungen und Traumata nach Abschluss eines Studiums, das ihnen vor allem die Tugend unbedingten Gehorsams abverlangt habe.
Stillhalten und immer nur lächeln
Tummeln sich überall schwarze Schafe? Natürlich nicht. Seit einigen Schuldirektionen die Trümmer ihrer Pädagogik-Fassaden um die Ohren flogen, sind vielerorts neue Konzepte, Aufnahmekataloge und Ausbilderinnen und Ausbilder im Einsatz. Jenseits solcher Aufbruchsszenarien bleibt dennoch die Frage: Was ist ästhetisch und mental unverzichtbar für das Dasein auf der Bühne? Eine superschlanke Linie ohne weibliche Rundungen galt lange als conditio sine qua non für Ballerinen. Mehr als 50 Kilo sollte keine auf die Waage bringen, schon mit Rücksicht auf die hebungsbeanspruchten Bandscheiben der Ballerinos. Selbst dieses Dogma bröckelt: Gut trainierte Frauen haben mehr Power, verursachen weniger Rückenstrapazen und dürfen über das 50er-Limit hinauswachsen. Auch wenn die Neigung zu XXS vorherrscht, lässt sich mittlerweile vielerorts eine grössere körperliche Bandbreite in den Compagnien beobachten. Zusehends an Be-
deutung gewinnen auch die mentale Gesundheit und psychisches Wohlbefinden. Die Zukunft gehört selbstbewussten Tänzerinnen und mündigen Künstlern statt Insassen einer Dauerkindheit, die im Hamsterrad reibungsloser Routine festsitzen. Denn was wäre die Alternative? Die Verbannung der Tanzkunst in die «War-schön-kann-weg»-Schublade. Der Theaterbetrieb läuft nach Corona wieder auf Hochtouren, in Sachen Hierarchie ist fast alles beim Alten. Aber stillhalten und «Immer nur lächeln»? Ist für viele Tänzer keine Option mehr. Beschwerdemanagement, Krisenintervention, Vertragsausgestaltung, Proben- und Ruhezeiten – mancherorts ist die to-doListe von beachtlicher Länge. In anderen Fällen ist die Ensemblekultur mit regelmässigen Teamsitzungen schon einen Schritt weiter.
Jenseits aller Organisationsfragen ist freilich eine karrieretechnische Besonderheit ins Visier geraten: die alljährlich durch Nicht-Verlängerung auflösbaren Arbeitsverträge. Ein Direktionswechsel berechtigt in Deutschland ohne weitere Begründung zu Tabula rasa. Die Vor- und Nachteile liegen auf der Hand. Das Modell begünstigt maximale künstlerische Flexibilität, kompliziert aber die Stabilität des Compagniegefüges und erschwert das blinde Vertrauen, das Tänzerinnen und Tänzer bei jedem Auftritt ineinander setzen müssen. Wer an Familie denkt oder anders geartete längerfristige Verpflichtungen eingehen will, wird angesichts eines Damoklesschwerts namens Nicht-Verlängerung nichts überstürzen. Gleichwohl verwirklichen immer mehr Tänzerinnen ihren Kinderwunsch – vor zwanzig, dreissig Jahren noch reine Utopie. Obwohl jenseits des 40. Geburtstags kaum jemand problemlos weitertanzt, nehmen Ballerinen die schwangerschaftsbedingte Karriereverkürzung in Kauf. Elternschaft gestaltet sich auch im Ballett zusehends als Normalität, vor allem wenn der Arbeitgeber massgeschneiderte Wiedereinstiegs- und Trainingsangebote liefert. Gern auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird dagegen das Wann, Wo und Wie der sogenannten Transition: Was kommt nach dem Bühnenabschied? Das Nachdenken über ein zweites Berufsleben
setzt idealerweise schon am Start ein, während der Ausbildung. Die Akademien stellen entscheidende Weichen, und zwar nicht nur für jeden einzelnen ihrer Schützlinge, sondern für die Tanzwelt insgesamt. Wo sonst sollen Vielfalt, Fantasie, Teamfähigkeit und Geschmeidigkeit – auch im Denken – angelegt werden? Allesamt Qualitäten, die das Ballett der Gegenwart auf- und abruft, so etwa wenn statt purer Interpretation die choreografische KoKreation gefragt ist. Was immer öfter vorkommt. Auch deshalb ist ein simples «Immer nur lächeln» schlicht passé.
Ein Signal, auf das viele gewartet haben: Erst vor wenigen Wochen wurde die erste Person of Color als Danseur étoile ans Firmament des Pariser Opernballetts versetzt. Guillaume Diop, Sohn eines französischen Vaters und einer senegalesischen Mutter, schreibt Geschichte. Der an die Spitze der Weltklasse-Compagnie promovierte Ballerino hat noch vor drei Jahren zu einer Handvoll Rebellen gehört, die der Opéra de Paris die Leviten lasen. Gemeinsam mit vier weiteren Kollegen und Kolleginnen verfasste Diop ein Manifest über Rassismus an der elitären Institution: «De la question raciale à l’Opéra de Paris». Damit hatten die Ausläufer des Protests nach der Er mordung George Floyds und die weltweite Unterstützung für #BlackLivesMatter auch die Traditionsfront des Balletts erreicht. Die Streitschrift schlug gemässigte Töne an und unternahm zugleich eine harsche Abrechnung mit Zu- und Missständen vor wie hinter den Kulissen des Palais Garnier, Stammsitz und Spielstätte des Ballet de l’Opéra. Die Liste der Verfehlungen reichte von der Benennung bestimmter Gebäudeteile («Carré des négresses») über die Praxis des Yellowund Blackfacing (dem Überschminken heller Hautfarben für exotische Rollen) bis zu entgleisten Umgangsformen. Auch das Repertoire geriet ins Zwielicht, angefangen von Teilen der Nomenklatur (etwa
ist für viele keine
Danse des négrillons in La Bayadère) über die uniforme Beschaffenheit ganzer Choreografien (namentlich der Ballets blancs, der weissen Akte, in La Sylphide oder Giselle) bis zu orientalischen Schauplätzen, Plots und Personaltableaus.
In diese Kategorie fallen sowohl einzelne Passagen, etwa Danse arabe und Danse Chinoise im Divertissement von Tschaikowskis Nussknacker, als auch historische Prunkstücke wie La Péri, La Source, La Bayadère, Raymonda oder der von Sergej Diaghilew 1911 produzierte Petruschka, dem ein Jahrhundert später die Rolle des «Mohren» zum Verhängnis wird. Als weiterer Negativposten schlug die mangelnde Diversität der Truppe zu Buch: Nur zwei dunkelhäutige von insgesamt 78 Tänzerinnen? Man muss nicht progressiv sein, um derartige Zahlen in einer multiethnischen Gesellschaft wie der französischen für anachronistisch zu halten. Aber wie umsteuern? Das Manifest rannte in gewisser Weise offene Türen ein, und das nicht nur in Paris. Die Zeit war reif für Revisionen, getriggert von Initiativen wie «Final Bow for Yellowface», die das Ballett kritisch durchleuchten. Ziel ist nicht das Wegsperren problematischer oder missliebiger Werke, sondern ihre inhaltliche und ästhetische Begutachtung sowie feineres Fingerspitzengefühl bei Besetzungsfragen. Mehr Respekt, mehr Sensibilität für individuelle und kollektive Identitäten lautet die Forderung, mit der Phil Chan schon 2019 die Ballettöffentlichkeit aufgerüttelt hat. Der Choreograf und Mitbegründer von yellowface.org hat soeben unter dem Titel «Banishing Orientalism» sein zweites Buch publiziert. Es argumentiert ähnlich wie der Bericht, den der Generaldirektor der Pariser Oper, Alexander Neef, 2020 als Reaktion auf die Philippika des Ballett-Quintetts in Auftrag gab.
Das Ergebnis lag im Januar 2021 auf dem Tisch. Der Historiker (und heutige französische Bildungsminister) Pap Ndiaye und die Politikerin und Schriftstellerin Constance Rivière erarbeiteten einen «Rapport sur la Diversité à l´Opéra National de Paris», der nicht nur die Kritik der Beschwerdeführer in der Sache bestätigte, sondern auch Gegenmassnahmen vorschlug. Zu den Neuerungen fürs Bal-
lett zählten eine Veränderung des Aufnahmeverfahrens für die Akademie mit dem Ziel, schon den Nachwuchs und damit auch das künftige Ensemble ethnisch, sozial und kulturell diverser aufzustellen. Mehr Vielfalt, personelle und stilistische Öffnung des choreografischen Spektrums, dazu kritische Sichtung des Repertoires und umgehende Abschaffung von Blackfacing & Co. – all das schrieben die Wissenschaftler dem Opernhaus ins Stammbuch. Papier ist geduldig. Von der Stellungnahme bis zur sichtbaren Veränderung ist es ein weiter Weg. Und natürlich gibt es eingeschworene Liebhaber der Balletttradition, die sich mit der Idee ihres Verlusts nicht befreunden können. Aber sind derart einschneidende Eingriffe überhaupt notwendig? Ist Cancel Culture das einzig probate Rezept?
Die Ballett-Klassiker zwischen «Weg damit» und «Alles muss bleiben»
Ted Brandsen, Direktor von Het Nationale Ballet in Amsterdam, hat 2017, 2019 und 2023 Kollegen und Kolleginnen aus aller Welt eingeladen, um über die Positionierung des Balletts zu beraten: Wie kommt der klassische Tanz in die Zukunft? Schon bei der ersten Ausgabe signalisierte die Führungsrunde Handlungsbedarf. Statt Top-down-Ansagen mehr Austausch und lebendige Gesprächskultur verankern, Spielpläne erweitern und modernisieren, Diversität stärken und neue, nicht zuletzt jüngere Publikumsschichten ansprechen – das sind die vier wesentlichen Ziele, die (stark sponsorenabhängige) US-Compagnien genauso anvisieren wie ihre europäischen, staatlich besser subventionierten Pendants.
Es hat sich herumgesprochen, dass auch eine mit grandiosen Erbstücken ausgestattete Kunst nicht zum verstaubten Museum verkommen darf und auf die Gemengelage des 21. Jahrhunderts antworten muss. Gesellschaft und städtische Soziotope verwandeln sich rasant. Die Kunst kann diese Metamorphosen nicht ausblenden, ohne ihren Resonanzboden und ihre finanzielle Legitimation zu ris-
kieren. Sie muss sich öffnen, muss mit den zusehends sprunghaften Aufmerksamkeitsökonomien der Digitalära zurechtkommen, dazu barrierearm und möglichst allgemein zugänglich sein. Die bildungsbürgerliche, auf Repräsentation geeichte Klientel wird die Theater nicht mehr füllen. Sie ist eine aussterbende Spezies. Wie aber korrespondiert das kultivierte Vermächtnis mit jungen Menschen, die in dauerfluiden Verhältnissen, rapidem Wertewandel und Krisenszenarien gross werden?
Das ererbte Ballettrepertoire, das sich heute nicht mehr ohne weiteres durchwinken lässt, ist nicht sehr umfangreich. Aber es konserviert den Kernbestand des Fachs. Die Kritik differenziert zwischen verschiedenen Aspekten. In erster Linie geht es um die Geschlechterklischees der Romantik, ausserdem stehen wegen Exotismus und Orientalismus nicht wenige Klassiker unter Rassismus-Verdacht. Die einschlägige Klage ist kein Novum. So sorgte etwa der Nussknacker schon 1981 für Empörung. Ying Hope, kanadischer Staatsbürger mit chinesischen Wurzeln, stiess sich seinerzeit an der Chinoiserie-Episode des zweiten Akts und rief die Menschenrechtskommission von Ontario an. Journalisten beschrieb er den Schock angesichts von Tänzern mit FuManchu-Bärtchen und umherfuchtelnden Zeigefingern.
Mit Blick auf die Kinder im Publikum erklärte Hope, ihnen werde hier keine Darstellung chinesischer Lebensart zuteil, sondern eine rassistische Lektion verpasst. Die Kritik verpuffte, aber seitdem kehrten ähnliche Vorwürfe in regelmässigen Abständen wieder und gipfelten schliesslich während der Corona-Pandemie in einem Schlagabtausch zwischen Vertretern der «Alles-muss-bleiben-wiees-ist»-Fraktion und dem gegnerischen «Weg-damit»-Lager. Die Ausgangslage verlangt nach differenzierter Betrachtung: Während etwa das Ballett Zürich mit Christian Spucks Version einen einwandfrei unanstössigen Nussknacker präsentierte und auch andere zeitgenössische Fassungen, etwa von John Neumeier oder Jeroen Verbruggen, kein Ungemach heraufbeschwören, stehen alle am «Original» von Petipa/Iwanow orientierten Choreo-
grafien auf der Watchlist. Wobei im klassischen Tanz das «Original» häufig ohnehin nur in Umrissen erhalten ist, weitergegeben von einer Generation zur nächsten und mit jeweils zeitgeistigen Anpassungen versehen.
Die Rekonstruktionen historischer Ballette werden zur Stolperfalle
Indes wird dem Nussknacker zur Stolperfalle, was vor wenigen Jahren noch als grosse Errungenschaft galt: Rekonstruktionen, also die möglichst weitgehende Annäherung an den szenischen Urzustand, bezeugen eben auch das unbekümmerte Jonglieren verblichener Librettisten, Choreografen und Bühnenbildner mit kolonialen Fantasien. Selbst Nussknacker-Nachbauten wie Rudolf Nurejews Inszenierung schwelgen in pittoresker Pracht. George Balanchines Nutcracker, der stets Rekordsummen einspielt und zahlreichen US-Compagnien das Überleben sichert, wurde von «Final Bow for Yellowface» attackiert – mit dem Resultat, dass der nachlassverwaltende Trust die Bearbeitung der inkriminierten Passagen freigab. Ein bis dato undenkbares Vorgehen.
Gleich doppelt betroffen ist das Staatsballett Berlin, das seinen sündteuren, mit dem Bolschoi koproduzierten Nussknacker vorerst ebenso eingemottet hat wie Alexei Ratmanskys 2018 herausgebrachte Nachschöpfung der Orient-Fabel schlechthin: La Bayadère. Das DreiecksMelodram um die Tempeltänzerin Nikja, den Krieger Solor und die Herrschertochter Gamzatti nennt mit dem «Königreich der Schatten» eine der grössten Attraktionen des Repertoires sein eigen: zweiunddreissig weiss verschleierte Ballerinen, die sich in chorischen Arabesques-Serpentinen von der Hinterbühne aus an die Rampe schlängeln. Wie aber trifft ein Publikum, das sich per Spielkonsole, Virtual Reality Brille und Gaming-Plattform tagtäglich durch Pixel-Universen schleust und mit fremden Imaginationen vollpumpt, auf die filigranen Geschöpfe aus Solors opiumberauschten Träumen? Auf
weibliche Trugbilder, deren Habitus alle Errungenschaften der Emanzipation verneint? Das ist die spannende Frage: Sollen oder müssen sich die Bewohner des 21. Jahrhunderts von bestimmten Abschnitten des Ballettkanons verabschieden, die heutigen Standards zuwiderlaufen? Haben sie das Recht oder gar die Pflicht, Kunstwerke aus politischen, gesellschaftlichen, moralischen Gründen zu korrigieren –oder verstösst eine derartige Lizenz gegen die Autonomie der Kunst? Wie so oft haben beide Argumentationslinien etwas für sich.
Choreografien wie La Bayadére sind Zeitzeugnisse, die das Denken einer feudalen, kolonialen Weltordnung und eine polarisierte Geschlechterideologie überliefern und beides mit jeder ans «Original» angelehnten Einstudierung aktualisieren. Urheber wie Marius Petipa und Impresarios wie Sergej Diaghilew haben ihr Fantasia-Land nie gesehen, sondern aus Büchern, Bildern und Berichterstattung farbige Impressionen collagiert. Dass solche Erfindungen keine Wirklichkeit spiegeln und Menschen irritieren, deren Herkunftskultur in diesen «Otherness»Konstrukten bis zur Karikatur verzerrt und auf Schaueffekte reduziert wird, lässt sich ohne Weiteres nachvollziehen. Der gern bemühte Museums-Vergleich – «niemand wird Gemälde von Gauguin, Otto Mueller oder Ernst Ludwig Kirchner als unbotmässig abhängen» – läuft ins Leere, weil es der lebendige Körper ist, der Tanz in die Gegenwart bringt. Jede Aufführung in den Umrissen des «Originals» beatmet und erweckt die ihm zugrundeliegenden Ideen. Ist das unter allen Umständen zumutbar?
Klare Umgangsformen statt strikter Verbote als mögliche Lösung
Ingeborg Bachmanns Diktum «Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar» weist die Richtung. Jedes Kunstwerk verrät eine oder mehrere Wahrheiten über die Epoche seiner Entstehung. Für Betroffene mag der Anblick diskriminierend und eine unerträgliche Zumutung sein,
aber was wird mit strikten Verboten erreicht? Nichts als grobkörniges Vergessen, kulturelle Amnesie. Stattdessen gilt es, klare Umgangsregeln zu formulieren. Dazu gehören neben der Aussetzung jeder Art von Ethnoschminke und -kostümierung aufführungsbegleitende Kampagnen, die das Publikum mit Wissen versorgen und zu einer historisch informierten Sichtweise befähigen. Hier wird das Ballett liebgewordene und lukrative Gewohnheiten ablegen müssen: Kunst erschöpft sich nicht im schieren Genuss, ist mehr als lukullische Ausschweifung und sinnenfrohes Amüsement. Wer die Genialität einer Petipa-Choreografie vor aller Augen beweisen will, verzichtet am besten auf jedes Dekor und lässt sie als reines Körpernarrativ spielen. Dem Publikum werden die Augen übergehen.
Ausgesprochen hilfreich ist auch eine Erweiterung des Werk-Horizonts. Häuser, die opulente Grossproduktionen wie La Bayadère programmieren, sollten parallel eine zeitgenössische Neuinterpretation in Auftrag geben. Eine Übertragung des Stoffs ins Hier und Heute, wie sie dem argentinischen Choreografen Daniel Proietto 2020 mit Rasa beim Königlich Flandrischen Ballett in Antwerpen geglückt ist. Im Übrigen lässt sich die kulturelle Aneignung, die das Abendland ebenso ausgiebig mit dem Orient praktiziert hat wie es Mehrheiten mit Minderheiten, Unterdrücker mit Unterdrückten taten, aufs Überzeugendste umkehren. Das beste Beispiel dafür stammt von 2019 und zeigt zwei Weltstars mit allen modischen Insignien der Blackness als Herrscherpaar des Pariser Louvre: Beyoncé und Jay-Z in Apeshit, choreografiert von keinem anderen als Sidi Larbi Cherkaoui. Der Clip ist die bis dato cleverste und eleganteste Kampfansage an das weisse Establishment und seine hochkulturelle Hegemonie. Kunst im 21. Jahrhundert? Ist ein ständiges Spiel mit Identitäten.
Dorion Weickmann ist Feuilletonautorin und Tanzkritikerin, arbeitet unter anderem für die «Süddeutsche Zeitung» und ist Redakteurin der Fachzeitschrift «Tanz».
23 So Bernstein Copland Sibelius
11.15 5. Philharmonisches Konzert Yutaka Sado, Musikalische Leitung
Einführungsmatinee The Cellist
11.15 Bernhard Theater
Märchen auf dem Klangteppich
Honk!
15.30 Für Kinder ab 4 Jahren, in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
Viva la mamma
19.00 Oper von Gaetano Donizetti
25 Di Roméo et Juliette
19.00 Oper von Charles Gounod
28 Fr Roméo et Juliette
19.30 Oper von Charles Gounod
29 Sa Die Zauberflöte
19.30 Oper von Wolfgang Amadeus Mozart
3O So The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston Premiere
Mai
4 Do Roméo et Juliette
19.00 Oper von Charles Gounod
5 Fr Die Zauberflöte
19.30 Oper von Wolfgang Amadeus Mozart
6 Sa The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
19.00 Oper von Georg Friederich Händel Theater Winterthur, Premiere
7 So Einführungsmatinee
Lessons in Love and Violence
11.15 Bernhard Theater
Roméo et Juliette
13.00 Oper von Charles Gounod
Familien-Workshop The Cellist
14.30 ab 9 Jahren, Kinder in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
Orphée et Euridice
20.00 Oper von Christoph Willibald Gluck AMAG Volksvorstellung
9 Di open space stimme
19.00 Chor-Workshop für alle ab 16 Jahren Ausnahmsweise im Ballettsaal A
1O Mi Serse
19.00 Oper von Georg Friederich Händel Theater Winterthur
open space tanz
19.00 Tanz-Workshop für alle ab 16 Jahren Mittwochs
11 Do Orphée et Euridice
20.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
12 Fr Die Zauberflöte
19.00 Oper von Wolfgang Amadeus Mozart
Serse
19.00 Oper von Georg Friederich Händel Theater Winterthur
13 Sa Familien-Workshop
The Cellist
14.30 ab 9 Jahren, Kinder in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
imprO-Opera
«Die Welt der Händel-Opern»
15.30 ab 7 Jahren, Kinder in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
Roméo et Juliette
19.00 Oper von Charles Gounod
Nachtkino: Romeo und Julia
23.00 Aufzeichnung des Balletts von Christian Spuck
14 So Ballettgespräch
11.15 Zu Themen aus der Welt des Tanzes Treffpunkt Billettkasse
Klavierquartette II
11.15 Brunchkonzert, Spiegelsaal
Orphée et Euridice
14.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
Serse
14.30 Oper von Georg Friederich Händel Theater Winterthur
imprO-Opera
«Die Welt der Händel-Opern»
15.30 ab 7 Jahren, Kinder in Begleitung von Erwachsenen Treffpunkt Billettkasse
The Cellist
20.00 Ballett von Cathy Marston
15 Mo Klavierquartette II
12.00 Lunchkonzert, Spiegelsaal
Liederabend Aleksandra Kurzak und Roberto Alagna
19.30 Marek Ruszczyński, Klavier
16 Di open space stimme
19.00 Chor-Workshop für alle ab 16 Jahren Dienstags
17 Mi Serse
19.00 Oper von Georg Friederich Händel Theater Winterthur
Die Zauberflöte
19.30 Oper von Wolfgang Amadeus Mozart
18 Do The Cellist
13.00 Ballett von Cathy Marston AMAG Volksvorstellung
Roméo et Juliette
19.30 Oper von Charles Gounod
19 Fr Orphée et Euridice
19.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
2O Sa The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
21 So Lessons in Love and Violence
19.00 Oper von George Benjamin Premiere
23 Di Orphée et Euridice
19.00 Oper von Christoph Willibald Gluck
25 Do Lessons in Love and Violence
19.00 Oper von George Benjamin
26 Fr Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
27 Sa Lessons in Love and Violence
20.00 Oper von George Benjamin
29 Mo Monteverdi
14.00 Ballett von Christian Spuck AMAG Volksvorstellung
Don Pasquale
20.00 Oper von Gaetano Donizetti
31 Mi Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
Juni
1 Do Don Pasquale
19.00 Oper von Gaetano Donizetti
2 Fr Lessons in Love and Violence
19.00 Oper von George Benjamin
3 Sa Musikgeschichten
Die chinesische Nachtigall
15.30 Für Kinder ab 7 Jahren, in Begleitung von Erwachsenen Studiobühne
Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
4 So Nino Rota Quintett
11.15 Brunchkonzert Spiegelsaal
Einführungsmatinee
Turandot
11.15 Bernhard Theater
Don Pasquale
14.00 Oper von Gaetano Donizetti
Musikgeschichten
Die chinesische Nachtigall
15.30 Für Kinder ab 7 Jahren, in Begleitung von Erwachsenen Studiobühne
Lessons in Love and Violence
20.00 Oper von George Benjamin
5 Mo Nino Rota Quintett
12.00 Lunchkonzert Spiegelsaal
6 Di open space stimme
19.00 Chor-Workshop für alle ab 16 Jahren Dienstags
7 Mi open space tanz
19.00 Tanz-Workshop für alle ab 16 Jahren
Mittwochs
8 Do Lessons in Love and Violence
20.00 Oper von George Benjamin
9 Fr Monteverdi
19.00 Ballett von Christian Spuck
1O Sa Ballette entdecken The Cellist
14.30 Workshop für Kinder von 7 bis 12 Jahren
Treffpunkt Billettkasse
Don Pasquale
19.00 Oper von Gaetano Donizetti
11 So Ballettgespräch
11.15 Zu Themen aus der Welt des Tanzes Bernhard Theater
Lessons in Love and Violence
14.00 Oper von George Benjamin AMAG Volksvorstellung
Monteverdi
20.00 Ballett von Christian Spuck
12 Mo Liederabend Sabine Devieilhe
19.00 Mathieu Pordoy, Klavier
14 Mi Don Pasquale
20.00 Oper von Gaetano Donizetti
15 Do The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
16 Fr The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
17 Sa oper für alle
18.00 Sechseläutenplatz
Don Pasquale
20.00 Oper von Gaetano Donizetti AMAG Volksvorstellung
18 So The Royal Consort
11.15 Brunchkonzert Spiegelsaal
19.00 Oper von Giacomo Puccini Premiere
19 Mo The Royal Consort
12.00 Lunchkonzert Spiegelsaal
Brahms Dvořák
19.00 4. La Scintilla Konzert Riccardo Minasi, Musikalische Leitung
2O Di The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
21 Mi Turandot
20.00 Oper von Giacomo Puccini
22 Do The Cellist
19.00 Ballett von Cathy Marston
23 Fr Les Pêcheurs de perles
19.00 Oper von Georges Bizet
24 Sa Turandot
20.00 Oper von Giacomo Puccini
25 So Les Pêcheurs de perles
13.00 Oper von Georges Bizet
Monteverdi
19.30 Ballett von Christian Spuck
27 Di Turandot
19.00 Oper von Giacomo Puccini
28 Mi Der Freischütz
19.00 Oper von Carl Maria von Weber
29 Do Les Pêcheurs de perles
19.00 Oper von Georges Bizet
30 Fr Turandot
19.00 Oper von Giacomo Puccini
Magazin des Opernhauses Zürich
Falkenstrasse 1, 8008 Zürich www.opernhaus.ch
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Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz.
Partner
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Atto primo
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Freunde der Oper Zürich
Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG
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Freunde des Balletts Zürich
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Max Kohler Stiftung
Kühne-Stiftung
Marion Mathys Stiftung
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Alfons’ Blumenmarkt
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Fondation Les Mûrons
Neue Zürcher Zeitung AG
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Else von Sick Stiftung
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Förderinnen und Förderer
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Dr. Samuel Ehrhardt
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