Leben und wir
Wie der kleine Tiger groß und stark wurde Gerät das Geschichtenerzählen langsam in Vergessenheit? Für alle, die ein bisschen Anleitung gebrauchen können, hat die Psychologin und Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl ein Buch geschrieben. Über ein heilsames Ritual, das nicht in Vergessenheit geraten sollte. von dagmar weidinger
„Es war einmal und es war einmal nicht ein kleiner brauner Tiger mit groooßen weichen Tiger-Ohren. Der lebte mit anderen Tigern, die ihn richtig liebhatten, in einem kleinen Wald im Märchenland. Der kleine Tiger wurde größer und stärker und begann bald den Wald zu erforschen. Das war auch richtig und gut so. Doch leider, leider hatte das Tigerkind ein riesengroßes Pech: Es kam in einen neuen Teil des Waldes, in dem die anderen Tigerkinder ziemlich laut und rau waren. Sie hatten eine harte Stimme und manchmal stupsten sie ihn herum. Das war sehr schlimm für den kleinen Tiger. Er bekam Angst und war noch freundlicher als sonst, doch das half nichts. Da musste er vielleicht denken: ‚Ich bin schuld. Ich bin einfach zu schwach.‘ Was sollte er tun?“ Schwierigkeiten mit Geschichten ansprechen So beginnt eine von Helga KernstockRedls heilsamen Kindergeschichten. Sie ist eine von vielen, die die Wiener Psychologin und Psychotherapeutin im Laufe der Jahre für ein Kind mit Kindergartenangst erfunden und niedergeschrieben hat. Im Buch „Heilsame &/ lösungsorientierte Kindergeschichten – suchen, sammeln, selber schreiben“ und in den dazugehörigen Webinaren werden viele Themen berührt, die Kindern Schwierigkeiten machen können, z.B. die Trennung der Eltern, Mobbing in der Schule, Krankheit und Geschwisterrivalität. KernstockRedl verbindet in ihrer Arbeit das Wissen aus systemischer Therapie mit Aspekten der Trauma-Psychologie und will damit nicht nur Fachleute, sondern jedermann zum Erzählen motivieren. Denn: „Besonders belastende Erlebnisse lassen sich bei Kindern viel leichter mithilfe einer Geschichte aufarbeiten.“
BUCHTIPP Mag.a Helga KernstockRedl ist Gesundheitsund klinische Psychologin, Psychotherapeutin und gibt in „Heilsame & lösungsorientierte Kindergeschichten – suchen, sammeln, selber schreiben“ Tipps für die Gestaltung von hilfreich strukturierten Geschichten. www.kernstock-redl.at
Spiderman als Hauptfigur So wie bei Theo, dessen Eltern auf der Suche nach Unterstützung zu ihr kamen. Theo war in seinem ersten Kindergartenjahr im Hof immer wieder von den Größeren bedroht worden. Er reagierte darauf scheinbar „automatisch“ mit Einfrieren. Viele Kinder würden auf Angstsituationen mit Erstarren oder Flucht reagieren. „Das ist unser ganz normales biologisches Programm“, sagt die Expertin. Sich auf angemessene Art und Weise zu wehren, sei jedoch eine wichtige Möglichkeit, die eine Geschichte vermitteln kann. Anstatt Theo direkt auf die schambesetzte Situation anzusprechen, wird sein Kuscheltiger zur Hauptfigur einer Erzählung. „Die behutsame Verpackung als Geschichte mit einem selbst gewählten Protagonisten, der zum Kind passt, ermöglicht es, den Grad von Identifikation oder Distanzierung zu wählen und zu variieren“, sagt Kernstock-Redl. Nicht immer muss es ein Lieblingstier sein, das dann auf Reisen geschickt wird. Ist ein Kind von einer Computer- oder TV-Figur extrem begeistert? „Wunderbar!“, sagt die Therapeutin: „Dann wird Spiderman oder die freche Biene die neue Hauptfigur Ihrer Geschichte. So holen Sie ein Kind dort ab, wo es steht.“
Wo die Angst sitzt Damit eine Geschichte heilsam werden kann, brauche sie sieben wesentliche Elemente, erklärt die Expertin. Nach der Schilderung einer guten und sicheren Ausgangslage, in Theos Fall das unbelastete Dasein im Märchenwald, kommt die belastende Situation ins Spiel. „Je sinnlicher Sie die Schwierigkeiten Ihres Kindes beschreiben, desto intensiver wird das Gefühl in der Gegenwart spürbar“, sagt Kernstock-Redl. Bei Theo etwa stellten sich die Fragen: Wie fühlte es sich an, von den größeren und wilderen Tieren herumgeschubst zu werden? Sitzt die Angst auf der Brust oder im Hals? Schädliche Überzeugungen knacken Da Menschen aus negativen Erlebnissen häufig Selbstüberzeugungen oder Weltbilder ableiten, die einseitig und destruktiv wirken, ist es der nächste Schritt, die Gedanken des Kindes in der jeweiligen Situation herauszufinden. „Kinder fühlen sich leicht von ihren Gefühlen überflutet und denken dann vielleicht: ‚Ich kann gar nichts tun‘ oder ‚Ich bin komplett ausgeliefert‘“, sagt Kernstock-Redl. Oft sei es nicht leicht, den „heißen Gedanken“ eines Kindes herauszufinden, denn Kinder suchen die Schuld für schwierige Situationen häufig bei sich selbst oder sehen eine Situation aus einer kindlich-unrealistischen Perspektive. Genau deshalb braucht jede Geschichte neben dem guten Anfang zu Beginn auch ganz real einen sicheren Ort, an dem sie erzählt werden kann. Eine gute Vorbereitung kann dabei helfen. „Machen Sie es sich gemütlich!“, lautet der Tipp der Therapeutin. „Erschaffen Sie eine eigene Geschichteninsel auf der Kuscheldecke.“ Denn beim Geschichtenerzählen ginge es immer auch um Bindung und Beziehung.
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