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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Steigende Temperaturen

Seit Beginn der Messung von Temperaturen wurden sechzehn der siebzehn wärmsten Jahre nach 2000 verzeichnet worden. So lag die Durchschnittstemperatur im Jahr 2016 im Vergleich zur Mitte des 20. Jahrhunderts bereits um ein Grad höher. Durch die steigenden Temperaturen verschieben sich u.a. auch die Blühzeitpunkte der Pflanzen, sodass sie nicht mehr mit der Flugzeit der Insekten zusammenpassen, wie Forschende der Universität Würzburg anhand zweier Bienen­ arten gezeigt haben.

TROTT-WAR, STUT TGART

Null Fahrtkosten

Buchstäblich nichts kostet ab Frühjahr 2020 in Luxemburg die Fahrt mit Bussen und Bahnen. Damit ist der Kleinstaat weltweit das erste Land, in dem Fahrgäste den ÖV kostenlos nutzen dürfen. Die Regierung wendet 41 Millionen Euro auf, um die fehlenden Ticketeinnahmen auszugleichen. Zugleich investiert sie in eine neue Strassenbahn, auch sind mehr Radwege geplant. Der Hintergrund der Massnahmen liegt darin, dass der kleine Staat mit nur 2600 Quadratkilometern Fläche im Verkehr zu ersticken droht.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Tiefe Mindestlöhne

Deutschland hat zu tiefe Mindestlöhne. Mit 9,35 Euro liegt er deutlich unter dem aller anderen westeuropäischen Eurostaaten, die 9,65 Euro als Lohnuntergrenze gesetzt haben. Im EU-Durchschnitt deckt der Mindestlohn 51 Prozent des mitt­ leren Lohns ab, in Deutschland sind das nur 46 Prozent. Als existenz­ sichernd gelten 60 Prozent.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Vor Gericht

Der Fotobeweis Die Frau sagt, sie verstehe nicht, was ihr vorgeworfen werde. Der zuständige Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich erklärt es ihr. Sie habe sich, erstens, einen fiktiven Arbeitsvertrag in einem Restaurant in Zürich besorgt, um sich eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz zu erschleichen. Zuvor sei sie, zweitens, eine Scheinehe eingegangen, um ihrem Mann aus Bangla­ desch den legalen Aufenthalt in Europa zu ermöglichen – ebenfalls unter Hinzuziehung eines fiktiven Arbeitsvertrages. Sie ist nervös. Bei der Frage nach ihrem Geburtsdatum nennt sie das ihres Mannes. Ihr Anwalt hat eine Fotodokumentation dabei, die beweisen soll, dass die beiden wirklich ein Paar sind. Bilder von einer Reise in die Heimat ihres Gatten diesen Februar. Sie erzählt von den Menschen auf den Fotos, den Neffen, der Schwägerin, der Schwiegermutter. Nächstes Foto, aufgenommen im Spital, als sie vor acht Monaten operiert wurde. Ihr Mann sei jeden Tag vorbeigekommen. Dann Fotos von Geburtstagsfeiern. Von gemeinsamen Besuchen bei ihrer Familie in Madrid. Von Winterspaziergängen in der Zürcher Agglomeration. Und natürlich von der Hochzeit in Dänemark 2015. Am 3. September, sagt sie, sie erinnere sich gerne an den Tag. Sie putzt sieben bis acht Stunden täglich in Kinos und Restaurants. Gerade verdient sie nichts, vor Corona waren es 2700– 3000 Franken brutto. «Also nur zwei Jobs», fragt der Einzelrichter, «mehr haben Sie nicht?» Nein. Hat sie nicht. Sie wird ungehalten. «Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Was ich noch tun muss, um zu zeigen, dass wir ein normales Leben führen. Ich will nur noch, dass es vorbei ist!»

Ihr Mann hat auch «bloss» zwei Jobs, in der Küche. Verdient 5000–6000 Franken im Monat. Schickt seinen Eltern in Bangla­ desch 1200 Franken. Zahlt einen Kleinkredit ab, den er aufgenommen hat, um dem Vater eine Herzoperation zu finanzieren. Auch er ist nervös. Als er bei einem Foto gefragt wird, wo das sei, sagt er bei ihm zuhause. Darauf der Richter: «Warum sagen Sie nicht bei uns daheim?» Er lacht, sorry. Als seine Befragung vorbei ist, atmet er tief durch, das Paar schaut sich tief in die Augen. Ihr Anwalt führt aus, die beiden hätten belegt, dass sie ein gemeinsames Leben führten. Was die Staatsanwaltschaft vorbringe, nämlich dass bei einem überraschenden Polizeibesuch getrennte Betten festgestellt wurden, beweise nichts. Das Ehepaar sei in der Wohnung gewesen, das allein zähle. Und er verweist auf die neue bundesrichterliche Praxis: Demnach liegt eine Scheinehe nicht bereits dann vor, wenn ausländerrechtliche Motive die Eheschliessung beeinflusst haben. Erforderlich ist vielmehr, dass der Wille zur Führung der Lebensgemeinschaft im Sinne einer auf Dauer angelegten wirtschaftlichen, körperlichen und spirituellen Verbindung zumindest bei einem der Ehepartner fehlt. Das sieht der Einzelrichter nicht als erwiesen an. Beide Eheleute werden wegen des Vorwurfs der Scheinehe freigesprochen. Anders bei den fiktiven Arbeitsverträgen. Dort sei erwiesen, dass sie nur zum Zweck der Arbeitsbewilligungen eingegangen worden seien. Die Frau wird zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 10 Franken verurteilt, der Mann zu 90 à 50 Franken, Probezeit 2 Jahre. Wenigstens ist es jetzt vorbei.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


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