Surprise 490/20

Page 14

Unterwegs ins Leben, auf dem Weg hinaus Begleitung Während sie auf die Geburt ihres Sohnes

wartet, fühlt sich die Autorin zurückversetzt in eine Zeit, als sie auf den Tod ihrer Mutter wartete. TEXT  DOROTHEE ADRIAN

Geburt und Tod sind unverfügbar, sie entziehen sich unserem Planen und Tun. Sie geschehen. Darin sind sie sich sehr ähnlich. Das Warten auf die Geburt meines Sohnes zog sich hin. Lang ersehntes Wunschkind, jahrelanges Probieren, dann endlich: Wir bekommen ein Baby! Übergrosse Freude. Schliesslich nahte der Termin. Noch wenige Wochen bis zum siebten Juli. Freunde luden uns ein, sie feierten ihre Hochzeit ausgerechnet am Geburtstermin, noch dazu mehrere Stunden weit entfernt, nein, da können wir nicht kommen, da kommt unser Kind zur Welt. Hoffen. Dass sie doch noch wieder gesundwerden könnte, entgegen allen Prognosen. Weihnachten verstrich. Die Böden waren vereist, die Nächte lang. Für ein paar Tage kam sie nochmal nach Hause, meine Mutter, schwerkrank mit Krebs im Endstadium. Das Hoffen nahm ab mit jedem Anzeichen des Todes, der immer stärker nach ihr griff. Als die Qualen schlimmer wurden, fingen wir an zu warten. Darauf, dass sie gehen darf. Ob ich zu Freunden zum Essen kommen wolle? Nein, das geht nicht, meine Mutter liegt im Sterben. Der siebte Juli kam, die Aufregung stieg, der Bauch war riesig, die Haut gespannt. Eine kurze Runde mit dem Velo in der Sommerhitze drehen, das ging noch. Aber dann gleich wieder die Füsse hochlegen. Der achte Juli kam und ging. Ach, er wird schon kommen! Der neunte, der zehnte. Die Ungeduld stieg. Nachrichten auf dem Handy von Freunden, die sich erkundigten. Noch alles still hier. Was werden die nächsten Tage bringen? Und wie wird das sein: plötzlich selbst Mama sein? Wann kommt das Kind endlich? Der Terminkalender: leer. Der Dezember verstrich, der Januar kam. Ich hatte die letzten Jahre, nachdem sie krank geworden war, Angst vor ihrem Tod gehabt. Ich fühlte mich mit Anfang zwanzig absolut nicht bereit dazu, sie gehen zu lassen, ich wollte nicht ohne Mama auf der Welt sein. Aber wenn es 14

nicht anders geht, sagte ich zu ihr, dann will ich wenigstens dabei sein. In jenem Winter bahnte es sich fühlbar an. Es ging ihr so elend. Sie befand sich schon halb dort, in der anderen Welt; sie wusste oft nicht mehr, wo sie war und was um sie herum passierte. Wir wünschten ihr, sterben zu können. Ein Freund der Familie meinte: Manche Menschen können nicht sterben, weil sie nicht losgelassen werden. Also stellten wir uns um sie herum und sagten ihr: Du darfst gehen, wir lassen dich los. Aber sie ging nicht. Elfter Juli. Zwölfter, dreizehnter, vierzehnter. Ich wollte so gerne ins Geburtshaus, aber dort dürfte ich bis höchstens zehn Tage nach Termin gebären, sagten sie mir. Ich befolgte alle Tipps der Hebamme. Scharfes Essen, Sex, Wehencocktail mit Rizinusöl und Mandelmus, aber nichts regte sich. Komm, mein Kind, komm! Mach dich auf den Weg! Aber es kam nicht. Und schliesslich wurde es Februar. Meine Mutter verbrachte die letzten Wochen in einem Hospiz. Wir flössten ihr Wasser und Tee ein, versuchten, ihr das Essen schmackhaft zu machen. Wir wachten die Nächte bei ihr, in denen sie eher schlummerte als schlief, wo sie halluzinierte und Ängste durchstand. Bis zum achtzehnten Juli durfte ich warten, ob mein Kind sich von selbst auf den Weg machen würde. Das war die Abmachung zwischen Geburtshaus und Spital. Sie hatten mir einen Tag mehr geschenkt, weil alles gut aussah. Am achtzehnten Juli sagte die Oberärztin der Gynäkologie zu mir: Frau Adrian, einen weiteren Tag kriegen Sie noch. Aber wenn bis morgen früh um acht nichts passiert, dann ist Schicht im Schacht! Dann sind Sie hier. Schicht im Schacht? Wo sind wir denn hier? Aber es war mein erstes Kind, entgegen allem ärztlichen Rat traute ich mich nicht, weiter zu warten. Was ist, wenn es Komplikationen gibt? Bei den Hebammen durfte ich ja nicht mehr gebären. Mit ziemlich mulmigem Gefühl fuhr ich Surprise 490/20


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.