Surprise 490/20

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ILLUSTRATION: CAMILLLE FRÖHLICH

Verkäufer*innenkolumne

Nachbarschaft

entspricht nicht meinem Naturell. So gesehen war es kein guter Sommer. Das Beste daran war, dass ich in diesem Sommer Schweizerin geworden bin. Ich wollte das mit meinen Nachbar*innen feiern, aber das war leider nicht möglich.

Vor Kurzem ist eine meiner Nachbarinnen, eine Schweizerin, ins Pflegeheim gekommen, das hat mich traurig gemacht, wir waren gut befreundet. Zu Beginn war sie etwas distanziert, aber weil ich gerne Kontakt zu meinen Nachbar*innen habe, habe ich mit ihr geredet. Sie war damals schon fast neunzig Jahre alt und ging immer mit ihrem Hund unsere Strasse entlang. Sie hat auch das Surprise bei mir gekauft. Mit der Zeit lernten wir uns besser kennen. Wenn Kehricht- oder Grünabfuhr war, habe ich meine Kinder zu ihr geschickt, damit sie ihr helfen, die Sachen nach unten zu tragen. Sie hat mir gesagt, dass sie mich sehr gern mag, obwohl sie eigentlich Ausländer*innen nicht möge. Sie war treue SVP-Anhängerin, schon ihr Vater war SVP-Politiker, und doch fand sie, sie habe sich getäuscht. Wir haben ihr auch beim Einkaufen geholfen. Sie sagte mir, dass sie keine Schweizer*innen in der Gegend kenne, die das machen würden.

Auch die Neubürger*innenfeier musste abgesagt werden. Am 1. August, zwei Wochen nachdem ich Schweizerin geworden bin, habe ich eine grosse Schweizerfahne an den Balkon gehängt und Schweizer Essen draussen auf einen Tisch gestellt für alle Kinder der Nachbarschaft, aber wegen Corona konnten wir nicht richtig zusammen feiern. Regelmässigen Kontakt habe ich auch mit zwei Schwestern, die mich an meine Eltern erinnern, sie sind 99 und 87 Jahre alt. Wir konnten uns die ganze Zeit nicht sehen, nun konnten wir endlich wieder einmal abmachen, mit dem nötigen Abstand natürlich. Sie helfen mir auch, zum Beispiel will ich mein Deutsch verbessern. Zweimal in der Woche übe ich mit zwei Freundinnen. Deutsch finde ich ziemlich schwierig, obwohl mir Sprachen eigentlich liegen. Ich spreche Italienisch, Arabisch, Somali und Swahili. Aber mit meinen Nachbar*innen will ich Deutsch reden.

Ich fühle mich sehr wohl in meiner Nachbarschaft. Seit 17 Jahren lebe ich in derselben Strasse, seit ich in der Schweiz angekommen bin. Es sind liebe Menschen, die hier wohnen. Meine Kinder sind hier aufgewachsen, leider sehe ich meine Nachbar*innen weniger, seit die Kinder gross sind, was sehr schade ist. Früher gingen die Kinder überall ein und aus, wir haben viel zusammen unternommen, gingen in die Badi oder haben grilliert. Wir waren so etwas wie eine grosse Familie. Corona hat das verändert. Wir sehen uns selten, die Leute sind vorsichtig geworden. Früher haben wir uns auch umarmt, wenn wir uns auf der Strasse gesehen haben, jetzt winken wir uns nur noch von fern zu, das fällt mir schwer, das

SEYNAB ALI ISSE (49) verkauft Surprise in Winterthur und in Zürich Witikon. Vor dem Krieg war es in ihrem Herkunftsland Somalia üblich, dass man mit etwa 40 Nachbar*innen in ständigem Austausch war. Dass man sich um seine Mitmenschen kümmert, ist in der islamischen Kultur verankert: Gelernt hat sie die Sorge füreinander in ihrer Heimat. Und deshalb liebt sie ihre Nachbar*innen auch hier.

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Die Texte für diese Kolumne entstehen in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und Surprise. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 490/20


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