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Jugendarmut

«Ich hatte keine Vorbilder»

Manuel Borner ist in prekären Verhältnissen aufgewachsen. Und ihnen entkommen.

Seite 8

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Wieso bist du arm?

Manchmal liegen Schande und Scham nah beieinander. Etwa wenn man hört, dass im Wohlstandsland Schweiz 144 000 Kinder und Jugendliche von Armut betroffen sind. Wie kann so etwas nur möglich sein? Oder wollen wir das so?

Vielleicht ist das gar keine so abwegige Frage: Warum sollten wir unsere Gesellschaft gerechter machen? Die meisten fühlen sich ganz offensichtlich wohl damit, wie es ist. Weshalb sollte das Elend weniger ein Anstoss für viele sein, etwas daran zu ändern? Zumal, wenn die Armen ohnehin weitgehend unsichtbar sind – sich selber unsichtbar machen.

Beispiel Manuel Borner: Ein Junge, der alles daransetzt, damit niemand bemerkt, wie arm er ist. Hätte ihn jemand gefragt: Wieso bist du arm?, Manuel hätte wohl mit den Schultern gezuckt. Oder er hätte geantwortet: Weil der Vater uns verlassen hat, meine Mutter arbeitslos wurde, wir kaum zu essen hatten. Alles Gründe, für die Manuel nichts kann. Trotzdem hat er sich für seine Armut geschämt. Lesen Sie ab Seite 8.

4 Aufgelesen

5 Was bedeutet eigentlich …? Asyl

5 Vor Gericht Kuscheljustiz

6 Verkäufer*innenkolumne Im Augenblick das Nichts

5 Moumouni … ... will mehr Modegesetze!

Es gibt diese erschreckende These, dass die Armen bloss eine Projektionsfläche sind: Hier wir, die es geschafft haben, dort sie, die Verlierer. Mehr noch, dass sie uns als abschreckendes Beispiel dienen: Wo die sind, wollen wir niemals hin. Die Armen machen uns Angst, und diese Angst treibt uns an, immer mehr zu leisten. Zugleich verhindert sie, dass wir Mitgefühl haben für jene, die in diesem Leistungskampf verlieren.

Armut ist selten selbstverschuldet, sie muss strukturell bekämpft werden. Was nicht bedeutet, dass wir uns nicht zu kümmern brauchen. Empathie ist der Grundstein für eine gerechtere Gesellschaft. Sie müssen wir uns leisten wollen. Auch wenn es bedeutet, dass wir den Gedanken zulassen, wir könnten morgen in die gleiche Situation geraten wie jene, die heute arm sind.

8 Jugendarmut Durchhalten und kämpfen

14 Notschlafstelle Nach dem Winter

19 Corona «Wo ich hingehe, brauche ich das nicht mehr»

22 Fotografie Pionierin Pia Zanetti

25 Musik Ghost Orchestra

26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse Pörtner in Basel

28 SurPlus Positive Firmen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30 Surprise-Porträt «In Tunesien hätte ich kaum Chancen auf Arbeit»

KLAUS PETRUS Redaktor

Auf g elesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Kein Vergessen

Mindestens 13 Obdachlose starben in den vergangenen Monaten in Hamburg. Jetzt findet man an vielen Orten Tafeln, die daran erinnern sollen, dass hier Menschen mehr oder weniger anonym auf den Strassen sterben. Die Idee dazu kam zwei jungen Frauen, die sich in ihrer Ausbil-

dung gefragt haben, wie man Armut nachhaltig bekämpfen könne. Bewusstseinsarbeit sei hier ganz wesentlich –und vielleicht, so die beiden Schülerinnen, «entdeckt jemand darauf sogar den Namen eines Menschen, den er zu Lebzeiten kannte».

Neue Heimat

129 000 Menschen erhielten 2019 in Deutschland die Staatsbürgerschaft. Damit liegt unser nördliches Nachbarland von der Quote her fast um die Hälfte unter dem EU-Schnitt: Von 100 Zugewanderten werden 1,25 in Deutschland eingebürgert, im Durchschnitt der EU sind es 2,1. Im Vergleich liegen Schweden mit 7,2 Prozent, Rumänien mit 5,6 Prozent und Portugal mit 5,1 Prozent vorne.

Ungleichheit

Organisationen für Asylsuchende befürchten, dass die Corona-Zuschläge der Bundesregierung viele Bevölkerungsgruppen nicht erreichen werden. Dazu gehören Wohnungslose, Menschen im Asylverfahren und Einkommensschwache, die keine Leistungen beziehen.

Viel Alkohol

Insgesamt 1,3 Millionen Menschen in Deutschland haben Alkoholprobleme. Die Dunkelziffer ist wohl höher, denn Krankenkassen erfassen nur ärztlich diagnostizierte Fälle. Am meisten alkoholsüchtige Personen leben in Niedersachsen, dort wurden 2020 48 Prozent mehr Krankenversicherte wegen Abhängigkeit oder psychischer Alkoholprobleme behandelt als 2010.

HINZ & KUNZT, HAMBURG
BODO, BOCHUM/DORTMUND
HINZ & KUNZT, HAMBURG
ASPHALT, HANNOVER

Was bedeutet ei g entlich ...?

Asyl

Dass Verfolgte in der Schweiz Zuflucht suchen, ist nichts Neues: Schon Hugenotten aus Frankreich, Soldaten aus dem Deutsch-Französischen Krieg sowie Revolutionäre aus ganz Europa kamen hierher. Nach der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 nahm der Bundesrat zahlreiche Flüchtlinge aus Ungarn, Tibet und der Tschechoslowakei auf. Die «humanitäre Tradition» gilt darum als Teil der nationalen Identität. Allerdings hat die Schweiz seit jeher auch Geflüchtete ausgeschlossen. Vor und während des Zweiten Weltkriegs wurden Tausende jüdische Menschen abgewiesen.

Das erste Schweizer Asylgesetz von 1981 war von Offenheit gegenüber Schutz suchenden Personen geprägt. Danach wurde das Gesetz zunehmend verschärft. Ein Grund war, dass die Anzahl Gesuche stieg und damit auch die Angst, die «Aufnahmefähigkeit» der Schweiz sei bedroht. Seit Ende der 1990er-Jahre ist die Zahl der Gesuche rückläufig; mit Ausnahme eines kurzzeitigen Anstiegs zurzeit der grossen Flüchtlingsströme nach Europa: 2015 gingen 39 500 Gesuche ein. Bis 2020 sank diese Zahl auf rund 11 000.

Das Schweizer Asylwesen ist in den letzten vier Jahrzehnten bürokratisiert, verrechtlicht und politisiert worden. Nun soll das Asylverfahren beschleunigt werden. Dazu trägt das Konzept der «sicheren Herkunftsstaaten» bei. Bei Menschen aus diesen Ländern wird davon ausgegangen, dass sie nicht verfolgt werden. Zudem sollen 60 Prozent der Gesuche in Zentren des Bundes innerhalb von 140 Tagen abschliessend behandelt werden. Die restlichen Asylbewerber*innen werden für vertiefte Abklärungen den Kantonen zugeteilt. EBA

Christin Achermann: Asyl. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020.

Vor Gericht

Kuscheljustiz für Superreiche

Gerade ringen die Räte in Bern um die Sanierung der AHV. Gelingen soll dies mit einer Mehrwertsteuererhöhung, vor allem aber mit der Anhebung des Frauenrentenalters auf 65. Gewerkschaften und Frauenorganisationen sind empört und Mitte-Ständerat Beat Rieder erinnerte anlässlich der Debatten daran, dass eigentlich die soziale Umverteilung Kern der Altersvorsorge sei. Weshalb die Lösung doch eher wäre, vermögendere Schichten stärker zur Kasse zu bitten, etwa mit der Besteuerung von Börsengeschäften. Als «geradezu revolutionär» kommentierten Medien diese Idee.

In der Umsetzung dürfte das einen schweren Stand haben. Sozialbetrug der Ärmeren ist ein Schwerverbrechen, Steuerhinterziehung der Reichen ein Kavaliersdelikt. Wie tief diese Mentalität in der Schweiz verankert ist, zeigt ein Blick in die Geschichte: 1944 liess die eidgenössische Steuerverwaltung in einem Merkblatt zu einer Steueramnestie rundheraus verlauten: «Die Steuermoral ist ein leidiges Kapitel; wollte man die geistige Gesundheit und Widerstandskraft unserer Eidgenossenschaft danach beurteilen, so stände es bös um unsere Aussichten.» Die Steuerhinterziehung sei ein nationales Übel, sie habe leider ein gewisses Bürgerrecht erlangt. Die Aussichten haben sich seither nicht verbessert. Dieses «Bürgerrecht» übt der Besitzer des Zürcher Edelhotels Dolder Grand, Financier und Kunstsammler Urs E. Schwarzenbach aus wie einen Sport. Bereits vor einigen Wochen war sein Fall von Steu-

erhinterziehung Thema in diesen Spalten. Inzwischen hat das Bezirksgericht Zürich das Urteil gefällt: Es sei erwiesen, dass der Beschuldigte über achtzig Kunstwerke –alles nur vom Feinsten: Picassos, Miros, Warhols – wissentlich und willentlich als Kommissionsware einer Galerie im Verlagerungsverfahren importieren liess, um damit zu verhindern, dass er bei einer Einfuhr jeweils eine Einfuhrsteuer schuldete. Die Bilder habe er gar nie verkaufen wollen. Während nun das Gesetz bei Sozialhilfebetrug mehrjährige Freiheitsstrafen vorsieht, bei Ausländer*innen gar die Landesverweisung, kennt das Mehrwertsteuergesetz bei der Steuerhinterziehung als einzige Sanktionsmöglichkeit die Busse. Also: Nicht einmal eine Geldstrafe, kein Eintrag ins Strafregister. Ganz günstig kommt es Schwarzenbach nicht: 6 Millionen Busse und Nachzahlung der Einfuhrsteuern von 11 Millionen Franken sowie Zinsen von 2,5 Millionen.

Nicht, dass er die Zeche begleichen würde – Schwarzenbach zieht das Urteil weiter, wohl bis vor Bundesgericht. Schon früher versuchte die Zahlungsstelle des Steueramts des Kantons Zürich bei ihm 162 Millionen einzutreiben. Zu Recht, wie das Bundesgericht in jenem Fall letztes Jahr bestätigte. Der 72-jährige Milliardär aber, der sein Vermögen im Devisenhandel machte und stets auf der Liste der 300 reichsten Schweizer verzeichnet ist, macht geltend, dass ihm dies leider nicht möglich sei: als «armer AHV-Bezüger», dem es im Grossen und Ganzen sehr schlecht gehe. Zum Weiterprozessieren scheint es aber bestens zu reichen. Allein für diese Arroganz sollte man ihn ins Gefängnis stecken dürfen.

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne

Im Augenblick das Nichts

Wer kennt die Lehre der Achtsamkeit nicht? «Das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, dass sie im Augenblick das Nichts zu allem macht», schreibt J.W. Goethe (1749–1832). So zu leben, das müsste doch einfach sein, gerade in dieser Krisen-Corona-Zeit. Nur heute, hier, jetzt. Keine Überlegungen, wie es wohl weitergehen wird.

Es geht weiter, das ist gewiss. Im Moment ist es einfach schwer, die Realität zu ertragen. Das Wetter ist schlecht, die Leute sind trostlos (fast alle), die vielen Angebote zur Zerstreuung sind geschlossen, abgesagt. So ist man gezwungen, mit sich selber auszukommen. Das Denken für einmal zur Seite schieben, jede Handlung ganz bewusst erledigen, nach Buddha: «Jede aufmerksame Handlung, jeder achtsame Schritt führt unweigerlich zum Erwachen. Wo du gehst, bist du.» Diese Lebensweisheit muss ich mir noch an die Wohnungstür hängen, damit ich auch sicher in diesem Jahr keine Unfälle mehr erleben muss. Zuerst stolperte ich im Dunkeln über den eigenen

Stubentisch, kurz danach verpasste ich auf der Treppe eine Stufe. Zwei gebrochene Füsse reichen mir für lange Zeit.

Nun sitze ich noch öfter zuhause, ich muss warten, bis es taut, bevor ich dann wieder regelmässig zur Haustür hinaus kann oder muss. Manchmal bin ich durch das viele Zuhause-Sitzen recht antriebslos. Dabei sollte ich doch zufrieden sein, da ich die Corona-Problematik bis heute kaum als Belastung erlebt habe. Nun mache ich jeden Morgen zehn Minuten Achtsamkeitsübungen, nur dasitzen, die Augen schliessen, nach innen gehen, versuchen, sich zu spüren, des Atems bewusst werden und dann bis in die Zehenspitzen und Fingerkuppen nachfühlen, ob alles heil ist. Nach dem Mittag mal noch zehn Minuten meditieren wäre dann der zweite Schritt, das klappt aber oft noch nicht.

Yoga im Sitzen wäre auch sehr gut für mich. Nur vergingen pro Woche fünf bis sieben Tage, an denen ich das Bedürfnis

nach Dehnung und Bewegung einfach ignorierte. Das ist ein mir bewusstes persönliches Problem, da ich mich in meinem Körper einfach nicht wohlfühle. Inzwischen gehören 30 Minuten Yoga und Achtsamkeitsübungen aber zu meinem Tagesbeginn. So lerne ich, achtsamer mit mir zu umzugehen.

KARIN PACOZZI , 54, verkauft Surprise in Zug. Und sie liest sehr viel – von Sokrates, Euklid und Konfuzius über Goethe bis zu Hermann Hesse und James Joyce (der ja in Zürich begraben liegt). Im Speziellen gibt sie Ernest Hemingway mit seinem erzählerischen Eisbergmodell recht: Was in einer Kurzgeschichte erzählt wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Wesentliche liegt darunter.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design  & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Moumouni …

… will mehr Modegesetze!

Haben wir den Extremismus mit der sogenannten Burkainitiative nicht ein wenig extrem gestoppt? Grad mit einem Verbot? Und das in der freiheitsliebenden Schweiz? Wenn man SVPParteichef Marco Chiesa glaubt (der seinen Partei­Papa Christoph Blocher beeindrucken will, indem er ihm nachplappert), dann leben wir sowieso schon in einer Diktatur.

Man muss aber sagen: Wenn es um Mode geht, wäre das gar nicht so schlecht. Die Abstimmung zum Verhüllungsverbot war quasi der Traum einer jeden Modeikone. Wir haben gezeigt: Über Mode lässt sich streiten. Und wer sich mit Mode auskennt, weiss: Mode MUSS abschliessend diskutiert werden, sonst kommt sie immer wieder. Und deshalb war es wohl richtig, das mit dem Niqab grad in die Verfassung zu schreiben.

Ich meine, welcher Modeschöpfer kennt es nicht, kaum liegt man im Grab, wird die Jogginghose zum Trend – obwohl man doch gesagt hat, dass sie hässlich und untragbar ist. Das kann mit dem Niqab jetzt einfach nicht mehr passieren. Ich persönlich hätte gesagt, dass die Gefahr, dass Arschgeweihe wieder trendy werden, etwas grösser ist als die, die von Gesichtsschleiern ausgeht. Einfach, falls es jetzt dann mit dem Kopftuch weitergehen soll. Stopp! Kümmern wir uns erstmal um die wirklich wichtigen Dinge!

Wer in den 1990er­ und 2000er­Jahren bei Sinnen war, wird wissen: Wir hätten damals schon abstimmen sollen. Schon vor spätestens fünfzehn Jahren. Damit wir als Gesellschaft entscheiden: Netzhemden? Latzhosen? Buffalos? Absolute No­Gos. Wehret den Anfängen. Extremismus stoppen! Früh genug!

Ist ja nahezu die Steigerungsform von Demokratie: per Volksentscheid durchgesetzte Kleidervorschriften! Der nächste Schritt sind weitere Kleidervorschriften, die etwas genauer definieren, was für eine Gesellschaft wir sein wollen. Als ehemalige Ethnologie­Studentin glaube ich zum Beispiel, dass Goahosen nicht tragbar sind. Das wirft ein problematisches Licht auf die seriöse Arbeit von Ethnolog*innen. Wer soll uns jemals wieder ernstnehmen, zum Beispiel bei der ernsthaften Aufgabe des Schädelausmessens?

Oder das Problem mit den Deutschen! Ganz einfach lösbar mit einem Verbot der Kombination «weisse Socken und Birkenstocks» – Extremismus stoppen. Jetzt.

Motorradhelme! Das Problem mit den vielen, vielen Verkehrsunfällen in unserem Land! Ein Verbot von Motorradhelmen würde helfen! Das ist nämlich die Kluft von Verkehrsrowdys. Wenn wir Motorradhelme stoppen, werden die Strassen wieder sicherer, glauben Sie mir.

Weiter: Speedos. Wenn man mich fragt, sind Speedos, diese knappen Schwimmunterhosen – meist in radikalem Rot, aber auch anderen Farben vertreten –, der Ursprung allen Übels. Männer, die sich zu wohl in ihrem Körper fühlen. In der Verhüllungsdebatte wurde klar: Es gibt ein Recht darauf mitzubestimmen, was man vom Gegenüber sehen will und was nicht. Etliche Kommentare versuchten so etwas wie einen Schweizer Grundsatz festzulegen, wie viel man denn nun mindestens sehen dürfen muss vom Körper einer Frau. «In diesem Land schaut man sich ins Dekolleté», war die Devise. Nun ist jedoch die Frage: Wie tief? Wo hört das Verhüllungsverbot auf? Ich würde sagen: allerspätestens da, wo man nicht mehr weiss: Sind das noch Bauchhaare oder schon Schamhaare?

Deshalb: Extremismus stoppen! SpeedoVerbot an öffentlichen Badeorten jetzt!

FATIMA MOUMOUNI wünscht sich weiter ein entschiedenes Auftreten der Schweiz gegen modische Fauxpas!

«Ich bin durch meine

Vergangenheit

zu dem geworden, der ich heute bin»

Jugendarmut Manuel Borner ist in prekären Verhältnissen aufgewachsen und war viel zu früh auf sich allein gestellt. Seine heutige Stabilität hat er sich mühsam erkämpft.

TEXT JULIUS E. O. FINTELMANN FOTOS KOSTAS MAROS

Vor sechs Jahren gingen Manuel und ich ein Jahr lang in die gleiche Schulklasse. Damals sagte uns die Lehrerin, dass er in einer besonderen Situation lebe. Was genau sie damit meinte, wussten meine Klassenkamerad*innen und ich nicht und genauso wenig, unter welch prekären Umständen unser Mitschüler damals gelebt hat. Als ich nun über die Sozialen Netzwerke nach potenziellen Gesprächspartner*innen zum Thema Jugendarmut in der Schweiz suchte, fand ich ihn wieder. Wir haben uns zum ersten Mal wieder getroffen, seit sich unsere Wege vor fünf Jahren getrennt hatten.

Manuel ist mittelgross, er hat schwarze Haare und braune Augen, ist unauffällig gekleidet, grauer Hoodie und graue Jacke, an den Füssen neue Rennschuhe. Er wirkt klar und aufgeräumt. Der heute 20-Jährige wuchs in Basel nahe der deutschen Grenze auf. Mit seiner Mutter lebte er in einer einfachen Mietwohnung, die Grossmutter wohnte gleich gegenüber. Es war eine friedliche Nachbarschaft im Grünen, mit vielen Kindern und Spielplätzen. Dort besuchte er den Kindergarten und die Primarschule. Doch es war in mehrfacher Hinsicht keine familiäre Idylle: Sein Vater war von Anfang an abwesend, zahlte keine Alimente, für ihn war der Sohn wohl eine «einmalige Angelegenheit», wie Manuel sagt. Nach vielen erfolglosen Versuchen, dem Vater näherzukommen, entschied Manuel sich mit dreizehn Jahren, den Kontakt abzubrechen.

Manuel ist bereits früh viel allein. Schon als er acht ist, sind sowohl seine Mutter als auch seine Grossmutter immer wieder weg. Er muss zuhause allein zurechtkommen. Auch später habe er sich praktisch selbst erzogen, erzählt er, denn seine Mutter arbeitet im Kino, macht dort Nachtschichten und ist kaum da. Und wenn sie zuhause ist, ist die Stimmung nicht gut. «Sie hat mich früh an sich gebunden und emotional abhängig gemacht. Sie redete mir ein, dass meine Klassenkolleg*innen, nein, die ganze Welt Schlechtes für mich wollten, und sie nur das Beste. Gleichzeitig schob sie mir die Schuld für ihre Misserfolge zu», erzählt Manuel.

Als er ungefähr zwölf Jahre alt ist, wird die Mutter arbeitslos. Sie werden aus ihrer Wohnung geworfen und ziehen in eine Sozialwohnung, die etwas näher an der Stadt liegt. Diese ist Teil einer kleinen Siedlung aus drei bungalow-ähnlichen zweistöckigen Häuschen. Manuels Taschengeld beträgt damals 150 Franken im Monat. Das musste für alles reichen, auch fürs Essen: «Das waren rund fünf Franken pro Tag. Damit kommt man in dieser teuren Stadt nicht weit. Deshalb habe ich auch in den Mittagspausen immer überall rumgefragt, ob ich dies und jenes noch essen könnte.» In dieser Zeit kommt er in meine Schulklasse. «Ich erinnere mich daran, wie wir im Haushaltsunterricht in der Vorweihnachtszeit einmal gebacken haben – für Bedürftige. Ich wollte die Kekse natürlich lieber selbst essen, doch die Lehrerin sagte, dass wir diese für jene zubereiteten, die es wirklich bräuchten.» Später habe sie sich bei ihm entschuldigt.

Sein Vater war von Anfang an abwesend, zahlte keine Alimente, für ihn war der Sohn wohl eine «einmalige Angelegenheit», wie Manuel sagt.

Ungefähr anderthalb Jahre lang leben sie in der Sozialwohnung. «Acht Monate davon hatten wir keine Elektrizität», sagt Manuel, «und das im Winter. Heizen und Kochen ging nicht, also haben wir auf offenem Feuer gebraten. Es gab oft günstiges Fleisch, was selten wirklich durch war. Viel zu oft kam ich heim und es gab nichts zu essen.» Seine Nintendo DS und sein Handy lädt er bei einem älteren, in Manuels Erinnerung etwas verschrobenen Ehepaar auf, das über ihnen lebt. «Gezockt habe ich viel, Monster Hunter IV zum Beispiel. In der Zeit ohne Strom habe ich mit dem Lesen begonnen.» Seine Liebe für Mangas hält bis heute an.

Er fühlte sich wie ein Alien «Ich blieb tagsüber so lange wie möglich in der Schule, da war es warm, da gab es andere Leute und Internet. Klar, für die Schule gemacht habe ich nicht viel, aber ich war immer da. Vor allem die Naturwissenschaften haben mich fasziniert», erzählt Manuel. «Für andere ist vielleicht das Privatleben Ausgleich zur Schule, für mich war es umgekehrt.» Denn die Stimmung zuhause ist schrecklich: «Ich weiss nicht, was meine Mutter damals den ganzen Tag lang gemacht hat. Gesprochen haben wir kaum miteinander, und wenn ich heimkam, ging ich direkt in mein Zimmer.»

Als Manuel vierzehn wird, wird die Situation noch prekärer. Nach einem Zerwürfnis mit der zuständigen Sozialarbeiterin sagt seine Mutter, er solle alle Sachen, die ihm wichtig sind, in einen Rucksack und zwei Kisten packen, sie würden gehen. In einer Hals-über-Kopf-Aktion irren sie mitten in der Nacht durch die Stadt, auf der Suche nach einer Unterkunft. Sie finden ein leeres Zimmer in einem heruntergekommenen Hotel bei der Messe, das mittlerweile abgerissen wurde. Die Mutter schafft es irgendwie, das Zimmer als Notunterkunft bei der zuständigen Sozialhilfe zu melden, so vermutet Manuel heute. Hier leben sie auf engstem Raum für die nächsten sechs Monate.

Auch in dieser Zeit geht er weiterhin in die Schule. Es gelingt ihm, seine Lage so zu verheimlichen, dass niemand etwas mitbekommt. «Mit den Klassenkamerad*innen kann und will man darüber nicht reden, auch wenn du nichts dafür kannst. Die beschweren sich darüber, dass sie einen Fleck auf ihren Yeezies haben, und ich war froh, wenn meine Kleider heute nicht ganz so vergammelt stanken.» Damals hatte er kaum Bezug zu seiner Altersgruppe. Er habe sich manchmal gefühlt wie ein Alien: «Die Probleme der anderen hatten für mich einfach keine Gültigkeit. Wenn jemand über Schwierigkeiten mit den Eltern erzählte, wurde ich wütend: Immerhin hast du welche und musst dich nicht darum sorgen, wo du am nächsten Tag schlafen wirst! Heute verstehe ich aber, dass die Sorgen und Nöte subjektiv und nicht unbedingt vergleichbar sind.»

Dann kommt die weltgrösste Uhrenmesse. Tausende internationale Gäste strömen in die Stadt, alle Hotels sind Monate im Voraus ausgebucht. Manuel und seine Mutter müssen ihre Bleibe räumen. Sie werden obdachlos. Drei Tage und drei Nächte irren sie von Bahnhof zu Bahnhof. «Es ist schon komisch, wenn dich frühmorgens die ganzen Pendler anschauen.» Nachdem er drei Nächte auf der Strasse und ohne Schlaf auskommt und den letzten Rest Energie mobilisiert hat, hält Manuel es nicht mehr aus. Er nimmt eine Lehrerin beiseite, erzählt ihr alles und bricht zusammen. Sie alarmiert die Schulleitung und den Schulpsychologischen Dienst, und die klingeln beim städtischen Jugend- und Kinderheim, wo er noch am selben Abend hingehen kann. Dort bleibt er für zwei Wochen und kommt anschliessend in einer betreuten Wohngruppe unter.

Damit soll erstmal ein gewisser Alltag etabliert werden, er soll sich «stabilisieren», wie es die Sozialarbeiter*innen nennen. Nach und nach durchläuft Manuel weitere Wohngruppen, die mehr und mehr die Form von WGs annehmen und mit höherem Alter mehr Freiheiten, beispielsweise im Ausgang, zulassen. Heute lebt er immer noch in einer Wohngemeinschaft.

«Das Tollste, was mir passiert ist»

Die gesamte Zeit über gerät Manuel niemals in die Kriminalität, er nimmt und vertickt keine Drogen. Auch wenn es teilweise sehr einfach gewesen wäre, wie er selbst sagt. Was hat ihn davor bewahrt? «Einerseits war da sicherlich der Kampfsport, Taekwondo, mit dem ich in der Primarschule begonnen hatte. Aber ich hatte keine Vorbilder, die mir vorgelebt hätten, was gut ist und was schlecht. Ich muss von innen heraus irgendeinen moralischen Kompass entwickelt haben.»

Nach einiger Zeit im Heim beginnt er sich zu öffnen. «Nach der ersten Regenerationsphase im Heim habe ich mir eingestanden, dass ich Hilfe brauche. Meine Betreuer waren sehr offen und haben nie Druck gemacht, sondern gewartet, bis ich zu ihnen kam. Und glücklicherweise war die Dynamik in meiner Gruppe recht positiv. Wir haben

alle vergleichbare Erfahrungen gemacht, untereinander geredet und uns ausgetauscht.» Ein Höhepunkt dieses Heilungsprozesses ist, als er seine Lehre als Chemielaborant beim grössten Pharmaunternehmen der Stadt antreten darf. «Die Zusage war das Tollste, was mir bis dahin passiert war. Es war das Erste, was ich komplett aus eigener Kraft erreicht hatte. Das Datum werd ich nie vergessen: 12. Dezember 2017.»

Diesen Sommer wird Manuel seine Lehre beenden. Ob er danach weiterhin in der Chemie arbeiten will, weiss er noch nicht, denn das würde fünf Jahre Studium erfordern: «Mich interessiert am meisten der Bereich der Synthese, in dem werden neue Stoffe entdeckt und entwickelt. Der Wettbewerb da ist aber streng, weshalb es wirklich eine gute Ausbildung braucht.» Deshalb möchte er ab Sommer noch etwas anderes ausprobieren. Was genau, das weiss er noch nicht, vielleicht etwas in Richtung Fitness und Bewegung. «Ich könnte dort meine Liebe zum Sport und meinen Helferdrang kombinieren. Ich möchte andere Leute unterstützen, die sich sportlich betätigen oder verbessern wollen. Der Kontakt zu und das Wohlwollen für andere Menschen ist mir wichtig.»

Ist er verbittert über die verlorene Kindheit und Jugend? «Nein», sagt Manuel, als wir fünf Jahre nach unserer gemeinsamen Schulzeit Döner essend am Rhein sitzen. «Die kann mir eh niemand zurückgeben. Ich bin durch meine Vergangenheit zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Doch gerade am Anfang ist es natürlich schmerzhaft, das alles nicht zu verdrängen und zu verleugnen, sondern zu akzeptieren. Die Frage, was wäre, wenn alles anders gelaufen wäre, kann dich kaputt machen. Mir hilft es immer noch, den Dingen gedanklich eine Form zu geben. Einen Nebel kann ich nicht verjagen, aber kleine Sandkörner kann ich nach und nach abtragen.»

«Für andere ist das Privatleben Ausgleich zur Schule. Für mich war es umgekehrt.»
MANUEL BORNER

Manuel schliesst bald seine Lehre als Chemielaborant ab. Die Materie interessiert ihn, aber eine Karriere in der Chemie würde ein Studium erfordern.

«Eine ungewöhnliche Anpassungsleistung»

Kinder und Jugendliche, die in Heimen unterkommen, leiden oft unter verschiedenen Formen der Verwahrlosung, sagt Sozialarbeiter Samuel Scharowski, der Manuel Borner zwei Jahre lang begleitet hat.

INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

Erleben Sie viele Fälle wie den von Manuel Borner?

Das ist schwer zu sagen. Bei Manuel kamen verschiedene Problemlagen zusammen, wie emotionale und physische Verwahrlosung sowie die Überforderung einer alleinerziehenden Mutter. Verwahrlosung im Allgemeinen begegnet uns immer wieder. Sie zeigt sich in ganz unterschiedlichen Facetten. Bei Manuel war es erheblich, auch weil er lange nicht aufgefallen ist. Häufiger erleben wir bei Kindern und Jugendlichen die Folgen emotionaler Verwahrlosung.

Was heisst das?

Das Kind wird nicht ausreichend wahrgenommen und bekommt nicht die Liebe und Zuwendung, die es braucht, um gewisse Entwicklungsschritte zu vollziehen. Das kann zu den unterschiedlichsten Formen von Bindungsstörungen führen. Wir erleben das immer wieder. Die einen leiden stärker darunter, weil sie über einen längeren Zeitraum vernachlässigt wurden, die anderen weniger, weil es doch noch funktionierende Familienelemente gab, die etwas auffangen konnten.

Hat es bei Manuel ungewöhnlich lang gedauert, bis er aus seiner Situation herausgeholt wurde?

Ja. Manuel lebte sehr isoliert. Ausserhalb des Kampfsportes, der Schule und seinen Grosseltern hatte er wenig Kontakt zu anderen Menschen. Er ist ein Beispiel dafür, wie ein Kind über eine lange Zeit eine ungewöhnliche Anpassungsleistung zeigen kann – bis es irgendwann überfordert war und das Konstrukt einer heilen Welt nicht mehr aufrechterhalten konnte. Doch bis dahin war die Verwahrlosung schon weit fortgeschritten. Manuel hat eine Zeit lang auf der Strasse gelebt und konnte sich nicht mehr ausreichend erholen. Ein Kind passt sich den Gegebenheiten an und nimmt diese als normal war. Deshalb ist es für Aussenstehende auch schwer zu erkennen.

Kommen denn die meisten Gefährdungsmeldungen über den Familien- und Bekanntenkreis?

Das ist eine gute Frage, die ich so nicht beantworten kann. Ich weiss aber, dass viel auch über den Lehrkörper und folglich über die Schulsozialarbeit läuft. Diese machen sich ein genaueres Bild der Situation und leiten den Fall an die KESB weiter. Es gibt auch Heimplatzierungen auf freiwilliger Basis, welche in Kooperation von Eltern und Kind erfolgen.

«Ein Kind passt sich den Gegebenheiten an und nimmt diese als normal war.»

Samuel Scharowski, 33, ist Sozialarbeiter im Bürgerlichen Waisenhaus Basel.

Manuel hat seine Lehrerin von sich aus angesprochen. Kommt es häufig vor, dass Kinder oder Jugendliche selbst um Hilfe fragen?

Ja, das gibt es immer wieder. Wir haben im Waisenhaus auch eine Wohngruppe, die eine Durchgangs- und Abklärungsstation ist. Dorthin können Jugendliche gehen, wenn es daheim nicht mehr geht. Oft kennen sie andere Jugendliche, die bei uns leben oder wissen, dass es uns gibt und dass sie hierherkommen können. Manche kommen auch aus einer konkreten Notsituation heraus, wenn sie beispielsweise Gewalt erfahren haben. Es gibt auch Situationen, in denen Jugendliche in einer anderen Familie bemerkt haben, dass das Familien- und Zusammenleben bei ihnen

zuhause doch nicht so normal ist. Kinderund Jugendliche nehmen ihr Zuhause grundsätzlich als normal wahr.

Wie wägt man ab zwischen dem Schutz der Kinder vor den Eltern und dem Einbezug der Eltern in den Stabilisierungsprozess?

Für mich und meine Arbeit ist die Meinung von Jugendlichen immer zentraler Punkt der Zusammenarbeit. Unser Ziel ist es dennoch, die Elternteile miteinzubeziehen und eine gelingende Kooperation mit dem gesamten System zu erreichen. Aber diese Zusammenarbeit ist manchmal leider schwierig. Auch bei Manuel war das ähnlich. Die Zusammenarbeit mit Manuels Mutter stellte sich als herausfordernd dar. Ihr fiel es schwer, auf Manuels Wünsche sowie seine aktuelle Situation einzugehen. Als Manuel volljährig wurde, konnte er dann selbst entscheiden, ob er sie weiterhin dabeihaben möchte oder nicht.

Bei Manuel spielt ja auch Armut eine Rolle. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Aufwachsen mit Armut und der Ausbildung eines guten Selbstwertgefühls?

Schwer zu sagen. Vernachlässigung kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Und bei der Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls spielen so viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Wenn man beispielsweise verhältnismässig wenig Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung von den Eltern erhält, ist die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls erschwert. Vielleicht ist Armut eher indirekt relevant: Weil die Eltern in schwierigen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen leben, mehr arbeiten müssen, um durchzukommen, haben sie dadurch weniger Zeit und Kraft für ihre Kinder. Folglich fühlen sich die Kinder gegebenenfalls auch weniger gesehen und wertgeschätzt, was wiederum Einfluss auf die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls hat. So gesehen ist ein Einfluss schon gegeben.

Nach dem Winter

Notschlafstelle Diesen Winter froren Obdach- und Wohnungslose auf unseren Strassen. Von institutionellen Orten des Austauschs und der Wärme fühlen sich viele ausgeschlossen –und anderswo sind sie nicht willkommen.

«Der Flughafen Zürich wirkt auf unerwünschte Personen und Obdachlose wie ein Magnet», heisst es bei der Mediensprecherin des Flughafens Zürich. Er sei «geradezu» eine Übernachtungseinladung. Ihre Worte könnten auch das Angebot einer hippen Jugendherberge beschreiben: «Saubere Nasszellen, warm und trocken, Unterhaltung durch Flughafenbetrieb, medizinische Versorgung, Schliessfächer, tolle Verkehrsanbindung, soziale Netzwerke, gratis-WiFi». Das kalte Licht während 24 Stunden und den Lärm liess die Flughafensprecherin weg. Doch für manche war der Flughafen tatsächlich lange der beste verfügbare Schlafplatz. Denn die städtische Notunterkunft steht jenen, die nicht in Zürich gemeldet sind, nur ausnahmsweise offen. Wer nicht in der Schweiz gemeldet ist, darf auch bei allen anderen institutionellen Angeboten für Wohnungs- und Obdachlose bloss einige Nächte bleiben. Der Flughafen hingegen bot allen Wärme, Sitzfläche, Sicherheit, Waschmöglichkeiten. Bis 2018.

Seither ist das Übernachten am Flughafen nur noch mit einem gültigen Flugticket erlaubt. Dies, obwohl die Flughafen Zürich AG zu knapp 40 Prozent der öffent-

lichen Hand gehört und die Zürcher SP-Stadtpräsidentin Corine Mauch im Verwaltungsrat sitzt. Kurz nachdem der Flughafen plötzlich auf diesen harten Kurs umschwenkte, erzählte ein Surprise-Stadtführer besorgt, dass er künftig mit vielen Kältetoten in Zürich rechne. Dazu ist es glücklicherweise auch im kalten Pandemiewinter nicht gekommen.

2020 war ein Jahr, in dem viele Flugzeuge am Boden blieben und manches Flugticket höchstens für eine Freinacht auf einem gepolsterten Flughafenmöbel gut gewesen wäre. Für die Notschlafstelle in Baden war es hingegen das erste Betriebsjahr. Nach vielen Jahren gibt es damit im Kanton Aargau mit knapp 700 000 Einwohner*innen endlich wieder eine Notschlafstelle. Wohnungslose, Menschen in einer akuten Krise oder «Durchreisende, die in der Hoffnung, hier eine Existenz zu finden, obdachlos und mittellos ausharren» nutzen das Angebot, so Daniela Fleischmann, Geschäftsführerin des christlichen Betreiberhilfswerks. Obwohl viel Freiwilligenarbeit drinsteckt und es um nur 12 Schlafplätze geht, kostet der Betrieb 400 000 Franken pro Jahr. 2549 Übernachtungen verzeichnete sie 2020.

Weil es in Solothurn keine Notschlafstelle gibt, versuchen die Leute im Bieler Sleep-In ihr Glück.

Die städtischen Notschlafstellen in Zürich, Basel oder Luzern richten sich eigentlich nur an lokale Nutzer*innen. «Wir haben Verständnis, dass sich Zürich wehrt. Leider können sie sich nur über die Abweisung der Betroffenen wehren. Und die haben wenig Lobby, die ihre Bedürfnisse bei Entscheidungsträger*innen im eigenen Kanton vertritt», sagt Fleischmann. Sie wäre für ein dichteres Netz von Angeboten in Kleinstädten und in allen Regionen. Möglich ist das aber bloss, wenn die Finanzierung überregional gedacht wird. Aktuell sei man im Aargau «auf politischem Weg» auf der Suche nach Lösungen.

«Obdachlosigkeit zu verhindern, ist in erster Linie Aufgabe der betroffenen Personen selber», beantwortete der Oltner Stadtrat vor einigen Jahren die Parlamentsanfrage, ob die Solothurner Kleinstadt eine Notschlafstelle brauche. Daraufhin ist der Verein Schlafguet aktiv geworden, der ein

lokales Angebot lancieren will. Timo Probst vom Vereinsvorstand sagt: «Jedes Jahr ist unser Ziel, dass wir im nächsten November starten können.» Im ganzen Kanton, wo immerhin 275 000 Menschen leben, gibt es keine einzige Notschlafstelle. Probst weiss, dass in der Notschlafstelle Sleep-In in Biel auch Menschen aus Solothurn übernachten. In diesen Wochen tönt Probst optimistisch, man sei mit potenziellen Vermieter*innen im Gespräch. Vielleicht gibt es bald eine Notschlafstelle in Olten. «Unser Fokus ist die erste Nacht. Uns geht es darum, Leuten möglichst niederschwellig eine Alternative zur Strasse zu bieten», sagt Probst. Er denkt dabei etwa auch an Betroffene häuslicher oder sexueller Gewalt. Doch man werde keine Fragen stellen. Das Konzept sieht Waschmöglichkeiten, Essen und ein Bett für alle für fünf Franken vor. Wieso aber müssen Notschlafstellen überhaupt etwas kosten?

Vielleicht, weil nicht geschätzt werde, was nichts koste, sagt Probst. «Und weil sich die Sozialämter bei Gratisangeboten möglichen Kostengutsprachen verweigern würden.» Niemand werde abgewiesen, aber eine Notschlafstelle könne sich in der Schweiz nicht finanzieren, ohne dass Gemeindebehörden die Kosten für jene tragen, für die sie verantwortlich sind.

40 Franken pro Nacht

Solche Kostengutsprachen sind ein Grund, weshalb sogenannt «Auswärtige» in Basel trotzdem übernachten dürfen, obwohl die dortigen Notschlafstellen von ihnen absurde 40 Franken pro Nacht verlangen. Für alle, die nicht in Basel gemeldet sind, ist das Bett in der Notschlafstelle teurer als in einer Jugendherberge. Gemäss Rudolf Illes, Leiter Sozialhilfe Basel-Stadt, müsse aber kaum jemand diesen Betrag tatsächlich zahlen: «In fast allen Fällen» gebe es eben

Kostengutsprachen. Was Illes nicht sagt: Die 40 Franken schrecken viele von vornherein ab, wie man in Basel auf der Gasse hört. Natürlich auch jene, die keinen Schweizer Wohnsitz und damit keine Gemeinde haben, denen die Notschlafstelle eine Rechnung schicken könnte.

Seit bald einem Jahr führt Basel eine geifernde Debatte über Osteuropäer*innen – viele von ihnen Rom*nija –, die im öffentlichen Raum schlafen. Nach wochenlangen Minustemperaturen hat Basel-Stadt nun im Winter entschieden, die bisherigen Nutzer*innen der Notschlafstelle in Hotels unterzubringen und den Neuankömmlingen zwei Wochen Obdach in der Notschlafstelle zu bieten. Doch schon kurz danach sorgte das nur für die nächste Kaskade an Empörung. «Die Idee war ja nicht, für alle Roma in Europa eine Übernachtungsmöglichkeit in Basel zu bieten», erklärte Sozialhilfeleiter Illes gegenüber dem Fernseh-

«Unser Fokus ist die erste Nacht. Uns geht es darum, Leuten möglichst niederschwellig eine
Alternative zur Strasse zu bieten.»
TIMO

sender Telebasel im Januar. Es gebe Hinweise, dass Leute nur für das Angebot einreisen. Zwei Tage später wollte Illes das nie gesagt haben; die SVP ereiferte sich aber da bereits schon über «Notschlafstellen-Tourismus».

Im angeblich so weltoffenen Basel legt diese Debatte viel Rassismus offen. Manche schämen sich dafür. Dann aber macht die Basler Öffentlichkeit erneut grosse Augen, als bekannt wurde, dass die Osteuropäer*innen das Notschlafstellen-Angebot kaum nutzen. Ende Februar war die Notschlafstelle komplett leer. Der Grund: Die Osteuropäer*innen wären verpflichtet gewesen, sich im Gegenzug für das Bett beim Migrationsamt zu registrieren.

Als Hintergrund dazu muss man wissen: Die Schweiz verbot Rom*nija bis 1972 die Einreise, das Land führte Register, Polizist*innen enteigneten manche von ihnen. Es ist nicht erstaunlich, dass

Rom*nija den Kontakt mit Behörden vermeiden möchten. Auch ohne diesen rassistischen und historischen Kontext meiden Wohnungs- und Obdachlose die offiziellen Notschlafstellen. 2019 zeigte die Studie «(K)ein Daheim?» der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, dass manche die Notschlafstellen nicht nutzen und sich einige unwohl fühlen, wenn sie dort schlafen. Die Gründe dafür seien der «geforderte finanzielle Beitrag» und «das Alkohol- oder Rauchverbot». Was für Sozialhilfeleiter*innen hürdenlos ist, ist für andere unüberwindbar. Umso wichtiger sind deshalb – am Tag wie in der Nacht – Räume, die schon deshalb keine Schwellen haben, weil sie gar nicht als Angebote gedacht sind: Wartehäuschen an Bahnhöfen, Lesesäle von Bibliotheken, botanische Gärten. Allesamt Räume, die in der Pandemie rarer sind. Aber am Flughafen hätte es Platz.

Corona In loser Folge erinnern wir an Menschen, die ihr Leben an Covid-19 verloren haben. Es sind individuelle Be ge gnungen mit der Trauer - durch die Augen und Erzählungen von Hinterbliebenen.

«Wo ich hingehe, brauche ich das nicht mehr»

René Egger ist 56 Jahre alt geworden. Am 10. November starb er an den Folgen einer Covid-19-Infektion. Seine letzten Momente verbrachte er allein auf der Intensivstation eines Spitals, ohne dass ihn jemand besuchen durfte. Auch seine Frau Sylvia nicht.

TEXT SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATION SARAH WEISHAUPT

«Highway to Hell» von AC/DC – das war der Song, den Sylvia Egger-Hölzel ihrem Mann mit auf den Weg gab. Dann stellten sie die Maschinen ab.

Das war am 10. November 2020.

Jetzt wartet Sylvia in einer kleinen Seitenstrasse auf mich, sie trägt einen Mantel und eine Mütze auf den blondgefärbten Haaren. Sie ist sorgfältig geschminkt. «Ich hab die Gelegenheit genutzt, um mich ein wenig schick zu machen», sagt sie. Ihre Stimme ist tief und rauchig wie die der Staatsanwältin im Münsteraner Tatort. Es ist ein kleiner Ort im Zürcher Unterland, die Wohnung, zu der sie mich führt, liegt im zweiten Stock eines hellen Mehrfamilienhauses. An der Wohnungstür hängt eine Stickerei mit ihren Namen sowie das Hochzeitsdatum: 28. Mai 2018. Drinnen, an einer Wand im Flur, hängt ein Bild des Brautpaares, Leinwand auf Holzrahmen. Mit zwanzig Kilogramm weniger sieht Sylvia heute ganz anders aus: Beine,

Arme und Hüften sind schmaler, sie wirkt maskuliner als auf dem Bild. Die klassische Braut im weissen Kleid mit hochgesteckten Haaren bildet einen gewissen Kontrast zu der gesprächigen Ex-Barkeeperin, mit einer Tätowierung im Blusenausschnitt.

Ihr verstorbener Ehemann René hingegen erinnert auch auf dem Bild an einen herausgeputzten Rocker mit seinem langen Bart, den er als Zopf trägt. «Den hab ich noch», sagt Sylvia und geht durch den Flur ins Wohnzimmer. Sie nimmt eine Holzschatulle vom Beistelltisch und zeigt ein Büschel Haare in einer Plastikhülle. Renés Bart, eine Reliquie. Sie packt das Tütchen zurück in die Schatulle. «Und da steht er.» Eine weisse Urne neben einer Orchidee, auf dem Boden zwei Buddha-Statuen. «René war früher oft in Ostasien.» Eine Lichterkette taucht die Ecke in Goldglanz.

Am 19. Oktober 2020, einem Montag, war René Egger wegen einer Routineuntersuchung im Spital gewesen. Dort wurde er auch auf Covid-19 getestet: negativ. Zwei

Tage später bekam er hohes Fieber, er musste zurück ins Spital. Sylvia wollte ihm eine Tasche packen, doch er wiegelte ab. «Wo ich jetzt hingehe, Schatz, brauche ich das alles nicht mehr.» Am Tag danach schickte René seiner Frau ein Video, das ihn allein in einem Spitalbett zeigt. «Das ist mein Quarantäne-Zimmer im Unispital Zürich, wo ich liege, weil ich Corona aufgelesen habe, von irgendjemandem, an irgendeinem Ort», sagt er in die Handykamera. Es sind die letzten Bilder von René. Wenig später wurde er ins künstliche Koma versetzt.

Alle drei infiziert

Auf das Spital und die Begleitung durch das Personal lässt Sylvia nichts kommen. Tag und Nacht habe sie anrufen dürfen, man habe all ihre Fragen beantwortet und sich bemüht, menschlich mit der Situation umzugehen. Auch Sylvia und ihre Tochter hatten sich mit dem Virus infiziert. Sylvia hat sich oft gefragt, ob sie es selbst war, die das Virus in die Familie eingeschleppt

hatte. Vom Einkaufen oder so. Eine schreckliche Vorstellung. Bis heute hat die 39-Jährige ihren Geschmackssinn nicht zurück, über vier Monate ist das nun her. «Ich koche jetzt immer mit wenig Gewürz und stelle lieber Salz und Pfeffer zusätzlich auf den Tisch, wenn Besuch da ist», sagt Sylvia.

Tochter Lisbeth lauscht aufmerksam den Worten ihrer Mutter. Sie sitzt auf dem grauen Sofa, das die Sitzecke vor dem grossen Flachbildschirm einnimmt. Ob ihr Geschmackssinn ebenfalls beeinträchtigt ist, kann man nur schwer herausfinden. Das 15-jährige Mädchen kann nicht sprechen. Sie wurde mit dem Mowat-Wilson-Syndrom geboren, einer Erbkrankheit, die unter anderem mit beschränkter Mobilität und epileptischen Anfällen einhergeht. Lisbeth ähnelt einer Ballerina mit ihren zarten Gesichtszügen, dem hellblonden Zopf und der stylischen Ray-Ban-Brille. Sie macht ein paar Töne. «Jetzt willst du auch was sagen, was Lisbeth?», sagt Sylvia und stellt der Tochter ihre Lieblingsserie an – «Hubert und Staller», zwei Polizisten in Bayern. «Diese Serie ist ihr ein und alles», sagt Sylvia. Und nach einer kurzen Pause: «Sie leidet sehr darunter, dass René nicht mehr da ist.»

Während das Mädchen fernsieht, zeigt Sylvia Videos von René und Lisbeth, Szenen eines Vaters mit seiner Tochter. Verschwörerisch, albern, liebevoll, umsorgend – das ganze Paket. Dass René nicht Lisbeths leiblicher Vater war, spielte keine Rolle. Mehr noch: die Patchwork-Konstellation mit Lisbeths Papa, der das Kind regelmässig zu sich holt, funktionierte gut, seit Sylvia mit René zusammen war. «Vorher haben wir uns viel gestritten, Lisbeths Vater und ich», erinnert sie sich. Auch um Renés deutlich ältere Exfrau hätten sie sich gemeinsam gekümmert, als sie Hilfe benötigte. «Das ist doch selbstverständlich.»

Bevor sie sich kennenlernten, war René übergewichtig gewesen. Damals spielte er mit dem Gedanken, sich ein Magenband einsetzen zu lassen. Stattdessen bot man ihm die Teilnahme an einer Studie mit hochdosiertem Insulin an. Innerhalb kurzer Zeit verlor er die Hälfte seines Körpergewichtes. Als er Sylvia kennenlernte, wog er nur noch 80 Kilo. Während der Untersuchungen für die Insulin-Studie fand man zufällig heraus, dass René an einer Lungenfibrose litt, einer tödlichen Krankheit, bei der das Lungengewebe nach und nach vernarbt. Dass er über kurz oder lang eine Lungentransplantation

brauchen würde, hatte er Sylvia schon gesagt, als sie sich das erste Mal sahen. 2017 war das. Kennengelernt hatten sie sich über eine Datingplattform. «Am 28.5., 18 Uhr, haben wir uns vor der Post getroffen», Sylvia erinnert Daten sehr genau. Damals arbeitete René als Heizungsbauer, was aufgrund der Gesundheit nicht mehr so gut ging. Später sattelte er auf Immobilienmakler um: weniger körperliche Anstrengung. Sylvia dachte zunächst, er wolle sie wohl als Geliebte haben, so geschäftsmässig und glattrasiert, wie er da im Anzug auf sie wartete. Doch sie täuschte sich. Ihm ging es nicht um schnellen Sex oder ein bisschen Spass.

Nachdem er ihr von seiner Lunge berichtet hatte, erzählte sie ihm von Lisbeth. Bis zur Hochzeit dauerte es nur ein Jahr. Den Heiratsantrag hat er ihr in Verona gemacht, unter dem Balkon der Julia. Gemeinsam bauten sie sich einen Freundeskreis auf, die einen brachte sie, die anderen er mit. Sylvia begleitete ihn in seinen Sportschützenverein, er schoss leidenschaftlich gern Kleinkaliber und 300 Meter. Das Vereinsleben bedeutete René viel, und es fiel Sylvia schwer, für die Beisetzung auf eine Einladung an die

Zu wissen, dass die beiden Menschen, die man am meisten liebt, vor einem sterben werden. Dass man am Schluss allein übrigbleibt.

Schütz*innen zu verzichten. «Wegen der Corona-Auflagen hätten nicht alle kommen dürfen – und dann die einen ja und die anderen nicht? Das geht doch nicht!» Aber eine Abdankung mit dem Verein soll noch stattfinden, mit Fahnenschwingen und allem Drum und Dran. Sylvia steht auf und holt zwei kleine Koffer, darin liegen Plastik-Pistolen und Gehörschutz. «Die hat er für Lisbeth besorgt, damit sie auch mal mitkommen kann.»

In die Ferien fuhren sie gern zu dritt an den Starnberger See, besuchten Lisbeth zuliebe die Drehorte von «Hubert und Stal-

ler». Andere Reisen waren selten bis gar nicht möglich: Lisbeths und Renés Gesundheit waren zu instabil. Ständig musste Sylvia damit rechnen, es passiere unterwegs ein Notfall. So blieb es bei Ausflügen, Picknicks im Wald. Die Freunde ahnten kaum, wie gross die Last war, die auf der Familie lag. «Niemand wusste, wie schlecht es René teilweise ging.» Kurz vor der Transplantation brauchte er regelmässig Sauerstoff, hing an einem mobilen Gerät. Schon bevor Covid-19 ein Thema wurde, mussten sie ständig aufpassen, dass er sich keine Atemwegsinfektion holte.

Ein kurzes Hoch

Im März 2019 kam der ersehnte Anruf vom Spital: Man habe eine Spenderlunge gefunden, René solle sich sofort auf den Weg machen. «Also habe ich seine Tasche gepackt, wir waren ja darauf gefasst», erinnert sich Sylvia. Ersatzkleider, iPad-Ladekabel, Necessaire – dieselbe Tasche, die er ihr anderthalb Jahre später nicht mehr zu packen erlaubt. Die Situation war furchtbar: Nicht nur machte ihnen der massive Eingriff Angst, auch war bis zuletzt unklar, ob René schliesslich wirklich operiert werden würde. Er war nur einer von drei aufgebotenen Kandidaten, erst im letzten Moment wurde vor Ort entschieden, wer der aussichtsreichste von ihnen wäre. René hatte Glück.

Bald nach der OP stellte sich das Gefühl ein, nun gehe es bergauf. Es ging René deutlich besser, er war fröhlich und lebenslustig. Doch das Hoch hielt nicht lange an. Täglich musste er einen Cocktail an Medikamenten zu sich nehmen, 30 Tabletten am Tag: Immununterdrücker, damit der Körper das fremde Organ nicht wieder abstiess, Blutverdünner, Cortison. Sylvia wachte darüber mit Argusaugen. Und die Medikamente hatten ihre Nebenwirkungen. Renés Sexualität war gehemmt. Er litt darunter, dass er Sylvia kein vollwertiger Partner mehr sein konnte. «Dabei habe ich ihm das nie vorgeworfen», sagt sie. Doch der Mangel an körperlicher Intimität, physischem Austausch hinterliess Spuren. Sein Selbstwertgefühl nahm immer weiter ab. Es gab Zeiten, da sass er nur noch auf dem Sofa und behauptete, Sylvia eine Last zu sein.

Sie sah das anders. «Ich hatte ihn geheiratet, da gehört das doch dazu.» Doch die Doppelbelastung – chronisch kranker Mann, beeinträchtigtes Kind – ging auch

an Sylvia nicht spurlos vorbei. Rund um die Uhr war sie Mutter, Partnerin und beider Pflegefachkraft. Ich versuchte mir auszumalen, was es bedeutet zu wissen, dass die beiden Menschen, die man am meisten liebt und für die man sich selbst täglich hintenanstellt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor einem sterben werden. Dass man am Schluss allein übrigbleibt. Sylvia raucht Kette, meist am Fenster oder draussen, und sie trinkt. Nicht exzessiv, sie ist Pegeltrinkerin. Man merkt es ihr kaum an, vielleicht sieht man es ein bisschen an der Gesichtshaut. «Frau Egger-Hölzel führt ein Rockstar-Leben», schrieb ihr Hausarzt einmal halb im Scherz. Durch die Trauer hat sie nun auch Schwierigkeiten mit dem Essen. «Mir wird immer schlecht.»

Zuhause ist nichts vom Rockstar zu spüren: Die Wohnung ist picobello aufgeräumt, kleine Dekoelemente stehen herum, fast ein bisschen wie im Schöner-Wohnen-Katalog. Und obwohl sie nicht essen mag, spricht Sylvia viel vom Kochen, lässt mich ihr neues Zwiebelchutney probieren, das exzellent ist, auch wenn sie nicht abschmecken kann. Als René noch da war, erzählt sie, und sie mal wieder «nichts anzuziehen» hatte, nahm er den Autoschlüssel und fragte sie liebevoll: «In welche Boutique möchtest du denn, Schatz?» Und dann fuhr er seine Herzdame dorthin, wo sie etwas zu finden glaubte. Er blieb solange im Auto sitzen.

Heute stehen die Fahrzeuge der Familie, der grosse Van und der kleine CabrioZweisitzer, nutzlos herum. Sylvia hat keinen Führerschein. «Wenn ich Lebensmittel einkaufen muss, rufe ich den Fahrer vom Roten Kreuz an, er ist mittlerweile schon fast ein Freund der Familie.» Sylvia hat sich auch psychologische Hilfe geholt. René wusste, dass sie trinkt, und machte sich Sorgen. «Er hat gepanscht», erzählt sie. Hat nachts ihre Wodkaflasche halb geleert und mit Wasser aufgefüllt. Heute denkt sie darüber nach, mit derselben Technik ihren Pegel herunterzufahren. Und irgendwann doch noch den Führerschein zu machen.

Hintergründe im Podcast:

Die Autorin Sara Winter Sayilir im Gespräch mit Simon Berginz: surprise.ngo/talk

1 Pia Zanetti, New York, USA, 1963, © Pia Zanetti

2 Pia Zanetti, Managua, Nicaragua, 1964, © Pia Zanetti

3 Pia Zanetti, Fischer in Kapstadt, Südafrika, 1968, © Pia Zanetti

«Wahrheit zeigt sich oft erst, wenn man sich auf ein Thema einlässt»

Ausstellung Während sechs Jahrzehnten bereiste Pia Zanetti als eine der ersten Schweizer Fotoreporterinnen die Welt. Sie fing Momente ein, in denen Menschen nach einem würdigen Leben streben.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

1963 in den USA. Frauen fordern immer lauter ihre Rechte ein.

Ebenso die afroamerikanische Bevölkerung. Mittendrin: Pia Zanetti. In einer New Yorker Einkaufsstrasse richtet die damals zwanzigjährige Fotografin aus Basel ihre Kamera auf eine junge schwarze Frau. Hinter ihr gehen zwei Nonnen im Habit, so als wollten sie den stolz voranschreitenden Wandel etwas bremsen. Doch das wird ihnen nicht gelingen: Im Bildhintergrund flanieren auch andere Frauen bereits ganz selbstverständlich in kurzen Röcken. Fasziniert von der Diversität in dieser Grossstadt, drückt Zanetti auf den Auslöser. Es entsteht eine zeitlose Fotografie, die fast 60 Jahre später sowohl durch MeToo als auch Black Lives Matter aktueller kaum sein könnte.

Es ist genau dieser Zugang, der so kennzeichnend ist für das Gesamtwerk von Pia Zanetti: Respektvoll und empathisch legt sie die Auswirkungen von Unterdrückung, Umbruch und Unrecht in der Mimik und Gestik einzelner Menschen frei. So auch in den verhärmten Gesichtern von Fischern in Kapstadt 1968 während der Apartheid.

Zanetti richtete ihr Hauptaugenmerk von Anfang an auf den Alltag, die Arbeits- und Lebensbedingungen in sozialen Brennpunkten und Krisengebieten. Als Tochter einer geschiedenen Frau in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen, war sie vertraut mit den Sorgen jener Leute, denen sie den Raum gab, sich zu zeigen. Sie verstand es, ihnen subtil in ihrem Streben nach einem Einkommen, Freiheit oder etwas Zerstreuung Würde zu verleihen. Da der zierlichen Pia Zanetti niemand den von Männern dominierten Fotografenberuf zutraute, absolvierte sie die Lehre bei ihrem älteren Bruder, einem Werbefotografen. Bald darauf lernte

sie ihren späteren Mann, den Journalisten Gerardo Zanetti, kennen, mit dem sie neben zwei Söhnen auch eine Adoptivtochter aus Vietnam grosszog. Gemeinsam entwickelte das Paar für Publikationen wie Die Woche, DU oder Das Magazin Ideen für Reportagen. Später arbeitete Zanetti auch für Hilfswerke wie die Caritas.

Mit ihrem Gespür für gesellschaftliche Umbrüche und mit ihrem ausgeprägten humanistischen, sozialen und politischen Anspruch rief sie Missstände wie etwa die prekären Arbeitsbedingungen von Näherinnen in Kenia ins Bewusstsein. Oder das Verschwinden des Aralsees in Zentralasien als Folge der Baumwoll-Monokultur. Eine Umweltkatastrophe, welche die Fischerei in Usbekistan ihrer Existenzgrundlage beraubte und schlimme Sandstürme über das Land brachte.

Pia Zanetti ist seit sechs Jahrzehnten eine engagierte und neugierige Zeitzeugin. Was sie antreibt, erzählte die 77-jährige Fotografin im Telefongespräch.

Pia Zanetti, Sie haben als Fotoreporterin viel Leid gesehen. Besonders geprägt haben Sie Ihre Reisen in den 60er-Jahren nach Südafrika während der Apartheid. Als ich als junge Frau nach Südafrika reiste, wusste ich zwar, dass es die Apartheid gab, aber mit eigenen Augen zu sehen, wie sich diese Schikanen gegen die schwarze Bevölkerung durch alle Lebensbereiche zogen, hat mich erschüttert. In den Metzgereien von Kapstadt gab es für die vielen Hausangestellten, die Nannys, Gärtner oder das Putzpersonal, nur sogenanntes Boy’s Meat, minderwertiges Fleisch, das man bei uns keinem Tier vorgesetzt hätte.

Ich erinnere mich auch an einen Biergarten in den Townships von Soweto. Dort wurde bloss Bantu-Bier ausgeschenkt, ein Gebräu mit sehr tiefem Alkoholgehalt. Es war den Menschen nicht einmal vergönnt, in ihrer spärlichen Freizeit etwas abzuschalten. Mit meinen schwarzen Berufskolleg*innen konnte ich wegen der strikten Rassentrennung keinen Kaffee trinken gehen. Ob am Strand oder im Spital: Die Trennlinie zwischen Schwarz und Weiss war überall präsent. Bestürzt war ich auch über den Umgang mit dem schwarzen Hotelpersonal. Nach britischer Tradition wurde morgens der Early Morning Tea serviert. Uns Gästen hatte man eingeschärft, dass wir diesen Leuten keine Beachtung schenken sollten. Es sei völlig egal, ob wir gerade nackt seien, wenn sie ins Zimmer kämen. Man gab uns zu verstehen, dass Schwarze keine Gefühle hätten. Diese totale Entmenschlichung unter dem Apartheid-Regime hat mich schockiert und sich mir tief eingebrannt.

Bei Pressefotografien geht man in besonderer Weise davon aus, dass sie die Wahrheit abbilden. Wie sind Sie bei dieser Suche nach der Wahrheit jeweils vorgegangen? Wahrheit ist ein sehr grosses Wort. Es ist menschlich, dass einen anspricht, was auch etwas mit einem selbst zu tun hat. Als Fotografin habe ich deshalb den Anspruch, jene Wahrheit zu zeigen, die mich beeindruckt. Authentische Pressefotografie bedeutet ja, nicht bloss zu dokumentieren, sondern etwas Eigenes zu zeigen, die eigene Interpretation. Als ich mit dieser Arbeit begann, erlebte der Journalismus eine Blütezeit. Die Medienhäuser ermöglichten aufwendige Fotoreportagen und liessen sich diese auch etwas kosten. Heute herrscht Spar- und Zeitdruck, was es Fotograf*innen erschwert, sich gründlich ein Bild zu machen, bevor ein Foto entsteht. Oft wird einem ein fixes Bild vorgeschrieben. So heisst es etwa: Mach ein Foto von Person X, wie sie am Esstisch sitzt. Aber vor Ort trifft man häufig eine andere Situation an. Zwei Beispiele: Einmal bekam ich den Auftrag, im Sudan ein Mädchen und einen Jungen zu fotografieren, die sich in einer Wasseroberfläche spiegeln. Das liess sich aber nicht so umsetzen. Das Wasser war dafür viel zu trüb und die Kinder trugen aus Hygienegründen das Haar sehr kurz. Es war kaum möglich, Mädchen und Jungen zu unterscheiden. Ein anderes Mal sollte ich auf Haiti fotografieren, wie Menschen aus Hunger auch Erde essen. Doch vor Ort erfuhr ich, dass ein Missverständnis vorlag: Nur Schwan-

«Diese totale Entmenschlichung unter dem Apartheid-Regime hat mich schockiert.»
PIA ZANETTI

gere würden ab und zu Erde essen. Nicht aus Hunger, sondern wegen der darin enthaltenen Mineralien. Wahrheit zeigt sich oft erst, wenn man sich auf ein Thema einlässt. Ein gutes Foto lässt sich nicht erzwingen. Als Fotograf*in gehört es zum Beruf, sich in den Redaktionen für die eigene Sichtweise stark zu machen und der inneren Stimme zu folgen.

Nicht nur die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Fotoreportagen haben sich verändert, sondern durch neue Technologien auch die Sehgewohnheiten. Wie haben Sie in Ihrer Arbeit darauf reagiert?

Die Digitalisierung der Fotografie führte dazu, dass man heute nicht mehr zuerst etwas sieht und dann abdrückt, sondern eine Abfolge von Bildern erstellt, wovon man später eines auswählt. Ob dadurch die Beobachtungsgabe geschwächt wird, darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich will nicht jammern! Man ist immer auch Teil der Zeit, in der man lebt, und muss lernen, sich in ihr zurechtzufinden. Ich war zum Beispiel nie ein Fan von der Arbeit in der Dunkelkammer. Die Digitalisierung hat mir da Erleichterung gebracht. Mit der Digitalisierung hat auch die Geschwindigkeit, mit der Bilder gezeigt werden, stark zugenommen. Heute werden Fotos rasant durchgeklickt und ich staune, dass junge Menschen, die damit aufwachsen, in der Lage sind, deren Inhalte zu erfassen. Ich merke aber gleichzeitig, dass viele Menschen eine Sehnsucht nach Ruhe haben und sich auch ohne Zeitdruck auf Fotografien einlassen wollen.

«Pia Zanetti, Fotografin», Ausstellung, bis Mo, 24. Mai, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, Winterthur. www.fotostiftung.ch

«Wir wollen als Bewegung spürbar werden»

Musik Der ehemalige Clubbetreiber Florian Eichenberger hatte die Idee des Ghost Festivals. Der Ertrag aus dem CD-Verkauf geht an Surprise. Eichenberger sagt, wieso.

Herr Eichenberger, Sie haben das Ghost Festival initiiert: ein Musikfestival, das nicht stattfindet. Wie kommt man auf so eine Idee?

Die Kultur- und Musikszene liegt mir sehr am Herzen, ich habe in Bern selbst Clubs geleitet und Events organisiert. Irgendwann während der Pandemie häufte es sich, dass mich Leute anriefen und fragten: Hast du eine Idee, was man tun könnte?

Ich habe diese Gespräche mit viel Empathie entgegengenommen, aber auch gemerkt, dass viele Leute wie das Kaninchen vor der Schlange standen, weil sie so direkt betroffen waren. Dann hatte einer meiner Jungs Geburtstag und bekam einen YB-Ball geschenkt. Als wir draussen spielten, dachte ich, es ist doch absurd – all die Millionäre, die auf dem Rasen herumrennen, sind offenbar systemrelevant. Die sind Geistermeister und spielen Geisterspiele. Da wurde mir klar: Wenn die Geisterspiele machen können, können wir auch ein Geisterfestival machen.

Heute sind Sie Geschäftsleiter von Equipe Volo, einer Stiftung, die sich für berufliche und soziale Integration einsetzt. Das Ghost Festival war eine private Idee. Haben die Gedanken darüber, wer in der Gesellschaft übersehen wird, trotzdem etwas mit Ihrer Tätigkeit zu tun? Ich glaube grundsätzlich an Inklusion und Augenhöhe. Und an die Tatsache, dass man nicht in Scham versinken muss, wenn man selbst privilegiert ist – aber dass man mit Demut und der Energie, die man geschenkt bekommen hat, der Gesellschaft etwas zurückgeben sollte. Dass man diejenigen mit einem schwierigeren Stand und grösseren Schwierigkeiten unterstützen muss.

Das fanden 187 Schweizer Bands auch: Sie haben eine CD herausgebracht, deren Verkaufserlös sie Surprise spenden. Das Werk ist ungewöhnlich: Beiträge von je

zehn Sekunden, je zwei pro Track. Von wem was ist, wird nicht aufgelöst. Das soll ein Geheimnis bleiben. Es gibt zwei, drei, die unverkennbar sind. Ansonsten: Vielleicht kann man beim Hören zusammensitzen, ein Glas Rotwein trinken und gemeinsam raten, wer könnte das nun gewesen sein? So in einen Dialog zu kommen, fände ich eine spannende Geschichte.

Florian Eichenberger

Florian Eichenberger, 43, war Betreiber des Sous Soul, Club und Bar in Bern. Heute ist er CEO der Stiftung Equipe Volo.

dann noch weiter, wenn fertig ist. Was trifft die Stimmung der Schweizer Musikszene eher?

Ich glaube, sie ist bei allen sehr unterschiedlich. Mich fasziniert genau das: Ein Geist kann alles sein. Der Name deckt die ganze Palette von Gefühlen und Eindrücken ab. Und er hat ein Narrativ drin.

Ein Narrativ?

Wir haben uns gesagt, wir entwickeln den Begriff weiter, und es werden weitere Projekte folgen. Das könnte auch ein Bio-Fairtrade-Kaffee-Projekt sein, auch da könnte ich einen Zugang mit dem Begriff Ghost finden. Er schreibt keine Richtung vor. Er ist interpretierbar, und das fasziniert mich.

Was werden das für weitere Projekte sein? Wird «Ghost» zu einer Art Label?

Wir hören Operngesang und Dosenöffnen, Kaffeemaschine und Rock/Pop. Was ist die Geschichte dahinter? Es ist aus mehreren Gründen ein Zeitdokument: Es haben sich noch nie so viele Musikschaffende aus der Schweiz auf einer CD zusammengefunden – und damit zeitgleich auch noch Platz 1 gemacht. Und das andere ist die Situation, Lockdown, Social Distancing, physische Berührungen, die wegfallen. Ich höre das aus dieser CD heraus. Ich hatte das Bild von jemandem, der in einem geschlossenen Raum sitzt und am Radio eine Verbindung nach aussen sucht. Alle zehn Sekunden kommt ein anderes Signal.

Geistersound kann vieles sein. Es kann «Wir sind alle tot» heissen und eine Kritik an dem Corona-Massnahmen sein. Es kann aber auch eine kindliche Vorstellung vom Tod drinstecken, eine lustige Geistergeschichte, die sagt: Es geht sogar

Wir haben uns als Kollektiv neu gefunden und dabei wahnsinnig viel Seelennahrung erhalten. Wir sind viele Frauen und Männer, die spinnen, die Träume haben, die aber auch eine Professionalität haben in je ihrem eigenen Tätigkeitsfeld. Da sind wir nun regelmässig im Austausch. Die Ideen und Themen sind extrem breit, aber wir wollen die Wertefrage weiterziehen. Für uns ist Solidarität ein Thema, Umverteilung, Inklusion. Auch Fragen wie: Wie kann man die Zukunft antizipieren, auch ökonomisch? Aber mit Werten, mit Anstand. Mit neuen Modellen. Wie kann man die Menschen wirklich einbinden? Das ist der rote Faden. Ein Teil des Ghost Festivals war, als Bewegung spürbar zu werden.

«The Ghost Orchestra», CD (Erlös zugunsten Surprise), Verkaufsstellen: www.cede.ch und www.biderundtanner.ch. Streaming: www.Ink.site/the-ghost-orchestra

Veranstaltungen

Online

«Uncensored Library», digitale Bibliothek gegen Zensur, Reporter ohne Grenzen (RSF); innerhalb von Minecraft: sich über visit.uncensoredlibrary.com mit dem Server der Uncensored Library verbinden; oder Bibliothek auf www.uncensoredlibrary.com herunterladen und auf eigenem Server hosten.

stellungen von neuen Lebensformen schaffen – und damit im besten Fall ihren Teil dazu beitragen, sie entstehen zu lassen. DIF

Lan g enthal «H.o.Me. – Heim für obsolete Medien», Ausstellung, bis So, 20. Juni, Mi bis Fr 14 bis 17 Uhr, Sa/So 10 bis 17 Uhr, Kunsthaus Langenthal, Marktgasse 13. kunsthauslangenthal.ch

Erinnerungen an Radioerlebnisse erzählen. Alexandra Navratils Videoist eine Recherche zur Geschichte der Filmfabrik der DDR. Auch die CommunityPiraten-TVStation der !Mediengruppe Bitnik ist dokumentiert, die sich freigewordene Radio und TV-Frequenzen zu eigen machte. Ausserdem: die Sprechstunde für obsolete Medien. Alte Abspielgeräte, Filme, Videooder Tonbänder darf man nach Anmeldung ( info@kunsthauslangen thal.ch ) vorbeibringen. Nach Möglichkeit werden sie abgespielt, und Kaufmann rät, was zur Erhaltung oder Digitalisierung zu tun wäre. DIF

Auf Tour «Nachdenken über das koloniale Erbe», Installation, gratis und jederzeit zugänglich, bis 23. April, Rosenhofpark, Schlössli Ins; 24. April bis 21. Mai, Kirchenterrasse im Ring, Biel; 22. Mai bis 14. Juni, Kreuzackerpark, Solothurn; 15. Juni bis 15. Juli, Schadaugärtnerei, Thun; 16. Juli bis 13. August, Quai, Brienz. cilgiaragethkunst.ch

Zürich «Potential Worlds 2: EcoFictions », Ausstellung, bis So, 9. Mai; Di bis So 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr (jeweils Do 17 bis 20 Uhr Eintritt frei), Migros Museum für Gegenwartskunst, Limmatstrasse 270. migrosmuseum.ch

Ein frischpolierter, strahlend roter VW-Käfer, vom Findling treffsicher attackiert: Hier wehrt sich die Natur. Gut, sind wir nicht dringesessen. Ein paar Fragen wirft Jimmie

Durhams Werk mit dem schönen Titel «Alpine Substance on Wolfsburg Construction» einem trotzdem aufs Dach: Wie wird die Natur auf den Klimawandel reagieren? Wie hoch ist die Rechnung, die uns ins Haus flattern wird? Durham kritisiert die anthropozentrische Perspektive und gesteht auch der Natur Handlungspotenzial zu. Die Gruppenausstellung «Potential Worlds 2: Eco-Fictions» interessiert sich für das Beziehungsgeflecht zwischen Mensch und Natur in der gegenwärtigen ökologischen Situation. Gefragt wird nicht nur danach, wie man angesichts der prekären Lage nach neuen Lebensformen sucht, sondern auch danach, welche Rolle dabei die Kunst als technologisches, wissenschaftliches und soziales Experiment übernehmen kann. Visionen möglicher Welten sind auch deshalb spannend, weil sie bildhafte Vor-

Kassetten, Schallplatten, VHS oder Super 8: In der Ausstellung «H.o.Me. – Heim für obsolete Medien» zeigen künstlerische Arbeiten das Potenzial veralteter Medien. Zentrale Figur der Ausstellung ist Flo Kaufmann und seine Sammlung. Als Ingenieur gehört Kaufmann zu den international wichtigsten Experten für Schallplattenproduktion. Und wenn in der Schweiz ein audiovisuelles Studio geräumt wird, bekommt oft er einen Anruf. Denn man weiss: Kaufmann rettet Geräte, Bild- und Tonträger. Als Musiker, Künstler und «bricoleur universal» nutzt er alte Technologien und baut ausgediente Geräte um. In der Ausstellung findet man aber auch Dinge wie das Plattenspieler-Objekt des Künstlers und Musikers Strotter Inst., das an der Decke hängt und schabende, kratzende Geräusche von sich gibt. Der Radiokünstler Jonathan Frigeri wiederum lässt Menschen von ihren

Zum Welttag gegen Internetzensur am 12. März eröffnete Reporter ohne Grenzen (RSF) zwei neue Räume in der «Uncensored Library». Sie machen zensierte Artikel aus Belarus und Brasilien der Öffentlichkeit zugänglich. Vor einem Jahr startete das Projekt: In einer digitalen Bibliothek innerhalb des Computerspiels Minecraft sind vormals blockierte oder zensierte Texte auf Englisch und in den Muttersprachen der Autor*innen zu lesen. Bislang umfasste die Bibliothek Artikel aus Ägypten, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien und Vietnam (Hintergründe dazu im Surprise 472/2020, zu finden unter Angebote / Archiv auf surprise.ngo). Seit dem Beginn der Massenproteste gegen die gefälschte Wahl in Belarus geht die Regierung Lukaschenko mit aller Härte gegen Journalist*innen vor. Sie will verhindern, dass sich die Menschen in Belarus unabhängig über die Geschehnisse informieren können. Die Minecraft-Bibliothek hält dagegen: Seit ihrer Eröffnung haben sich hier über 20 Millionen Menschen aus 165 Ländern über die Situation der Pressefreiheit weltweit informiert. Viele von ihnen stammen aus Ländern, in denen Zensur herrscht. DIF Wir sind für Sie da.

Das Projekt der Künstlerin Cilgia Rageth erinnert daran, dass Vergangenes nicht vergangen ist. Und fordert die Besucher*innen heraus, sich mit strukturellem Rassismus als Teil unserer kulturellen Identität auseinanderzusetzen. Die Kunstinstallation funktioniert partizipativ als work in progress und ist auf mehrjähriger Wanderschaft. Sie zeigt Ausschnitte aus der Geschichte unseres Söldnerwesens, der internationalen Menschenzoos und der Beteiligung der Schweiz an der Sklaverei. DIF

365 Tage offen von 8-20 Uhr St. Peterstr. 16 | 8001 Zürich | 044 211 44 77 www.stpeter-apotheke.com grundsätzlich ganzheitlich

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Pörtner in Basel

Surprise-Standorte: Coop Gundeli Tellplatz

Einwohner*innen: 200 408

Sozialhilfequote in Prozent: 6,7

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 37,7

Anzahl Spielplätze: 56

Die Feuerwehr wirbt auf einem Plakat für den Berufswechsel bei vollem Lohn, daneben steht, etwas unmotiviert, eine schmutzig-weisse bemalte und beklebte Kugel. In grossen schwarzen Töpfen spriessen liebevoll arrangierte Frühlingsblumen. Eine rotblaurote Fahne, befestigt auf einem ausgedienten Weinfass, weht im sanften Lüftchen. Das Fass stammt aus Spanien, die Fahne ist wohl eine Kombination der spanischen und der FCB-Farben. Tauben gurren, Kinder kreischen, Bremsen quietschen. Der Fahrer des Strassenreinigungsfahrzeugs erkennt einen Bekannten, die beiden rufen sich ein paar Worte zu. Auf den Bänken sitzen die Leute ganz am Rand, mit Hund, mit Computer, mit Kopfhörer oder Bierdose. Lunchpause vom Homeoffice.

Beliebt sind hier Transport-Velos, die im grünalternativen Milieu den PKW erset-

zen. Gleich drei solcher Fahrzeuge, alle etwas anderer Bauart, kreuzen sich, dazu ein Velo mit Anhänger, die ältere und weniger hippe Version des emissionsfreien Kinder- und Warentransportes. Sogar ein mit mehreren Kisten beladenes, einen langen Anhänger mitführendes Exemplar fährt vorbei, ein veritabler Kleintransporter, dem zwei junge Männer interessiert nachschauen. Es ist anzunehmen, dass das Einstellen dieser praktischen, aber doch sperrigen Lastvelos zu Unmut und beim Eingang angebrachten Beschwerdeschreiben in den Veloräumen genossenschaftlicher Wohnsiedlungen führt. Möglich auch, dass sie auf nicht mehr genutzten Parkplätzen in Tiefgaragen abgestellt werden.

Ein anderes beliebtes Fahrzeug ist der Roller. Gefahren werden sie ausschliesslich von älteren, mürrisch blickenden

Männern, die dringend irgendwohin müssen. Das am Platz liegende Casino Gundeli ist kein Spielcasino, sondern beherbergt eine geschlossene Pizzeria und ein ebenso geschlossenes Fitnesscenter. Geöffnet sind die Bibliothek und ein Laden, in dem Elektronikgeräte zu Bargeld gemacht werden können und umgekehrt.

Ein Plakat wirbt für die Ausstellung der Plakate Picassos. Dort lässt sich herausfinden, ob Picasso auch Plakate für Plakatausstellungen entworfen hat.

Einem Mann entgleitet die Einkaufstasche, es gibt Scherben, die zusammengekratzt und in der nur noch einhenkeligen Tasche der sachgerechten Entsorgung zugeführt werden. Die Zoohandlung weist sich als Spezialistin für alles rund um das Meerschweinchen aus.

Es gibt noch eine Buchhandlung, und sie bedankt sich im Schaufenster bei ihrer Kundschaft für ebendiesen Umstand. Die Papeterie nebenan bietet Papierkörbe zum Aktionspreis an. Gut möglich, dass die Papierkorbhersteller*innen zu den Gewinner*innen der Krise gehören, weil beim Einrichten des Homeoffice neue oder zusätzliche Papierkörbe nötig wurden. Wo genau Papierkorbfabriken angesiedelt sind, ist unbekannt. Einen wichtigen Industriezweig bilden sie kaum. Gehören doch Papierkörbe zu den langlebigsten und selten ausgetauschten Einrichtungsgegenständen. Wie um die Liste der sperrigen Velos vollzählig zu machen, fährt ein Mann auf einem Liegevelo vorbei. Eine Designidee, die nicht im Papierkorb gelandet ist, seither ein hartnäckiges Nischendasein fristet und den Platz in Veloräumen verknappt.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher

Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

Tour de Suisse

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellscha . Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

debe: www.dorisberner.ch

Schweizerische Kriminalprävention SKPPSC

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Breite-Apotheke, Basel

Coop Genossenschaft, Basel

EVA näht: www.naehgut.ch

Restaurant Haberbüni, Bern-Liebefeld

AnyWeb AG, Zürich

Echtzeit Verlag, Basel

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

Lebensraum Interlaken GmbH

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel Yogaloft GmbH, Rapperswil SG unterwegs GmbH, Aarau

Infopower GmbH, Zürich

Hedi Hauswirth, Privatpflege, Oetwil am See Gemeinschaftspraxis Morillon, Bern

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden sinnovec GmbH, Strategie & Energie, Zürich Barth Real AG, Zürich

Simplution Software GmbH

Ueli Mosimann, ehemals Abt. Ausbildung Coop Fontarocca Natursteine, Liestal Christine Meier, raum-landschaft, Zürich www.deinlohn.ch

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto: PC 12-551455-3

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

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SURPLUS – DAS

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Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können?

Hätten Sie die Kraft?

Eine von vielen Geschichten

Lange bemühte sich Haimanot Mes n um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkau Haimanot Mes n seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkau ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.

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Das Programm

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kra , Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung.

Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende

Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Spendenkonto: PC 12-551455-3

Unterstützungsmöglichkeiten:

· 1 Jahr: 6000 Franken

· ½ Jahr: 3000 Franken

· ¼ Jahr: 1500 Franken

· 1 Monat: 500 Franken

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Wir alle sind Surprise

#496: Moumouni ... will den Niqab «Verharmlosend»

Gewiss ist es sinnvoll, sich die Frage zu stellen, wie weit unsere Demokratie in Zukunft gehen soll. Das beschriebene Beispiel, wie schön es doch wäre, sich in bestimmten Situationen aufgrund kosmetischer Gründe zu verhüllen, schiesst jedoch meiner Meinung nach vollends am Thema vorbei und verharmlost die Problematik total. Von Frau Moumouni habe ich schon tolle Artikel gelesen, doch für diesen habe ich nur einen Daumen runter übrig.

Korri g endum

In der Ausgabe 496 haben wir auf Seite 30 unseren Surprise-Verkäufer irrtümlicherweise «Hasler» statt «Hassler» genannt. Wir bitten um Entschuldigung.

Imp ressum

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Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp), Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win)

Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim)

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F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Julius O. E. Fintelmann, Elena Knecht, Kostas Maros, Karin Pacozzi, Sarah Weishaupt, Benjamin von Wyl

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Gestaltung und Bildredaktion

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«Keine Feminist*innen»

Nicht Feminist*innen standen hinter der Initiative, sondern ganz im Gegenteil, das Komitee der Initiative bestand aus fünf weissen Männern sowie im Hintergrund die Schweizerische Volkspartei (SVP). Weiter entfernt vom Feminismus kann man nicht mehr sein, auch wenn die SVP natürlich (und fälschlicherweise) behauptet, sich mit der Initiative für Frauenrechte starkmachen zu wollen (wohlgemerkt: wir sprechen von der Partei, die 1971 gegen das Frauenstimmrecht war, 1981 gegen die Gleichstellung im Bundeshaus, 1996 gegen das Gleichstellungsgesetz und 2019 gegen den Frauenstreik). Ich kenne keine einzige Feministin, die «Ja» gestimmt hat. Darum bitte ich Frau Moumouni, zu überdenken, in welche Richtung sie ihre (berechtigte) Wut richten möchte.

D. JOST, ohne Ort

«Hervorragend»

Das Wesentliche herausgeschält. Hervorragend, immer wieder. Danke, Fatima Moumouni!

J. ACHTERBERG, ohne Ort

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Surp rise-Porträt

«In Tunesien hätte ich kaum Chancen auf Arbeit»

Ich verkaufe Surprise seit ungefähr zwei Jahren als Flyer. Das bedeutet, ich habe keinen festen Verkaufsplatz. Ich muss immer schauen, ob gerade ein Platz frei ist. Nur dann kann ich das Magazin dort verkaufen. Allerdings kann ich von Weitem nicht erkennen, ob schon jemand da ist. Also muss ich erst parkieren und dann nachsehen. Das ist für mich ziemlich kompliziert, denn ich sitze im Rollstuhl.

Auf der Suche nach einem freien Platz achte ich immer darauf, dass es eine Behindertentoilette gibt. Das ist zum Glück oft der Fall. Und die Trottoirs sind in der Schweiz so gebaut, dass ich mich mit meinem Rollstuhl gut fortbewegen kann. Viele Hindernisse habe ich bei der Arbeit also nicht. Wenn ich für die Arbeit unterwegs bin, trage ich immer meine Orthesen. Das sind spezielle Schienen für die Beine, mit deren Hilfe ich aufstehen und ein wenig laufen kann. Falls ich mal in eine schwierige Situation kommen sollte oder aus dem Rollstuhl steigen muss, bin ich mit meinen Orthesen nicht auf die Hilfe anderer angewiesen.

Ich komme aus Tunesien. Als ich sechs Monate alt war, erkrankte ich an Kinderlähmung. Mit zwei Jahren musste ich viermal operiert werden, denn meine Füsse waren verdreht und mein Nacken war steif. Durch die Operationen geht es mir viel besser. Meine Mutter hat damals alles für mich getan, was sie konnte. Ich bin ihr sehr dankbar dafür.

Als ich erwachsen wurde, wusste ich, dass ich in Tunesien mit meiner Behinderung kaum Chancen auf eine Arbeit und ein gutes Leben haben würde. Damals ging es den Menschen in meinem Land wirtschaftlich zwar noch ganz gut, aber für jemanden wie mich gab es nicht viele Möglichkeiten. Ich war 27 Jahre alt, als ich mein Heimatland verliess. Es war sehr schwer für meine Mutter und mich, voneinander Abschied zu nehmen, als ich nach Europa ging. Doch sie konnte verstehen, weshalb ich gehen wollte.

Ich habe in Tunesien, in der Schweiz und in Frankreich studiert. Ich bin Übersetzer für Englisch und Französisch und auch Buchhändler. Hier in Europa aber habe ich nicht in diesen Berufen gearbeitet. Ich hatte ein paar Jobs, bei denen ich einfache Büroaufgaben übernommen habe, doch die haben mir nicht gefallen. Also habe ich angefangen, auf der Strasse Karten zu verkaufen. Darunter waren handgemachte Karten aus Behindertenwerkstätten, Karten mit 3D­Motiven oder mit Bildern von Künstler*innen wie van Gogh. Seit ein paar Jahren läuft der Kartenverkauf allerdings

Nafati, 59, kam vor vielen Jahren aus Tunesien nach Europa. Früher verkaufte der studierte Übersetzer Karten, jetzt Surprise – und freut sich darüber.

sehr schlecht. Die Leute schreiben Nachrichten übers Internet und verschicken keine Grüsse mehr per Post.

Dort, wo ich die Karten verkauft hatte, stand auch regelmässig ein Surprise­Verkäufer. Ich habe ihn gefragt, ob er mit dem Heftverkauf zufrieden ist. Das war er. Deshalb habe ich ebenfalls zu Surprise gewechselt und bin nun sehr glücklich damit. Seit der Corona­Zeit verkaufe ich etwas weniger als vorher, aber die Leute geben meistens mehr Geld, als sie müssten. Das freut mich.

Einige meiner Kund*innen kenne ich noch aus der Zeit, als ich Karten verkaufte. Manchmal fragen sie mich, wo denn meine Karten sind. Ich mag es, mit Menschen in Kontakt zu treten und mit ihnen zu reden. Das Verkaufen gefällt mir, und ich bin froh über das Geld, das ich damit verdiene. Ich unterstütze damit meine Mutter, denn meine Geschwister haben keine Möglichkeit dazu. Und natürlich verdiene ich auch Geld, um meine Familie zu versorgen. Ich habe drei Kinder. Meine älteste Tochter ist 22 Jahre alt, meine beiden Buben sind zwölfeinhalb und neuneinhalb Jahre alt.

Insgesamt bin ich sehr zufrieden. Das Leben ist schön, ich habe Kinder, ich arbeite für Surprise und sehe immer viele Menschen. Noch schöner wäre es, wenn ich irgendwann einen festen Verkaufsplatz hätte.

Aufgezeichnet von EVA MELL

Taoufik
FOTO:

IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | L‘Ultimo Bacio | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 | Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth‘s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Marktgasse | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA | Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena | Brasserie Lorraine | Restaurant Dreigänger | Berner Generationenhaus | Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Specht IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LUZERN Jazzkantine zum Graben | Meyer Kulturbeiz | Blend Teehaus | Bistro Quai4 | Quai4-Markt, Baselstrasse & Alpenquai | Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione | Bistro Sein IN ZUG Podium 41 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Quartiertreff Enge | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

Solidaritätsgeste

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Erlebnis

So schützen wir uns g emeinsam beim Ma g azinkauf!

Liebe Kund*innen

Wir sind froh, dass Sie auch in dieser schwierigen Zeit das Strassenmagazin kaufen. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsre geln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Wo nötig tragen wir Masken.

Halten Sie Abstand.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Zahlen Sie mö glichst passend.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo

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